Der Raub der Magdalena - Klaus Hoffmann-Reicker - E-Book

Der Raub der Magdalena E-Book

Klaus Hoffmann-Reicker

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Beschreibung

Markgraf Wilhelm I. zu Meißen wurde von seinen Zeitgenossen als "der weiseste Fürst in deutschen Landen" gewürdigt. Doch mit einem politischen Schachzug ließ er 1402 das unabhängige Dohna von der Landkarte verschwinden. Was passierte in der Nacht vom 21. Juni, als der Ritter Jonas Daniel die Doninschen Kinder in Sicherheit brachte und bei Dresden sein Leben ließ? "Achtung, Tinius kommt!" – Die Geschichte um den Magister Johann Georg Tinius, der um 1810 aus Büchergier sogar zwei Menschen im Leipziger Raum ermordet haben soll, zählt bis heute zu den spektakulärsten Fällen der deutschen Rechtsgeschichte. Als Correggios "Die büßende Magdalena" im Jahr 1746 nach Dresden kam, war das eine kleine Sensation. 1880 wurde das Gemälde als Kopie entlarvt, was später angezweifelt wurde. Doch seit 1945 gilt es als vermisst … Klaus Hoffmann-Reicker hat alte Quellen studiert und in den Archiven recherchiert, um bemerkenswerte Kriminalfälle ans Tageslicht zu befördern – spannend und immer noch aufwühlend!

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Klaus Hoffmann-Reicker

Der Raub

der Magdalena

und 15 weitere authentische Kriminalfälle aus Sachsen

Bild und Heimat

eISBN 9783959587549

1. Auflage

© 2017 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: Correggio-Saal der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden © SLUB / Deutsche Fotothek / Heinz Nagel

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Die Dohnaische Fehde

In Dresden ist vor Jahrhunderten ein Verbrechen geschehen, das die Menschen noch heute bewegt. Wenn man etwa eine Stunde die Königsbrücker Landstraße vom Elbtalkessel durch den Hellerwald auf den Elbhang hinaufsteigt, zweigt kurz vor Klotzsche links die Verbindung nach Hellerau ab. Genau dort verbirgt sich am Straßenrand ein altes steinernes Sühnekreuz, über dessen Entstehung es nur spärliche Informationen gibt. Die Inschrift ist so verstümmelt und verwittert, dass man sie heute nicht mehr lesen kann. Manch einer bezweifelt, dass sich die wahre Geschichte darüber sechshundert Jahre lang erhalten haben kann. Die Dresdner jedenfalls kennen sie, handelt es sich doch um eine der ältesten Sagen Sachsens: Der Reisige Jonas Daniel hatte den Auftrag, mit drei Bewaffneten die beiden doninschen Kinder Margarete und Wenzel aus der belagerten Burg Weesenstein über Königsbrück in die zum Königreich Böhmen gehörende Lausitz auf den Besitz der Familie Dohna (auch: Donin) in Sicherheit zu bringen. An der Stelle, an der heute das Kreuz steht, wurde Jonas Daniel am Abend des 21. Juni 1402 ermordet.

Diese Sage wird nicht nur in den Sagensammlungen von Alfred Meiche und Johann Georg Theodor Grässe überliefert. Interessanterweise ist sie auch im Volk noch lebendig. Noch immer gibt es Familien, die ihren Kindern und Enkeln jenen Grabstein aus dem Hochmittelalter zeigen. Dem bekannten Dresdner Schriftsteller Hubert Gerlach diente die Sage als Vorlage für seinen Roman Jonas Daniels Schatten aus dem Jahr 1987: »Daniels ungenannter Gefolgsmann hieß Peter Paul Mutschink und war im Jahr etwa 18 Jahre alt. Ich kenne seinen Namen und seine Geschichte als ein Stück Familiengeschichte von meinem Vater, der sie seinerseits nur von seinem Vater haben konnte, wie der von seinem Vater, meinem Urgroßvater Mutschink, so daß die Erinnerung über die vielen Generationen von Vätern tatsächlich nahezu original auf die jeweiligen Söhne übergegangen und bis heute erhalten geblieben ist. Was ich tatsächlich aus eigener Erinnerung noch heute manchmal sehe oder zu sehen meine ist der nach vorn geneigte Hals meines Vaters, der aussieht, als hätte der Scharfrichter ihn freigelegt, um den Kopf abzuschlagen, wie er Peter Paul Mutschinks Vater den Kopf abgeschlagen hat ein paar Jahre später (so sagte mein Vater, die Hinrichtung der vierzehn Budissiner Ratsherren fand anno domini vierzehnhundertacht statt).

Wir hockten uns vor das Kreuz hinunter, und mein Vater wischte mit der Hand über die eingemeißelten Schriftzeichen und kratzte mit dem Fingernagel das Moos heraus, bis man mit einiger Mühe FINIS MILITIS JONAS DAN lesen konnte.

›Das soll heißen: FINIS MILITIS JONAS DANIEL‹, sagte mein Vater.

›Was heißt das?‹

›Ende des Soldaten‹, sagte mein Vater.

