Der Schwimmclub der traurigen Heldinnen - Ruth Fitzmaurice - E-Book

Der Schwimmclub der traurigen Heldinnen E-Book

Ruth Fitzmaurice

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Beschreibung

Ein ergreifendes Memoir aus Irland! Eine junge irische Ehefrau und Mutter meistert mit der Kraft ihrer Liebe ein schweres Schicksal: Ihr geliebter Mann leidet an der unheilbaren Motoneuron-Krankheit, an der auch Stephen Hawking leidet. Ein berührendes irisches Familienschicksal! Als Simon die Diagnose Motoneuron-Krankheit erhält, bricht für die junge irische Familie eine Welt zusammen. Die Ärzte geben ihm höchstens noch drei Jahre zu leben. Allen Warnungen zum Trotz, lässt Ruth ihren Mann zu Hause pflegen inmitten ihres Haushalts, der aus fünf Kleinkindern, einem alten Hund und einem Pflegeteam besteht. Für die junge Frau ist die Belastung enorm, doch sie kämpft und findet ihren Platz zum Auftanken. Täglich schwimmt sie mit ihren Freundinnen in der eiskalten Irischen See. Im Wasser ist sie frei, vergisst ihren Schmerz und findet die Kraft, ihr Schicksal zu meistern.

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Seitenzahl: 262

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Ruth Fitzmaurice

Der Schwimmclub der traurigen Heldinnen

Eine wahre Geschichte über Liebe und Überleben

Aus dem Englischen von Maria Hochsieder

Knaur e-books

Über dieses Buch

Als Ruth’s Mann Simon die Diagnose Motoneuron-Krankheit bekommt, bricht für die junge irische Familie eine Welt zusammen. Die Ärzte geben ihm höchstens noch drei Jahre zu leben. Allen Warnungen zum Trotz, lässt Ruth ihren Mann zu Hause pflegen inmitten ihres Haushalts, der aus fünf Kindern unter 10 Jahren, einem alten Hund und bald auch einer Heerschar von Pflegern besteht. Doch Simons Zustand verschlechtert sich zusehends. Schließlich kann er nur noch mit seinen Augen via Computer kommunizieren. Aber er überlebt seine 3-Jahres-Diagnose getragen von der Liebe seiner Frau und seinen Kindern. Für Ruth jedoch ist die Belastung enorm. Nie ist sie allein, der Haushalt hat chaotische Ausmaße angenommen, die Kinder fordern ihre Aufmerksamkeit, die ständig wechselnden Pfleger und die Betreuung von Simon bringen sie an ihre Grenzen. Doch Ruth gibt nicht auf, sie findet ihren Platz zum Auftanken zum Loslassen an der Greystone Bay. Dort geht sie fast täglich mit einer kleinen Gruppe von Frauen in der eiskalten Irischen See schwimmen, um danach wieder ihrem Alltag mit Kraft Humor und Liebe begegnen zu können. Die Geschichte einer bemerkenswerten starken Frau, die unter die Haut geht und zum Nachdenken anregt.

Inhaltsübersicht

Für meine Eltern Pat [...]Einleitendes ZitatDas MeerMeine BuchtMichelleFreundeTagträumeKüsseGlückFarbeAifricErgonomieTraurige HeldinnenSuperheldenWahrheit oder PflichtTanzBewässerungAngstGegen Autos tretenEssenZwillingeSorgeVerlorene DingeWolf oder PandabärStrandglasWeihnachtenBettMordFerienKriegsverletzungenMondscheinbadWellen (und Käseflips)VorherNachherDanksagung
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Für meine Eltern Pat und Dave O’Neill

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»Ich muss eine Meerjungfrau sein, Rango, ich fürchte die Tiefe nicht und habe große Angst vor einem seichten Dasein.«

 

Anaïs Nin, Djuna oder das Herz mit den vier Kammern

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Das Meer

Die dreijährige Sadie sagt, »Dadda spricht mit den Augen«. Sprachcomputer mit Augensteuerung klingt weit weniger romantisch. »Ich frag seine Augen«, sagt sie, wenn sie etwas will. »Er liebt mich!«, ruft sie, als habe er sie mit einem Geschenk überrascht. Das Geschenk der Liebe ist die Gabe, die wir von ihm bekommen. Grimmig halte ich daran fest. An seinem überwältigenden Herzen.

