Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Gentest war sicher. Mein Papa Mihai I. löste sich in Nichts auf. Null Komma null Prozent waren wir verwandt. Null Komma null – das ist ziemlich wenig. Dann fand ich Mihai II. und wir kamen auf 99,99 Prozent Übereinstimmung. Der Rest ist Sternenstaub. – Leseprobe: "Unser Paradies lag jenseits der Schnellstraße. Aus den Fenstern unserer vierzig Quadratmeterwohnung beobachtete ich den Krankenhauskomplex mit den parkähnlichen Grünanlagen bereits seit meiner Kindheit. In gewaltigen Töpfen schleppten Männer mit Kochmützen das Mittagessen über das Gelände. Wie gern hätte ich etwas davon gehabt, war unser Kühlschrank doch immer leer."
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 69
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Unser Paradies lag jenseits der Schnellstraße.Aus den Fenstern unserer vierzig Quadratmeterwohnung beobachtete ich den Krankenhauskomplex mit den parkähnlichen Grünanlagen bereits seit meiner Kindheit. In gewaltigen Töpfen schleppten Männer mit Kochmützen das Mittagessen über das Gelände. Wie gern hätte ich etwas davon gehabt, war unser Kühlschrank doch immer leer. Von mir bewundert, hatte mein Vater viele Jahre Fernseher repariert, es in der Wohnung für mich herrlich nach dem beim Löten verwendeten Kolophonium geduftet. Jetzt roch es nur noch nach Alkohol.
Wie lustige kleine Figuren liefen Menschen über das Gelände des Krankenhauses. Ich konnte ihre Kittel erkennen. Grüne, weiße, blaue und graue waren zu sehen und erschienen mir wie ein Geheimcode. Wer von diesen Menschen trug welche Farbe und ging welcher Tätigkeit im Krankenhaus nach? Lange Zeit wusste ich es nicht. Träumte jedoch davon, selbst einen solchen Kittel zu tragen – am liebsten einen weißen. Bestimmt waren das die Ärztinnen. Narcisa ist mein Vorname. Dr. Narcisa. Wie gut hörte sich das an.
Seit Nicolae Ceaușescus Tod und dem Zusammenbruch des Kommunismus verwahrlosten die einst gepflegten und stetig nachgesäten Grünflächen vor unseren Wohnblöcken. Autos parkten nun dort. Nachbarn luden jenes Gerümpel ab, das sie in ihren Wohnungen und Leben nicht mehr haben wollten. Für das Spiel von uns Kindern und Jugendlichen waren die einstigen Grünflächen verlorengegangen. Also liefen wir über die Schnellstraße und zogen vor den Pförtnern des Krankenhauses unsere übliche Show ab.
„Unsere Eltern sind hier Ärzte“, posaunten wir heraus, pochten auf unser Recht, das Gelände deshalb betreten zu dürfen und musterten die Gesichtszüge der Pförtner. Zerschlissene, bereits von mehreren Geschwistern getragene Hosen und Pullover hingen über meinem skeletthaften Körper. Allesamt sahen wir nicht aus wie Kinder von Ärzten. Die Pförtner allerdings zogen auch nach Belieben ihre Show durch. Manchmal kauften sie uns das Gequatsche ab und winkten uns ins Paradies. Anderntags schickten die Pförtner uns weg, auf dass wir ein Stückchen weiter über den Zaun klettern mussten.
Die Schotterwege und Rasenflächen mit ihren Umrandungen aus Blumen wurden unsere Bühne. Gegenseitig spielten wir Mädchen uns etwas vor, schlüpften in Rollen, die ganz fern waren von unserem Alltag: unseren von Armut und Alkohol zerstörten Familien, den Geschichten von den ins Ausland gelockten, dort verkauften hübschen Frauen aus unserem Viertel, meiner knöcherigen Figur und der Katastrophe aus Vorderzähnen im Gesicht, die mich in der Schule zum Gespött machte und nur mühsam zu verstehende Sätze aussprechen ließ.