Während Jonas Daniel unsterblich wurde, weil er rechtzeitig starb, blieb Peter Paul Mutschink vorerst am Leben und wurde vergessen. Nur wir, seine Nachkommen, wissen, daß er in seine Geburtsstadt Budissin zurückging, bis er sich Jahre nach der Hinrichtung seines Vaters den Hussiten anschloß. Wir wissen, daß er nach dem Tod Jan Žižkas, des Führers der Taboriten, ein enger Vertrauter und eine Art Adjutant des Großen Prokop als Nachfolger Žižkas war und aus Böhmen erst zurückkam, als ein steifes Bein und gewisse Altersbeschwerden ihn für dieses Amt untauglich machten.«

So viel zu Hubert Gerlachs Erinnerungen und der Erweiterung des sächsischen Sagenschatzes. Gerlach verrät nichts über die Hintergründe des Todes an Jonas Daniel oder darüber, weshalb die Menschen ausgerechnet diese Geschichte bis heute in ihrem Gedächtnis bewahren …

Ich setze mich auf eine Bank. Die Bäume rauschen, als wollten sie etwas berichten. Ich entzünde eine Pfeife. Der Rauch zieht in wunderlichen Kringeln durch den Wald. Wurde Jonas Daniel ermordet? Autoren, Historiker und Fremdenführer haben sich damit beschäftigt, aber keine Antwort gefunden. Herausgekommen sind nur neue Sagen. Aber warum war der Reisige überhaupt mit den Kindern seines Herren im Wald unterwegs gewesen?

Im Rathaus zu Dresden fand 1385 der jährliche Adelsball statt, zu dem der Markgraf von Meißen und Landgraf von Thüringen Wilhelm I., genannt der Einäugige, den Landadel eingeladen hatte. Unter den Gästen befand sich Graf Jeschke von Dohna, der sich die Gemahlin des Ritters Hans von Körbitz aus Meusegast griff und ihr angeblich an die Brust fasste. Der Ehemann war auch nicht faul und stellte dem Grafen daraufhin ein Bein. Nun hagelte es Ohrfeigen und Fußtritte, doch Markgraf Wilhelm sorgte für Ruhe im Saal und drohte Graf Jeschke von Dohna gleichzeitig mit Rache. Diese nicht für Feiern übliche Auseinandersetzung auf dem Ball in Dresden war der Anlass für den Ausbruch der Dohnaischen Fehde, die Sachsen im Folgenden über Jahre hinweg in Atem halten sollte.

Der Konflikt zwischen den Donins und den Körbitz’ hatte bald Auswirkungen auf ihr Verhältnis zu anderen Adelsfamilien der Gegend. Wilhelm I. versuchte, die instabile Lage für sich zu nutzen und den Einfluss der Donins zu untergraben, die ihm in seinen Handelsbeziehungen mit Böhmen im Weg standen. Er war erfolgreich und nahm Teile des doninschen Territoriums für sich ein. 1401 ließ er die Festung Dohna belagern. Kurz vor ihrem Fall im Juni 1402 schickte Jeschke von Dohna seine beiden Kinder Wentzsch und Magarethe zu nächtlicher Stunde in Begleitung einiger zuverlässiger Knappen über die Elbe mit der Weisung, durch die Heide zu gehen, um in Königsbrück bei der befreundeten Adelsfamilie von Waldau einstweilige Unterkunft zu suchen.

Der Führer des kleinen Häufleins war ebenjener Jonas Daniel, ein treuer Diener Dohnas und langjährig erprobter Kriegsmann, welcher zugleich eine außerordentliche Ortskenntnis der Gegend besaß und jeden Schleichweg in der Heide kannte. Glücklich gelangten die Flüchtlinge bis zur Straße nach Königsbrück, wo sie plötzlich aus dem Hinterhalt von einer feindlichen Reiterschar überfallen wurden. Der treue Jonas, nur auf die Rettung der jungen Herrschaft bedacht, übergab diese einem Knappen, den er antrieb, die Straße eilig weiterzuverfolgen, welche ihn unfehlbar zum Ziele führte, während er sich mit seinen restlichen Begleitern den Angreifern entgegenwarf und fechtend kämpfte, bis er samt seinen Genossen den feindlichen Streichen erlag.

Mittlerweile waren die dohnaischen Kinder – jedenfalls der Sage Alfred Meiches nach – in Sicherheit gelangt; Balthasar von Waldau sowie der zum Besuch in Königsbrück anwesende Hans von Polenz saßen mit ihren Reisigen sofort auf und eilten zum Kampfplatze, um die Begleiter des alten Jonas schwerverwundet, ihn selbst aber erschlagen aufzufinden.

Zweifellos – die Geschichte über den Auslöser der Dohnaischen Fehde ist reizvoll. Doch sind sich die Historiker keineswegs einig, ob Ritter Körbitz oder Markgraf Wilhelm I. tätlich geworden ist. Darüber existieren vielmehr völlig unterschiedliche Darstellungen. Und entgegen der Erzählung Meiches gehörte der im Rang dem Markgrafen gleichgestellte Burggraf von Dohna weder dem Landadel an, sondern war zweiter Herr von Dresden, noch wohnte die Sippe der Körbitze in Meusegast neben Dohna, sondern im Meißnischen. Über die Adelsprügelei gibt es ebenso wenig einen Aktenvermerk wie über Leben und Tod Jonas Daniels. »Die älteste Quelle stammt aus dem Kloster Nossen, ist aber auch kein Original. Spätere Chronisten lebten Jahrhunderte danach«, hielt der Direktor der Sächsischen Landesbibliothek Hubert Ermisch (1850‒1932) fest. »So fanden Wahres und Erdichtetes Eingang in die Geschichtsquellen.« Kein Historiker konnte bisher Licht in diese Geschichte bringen und den tatsächlichen Ablauf der Fehde rekonstruieren. Sogar die Jahresangaben wechseln in den Darstellungen. Handelt es sich etwa um eine politische Chronisten-Ente?