Mein Mann versetzt mich in Staunen, aber er ist schwer zu finden. Ich suche unser Haus nach ihm ab. Er atmet durch einen Schlauch in seinem Hals. Er spürt alles, aber er kann keinen Muskel bewegen. Ich liege auf seiner Brust und zähle die mechanischen Atemzüge. Ich halte seine Hand, doch er erwidert den Griff nicht. Das einzige Fenster, das uns bleibt, ist sein hin und her schießender Blick. Ich werde nicht aufhören zu suchen. Das fordert sowohl meine Seele ein als auch seine. Simon hat ALS, eine Motoneuronerkrankung, aber das ist nicht das eigentliche Dilemma, jedenfalls heute nicht. Tapfer bleiben.

 

Ich sitze in Wicklow in meinem Auto und blicke auf den Hafen hinaus. Ich sehe den Masten der Jachten beim Tanz zu. Ihre Köpfe schaukeln vor und zurück und begleiten tschilpend Joni Mitchell im Autoradio.

Der Hafen von Wicklow ist hübsch. Er ist ausladend und voller Blautöne. Das Panorama erstreckt sich höher und weiter als in Greystones. In diesem Augenblick habe ich das Gefühl, dort nicht atmen zu können, also kommt mir Wicklow entgegen. Vielleicht ist Greystones ja wie jede große Liebe. Entweder bewunderst du jenen vertrauten Tanzschritt und nimmst ihn mit jeder Pore auf, oder aber du stolperst – so wie heute – über die vertrauten Schwellen und ärgerst dich maßlos darüber. Zu klaustrophobisch – eine Ratte im Käfig, ein Aufzug ohne Alarmknopf.

 

Und das ist das Dilemma. Mein Haus ist voller Fremder. Ich habe es farbenfroh gestrichen und mit Liebe umgeben, doch in beängstigend kurzer Folge kommen Fremde herein. Wohlmeinende Mohammeds bereiten Tee. Unendlich viele Helens, Marys, Jackies und Michaels, Deirdres, Claires, Sams, Franks und Graces lächeln und stellen den Wischmopp an seltsamen Orten ab. Ich weiche ihnen im Flur und vor der Geschirrspülmaschine aus. In unserem Haus drängen sich Schwestern und Pfleger, und sie fügen mir Schmerzen zu. Es ist nicht ihre Schuld.

Manche bleiben eine Weile, die meisten aber sind nur auf der Durchreise. Manche bleiben länger. Ich beginne sie zu mögen, und dann brechen sie mir das Herz und gehen doch. Niemand trägt Schuld daran. Sie arbeiten für eine Agentur. Manche von ihnen tragen schwere Parfums. Sie sind ein Angriff auf olfaktorische Sensoren, von deren Existenz ich nicht einmal wusste. Irrationaler Hass überkommt mich, weil sie schuld sind, dass mein Haus nach ihnen riecht. Die meisten rauchen, doch dieser Geruch stört mich nicht. Wenigstens ist es ein universeller Geruch, so wie Feuer oder Spüli, Persil oder Benzin. Viele von ihnen unternehmen den Versuch, unser Zuhause in ein Krankenhaus umzuwandeln, und wie ein Tiger kämpfe ich mit gefletschten Zähnen dagegen an.

Irgendwann gehen sie alle – außer Marian. Marian glaubt an Engel und Blutmonde. Sie lässt sich ausschließlich von ihren Gefühlen leiten, und jeder gute Tag beginnt mit ihr als Nachtschwester. Gemeinsam trinken wir im Morgengrauen Tee. Ich wünschte, ich würde an Engel glauben. Marian ist davon überzeugt, dass alles einen tieferen Sinn hat und die Menschen von Farben und einer positiven oder negativen energetischen Aura umgeben sind.

Wenn du lange genug mit ihr zusammen bist, lachst du entweder, oder du weinst oder auch beides, und im Schatten an den Wänden erkennst du beinahe die Silhouette von Engelsflügeln. Sie ist, ganz klar, mein Engel. »Ich gehe nirgendwohin«, hat sie einmal zu mir gesagt. »Ich bin für dich da.« Ich blicke ihr in die Augen und glaube ihr.

Letzte Nacht gab es einen Blutmond, und das Meer ist aufgewühlt. Mein Gemüt ist aufgewühlt. »Der Vollmond bekommt während einer Mondfinsternis einen roten Schimmer«, sagt Marian. »Also nimm dich in Acht.« Blutmonde sind die Sache von Mondsüchtigen, Träumern und Marian. Für sie ist der Nachthimmel das Reich großer Gefühle und Romantik. Ich hatte nie zuvor davon gehört, also lausche ich ihr aufmerksam. »Wir bestehen zu achtzig Prozent aus Wasser«, sagt Marian. »Deswegen werden wir vom Mond und den Gezeiten beeinflusst.« »Deswegen springe ich ins Meer«, sage ich. Ich bemühe mich, ein Zuhause zu finden, ein Zuhause zu schaffen, ein Zuhause zu sein für meine fünf Kinder. Manchmal gelingt es mir, und manchmal scheitere ich.