Meine Darbietung auf dem Schotterweg des Krankenhausparadieses war trotzdem brillant. Die Mädchen bekamen ihre Münder gar nicht mehr zu, als sie den Schmerz auf meinem Gesicht aufziehen sahen, ich mir wie nach einer schlimmen Verwundung den Fuß hielt, schluchzte und winselnd zu Boden sackte.
„Genial, Narcisa!“, setzte Applaus ein. Meine Freundinnen jubelten und spornten mich an. Erst dann sahen sie das von meinem Fuß auf den Schotter tropfende Blut und die Glaskanüle, in die ich getreten war. Spitze Scherben steckten in meiner Haut. Das Blut ließ sie schimmern. Meine Rolle war die Realität gewesen. Ihr werdet sehen, das wird noch oft so sein in meinem Leben.
Immerhin waren wir jetzt legal im Paradies. Zwei Freundinnen hakten mich unter. Ich humpelte zur Versorgung meiner Wunde auf eine Station und präsentierte den Pförtnern an den kommenden Tagen als Einlassticket einen prächtigen Verband. Wieder liefen wir ins Paradies. An jenem Freitag jedoch drangen meine Freundin Raluca und ich in dessen Herz vor und sollten ein ganzes Wochenende dort glücklich sein.
„Das Fenster, Raluca. Schau mal, es steht offen“, trotteten wir soeben an der sich an das Krankenhaus anschließenden Apotheke vorüber. Die Angestellten waren längst ins Wochenende gegangen. Das taten sie freitags immer zur Mittagszeit. Offenbar hatten sie es eilig gehabt und vergessen, das Fenster zu schließen. Es lag im Obergeschoss, gar nicht weit von einer daneben emporführenden Eisentreppe.
Raluca machte große Augen und grinste. Zügellos wuchsen wir in unseren Familien auf. Wussten, was zu tun war. Schauten uns kurz um. Schlichen wie Diebinnen die Eisentreppe hinauf, befanden den Abstand zwischen Stufen und Fenster als machbar und sprangen hinein.
Beim Sprung durch das geöffnete Fenster kicherte ich. Das Mädchen aus unserer Nachbarwohnung fiel mir ein. Als Kinder waren wir – wenn man das so nennen will – verfeindet gewesen. Jedenfalls bekriegten wir uns. Schafften erst Eier, später dann Müllsäcke herbei, lehnten uns aus den Fenstern und: Feuer frei!
„Ptschkrks“ zerfetzte ein Ei am Schlafzimmerschrank der Nachbarwohnung, „Patsch“ glibberte die Rache an unserem Küchenschrank herunter. Zornig verlegten wir uns später auf’s Schleudern prallgefüllter Müllbeutel. Dann wurde es irgendwie doof.
Raluca landete neben mir in der Apotheke. Dutzende braune Gläser voller Zauberpulver, hunderte, hinter Glastüren mächtiger Schränke blitzweiß erstrahlende Medikamentenverpackungen, weiße Kittel an Haken und darunter die ebenfalls weißen Apothekerlatschen begrüßten uns. Dies musste das Herz des Paradieses sein. Und wir waren mittendrin.
Ein eiliger Blick nach draußen. Niemand war zu sehen, nirgends ein Laut zu hören. Kurzerhand schloss ich das Fenster. Raluca und ich tänzelten vor Freude auf der Stelle herum, machten uns über die Kittel und Latschen her, schauten uns an und ließen das Glück lachend aus uns herausplatzen.
„Ohhhh, Dr. Raluca“, verbeugte ich mich vor meiner Freundin in ihrem Kittel. „Wie läuft es denn mit der Operation?“
„Alles Böse wurde entfernt“, erwiderte meine Freundin, als habe unser einfältiges Leben soeben eine Kehrtwendung vollzogen.