Die Sonne lässt die Temperatur auf dem Heller steigen. Im Rucksack finde ich noch eine Flasche Radeberger Bier. Derjenige, der vielleicht etwas Licht in die Angelegenheit bringen könnte, ist leider unter diesem Kreuz bestattet. Er schweigt seit mehr als sechshundert Jahren. »Schatten Jonas Daniels, was ist damals hier vorgefallen?« Eine Fehde war schließlich nur ein privater Streit, um ein Unrecht zu rächen. Aber war das hier überhaupt privat, wenn ein kleiner Ritter einen Burgvogt des Königs prügelt? Die Pfeife ist beim Sinnieren ausgegangen, ich muss sie erneut in Brand setzen. »Jonas Daniel, wo finde ich einen Weg in diese Geschichte?«

Im Wald knacken dürre Äste. Aus dem Pfeifenqualm taucht hinter alten Bäumen ein Schatten auf und kommt näher. Die Gestalt wird deutlicher. Ein großer kräftiger Mann in altertümlicher Kleidung kommt auf mich zu. Enganliegende dunkelblaue Hosen, die in Lederstiefeln stecken, knielange Tunika mit vier weiß-hellblauen Feldern, vorn und hinten geschlitzt, in der Hüfte gegürtet. Um die Schultern trägt er einen blauen Rittermantel, den eine Schließe auf der linken Schulter zusammenhält. Auf der Brust prangt das Wappen der Dohnas mit den gekreuzten Stangen eines Hirschgeweihs, welche Mut und Tapferkeit des Ritters symbolisieren. Verblüfft starre ich Ritter Jonas an und nehme vor Aufregung noch einen Zug aus der Pfeife.

»Du bist schon nahe dran, was störst du mich noch?«, sagt er aus dem Dunst mit einer eigenartig hohl tönenden Stimme. »Diese sogenannte Dohnaische Fehde ist ein Historikermärchen. Sie war in Wirklichkeit der schon sehr lange geplante Krieg Markgraf Wilhelms I. von Meißen, Landgraf von Thüringen, gegen meinen fürstlichen Herrn, Otto Heide II. von Dohna, um die gesamte Familie der Donins auszulöschen. Es ging um die Städte, Dörfer und Landesgrenzen im Osterzgebirge. Vorausschauende fürstliche Planung war das, damit kein Erbe mehr übrig blieb. Der einzige Überlebende der Grafen von Dohna war Otto Heide III., der in Prag starb und als Letzter der Dynastenfamilie im Nossener Erbbegräbnis beigesetzt wurde.«

»Glaube ich nicht. Wo soll das stehen?«

»In einer alten Urkunde, derZellischen Chronik P. ll. 97, kannst du es lesen, sofern du die gotischen Buchstaben entziffern kannst. Ich sage dir, was dort steht: ›Nach Gotis Geburt MCCCC in dem fünfzehnten Jahre (1415), an der Elfftausend Jungwrowen Tage ist gestorben der Edle Herr Heyde Burggrave von Donyn, Ritter, in der Zeit, als dy bose Kezerey (dogma Hussii) sehr obirhant nam, der hier begraben ruhet in Gott Amen. Dicebat. Gott biß mir Sünder gnädig.‹«

»Mag sein, Ritter Daniel, wie aber bist du in diesen kriminellen Rechtshandel geraten?«

»Vergleiche nicht dein Leben mit meinem! In den Städten könnt ihr friedlich und bequem leben, wenn ihr es euch vornehmt. Aber weißt du, welchen Störungen und Aufregungen die Menschen in unserem Stand ausgesetzt sind? Glaubst du, dass ich unter Rittern jemals Ruhe finde? Man lebt auf dem Feld, im Wald und in den bekannten Burgen auf dem Berg. Die uns ernähren sind bettelarme Bauern, denen wir unsere Äcker, Weinberge, Wiesen und Wälder verpachten. Der einkommende Ertrag ist, gemessen an der aufgewandten Mühe, geringfügig; ergo müssen wir uns in den Dienst eines Fürsten stellen.«

»Du sprichst ja wie ein Rechtskundiger.«

»Ich war eines von achtzehn adligen Mitgliedern des weithin berühmten Dohnaer Schöppenstuhls unserer Reichsgrafschaft. Untersuche endlich das Verbrechen! Es ist an der Zeit.«

Der Rauch hat sich verzogen, die Sonne blitzt auf. Der Schatten ist verschwunden, und ich weiß so viel wie vorher. Das Kreuz steht noch immer als Mahnmal an seiner Stelle. Es erinnert die Dresdner bis heute an einen Rechtsfall aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Vielleicht ist es gerade deshalb von etwas Romantischem umgeben, weil der Fall nie geklärt wurde. Das möchte ich nachholen und mache mich auf die Suche nach dem Ursprung der Dohnaischen Fehde.