 

Es gibt Menschen, die verstehen, dass die kleinen Dinge einen Unterschied machen. Ein schöner Füller, der geschmeidig auf dem Papier dahingleitet. Heißer Kaffee in einer ganz bestimmten Tasse. Diese Dinge sind von Bedeutung, wenn deine Seele am Abgrund steht. Dieses Leben höhlt dich aus. Meine Suche nach Simon ist ein einsames Unterfangen. Ich hoffe, dass auch er nach mir sucht. Eine große Liebe hat mich ans Meer geführt, und ich versuche, tapfer zu sein. Das ist wichtig, wenn deine Seele gerade der Rettung bedarf.

Wir haben vieles verloren. Manchmal aber finde ich meinen Mann: die Lippen an der Rundung seiner Schläfe, eine kleine Nische in seiner Armbeuge, in der ich mich verkrieche. Manche Dinge verliert man und findet sie wieder. Ich schicke ihm Liebesbotschaften per E-Mail, und er schreibt mir E-Mails zurück. Die Flutwelle eines irren Mondes. Von einem Bildschirm zum anderen halten wir uns endlich an den Händen. Zwei Seelen. Es ist ein wundervoller, vertrauter Tanz. Große Lieben sind etwas für die Tapferen.

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Meine Bucht

Ich muss Ihnen ein Geheimnis verraten. Das hier ist meine  Bucht. Wirklich, sie gehört tatsächlich mir. Das sagt eine alte Dame, die eines Tages auf einem geblümten lila Fahrrad angerollt kommt. Da stehen wir mit unseren Badekappen, meine Freundinnen und ich. Drei Frauen in dieser Bucht namens Ladies’ Cove, in Greystones im County Wicklow, dort, wo die Stufen ins Meer führen. Da stehen wir an einem sonnigen Apriltag und laufen ein wenig blau an. Die Luft ist warm, doch wir vom Geheimclub der Ganzjahres-Schwimmer wissen, dass die Sonne trügerisch ist. Um diese Jahreszeit ist das Meer saukalt. Schlimmer als an Weihnachten.

Wir versuchen, tapfer zu sein. »Es ist meine Bucht«, sagt die alte Frau, als sie einen Fuß auf den Boden setzt und sich für einen Plausch in Stellung bringt. Wir wollen uns nicht unterhalten, wir wollen ins Wasser springen, aber sie macht keine Anstalten weiterzugehen. Sie ist einsam und will mit uns reden, weiter nichts. Eines Tages möchte ich diese alte Frau sein. Ich würde mich glücklich schätzen, auf diese Weise alt zu werden, mit ihrem geblümten Fahrrad und dem Wind im Haar, und will wie sie dem Wunsch nach einem Gespräch dann nachgeben, wenn ich es nötig habe. Manche alte Frauen sind in dieser Hinsicht großartig. Ich will sie sein, denn, ganz klar, das hier ist nicht ihre Bucht. Die Bucht gehört mir.

Am Strand sammle ich Steine. Meine Lieblingsstücke sind die grauen Steine voller Löcher. Das Meer hat die Löcher hineingewaschen; jeder Stein ist anders und wunderschön. Auf dem Heimweg klimpern sie in meiner Tasche, und ich arrangiere sie auf dem Fensterbrett.

 

Meine Schwimmfreundin hat eine Cousine, die jene besondere Seelenruhe ausstrahlt, die so heilsam auf einen wirkt. Eine gemeinsame Tasse Tee im Sonnenschein auf der Terrasse verrät mir, dass ich kein gelassener Mensch bin. Ich sehne mich nach ihrer Gemütsruhe. Wir unterhalten uns über eine Frage der westlichen Welt, vielleicht auch eine universelle Frage: das Dilemma, wo man leben soll.

Im Kern unserer Familie steckt Liebe, wo aber soll man mit dieser Liebe Wurzeln schlagen? Ein erschwingliches größeres Haus auf dem Land oder eine Stadt in akzeptabler Pendelentfernung? Oder soll man da bleiben, wo man Leute kennt, in einem kleineren Haus, das aus allen Nähten platzt? Die besonnene Cousine meiner Freundin unterbricht das Gefasel. »Such dir deine Sippe«, sagt sie. »Es ist wichtiger, dass du die richtigen Leute um dich herum hast, als die Frage, in was für einem Haus du wohnst. Überleg dir, ob du deine Sippe gefunden hast, und entscheide danach.« Ich denke, sie hat recht.

