Zerbrochenes Herz, unbezwingbarer Geist - Monica Becker - E-Book

Zerbrochenes Herz, unbezwingbarer Geist E-Book

Monica Becker

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Beschreibung

Narcisa wird im Norden Rumäniens, nahe der Grenze zur Ukraine, geboren. Die Region, heißt es, sei das Paradies auf Erden. Touristen finden das auch. Narcisas Welt und die ihrer Nachbarn und Freunde jedoch ist eine andere. Ihr Vater trinkt mehr, als dass er Fernseher repariert, tyrannisiert die Familie und beschimpft Narcisas Mutter als "Hure". Ständig wiederholt er das. Und eines Tages sitzt plötzlich der gut betuchte Soldat aus der Nachbarschaft im Wohnzimmer, wirft einen Blick auf Narcisa und niemand sagt ein Wort. Nichts wird ihr erklärt. Alles wird das Mädchen selbst herausfinden müssen. Das jedoch ist kaum zu schaffen in der dunklen Höhle, in der die Familie nach Abstellen des Stroms lebt.

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Seitenzahl: 177

Veröffentlichungsjahr: 2023

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MONICA BECKER

ZERBROCHENES HERZ,

UNBEZWINGBARER GEIST

Meine Lebensgeschichte - Erster Teil - Die Kindheit

Copyright - Monica Becker - Umschlagfoto - René Burkhardt

Verlag:

Narcisa-Monica Becker

Krefelder Weg 8


32758 Detmold

[email protected]

Vertrieb: epubli - ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Es wird oft gesagt, dass man sich seine Eltern nicht aussuchen kann. Diese Aussage ist tatsächlich wahr. Jedoch bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass sie sich mit der Zeit nicht doch verändern können - zumindest einer von ihnen. Mein Name ist Narcisa und ich möchte hier meine Lebensgeschichte erzählen, so wie ich sie gelebt habe. Dies ist die persönlichste und ehrlichste Version meiner Geschichte, die ich niederschreiben konnte. Ich habe in meinem Leben viel durchgemacht und dabei gelernt, dass nicht alles authentisch erscheinend auch wirklich wahr ist. Jeder Mensch hat seine eigene Realität und infolgedessen seine individuelle Wahrheit.

Ich entschied mich dazu, einen Text über meine eigene Person zu verfassen. Dieser Entschluss kam zustande, nachdem ich vor langer Zeit versucht hatte, einem Jungen, den ich sehr mochte, einen Brief zu schreiben und ihm einige meiner Gedanken mitzuteilen. Dabei erkannte ich die positive Wirkung des Schreibens auf mein eigenes Wohlbefinden. Je mehr ich diesem Jungen von mir selbst offenbarte, desto stärker spürte ich eine Art Therapieeffekt meinen Ängsten und Unsicherheiten gegenüber aus vergangenen Zeiten. Den letztendlichen Brief habe ich ihm schlussendlich nicht geschickt - unsere Wege hatten sich bereits getrennt. Doch dieser Vorgang verdeutlichte mir deutlich das wohltuende Gefühl beim Verfassen eines solchen Selbstreflexionsbriefs. Durch das Abhandeln dieses Themas innerhalb des Briefes empfand ich eine innere Ruhe sowie ein ausgeglichenes Gemüt in mir heranwachsen.

In den fast vierzig Jahren meines Lebens habe ich zahlreiche Ängste und Unsicherheiten aller Art erlebt. Um zu verstehen, was mit mir geschehen war und um meine Ängste zu besiegen, füllte ich am Ende unzählige Seiten mit meinen Gedanken.

Obwohl ich einen Computer und ein Tablet besaß, die ich hätte nutzen können, bevorzugte ich es doch von Hand zu schreiben. Wenn der Stift in meiner Hand liegt und über das Papier gleitet, spüre ich eine direkte physische und persönliche Verbindung zur Geschichte.