König Heinrich I. hat 934 Deutschlands Grenzen bis zur Oder und zum Kamm des Erzgebirges verschoben, in einen undurchdringlichen Urwald. Durch das Osterzgebirge führten seit der Steinzeit einige wenige Handelswege, die nun zu den wichtigsten im Reich gehörten. Was war zu jener Zeit derart wertvoll, dass man es auf so gefahrvollen Routen transportierte? Es war das Salz. Heute liegt es im untersten Regalfach und kostet nur wenige Cent, doch im Mittelalter war es kostbar wie das Gold, mit dem es aufgewogen wurde. Dieses Würzmittel brauchte jeder, um dem täglichen Mehl-, Hirse- oder Grützebrei etwas Geschmack zu verleihen. Doch es hatte früher noch eine andere, viel bedeutendere Funktion: Salz war als Konservierungsmittel unverzichtbar. Vor allem als sich während der kleinen Eiszeit ab dem fünfzehnten Jahrhundert die Missernten häuften und die Bauern – wo es möglich war – auf Viehwirtschaft umstiegen, wurden für die Verarbeitung zu Käse oder Fleischwaren große Mengen Salz benötigt. Der hohe Preis war unter anderem den mehr als beschwerlichen Transportwegen geschuldet. Sie mussten so gesichert sein, dass die Händler dem ständig wachsenden Bedarf nach Gewürzen gerecht werden konnten, von Straßen war jedoch beim besten Willen noch nicht zu sprechen.

König Konrad III. brauchte 1144 einen verlässlichen Mann an der Elbe im Gau Nisani, um die wichtige Passstraße aus Böhmen ins Reich durch den osterzgebirgischen Dunkelwald zu sichern. Seine Wahl fiel auf den Ritter Heinrich von Rötha – auch bekannt als Heinrich von Rothewa –, der in die sorbische Burg Dohna einzog. Er wurde reichsunmittelbarer Burggraf und nannte sich fortan von Dohna. Kaum einer wird ihn beneidet haben, in diese Wildnis zu ziehen, der Landstrich musste schließlich erst kultiviert werden, um bewohnbar zu sein – eine Sisyphusarbeit. Er nannte sich nun Heinrich I. von Dohna und war somit der Stammesvater des Adelsgeschlechts von Donin, unter dessen Herrschaft diese unwirtliche, gottverlassene Gegend einen gewaltigen Entwicklungsschub bekam. Und so begann auch der Aufstieg einer der bedeutendsten deutschen Adelsfamilien. Doch, Dohna, wo liegt dieses Gebiet eigentlich, das später zum Zankapfel werden sollte?

Im Müglitztal, nahe zum Königreich Böhmen gab es einst ein vergessenes Land mit der alten Burg Dohna. Kaiser Friedrich Barbarossa, der Nachfolger König Konrads III., ließ an der Stelle dieser Burg eine Festung errichten, um die Transitstraße von Böhmen über den Nollendorfer Pass nach Leipzig und zur Ostsee sicherer zu machen. Möglicherweise handelte es sich um die größte im Heiligen Römischen Reich zu jener Zeit. Sie umfasste zehn dicke, starke Sandsteintürme und fünfzehn geräumige Häuser. Die Burgmauer erstreckte sich über zwei Berge und war mehr als einen Kilometer lang. Von dort aus sollte ein kaiserlicher Beamter die Besiedelung der Erzgebirgstäler organisieren sowie alle wirtschaftlichen, rechtlichen und militärischen Aufgaben wahrnehmen. Als Grenzen dieser Burggrafschaft bestimmte der Kaiser im Norden die Elbe, im Süden die Weißeritz, im Westen die Markgrafschaft Meißen und im Osten das Königreich Böhmen. Die ihm direkt unterstehenden fürstlichen Burggrafen von Dohna erhielten den Auftrag, nach seinem Plan Dresden und dort die erste steinerne Elbbrücke zu bauen. Sie erhoben die Steuern in der Stadt sowie den Fernhandelszoll am Elb­übergang und hatten Anspruch auf ein Drittel dieser Einnahmen. Schmerzlich und entehrend für die wettinischen Markgrafen zu Meißen.

Diese Entscheidung des großen Kaisers war unter sachsentreuen Historikern umstritten, bis schließlich ein Archäologe die Fundamente der Neustädter Brückenpfeiler freilegte, die tatsächlich das doninsche Wappen als Beweis dafür freigaben, dass die Burggrafen von Dohna den kaiserlichen Befehl ausgeführt hatten. Zu aller Überraschung datierte der sächsische Landesarchäologe Reinhard Spehr 1986 Steine und Wappen bereits auf die Mitte und nicht erst auf das Ende des zwölften Jahrhunderts, was die Historiker eigentlich dazu bringen müsste, ihre Bücher umzuschreiben. Doch nichts da. Selbst heute findet sich zu diesem Kuriosum nirgends eine Zeile. So spiegelt sich die Geschichte der Burggrafen von Dohna noch immer im Zwielicht der Geschichte.