Die Bucht ist meine Welt, und sie gehört mir. Meine Kleinen stehen mit durchweichten Schuhen am Ufer, schlittern über die nassen Steine und jauchzen, als ihre Momma sich in ihr Seelenheil stürzt. Doch, diese Bucht gehört mir, und das Meer ist meine Erlösung. Mit Wucht holt es meinen Körper ins Leben zurück, während der Regen an einem diesigen, romantischen Tag auf die Wasseroberfläche prallt.

An anderen Tagen bleibt mir nur zu weinen. Es ist peinlich, wenn du im geparkten Auto einen Zusammenbruch erleidest. Ein Mann kommt in genau jenem Augenblick auf dem Gehsteig vorbei, als ich die Fassung verliere. Abrupt drehe ich mich weg. Oh, die Scham. Die Angst, dass jemand diesen Schmerz mitansieht, während man sich beim Abholen der Kinder von der Schule in sicherer Routine wähnt.

An dem Tag kriege ich das Gefühl nicht los, in einem geplünderten Haus voller Fremder zu sein. Ich weine um all die Dinge, die wir, mein Mann und ich, verloren haben. Ich spielte mit dem Gedanken, aus dem Auto zu steigen, in den Regen hinaus. Aussteigen und im Regen ans Meer gehen, zu den Stufen hinunter in die Bucht. Einfach ins Wasser gehen, in meiner Winterjacke strampeln und nicht wieder auftauchen.

Wegen der fünf schlafenden Schönheiten zu Hause könnte ich das niemals tun. Meine fünf wunderschönen Kinder. Jack, zehn Jahre alt, hat immer noch samtene Wangen. Der achtjährige Raife sieht seinem Vater geradezu unheimlich ähnlich. Mit seinen sieben Jahren ist Arden ein Wirbelwind, der nach seinen eigenen Regeln tanzt. An den vierjährigen Zwillingen ist noch nichts Endgültiges. Hunters grüne Augen überraschen mich jeden Tag aufs Neue. Und näher als im Schwung von Sadies Locken bin ich einem Gott nie gekommen.

 

Eines Tages besetzten ein paar Leute unsere Bucht, eine Gruppe Touristen, die verkündeten, sie würden in Kleidern ins Wasser springen. Entsetzt starrte ich die Frau in ihrer schweren Winterjacke an und erinnerte mich daran, wie ich vor nicht allzu langer Zeit selbst mit dem Gedanken gespielt hatte hineinzuspringen. Hier aber handelte es sich um kein tragisches Virginia-Woolf-Vorhaben mit Steinen in der Tasche. Sie kreischten und lachten.

»Sind sie betrunken?«, fragte ich flüsternd meine Schwimmfreundin.

»Nein, ich denke, sie sind einfach nur Amerikaner«, antwortete sie aufrichtig, und wir beide bekamen einen Lachanfall. Sie wirkten wie fröhliche Einfaltspinsel, als kämen sie direkt vom YMCA. War es ein religiöses Reinigungsritual? Immer wieder musterte ich die bauschige Winterjacke der Frau und stellte mir vor, wie sie mit dem Seetang hinuntergezogen würde. Vom Strand aus stapften sie ins Wasser, die Arme triumphal nach oben gereckt, und kamen in Johannes-der-Täufer-Manier wieder heraus.

An einem anderen Tag aber stand ich am Ufer und weinte. Meine Füße auf der untersten Stufe waren unter Wasser, und ich wackelte mit den roten Zehen und schluchzte. Meine Schwimmfreundin war da, um mich in den Arm zu nehmen. Das Meer war unruhiger, meine Seele hingegen gefasster und erfrischt, als ich die Stufen wieder hinaufkletterte. Wir mögen aus achtzig Prozent Wasser bestehen, Marian, aber ich denke, meine Gefühle sind für mich selbst so rätselhaft wie das Auf und Ab des Meeres. Ich weiß nur, dass ich diesen Ort niemals verlassen könnte. Die Bucht ist meine Sippe, und die See erlöst mich.