Mit dem Stift fest in meiner Hand habe ich die vollständige Kontrolle über jeden einzelnen Buchstaben, den ich zu Papier bringe. Mein Selbstvertrauen ist gestärkt und meine Furchtlosigkeit wächst mit jedem Wort. Denn glauben Sie mir, um über sich selbst zu schreiben, braucht es eine gehörige Portion Mut! Zudem hindert mich der Stift daran, Dinge auszuschmücken oder prahlerische Formulierungen einzubauen - er drückt von hinten und zwingt mich dazu, nah an den Fakten zu bleiben. Er lässt mir keine Zeit zum Verweilen bei einem bestimmten Wort.

Jedoch habe ich festgestellt, dass diese Therapie keinerlei Effekt zeigt, es sei denn, ich verfasse darüber präzise und unverblümt meine inneren Beweggründe - ohne jeglichen literarischen Zierrat. Deswegen handelt dieses Buch nicht von einer romantisierten Version meines Lebens, die mit idyllischen Vorstellungen oder süßen Anekdoten wie aus einer Seifenoper geschmückt ist.

Es handelt sich um die Lebensgeschichte einer Frau, welche zunächst den schmerzhaften Weg von Hunger und Gewalt durchleben musste, bevor sie lernte, das Geschenk des Lebens zu genießen, welches ihr von Gott gegeben wurde.

Kapitel 1

Wer bin ich

Ich wurde in einem kleinen Ort im Norden, nahe der Grenze zwischen Rumänien und der Ukraine geboren. Es wird oft gesagt, dass diese Gegend so schön ist, dass sie mit dem Paradies auf Erden verglichen werden kann. Allerdings hat dieses Paradies zwei Seiten - eine für Touristen und eine für die Einwohner des Ortes. Von außen betrachtet ist die Gegend wunderschön. Zum Beispiel, wenn man mit dem Auto hierherkommt und ein paar Tage in den Bergen verbringt, sein Bier trinkt und auf einer Wiese entspannt. Im „Paradies“ singen Nachtigallen und Hirsche laufen unbesorgt herum und halten ab und zu an, damit man Fotos von ihnen machen kann.

Aber wenn du um 4 Uhr morgens aus dem Bett musstest, deine Kleidung im Dunkeln suchst, um anschließend ins Bergwerk zu gehen... Dann befindet sich das Paradies woanders.

Die Perspektive derjenigen, die in der Stadt als Kind aufwachsen, ist völlig anders. Es liegt nicht in unserer Macht zu entscheiden, wann und wo wir geboren werden oder wer unsere Eltern sind. Ich selbst bin da keine Ausnahme - ein Mädchen des Jahrgangs 1983.

Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, woran ich mich als erstes erinnere. Allerdings weiß ich noch, dass meine Geburt auf der neugeborenen Station des Krankenhauses stattfand, das hinter dem Wohnblock lag, in dem ich aufgewachsen bin. Meine Mutter brachte mich nach Hause und legte mich neben meine Brüder ins Bett. Die krankenhausähnlichen Gebäude waren rechteckig, lang und niedrig - genauso wie alle anderen Blöcke in unserem Viertel. Erst später wurde mir bewusst, welche Rolle sie in meinem Leben spielten.

Als kleines Baby öffnete ich zum ersten Mal die Augen und begann laut zu schreien - eine Art Ankündigung an die Welt: „Hallo! Ich bin da!" Doch im Laufe der Zeit fing ich an, von einer Zukunft im Krankenhaus zu träumen. Jeden Tag sah ich das Gebäude durch unser Fenster und fantasierte davon, selbst einmal dort zu arbeiten. Und nun stehe ich hier als ausgebildete Krankenschwester - genau wie damals geträumt.