„Und bei Ihnen, Dr. Narcisa?“
Eine auf dem Schreibtisch liegende Hornbrille aufsetzend, stand ich nun bebrillt, in Kittel und weißen Riesenlatschen vor Raluca. Es fühlte sich an als wäre mein Lebenstraum wahr geworden. Ich war eine Ärztin. Eine Ausbildung hatte ich dafür nicht gebraucht. Lediglich ein offenes Fenster.
„Es ist Zeit, die Medikamente anzurühren“, sagte ich trocken, als warteten tatsächlich Patienten auf ihre Medizin, betrachtete durch meine Hornbrille die Etiketten einiger brauner Apothekengläser und tat, was Pippi Langstrumpf auch getan hätte.
„Tinct. Aloes“, las ich feierlich, hob das Glas aus dem Regal und stellte es auf den Tisch. „Sulfur praecipitatum“, „Tanninalbuminat“ und „Phenyldimethyl Pyrazol“ platzierte ich daneben, hatte keinerlei Schimmer, um was für Stoffe es sich handelte, und tönte dennoch:
„Das, Raluca, ist genau, was unsere Patienten brauchen.“
Wie Alchemistinnen schraubten wir alle möglichen Gläser auf, schnupperten an Pulvern und Flüssigkeiten, stupsten unsere Finger hinein, leckten sie ab, rührten mit Löffeln und Spateln herum und vermischten in herbeigeschafften Bechergläsern alles auf das Herrlichste. Gut und gern hätte eine Explosion uns Medizinprinzessinnen samt Apotheke in Fetzen reißen können. Doch wir fühlten uns himmlisch, ganz als erfänden wir ein die Welt von allem Übel befreiendes Medikament. Hunger gäbe es dann nicht mehr, keine Alkoholiker, zerschlissenen Klamotten, schreienden Väter, Huren und Schneidezähne wie Katastrophen.
Mein Blick fiel auf einen im Nebenzimmer stehenden Computer. Niemand in Rumänien besaß in den 1990ern daheim eine solche Wunderkiste. Respekt oder Scheu empfand ich dennoch nicht davor. Dafür hatte ich meinem Vater zu oft bei der Reparatur von Fernsehern und seinen elektronischen Basteleien zugeschaut. Gerade werkelte er bei einem Freund an Inkubatoren zur Zucht von Schlupfeiern und Hühnchen, schwärmte vom bevorstehenden grandiosen Geschäft mit solchen automatischen Brutmaschinen und würde bestimmt doch wieder nur scheitern.
Einen Computer hatte mein Vater bestimmt noch nicht in die Hände bekommen. „Anders als Frau Dr. Narcisa“, kicherte ich in mich hinein, fuhr die Kiste hoch und schaute gespannt auf den Monitor. Er wurde hell. Der Rechner schien mir einsatzbereit zu sein. An Passwörter hatte niemand gedacht.
Fröhlich tippte ich auf den Tasten herum. Raluca schimpfte im Nebenzimmer. „Frau Doktor“, rief sie zu mir herüber. „Ich habe Hunger. Von der scheiß Medizin wird ja keiner satt.“
Es war Abend geworden. Daheim würde mich niemand vermissen. Bei uns kamen und gingen die Familienmitglieder wie sie wollten und ihr Alltag es verlangte. Keiner interessierte sich für die anderen. Ich war vierzehn und vogelfrei genug, um das ganze Wochenende in der Apotheke zu verbringen.
Auch mich plagte Hunger. Ralucas Klagen jedoch war verstummt und es klang, als risse sie im Nebenzimmer irgendwelche Verpackungen auf. Ich tippte auf der Tastatur herum. Wie von Geisterhand öffneten sich gerade einige Programme, als meine Freundin schwungvoll im wehenden Kittel ins Zimmer rauschte und mir ein Becherglas voll dickflüssiger weißer Brühe in die Hand drückte.
„Hier trink, Frau Doktor“, lachte Raluca mich an. „Babymilch. Bananengeschmack.“