Die weitere Besiedlung der Burggrafschaft war Thema eines Ritterthings, einer Vasallenversammlung auf der Burg Dohna. Mehr als zwanzig Ritter versammelte Burggraf Otto I. Mitte des dreizehnten Jahrhunderts in der großen Halle. Die Anwesenheitsliste ist abhanden gekommen. Es waren alles Zweit- und Drittgeborene aus mitteldeutschen Geschlechtern, die nicht erbberechtigt waren und das Angebot des Burggrafen angenommen hatten, hier eine eigene Burg zu errichten. An der Stirnseite saßen der Fürst, rechts von ihm ein Mönch aus dem Kloster Zelle in Nossen und links einer aus Ossegg sowie der Priester aus der Dohnaer Kirche als Schreiber. Jeder hatte einen großen Krug Dresdner Bier vor sich. Der Fürst erhob sich und streckte seinen Krug vor. Rasselnd standen die Vasallen auf und taten ihrem Lehnsherrn Bescheid. Nachdem sich alle wieder gesetzt hatten, berichtete der Graf, das Märzenbier stamme aus seinem neuen Kastell an der Dresdner Elbbrücke. Nun gehe der Ausbau der Grafschaft weiter, seine Lehensmänner sollten neue Lokatoren nach Thüringen und Franken senden, um weitere Bauern anzuwerben, die neue Gebiete in der Grafschaft roden sollten.

Der Schreiber wollte die Konditionen wissen: »Persönliche Freiheit, fünf Hufen Land und sieben Jahre abgabenfrei?« Es wurde ihm bestätigt. Die Ritter rasselten mit den Schwertern. Sie würden neue Dörfer gründen und den Dunkelwald weiter zurückdrängen. Planung und Technologie lagen in den Händen der Klöster Nossen und Ossegg. Der Graf wandte sich jetzt an den Pater aus Ossegg. Aus Böhmen müsse er weitere Glasmacher ins Gebirge holen, damit das überzählige Holz vom Roden verfeuert würde. Die Kirchen seines Landes brauchten schließlich Glasfenster. Der Zisterzienser nickte stumm. Er werde einen Boten senden.

Eine besondere Gnade des Himmels war es schließlich, dass ausgerechnet hier ziemlich häufig Eisenerz zutage trat. Schließlich war der Verschleiß an Äxten, Keilen, Hämmern, Sägen und Pflügen enorm. Aus Lauenstein, Berggießhübel und Reichstädt kamen die Erze, welche in den Flusstälern wie beispielsweise bei Schlottwitz zu schmiedbarem Eisen wurden. Für Dippoldiswalde und das Müglitztal seien deshalb weitere Bergknappen nötig, um die Silberförderung zu steigern. Bei Berggießhübel müssten weitere Eisengruben entstehen. In Nossen sei alles genau aufgezeichnet. Auch die Pläne für neue Dorfgründungen seien vorbereitet. Der Pater aus Nossen versicherte, einen bergkundigen Bruder zu senden, wenn die Siedler einträfen. Da zumeist Bauernsöhne aus den Gebieten der Mainfranken und Thüringer kämen, zögen sie sicher über Nossen. Danach wurden die Lagepläne für die neuen Dörfer in den Tälern der Gottleuba, der Müglitz und der Weißeritz ausgebreitet.

Der Graf klatschte in die Hände und rief nach neuen Bierkannen: »Diesmal Schweidnitzer aus Breslau!« Die Herren Ritter müssten nun nachdenken, wie genügend Thüringer ins Land kämen. Dann winkte er seinen Vogt heran, er solle neue Werber zu den Bergknappen in den Harz und nach Thüringen senden, damit sich in der Genossenschaft seiner Stadt Dippoldiswalde weitere Dhöringe ansiedelten. (Damit sollte die Frage meines Freundes Paul Döhring geklärt sein, wo seine Vorfahren herstammten.) Jedenfalls sehen es die Gebrüder Grimm so.

Trotz der ersten Siedlungswelle sah es im Gebirge noch immer unheimlich aus. Wisente, Elche und Auer­ochsen zogen durch die Wälder. Der Vorteil war, dass diese Grasfresser große Waldwiesen freihielten. Diese waren geeignete Siedlungsplätze für neue Ankömmlinge. Wagner und Radmacher müssten in Gottleuba, Liebstadt, Dippoldiswalde und in Maxen angesiedelt werden. Darüber hinaus sei es nötig, ausreichend Vorspannpferde und Zugochsen bereitzuhalten. Außerdem seien Rasthäuser und eine Schmiede notwendig. Verkehrsregeln seien im Sachsenspiegel aufgezeichnet. In dem Gesetzbuch heißt es: »Der leere Wagen soll dem geladenen ausweichen und der minder geladene dem schwereren. Der Reitende weiche dem Wagen und der Gehende dem Reitenden. Sind sie aber auf einem engen Wege oder auf einer Brücke, und verfolgt man einen Reitenden oder einen zu Fuß; so stehe der Wagen still, bis sie vorüber kommen mögen. Welcher Wagen eher auf die Brücke kommt, der soll zuerst darüber gehen, er sei leer oder geladen.« Die Ritter klopften mit den Bierkrügen, um zu zeigen, dass Vorspannpferde in jeder Burg zu haben wären.