Wenn du als kleiner Zwerg jeden Tag mit anderen Kindern in den Häuserblocks spielst, dann ist alles wunderbar. Du kennst keine Unterschiede zwischen schön und hässlich, es spielt keine Rolle, wie schmutzig deine Umgebung aussieht. Hauptsache du kannst spielen - Verstecken spielen, herumschreien oder hinter Katzen herlaufen, auf Abenteuerreisen durch die Stadt gehen. Alles, was du siehst, ist normal für dich und hat einen Platz in deinem Leben ohne Vorurteile. Du lehnst nichts ab, weil alles genauso sein muss, wie es ist und du weißt nicht, warum oder wieso das so ist. Das Wohnviertel, indem du lebst, die Straße und die Wohnung - egal, wie sie aussehen - sind alle deine Heimat und haben eine Bedeutung für dich ähnlich einem Schatz von Wert. All diese Eigenschaften bleiben in dir erhalten und werden zu einem Teil der Person, die du später sein wirst. Vielleicht kann ich mich nicht mehr daran erinnern, welches Gericht ich letzte Woche gekocht habe oder worüber ich vor zwei Tagen mit meinen Arbeitskollegen gesprochen habe. Aber was ich genau weiß ist, worüber Raluca und ich uns unterhalten haben, als wir uns das erste Mal auf der Wiese vor meinem Wohnblock getroffen haben - vor über 30 Jahren. Sie trug schmutzige Turnschuhe und ein Kleid, das sie um den Bauch mit einer Schnur gebunden hatte. Zu dieser Zeit funktionierten alle Minen noch reibungslos; sei es Kupfer-, Gold- oder Silberminen. In der Nähe der ukrainischen Grenze gab es auch eine Mine, bei der alle Menschen vermieden, dort zu arbeiten aus Angst davor, ihr Renteneintrittsalter niemals erreichen zu können. Wenn man den Weg Richtung Tisa einschlug, konnte man stets beim Mineneingang kleine Wagen entdecken. Diese waren immer mit roter Erde beladen und wurden in größere Behälter umgeladen. Von dort aus erfolgte der Weitertransport per Zug. Ich bin über all diese Details informiert, da ich auf diesem Pfad regelmäßig zu meiner Großmutter ging - der Mutter meines Vaters. An genau dieser Stelle machte ich stets Halt und beobachtete fasziniert das Hin- und Herfahren der Wagen, die von einem betagten Fahrzeug gezogen wurden. Es herrschte immer eine rauchige Atmosphäre an diesem Ort und die Hupe ertönte unablässig.

Ich hätte gern ein ähnliches Auto besessen, jedoch im Miniaturformat - damit könnte ich zwischen den Häuserblöcken herumfahren und alle anderen Kinder vor Neid erblassen lassen, weil sie so etwas nicht hatten. Dann würde ich hupen, sodass mir jeder Platz machen müsste.

In der Vergangenheit, als alle Minen noch in Betrieb waren, hatten sämtliche Männer in der Region eine Anstellung. Diese Arbeit ermöglichte es den meisten Menschen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und ihre Kinder zur Schule zu schicken. Mithilfe von Steuergeldern investierte das Rathaus regelmäßig in neue Wohnblöcke, bepflanzte das Stadtzentrum mit neuen Rosen und sorgte für Reparaturen an der Kanalisation oder die Bereitstellung neuer Mülltonnen dort, wo es nötig war. Dadurch blieb die Stadt stets sauber und funktionsfähig. Da jeder über finanzielle Mittel verfügte, konnten sich die Menschen Fernseher kaufen - auch wenn diese manchmal kaputtgingen. Mein Vater entschied sich dafür, sein Geld damit zu verdienen, defekte Fernseher und Radios zu reparieren.