Hier in der Bucht versammeln wir uns: die Verlorenen, die Glücklichen, die Einsamen, die Jungen. Die alte Frau auf dem lila Fahrrad, eine Braut, die in blauen Glitzerschuhen für die Kamera posiert. All die Spaziergänger und Grübler mit Labradoodles und Pudeln, Bichons und Möpsen. Jeden Morgen sammelt eine Frau Strandglas am Ufer und stapft im Rhythmus, der aus ihren Kopfhörern kommt, dahin. Eine Gruppe drängt sich zusammen, um zu rauchen. Kleinkinder lachen und jagen den Wellen nach. Hunde bellen. Männer angeln. Und manche von uns schwimmen. Im Sommer kreischen die Teenager vor Kälte und springen großspurig von hohen Felsen. Im Herbst legen abgehärtete faltige Senioren ihre gleichmäßigen Brustzüge zurück. Meistens aber bin es nur ich. Dann bin ich allein in meiner Bucht, und sie gehört mir. Komm und besuch mich. Tauch ein ins Wasser. Trau dich. Aber vergiss nicht, dass es meine Bucht ist. Ehrlich. Sie gehört mir.

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Michelle

Eine Gruppe von Rebellen versammelt sich am 14. September 2014 am Hafen von Greystones. Der neue Jachthafen ist ein graues, mit Pfeilern versehenes Ungetüm, das halb fertig stehen gelassen wurde. Von einer Slipanlage gleiten die Boote direkt ins Wasser und hinaus aufs Meer. Die Gruppe heute hat sich nicht für ein Boot versammelt, sondern für einen Mann namens Galen. Er hat sich an einem kalten Septembertag in einen Neoprenanzug gezwängt. Zwei trojanische Helfer fassen sich an den Händen, um einen Sitz für ihn zu bilden und ihn über die Slipanlage ins Wasser gleiten zu lassen. Seine Beine sind gelähmt, doch mörderisches Training hat seine Arme extrem stark gemacht. Wie an ein Pferdegeschirr spannt er seine untere Körperhälfte an diese Arme, setzt sich in Bewegung und schwimmt wie ein sacht schaukelnder Fisch aus dem Maul des Ungetüms hinaus aufs offene Meer.

 

Meine Friseurin hier im Ort hat freundliche Augen. Sie bezaubert mich mit aufrichtigem Geplauder, das klingt wie ein Glockenspiel. Ich war nun schon einige Male in ihrem Friseursalon. Immer begrüßt sie mich lachend als die verrückte Frau mit den fünf Kindern. Doch sie weiß nichts von Simon. Ich mache mir Sorgen um andere Leute. Meistens erzähle ich nichts von der ALS, insbesondere Friseuren nicht. Der Schock könnte sie treffen, und sie halten eine Schere in Händen.

Heute aber bin ich in überschäumender Stimmung, und so platze ich rätselhafterweise mit Simon und der ALS heraus. Die Schere in ihrer Hand erstarrt, und ich bemerke, wie sie Atem holt. »Wissen Sie, was?«, flüstert sie. »Sie erinnern mich so sehr an eine andere Frau, die zu mir kommt. Ihr Mann hatte einen Fahrradunfall auf der N11 und sitzt jetzt im Rollstuhl. Direkt bevor es passierte, stellte sie fest, dass sie mit ihrem vierten Kind schwanger war. Stellen Sie sich das nur vor! Es war die letzte Möglichkeit, noch ein Baby zu bekommen. Und diese Frau? Sie ist wunderschön! Und ihr Lächeln! Sie kommt mit dem Baby her, er hat langes blondes Haar und eine Haarklammer. Ich dachte, er ist ein Mädchen, er ist so hübsch!« Ich nicke und bin voller Stolz. Natürlich weiß ich das. Diese Frau ist meine Freundin. Ihr Name ist Michelle – wie eine Muschel, die man ans Ohr hält, um das Meer rauschen zu hören. Sie ist meine Schwimmfreundin.

Vor sechs Jahren, in ALS-Maßstäben eine lange Zeit, erlebten Simon und ich einen denkwürdigen Abend. Auf der Bühne tobte und schimpfte der Komiker Tommy Tiernan aus voller Seele. Simon war wegen seiner bewegungsunfähigen Beine damals auf einen Rollstuhl angewiesen, doch sein Oberkörper war noch nicht betroffen. Wie alle anderen lachte er und redete dazwischen. Er hielt meine Hand. Tommys euphorische Augen öffnen den Blick auf einen wild-fröhlichen Wahnsinn. Er wendete sich der Rollstuhlabteilung zu. »Na, ihr da drüben in den Rollis«, knurrte er. »Kommt euch die WUT hoch. Die ganze ENERGIE. FUCK, das ist wie eine Autobatterie.« Simon brüllte vor Lachen.