Burggraf Otto I. schob je einen Beutel mit dohnaischen Brakteaten über den Tisch zu den Padres. »Dafür lest ihr regelmäßig Messen für das Seelenheil meines Vaters Heinrich II., dessen Politik wir hier vollenden werden.« Gleichzeitig winkte er seinen Mundschenk heran. »Eine neue Kanne für die Pfaffen!«

Ab Mitte des dreizehnten Jahrhunderts veränderte sich tatsächlich das Gesicht des Dunkelwaldes im Gebirge völlig. Immer neue Siedler wanderten ein. Die Täler der Gottleuba, Müglitz und Weißeritz waren bald besiedelt. Straßen durchzogen die Region. Die heutige A17 kann man deshalb ohne Übertreibung als eine der ältesten Fernverbindungen bezeichnen. Mit den Kolonisten waren auch Sattler, Zimmerleute, Glasmacher, Hufschmiede, Kesselflicker, Schneider, Drechsler, Schmiede und Gerber gekommen. In Dohna, Pirna und Dippoldiswalde wuchsen Kirchen in den Himmel, und damit entstanden erste Lateinschulen. Die Klöster unterstützten die Grafen aber auch beim Aufbau einer funktionierenden Verwaltung des kleinen Landes, was die Abrechnungen beweisen. Seit Mitte des vierzehnten Jahrhunderts gab es sogar Schulbildung.

Silber, Salz und Zoll füllten die Kassen der Burggrafen von Dohna, so dass diese bald zu den Reichsten im deutschen Reich zählten. Sie ließen eigenes Geld prägen. Bereits seit 1279 besaß die Familie ein eigenes Erb­begräbnis in Nossen-Altzella mit eigener Kapelle. Der erstmals 1390 bezeugte Dohnaer Schöppenstuhl wurde im ganzen Reich berühmt, unter den Urteilen prangte das eigene Siegel. Damit war es an der Zeit, eine Landesherrschaft anzustreben. Die zentrale Reichsverwaltung hatte sich ohnehin aufgelöst, das führte zwangsläufig zum Erstarken der kleineren, überschaubaren Herrschaften. Diese politische Konstellation nutzten die Reichsgrafen im kleinen Müglitztal tatkräftig, um eine unumschränkte Dynastie aufzubauen. Ihr Dominium war durch Burgen nahezu abgegrenzt und dadurch als Herrschaftszone unschwer auszumachen, was eine Vorstufe zur Landesherrschaft war. Die »Herren« Markgrafen von Meißen würden sich daran gewöhnen müssen, dass es zwischen ihnen und dem König von Böhmen eine weitere einflussreiche Adelsfamilie gab. Die Wettiner waren unmündige Knaben, sie würden Otto Heyde II. (Burggraf 1336‒1385) von Dohna kaum daran hindern können, seinen Einfluss weiter auszubauen. Die Chance, Landesherren zu werden, stand für die Donins also mehr als günstig.

Das war die Ausgangslage für die eine der beiden Parteien jenes Konflikts, auf den Jonas Daniel angespielt hatte. Nun gilt es noch, die wettinische Seite zu klären, um beurteilen zu können, was rechtens und was möglicherweise kriminell war.

Nachdem der Markgraf von Meißen und Landgraf von Thüringen Friedrich der Ernsthafte auf Anraten seiner Mutter die deutsche Kaiserkrone an Karl IV. auf der Dresdner Elbbrücke verkauft hatte, verstarb er 1349 überraschend. Nun war guter Rat teuer, denn der Verstorbene hinterließ vier unmündige Söhne. Was tun, um das Territorium heil durch die entwurzelte Ritterwelt des vierzehnten Jahrhunderts zu steuern? Glücklicherweise hatten die jungen Fürsten eine Großmutter, die in der Lage war, dieses Problem zu lösen. Es regierte also die Landgräfin Elisabeth die Jüngere von Lobdeburg-Arnshaugk. Als Erstes erreichte sie, dass die vier Enkel das Land nicht teilten, sondern geschlossen auftraten. Ein wohl nahezu einmaliger Fall. Kaiser Karl IV. belehnte die Wettin-Brüder 1350 gemeinsam in Bautzen. Der vierzehnjährige Balthasar zog auf die Wartburg und erhielt Thüringen, der siebenjährige Wilhelm bekam Meißen und regierte von Dresden aus. Friedrich III. wurde als Achtzehnjähriger Markgraf des Oster- und Pleißnerlandes. Er regierte von Landsberg aus und war gleichzeitig Vormund seiner Brüder. Die Historiker sind sich in diesem Falle alle einig: Die alte Landgräfin hat ein herausragendes Stück diplomatischer Geschichte Deutschlands zuwege gebracht und die Weichen für Meißen-Sachsen in der Neuzeit gestellt.