Kapitel 2

Fernseher und Palinka

Ich habe keinerlei Vorstellung davon, wie er auf diese Idee gekommen ist. Obwohl ich von Elektrizität und Elektronik absolut keine Ahnung habe, bin ich mir vollkommen bewusst, dass es äußerst komplex ist zu verstehen, wie ein Fernseher funktioniert. Es geht darum zu begreifen, was im Inneren geschieht, nachdem man den Knopf gedrückt hat sowie zu wissen, was man tun soll, wenn das Gerät nicht anspringt. Meiner Meinung nach erfordert dies gewisses Wissen in Physik oder Mathematik. Wo mein Vater dieses physikalische Verständnis herhatte - keine Ahnung! Er hatte lediglich die Grundschule abgeschlossen, als er derzeit bei meiner Großmutter im Dorf wohnte und seine Mutter geistig noch klar war. Die ersten vier Schuljahre hatte er bei einem ukrainischen Lehrer absolviert; dieser Mann hatte stets einen roten Kopf und verströmte bereits am frühen Morgen und während des ganzen Vormittags Alkoholgeruch wegen der Palinka (ungarischer Schnaps), die er trank, bevorzugterweise zum Frühstück konsumierte. Der Lehrer besaß ein winziges Zimmer in der Schule mit Holzvorräten für den Winter; dort befand sich auch ein kleines Bett aus Heu anstatt einer Matratze, wo der Lehrer schlief. In den Pausen döste er regelmäßig für 15-20 Minuten ein.

Es war immer faszinierend für mich, wie mein Vater genau wusste, wie man einen Fernseher repariert. Ich war stolz auf ihn und prahlte vor den anderen Kindern damit. Wenn jemand ein kaputtes Gerät hatte, fragte ich sofort nach, ob sie es meinem Vater zur Reparatur geben wollten. Meine ersten Erinnerungen an meinen Vater sind mit einer Vielzahl von elektronischen Teilen verbunden, die er sorgfältig in Kartons oder Plastikbehältern aufbewahrte. Manchmal stapelten sich diese Dinge auch auf seinem kleinen Tisch, der nur ihm gehörte.

Die Teile sahen aus wie bunte Perlen oder große Maschinen und hatten alle kleinen eisernen Füße, die mein Papa an die Fernseher klebte. Alles sah großartig aus und ich wollte unbedingt einige davon haben - vielleicht einen Kondensator oder Transformator -, aber mein Vater ließ mich nicht an seinen Tisch heran oder gar in den großen Schrank mit drei Türen gehen.

In diesem Schrank bewahrte er all seine Ersatzteile auf und sortierte sie penibel nach Größe, Farbe und Wert. Nur er besaß den Schlüssel dazu. Ich freute mich jedes Mal riesig darüber, wenn eine Diode durchbrannte oder ein elektrischer Widerstand defekt war - dann konnte ich mir nämlich eins schnappen und meine eigenen Radios entwerfen. Es ist schon über dreißig Jahre her, aber ich erinnere mich immer noch deutlich daran, wie er vor mir stand und mit einer winzigen Lupe, die er über seiner Brille auf der Spitze seiner Nase befestigt hatte, die feine Schrift auf seinen Bauteilen entzifferte.

Kapitel 3

Raluca

Es war ein wunderbarer Tag im Frühling, die Sonne schien und der Himmel strahlte in einem klaren Blau. Die Luft war derzeit etwas frisch, nachdem es in den letzten beiden Tagen viel geregnet hatte. Doch das Gras war bereits trocken und auch auf dem Asphalt standen nur noch kleine Pfützen. Dadurch konnte man gut laufen, ohne dass meine Sandalen verschmutzten oder ich Dreck in das Treppenhaus brachte. Die Nachbarin aus dem dritten Stock hätte sich sonst abermals darüber beschwert und behauptet, dass die Tochter von TV mal wieder Ärger bereitet hat. TV ist eigentlich mein Vater, aber dieser Spitzname wurde ihm von einer Nachbarin im Erdgeschoss gegeben und seitdem nennen ihn alle so. Dabei haben Loren und Marisa seine beiden Katzen genauso überall hingemacht wie sie. Trotzdem habe ich immerfort versucht, mich richtig zu verhalten, denn es hat mich wirklich geärgert, als diese Frau einen solchen Aufstand machte wegen Kleinigkeiten. Mein Vater sagte dann immer, sie sei eine Analphabetin und würde nicht einmal die Nachrichten verstehen. Der Tag war einfach großartig gewesen und wir hatten viel Spaß dabeigehabt.