 

Das Schwimmen im Jachthafen ist wegen der Boote nicht erlaubt, heute aber erlauben wir uns, Rebellen zu sein. Kinder hopsen über die Steine, Mütter balancieren Kinderwagen, Männer breiten Picknickdecken aus und verteilen Chipstüten. Hier handelt es sich um einen zivilisierten Regelbruch, weil wir noch einen Mann feiern wollen, der wie eine Autobatterie ist. Wir begleiten ihn ins Wasser und winken und jubeln, als er ins Meer hinausschwimmt. Er schafft den ganzen Weg um die Landzunge bis in die Ladies’ Cove. Galen ist der tapfere Mann von Michelle. Es ist auf den Tag genau ein Jahr her, dass er mit seinem Rennrad auf der N11 verunglückte.

Der Ort Greystones bildet einen Halbkreis um das Meer, und wir salutieren ihm, wenn wir den Hügel von Bray hinunterfahren. Die Küstenlinie führt die Spaziergänger in die wilde Natur und dann wieder zurück ins Herz der Stadt. Irgendwie habe ich all die Jahre, die ich in Greystones lebe, das Meer gemieden. Beinahe habe ich vergessen, dass es existiert. Nur kurz habe ich ihm einen Blick zugeworfen und mich dann dem Tagwerk zugewandt.

Galens Autobatterie hat mich hierhergebracht. Sein Trotz treibt mich zu ihm ins Wasser, es ist verdammt kalt. Wir alle sind hysterisch vor Lachen. Galen verschwindet um die Landzunge, und wir wickeln uns in Handtücher und trinken heißen Whiskey. Michelle arbeitet sich durch die Menge, das neue Baby auf der Hüfte. Es ist ihr Kriegskind, und sie lächelt, doch ihr Blick ist gehetzt. Früher sind Galen und Michelle jeden Tag zusammen schwimmen gewesen, das ganze Jahr über. Selbst in hochschwangerer Herrlichkeit stürzte sie sich ins Wasser. Ihre drei älteren Kinder springen von den hohen Felsen, sie aber bleibt am Ufer und sieht schrecklich jung aus.

Es gibt einen Grund, warum Galen hinaus aufs Meer schwimmt. Er schwimmt ganz einfach, um seine Seele zu retten. Wenn dich eine Tragödie heimsucht, dann brauchst du Errettung. Du suchst nach den Augenblicken, die dich erlösen. Ich habe mich selbst so oft gerettet, dass ich völlig erschöpft bin. Galens Tragödie aber ist noch frisch. Sein Trotz ist elektrisierend. Daneben fühle ich mich alt, matt und müde. Simon ist nicht bei uns im Jachthafen. Er liegt zu Hause im Bett und beschäftigt sich mit seiner virtuellen Welt. Sein augengesteuerter Sprachcomputer funktioniert nicht im Freien, und die Reise zum Hafen ist zu beschwerlich. Seit sechs Jahren leben wir mit ALS, und ich fühle mich verbraucht.

 

Einfache Momente ganz für mich haben mir in diesen ALS-Jahren Erlösung gebracht. Anderen mögen diese Augenblicke lächerlich erscheinen, mir aber haben sie Stabilität gegeben. Als ich auf der Slipanlage stehe, fällt mir auf, dass sie alle im Freien waren.

Im Morgengrauen hat mich eine Gartenbank gerettet. In unserem ersten Haus im County Louth gönnte ich mir auf dieser Bank Auszeiten von den schreienden Kindern. Im Freien betrachtete ich Bäume, eine Tasse heißen Kaffee in der Hand. Ich verbringe viel Zeit damit, Bäume zu betrachten. In Greystones steht die Bank, mittlerweile rot gestrichen, vor dem Haus wie ein Leuchtfeuer, für alle Fälle.

Wäscheleinen haben mich gerettet. In unserem ländlichen Garten schnappte ich mir in Gummistiefeln Augenblicke der Ruhe beim Aufhängen der Wäsche. In der Hitze Australiens, wo wir eine Weile Urlaub machten, fiel es leichter, die Seele zu retten. Die sonnenversengte Wäscheleine war warm, und wir hatten einen Außenpool. Am strahlenden frühen Morgen fegte ich zum Saubermachen mit einem Netz über die Wasseroberfläche und tanzte in Unterwäsche um das Becken.

In den düstersten Nächten hat mich immer der Himmel gerettet. Früher, auf dem Land, riss ich die obere Türhälfte auf und stellte mich unter den weiten Sternenhimmel. In Australien übertönte das schrille Zirpen der Grillen die Dunkelheit. Und auch in Greystones schleiche ich mich nachts aus der Hintertür nach draußen und heule den Mond an.