Friedrich III. war bereits 1346 gewinnbringend mit Katharina von Henneberg verheiratet worden. Nach dem Tod ihres Vaters 1347 ging das Gebiet um Coburg und Sonneberg in den Familienbesitz der Wettiner über. Die meisten der heute noch bestehenden europäischen Königshäuser stammen letztlich aus der besonders fruchtbaren Seitenlinie Sachsen-Coburg und Gotha. Ein weiteres Problem bereitete der Regentin große Sorgen. Kaiser Karl IV. umklammerte von Prag aus Meißen. Ihm gehörten bereits Brandenburg, die Lausitz, Böhmen und die Oberpfalz. Elisabeth bereitete folglich eine diplomatische Offensive vor. Für den vierten Bruder, Ludwig von Wettin, war kein Stück Land mehr übrig geblieben. Die Großmutter entschied, dass er Bischof werden und die Familie von dieser Seite aus unterstützen solle. Dafür sollte er Meißen und Naumburg zunächst von der Befehlshoheit des Erzbistums Prag befreien. Ludwig schied zwar nicht ungern aus der Erbfolge aus und musste auch nicht lange überzeugt werden, in den geistlichen Stand einzutreten, doch alle Erwartungen seiner Großmutter konnte er nicht erfüllen. Er erhielt 1358 siebzehnjährig das Bistum Halberstadt. 1366 war er Bischof von Bamberg und 1374 bereits Erzbischof von Mainz. Nachdem er von einem Gegenbischof abgelöst worden war, bekam er das Erzbistum Magdeburg. Der Geistliche führte den Beinamen Saltarellus. Der Saltarello war ein gerade aufgekommener Modetanz. Er wurde in dieser Zeit abwechselnd immer nur von einem Paar getanzt, das die übrigen umstehend beklatschten. Saltarello wird »rasch und hüpfend, mit steigender Schnelligkeit, wesentlich mit dem Oberkörper getanzt, der Mann spielt im Tanz meist die Gitarre, die Frau schlägt das Tamburin oder hebt anmutig die Schürze; die leidenschaftlichen Bewegungen, hüpfenden Wendungen und die geschickte Entfaltung der Körperform erinnern an die altrömischen Bacchustänze.« Bischofskollegen haben ihm das übelgenommen.

1382 griff dann der Himmel ein. Erzbischof Ludwig war im Stadthause zu Calbe auf einem Tanzvergnügen. Als dort ein Feuer ausbrach, soll der Geistliche einer thüringischen Historiker-Version nach eine ehrbare Dame beim Arm gefasst haben und mit ihr die Treppe hinabgeeilt sein. Um ihr nicht auf den Rock zu treten, soll er die Treppenstufe verfehlt haben, gestürzt sein und sich das Genick gebrochen haben. Einer anderen, glaubhafteren Version nach soll Ludwig die Treppe noch einmal hinaufgelaufen sein, um das Liebste zu retten, was er besaß – seine Geliebte. Die einstürzende Treppe habe ihn dann begraben. Seine letzte Ruhestätte hat er im Magdeburger Dom gefunden. Man sollte meinen, es war ein ehrenvoller Tod im Dienste der schönen Frauen.

Der kleine Wilhelm I. betrat auf Anordnung seiner Großmutter ein völlig anderes Parkett. Er wurde Lehrling bei keinem Geringeren als Kaiser Karl IV. Einige Historiker behaupten, er sei Analphabet gewesen. Quelle hierfür ist offenbar ein offizieller Brief von ihm an seinen Bruder Ludwig, in dem steht: »Ich kann doch nicht schreiben.« Die Historiker des Hauses Sachsen haben ihn vielleicht deshalb nahezu einhellig kaum beachtet. Doch Dr. André Thieme von der Schlösserverwaltung Sachsen gibt Entwarnung: »Man kann davon ausgehen, dass alle Fürsten lesen und schreiben konnten.«

Im Frühherbst 1350 ritt eine kleine Reiterkavalkade aus der Dresdner Burg des Markgrafen auf Bomätscherpfaden durchs Elbtal in Richtung Böhmen. Für den Siebenjährigen begann seine Zeit als Page auf der Prager Burg. Karl IV. hatte dafür extra ein geräumiges Haus zur Verfügung gestellt, um die Wettiner an sich zu binden und Meißen-Thüringen irgendwann zu kassieren. Doch es kam dann, wie so oft in der Geschichte, wieder einmal völlig anders. Man hatte mit dem kleinen Wilhelm nicht gerechnet.

Karl, damals römisch-deutscher König und König von Böhmen, folgte bei der Ausbildung genau dem Lehrplan, den er selbst am französischen Hof in Paris erlebt hatte. Nur dass Wilhelms Lehrer kein späterer Papst war, sondern der Prager Augustiner-Chorherr Vitalis aus dem Umfeld des Kanzlers Johannes von Neumarkt. Obwohl die Zeit des Ritteradels seit Beginn des vierzehnten Jahrhunderts ablief, hielt der König den Stand der Ritter noch hoch. Der Weg des Kleinen würde genau wie bei ihm selbst hart und steinig werden. Die ersten fünf Jahre als Page waren zweifellos die angenehmsten. Sie begannen mit dem Erlernen höfischer Umgangsformen, wofür Wilhelm in die Obhut der Königin Anna und ihres Hofstaates gegeben wurde. Als angehender Weltmann musste er feines Auftreten beherrschen. Dazu übte er sich in Manieren und bediente bei Tisch. Vor allem musste er sich in ritterlichem Benehmen der Königin und ihrer Hofdamen gegenüber schulen. Pater Vitalis machte ihn dazu mit allen höfischen Tugenden vertraut. Die Staete, das Festhalten am Guten, und die Mâze, das Maßhalten bei allem, waren die Grundvoraussetzungen aller Rittertugenden. Damit war ein wichtiger Schritt in die Zukunft getan. Wilhelm hatte gelernt, wie man mit Frauen umgehen musste, was auf Königin Anna offenbar einen so großen Eindruck hinterließ, dass sie für ihn nach Heiratskandidatinnen in der Familie suchte.