Es sind mittlerweile sämtliche Arten von Fliegen aufgetaucht, die in der Luft träge und faul wirken. Sie sind so langsam, dass man sie problemlos mit bloßen Händen fangen kann. Vermutlich waren sie noch verschlafen und gerade erst aufgewacht, als sie sich um die Mülltonne herum bewegten. Ich meine damit nicht die Straßenecke, die zur Mine führt, sondern jene in Richtung Krankenhaus, wo ein kleiner Kiosk steht. Dort kaufte ich Maisstücke und Lollipops - allerdings nur dann, wenn meine Mutter ihr Portemonnaie auf dem Tisch vergessen hatte und ich mir ein paar Lei stibitzen konnte.

An den Mülltonnen befanden sich immer 2-3 Hunde, welche nach Essensresten suchten und dabei allerlei Unrat hinterließen. Die Jungs warfen kleine Steine oder Holzstücke nach ihnen - doch wir hatten uns irgendwie mit den Tieren angefreundet. Mit „wir“ meine ich mich selbst sowie Raluca aus dem dritten Treppenhaus - eine enge Freundin von mir.

Den Hunden gaben wir sogar Namen: Schonti (für einen Hund), Monti (für einen anderen) und Tschönti (für den dritten). Diese Namen hatten keine Bedeutung für uns; es bereitete uns jedoch viel Vergnügen, sie auszudenken - bei diesem Spaß lachten wir Tränen. Immer wenn wir an den Mülltonnen vorbeigingen, riefen wir laut: „Schooontiiii! Montiiii....“ Und prompt drehten die Hunde ihre Ohren zu unserer Stimme, hoben kurz den Kopf und schauten nach uns. Sie wollten herausfinden, wer sie gerufen hatte und was das Ganze sollte - vielleicht hofften sie auch auf eine Leckerei. Doch sobald sie erkannten, dass nur zwei Mädchen standen, die aus Spaß riefen, senkten sie ihre Köpfe wieder, um sich weiterhin auf Nahrungssuche zu begeben.

„Glaubst du meinen Worten nicht?“

„Nein, das tue ich nicht!“

„Bist du der Meinung, dass ich eine authentische Injektion besitze?“

„Nein, glaube ich nicht!“

„Wie immer zweifelst du. Aber warum vertraust du mir nicht?“

„Nun ja, woher solltest du eine Spritze haben, wie sie Ärzte verwenden?"

"Vom Krankenhaus."

Raluca machte ständig solche Dinge mit mir. Sie war trotzig und ärgerte mich und alles, was ich sagte, war falsch. Richtig war nur das, was sie sagte. Aber wahrscheinlich tat sie dies absichtlich, weil auch ich sie immer geärgert habe.

"Deine Mutter arbeitet wohl im Krankenhaus, oder?", fragte sie so, als ob sie es angeblich vergessen hätte.

"Nein, in einer Bäckerei."

"Und hat deine Mutter die Spritze von der Bäckerei mitgebracht?"

"Raluca nervt einfach nur noch. Ich habe diese Spritze nicht von meiner Mama, sondern aus dem Krankenhaus."

"Wieso vom Krankenhaus? Warst du vor Ort und hast einen Arzt nach einer Spritze gefragt?"

"Dafür bist du aber naiv! Ich bin über den Zaun des Krankenhauses geklettert und habe dort spezielle Tonnen durchsucht. Weißt Du eigentlich, wie viele man da finden kann?! Pffffff!!"

Wir schlenderten gemeinsam über den aufgewärmten Asphalt des kleinen Weges zur Straße hinunter und lutschten Bonbons dabei. Zuvor waren wir kurz im Kiosk am Eingang des Krankenhauses gewesen, wo Raluca für uns beide die Bonbons gekauft hatte. Am Tag zuvor hatte Raluca etwas Geld von ihrer Tante bekommen, als diese ihren kranken Vater besuchte. Ihr Vater war an den Lungen erkrankt und lag im Bett, während er den ganzen Tag über schwitzte. Sie ärgerte mich, weil sie nicht glaubte, dass ich wirklich eine echte Spritze hatte. Und da sie mir dann noch Süßigkeiten kaufte, wollte ich ihr erst recht beweisen, dass ich tatsächlich eine habe.