 

Unser Schmerz ist nicht statisch. Er ruht niemals. Galen kanalisiert seinen Schmerz hinaus aufs Meer, um dort zu finden, was ihn retten wird. Wir wollen nichts weiter als zurechtkommen, fortbestehen, funktionieren. Wir wollen auch leben. Heute, im Jachthafen, ist Galens Augenblick.

Meine Freundin Aifric und ich streben aufeinander zu. Wir sind schon lange befreundet. Michelles Schmerz schließt uns ein. Wir spüren ihn. Wir blicken einander an und nicken. Michelle muss wieder schwimmen. Wir haben keine Wahl, wir müssen ihre neuen Schwimmfreunde sein. Es braucht keine Worte, aber Aifric und ich sind gleichermaßen vom Schreck gelähmt.

Galens Unfall war ein unmittelbarer Einschnitt mit einem denkbar gnadenlosen Messer. Bei ALS vollzieht sich der Verlust anders. Da ist es ein stetiger Verfall. Die Glieder werden schwächer. Beinahe unmerklich stellen sie ihre Tätigkeit ein. Es ist wie bei einem Kind, das vor deinen Augen aufwächst, nur umgekehrt. Als wir nach dem Schwimmen am Strand kauern, diskutieren Michelle und ich über den Unterschied zwischen diesen beiden Formen von Verlust. Zitternd vor Kälte und eingewickelt in unsere Tücher teilen wir uns oft eine Thermoskanne Tee. Was ist schlimmer, fragen wir uns. Alles in einem einzigen Moment verlieren, oder wenn es dir nach und nach genommen wird? Wir kennen die Antwort nicht, sind uns aber einig, dass es gleichermaßen beschissen ist.

Wir tun diese Dinge, weil der Schmerz nie aufhört. Der Widerstand eines Mannes im Jachthafen kann einen Augenblick verändern. Ein einzelner Augenblick aber wird dich nicht retten. Wir alle müssen wieder und wieder und wieder gerettet werden. Galen erfährt an seinem Tag im Hafen keine Erlösung, jener Augenblick seines Unfalls aber wird neu definiert. Michelle wird nicht erlöst und ebenso wenig Aifric oder ich. Doch es formiert sich der Schwimmclub der traurigen Heldinnen.

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Freunde

Meine allerbeste Freundin der Welt ist ein Baum. Hallo Baum. Sie ist eine wunderschöne Birke. Sie steht vor meinem Fenster. Im Winter rappeln ihre Äste, und im Frühling wiegen sie sich. Baum ist eine Sie, für mich muss sie es sein. Bei unserer Tasse Kaffee teilen wir tiefgründige Gedanken. »Pscht! Momma redet mit ihrem Baum!«, flüstern meine fünf Küken. Sie schleichen sich heran und kauern sich um mich, aber sie wissen, dass sie mich nicht unterbrechen dürfen. Ich habe meine Küken gut erzogen. In unserem Zuhause gehört das Tagträumen zu den wertgeschätzten Fähigkeiten. Wage es ja nicht, dabei zu stören. »Momma, du hast einen wichtigen Tagtraum kaputt gemacht«, schimpft mich der achtjährige Raife. »Entschuldige«, antworte ich mit aufrichtigem Bedauern.

Unser kleines Haus birgt eine Menge in sich. Eine Familie mit fünf Kindern, einen Vater, der nur die Augen bewegen kann, eine tagträumende Mutter, eine Unmenge medizinischer Geräte, die brummen und piepsen. Der wirbelnde, wilde Strudel der AMYOTROPHENLATERALSKLEROSE. Wir trudeln, überleben, darum bemüht, nicht durch den Abfluss fortgespült zu werden. Das Haus hat ein hohes Menschenaufkommen. Ich sollte häufiger staubsaugen. Die Krankenschwestern und Pfleger umkreisen uns auf taktvoll leisen Sohlen. Wollmäuse sammeln sich in den Ecken. Mein Mann benötigt ein Beatmungsgerät und zu jedem Zeitpunkt jemanden an seiner Seite. Oft bin ich dieser Jemand. Ich verbringe viel Zeit in diesem Haus, und dabei hilft mir der Baum.