Im Jahr 1355 wurde Karl in Rom durch einen Kardinal zum deutschen Kaiser gekrönt. In diesem denkwürdigen Jahr wurde Wilhelm zwölf, und Kaiser Karl IV. übernahm die wichtigsten Teile der weiteren Erziehung selbst. Die Höflinge bildeten Wilhelm nun auf kaiserliche Anweisung im speziellen Ritterhandwerk aus. Dazu gehörten zunächst täglich Fechten und Schwertkampf, anfänglich noch mit hölzernen Waffen. Er wurde zielgerichtet abgehärtet und regelmäßig zur Jagd mitgenommen. Aber auch Schwimmen und Ringen waren wichtige Disziplinen. Selbst das Aufstellen von Vogelfallen war Teil des Lehrplans. Nach zwei weiteren erfolgreichen Jahren ernannte ihn Karl IV. zu seinem persönlichen Knappen. Wilhelm stand nun bei Mahlzeiten, Beratungen, Versammlungen und sonstigen Aufgaben an der Seite seines Herrn. In der freien Zeit standen die perfekte Reittechnik, Faustkampf und Armbrustschießen auf dem Stundenplan. Während der Ausritte hatte er dem Kaiser in die Rüstung zu helfen, seinen Schild und den Helm zu tragen. Wilhelm war auf bestem Wege, ein Ausnahmeritter zu werden. Die Freisprechung, oder besser die Schwertleite, erfolgte zur Volljährigkeit. Vierzehnjährig wurde er zum Miles Christi, zum christlichen Ritter, geschlagen. Auf die ritterliche folgte die Ausbildung in Staatskunst. Karl IV. war unbestrittener Meister in Diplomatie, Strategie, staatlicher Taktik – zusammengefasst: in persönlicher politischer Verschlagenheit. Die staatliche Verwaltung sollte Wilhelm in der kaiserlichen Kanzlei an der Seite des Kanzlers Johannes von Neumarkt kennenlernen. Kaiser Karl IV. klatschte in die Hände. »Bischof Johannes zu mir!«

Wenig später öffnete sich die Tür. Kanzler Johannes von Neumarkt in seiner schwarzen Augustinerkutte trat mit gespanntem Blick vor seinen Herrn. »Hören heißt gehorchen!«

»Bischof von Leitomischl, weihe den Markgrafen von Meißen in deine kaiserliche Verwaltung ein. Mal sehen, was er dann sagt. Wegtreten!« Der Kaiser trat ans Fenster und blickte sinnend auf seinen Dom. Plötzlich fiel ihm noch etwas ein. »Kanzler, ich will wissen, wie der junge Fürst reagiert.«

Über einige Treppen gelangten Wilhelm und der Kanzler kurz darauf in einen großen Saal. »Das Scriptorium der kaiserlichen Kanzlei des Heiligen Römischen Reiches.« Wilhelm sah ein Wirrwar von Schreibpulten, an denen Mönche arbeiteten. Als er aus dem Fenster blickte, erkannte er, dass der Kaiser interessiert her­überblickte. Es ging offenbar um etwas Bedeutendes. »Bischof, wo sind wir hier?«

»In der kaiserlichen Verwaltung des Heiligen Römischen Reiches.«

Ein Mönch stand auf und schritt zu drei anderen Mönchen, die nebeneinander auf einer Bank saßen und sich mit den Federkielen abmühten. Der Schreibmeister blickte nur kurz auf ihr Pergament, deutete auf eine Minuskel und forderte, alles noch einmal abzuschreiben. Plötzlich hielt er inne, richtete sich auf und verneigte sich wortlos vor Wilhelm, wobei sein Blick auf dem Meißner Löwen geheftet war. »Ich schreibe gerade an Landgraf Balthasar von Thüringen und Markgraf Friedrich von Meißen.«

Wilhelm zeigte Interesse. So eine Kanzlei könnten er und seine Brüder auch brauchen. Diesen Meister der Scriptoren wollte er in Dresden. Er sollte alles für eine Kanzlei und das Archiv der Mark Meißen vorbereiten. Wilhelm blickte zu Bischof Johannes auf. »Bischof, verzeiht. Kann ich diesen Mann haben? Meißen braucht eine Kanzlei wie diese, nur eben kleiner.«

»Ihn gerade nicht, den braucht der Kaiser, aber einen anderen aus Meißen sollst du bekommen.« Johannes von Neumarkt strich sich nachdenklich über das Kinn. Eine gescheite Idee. Die kaiserlichen Urkunden werden nur dann zu einem wirkungsvollen Machtinstrument, wenn sie überall verstanden und nach einem einheitlichen Konzept aufgesetzt werden.