"Komm hoch in meine Wohnung, um es dir zu zeigen. Da bekommt auch Bebi eine Spritze", sagte ich.

"Was ist mit Bebi? Ist er krank?"

"Nein, aber er benötigt Vitamine. Hast du nicht selbst im Krankenhaus Vitamine erhalten?"

„Doch, doch! Habe ich.“

Ich kann mich nicht mehr erinnern, warum Raluca damals ins Krankenhaus musste. Ich glaube, es hatte etwas mit ihrem Verdauungssystem zu tun. Bebi ist mein Freund und wir schlafen nachts zusammen im Bett. Er liegt zwischen meiner Schwester und mir, sein Gesicht zeigt in meine Richtung und ich lege meine Hand auf ihn. Obwohl er aus Plüsch ist, schläft er nicht ein, denn seine Augen bleiben offen und beobachten mich die ganze Nacht über. Besonders wenn ich morgens aufwache und direkt seine rote Nase sehe, mag ich ihn von ganzem Herzen.

„Aber was ist mit deiner Mutter? Verbietet sie dir nicht Kinder mitzubringen?", fragte Raluca.

„Was denkst du denn? Ist meine Mama so wie deine? Erlaubt sie mir nicht zu spielen, mit wem auch immer ich möchte? Ich darf alles machen, was ich will“, antwortete ich selbstbewusst.

Natürlich entsprach das nicht ganz der Wahrheit, aber es gefiel mir einfach, Raluca zu zeigen, dass meine Mama besser war als ihre. Sie konnte zwar nicht erkennen, wie schlecht ihre eigene Mutter wirklich war, doch mir fiel auf, dass sie Angst vor ihr hatte.

Als wir uns anfreundeten, war ich gerade draußen unterwegs, um Verstecken zu spielen - Ciobi und Latzi vom zweiten Stockwerk waren dabei sowie Mari und Gelu von einem anderen Block aus unserer Siedlung.

Wir liefen herum, um einander zu verstecken; jeder suchte sich einen Platz dafür aus: sei es in den Treppenhäusern oder hinter den Hecken entlang der Allee oder sogar hinter Mülltonnen. Gelu lehnte seinen Kopf an eine Mauer und zählte bis 20, während er die Augen geschlossen hielt.

Nachdem er fertig war, begann er uns zu suchen. Wir warteten gespannt und rannten dann zum Platz, wo Gelu gezählt hatte. Wenn wir schneller als er dort ankamen, spuckten wir auf den Boden, klatschten in die Hände und lachten laut heraus.

Und gerade als wir so spielten, sah ich ein Mädchen vor einem der Treppenhäuser stehen - sie war genauso groß wie ich und weinte bitterlich. Sie stand ganz allein da und beobachtete uns traurig. Ihre Turnschuhe waren schmutzig, ihre Haare ungekämmt und ihr Kleid mit einer Schnur um ihren Bauch gebunden.

Ich ging zu ihr rüber, blieb stehen und fragte: „Warum weinst du?“

Das Mädchen sagte nichts, sondern fing nur noch lauter an zu schluchzen.

Vielleicht ist etwas Schlimmes passiert oder es geht um Monster die Kinder angreifen“, dachte ich mir.

„Wie heißt du?“, fragte ich sie.

„Raluca!“, antwortete sie.

„Mein Name ist Narcisa“, aber es schien sie nicht zu interessieren, wie ich heiße.

„Hör auf zu jammern, du bist kein Baby!“, sagte ich.

„Hat jemand Gewalt gegen dich angewendet?“

„Nein.“

Ein wenig bedauerte ich meine Neugierde und den Wunsch herauszufinden, wer geschlagen hatte oder ob sie viele Schläge abbekommen hatte. Denn hier war das normal; alle Kinder, die ich kannte, wurden entweder von ihren Eltern oder anderen Kindern geschlagen.

„Und warum weinst du dann? Wenn dich niemand geschlagen hat?“, fragte ich verwundert.

„Weil meine Mutter mir verbietet, mit anderen Kindern zu spielen.“

Was für eine schlechte Mutter dachte ich. Meine erlaubte mir alles und so empfand ich ein wenig Mitgefühl. Ich suchte nach einer Lösung und fragte sie vorsichtig: „Vielleicht möchtest du ja mit mir spielen?“

„Ich möchte!“, antwortete sie schnell und wischte sich eine Träne weg.

Ich überlegte noch kurz, was wir spielen könnten.

„Vielleicht können wir Lehrerin und Schüler spielen? Oder wenn die Mutter nach Hause kommt und ihr Kind fragt, ob sein Zimmer aufgeräumt ist, um dann durch das Zimmer zu gehen“, überlegte ich laut weiter. „“Oder wir könnten Krankenhaus spielen! Es wäre toll, wenn wir Ärztinnen sind und die andere Patientin Kopfschmerzen hat! Möchtest du als Ärztin mitspielen?“

Ich fühle mich sehr wohl in meiner Rolle als Ärztin. Besonders mag ich es, dass unser Wohnzimmerfenster einen Blick auf das Krankenhaus ermöglicht und ich dadurch täglich die Ärzte und Krankenschwestern beobachten kann, wie sie Mappen und andere Dinge in den Händen tragen.

„Okay, dann fangen wir an. Ich übernehme die Rolle der Ärztin und du bist die Patientin!“, schlug ich vor. „Da du krank bist, lasse dich von mir untersuchen.“ Bevor ich meinen Satz richtig beenden konnte, runzelte Raluca ihre Stirn und boxte mich plötzlich in den Bauch. Als Reaktion wollte ich ihr ebenfalls eine zurückgeben, doch sie rannte schnell in den dritten Stock zu ihrer Wohnung davon. Sofort sprintete ich hinterher, konnte sie jedoch nicht einholen - sie war einfach viel schneller als ich und lief die Treppe hoch. Sie öffnete die Tür ihrer Wohnung eiligst und versteckte sich darin. Das ärgerte mich enorm; immerhin hatte ich nur spielen wollen und nun hat sie mir eine hineingehauen! Ist das etwa typisch für Kinder? Voller Wut begann ich mit geballten Fäusten gegen die Tür zu hämmern.

Plötzlich wurde die Tür geöffnet und Ralucas Mutter stand im Türrahmen. Sie blieb ernsthaft stehen und betrachtete mich eingehend von oben bis unten.

Hinter ihr stand Raluca erschrockenen Gesichtszeichen machend, um sicherzugehen, dass ich niemandem erzähl, was vorgefallen ist!

„Was gibt‘s? Was willst du hier? Warum hast du so heftig geklopft?“, fragte die Mutter.

Ich beabsichtigte, ihr mitzuteilen, dass Raluca eine dumme Person sei und dass sie mir einen Schlag in den Bauch versetzt hat. Allerdings habe ich das nicht getan.

„Frau äääähh, Frau Mutter von Raluca. Könnte Raluca bitte nach draußen kommen und mit mir spielen?“ Die Mutter wandte sich von mir ihrer Tochter zu, nickte zustimmend und gestattete es: „Na gut, geht schon.“ Und so konnten wir beide Frieden schließen - einmal war ich die Patientin und einmal sie.

Kapitel 4

Heiße Suppe

„Warum ist deine Mutter so wütend?", fragte ich Raluca.

„Sie ist nicht böse, sondern niedergeschlagen."

„Und warum ist sie traurig?"

„Weil mein Vater krank ist und es scheint, als würde er bald von uns gehen." Da mir die Bedeutung dessen nicht wirklich klar war, lenkte ich das Gespräch wieder auf mich selbst.

„Glaubst du mir, dass ich eine tatsächliche Injektion habe?"