 

Als ich noch zur Schule ging, wurde ich Zweite bei einem Kunstwettbewerb. Der Gesundheitsminister überreichte mir einen Preis für meine graue Bleistiftzeichnung eines traurigen, lesenden Mädchens. Vor ihrem Fenster spielten in bunten Farben Kinder. Mein Werbeslogan für ein gesundes Leben lautete: »Bist du immer nur allein, fehlt dem Leben Sonnenschein.«

Das Problem, allein zu sein, stellt sich mir heute nicht. Hier drin bin ich unglaublich gefragt. Wie sollte ich in diesem Haus jemals einsam sein? Das Mädchen von damals hatte nicht die geringste Vorstellung von diesem Leben. Raife liebt das Wort »unangemessen«, auch wenn ich nicht glaube, dass er wirklich weiß, was es bedeutet. Seine Verwendung des Wortes ist ausgesprochen unangemessen. »Rede nicht über mich mit anderen Leuten«, beschwert er sich. »Das ist unangemessen.« Offenbar ist acht das Alter der Vernunft. Das Alter, in dem Kinder ihre eigene Nacktheit erkennen und ausrufen: »Schau mich nicht an! Urteile nicht über mich!« Sie schimpfen oft mit ihrer Mutter. Meine eigene Mutter nimmt sogar vom anderen Ende des Telefons viel zu viel wahr. Sie besitzt diesen ganz speziellen Mutterschlüssel. Dreh ihn nur einen halben Zentimeter im Schloss, und schon fließen die Tränen. Meine Mutter könnte meine Freundin sein, tatsächlich aber ist sie etwas anderes. Sie ist der einzige Mensch, der sich jemals Sorgen machen wird, ob ich ohne Jacke aus dem Haus gehe.

Die ALS von Simon hat mich zutiefst unangemessen werden lassen. Mein sozialer Filter funktioniert nicht. Ich kann mich nicht mehr an die Regeln erinnern. Es bereitet mir Sorge, dass ich den Schmerz in die Öffentlichkeit trage. Wie viel ist zu viel? Einfache Fragen wie »Nun, wie läuft’s?« sind unmöglich geworden. Gott sei Dank gibt es alte Freunde. Sie gleichen Wunschbrunnen; mein Schmerz ist ein Stein, der beim Auftreffen keinen Platscher macht. Neue Freunde sind heikel. Vielleicht brauche ich ja keine? Mein Dreijähriger brüllt mich an, weil sein Schatten nicht weggeht. Mit undeutlicher Kleinkinderstimme knurrt er: »Blöde Momma. Blöder Schatten.« Diese Kinder sind mein Ein und Alles, doch sie sind nicht meine Freunde. Meistens sind sie nicht einmal freundlich. Das Schulmädchen hatte recht. Ich bin eine graue Bleistiftzeichnung. Ich bin hier drin so gefragt, dass es zum Himmel stinkt. Sogar der Hund und die Katze pflichten dem bei. Ich rede mit einem Baum, verflucht noch mal. Ich brauche etwas Farbe und Gesellschaft.

 

Gesellschaft macht mir Angst. Wenn ich rausgehe, brauche ich einen Panzer. Mein Wahlspruch soll fröhlich sein. So viele schöne Frauen grüßen mich und nehmen mich in ihren Kreis auf. Wenn mein Gemütszustand es zulässt, im richtigen Augenblick, genieße ich das. Das feinsinnige Orchester des Geplauders. Das alles mag ich. Wenn bei der Erwähnung der Ehemänner Augen gerollt werden. Nie hilft er im Haushalt. Probleme bei der Arbeit. Ich habe ihm zu Weihnachten ein Abo fürs Fitnessstudio geschenkt. Ich genieße das, wirklich. Ich bin nur ein wenig müde. Ich kämpfe gegen den Drang an, mich auf den Boden zu legen und unter einer Decke zu verkriechen. Ich lächle sie alle an und fühle mich wie ein Fremdkörper. Ihre Probleme sind nicht weniger wichtig als meine. Nun, wie läuft’s? Mir fehlt die Sprache für eine Antwort. Ich werde nach Hause zu meinem Mann gehen, weil er mein Freund ist. Augenrollen. Er ist ein Freund, er ist mein allerbester Ehemann. Schau mich nicht an! Bemitleide mich nicht! Blöde Gesellschaft. Blöde ALS.

Doch die Gesellschaft schaut immer wieder vorbei, und ich bin zu stur, um aufzugeben. Über das Geplauder hinweg erklärt eine Frau, die ich kaum kenne, dass ihre Ehe am Ende und ihr Mann in den Gartenschuppen gezogen sei. Das kollektive Tassengeklapper verstummt. Es ist ein K.o.-Schlag. Alle murmeln Beileidsbekundungen. Die Stimmung in der Runde und auch meine bekommen einen Dämpfer. Doch dann nimmt das Geplauder glücklicherweise wieder Fahrt auf.

Als ich alleine nach Hause spaziere, muss ich laut lachen, nicht etwa über den Kummer jener Frau, sondern wegen meiner eigenen Dummheit. Die Regeln existierten alle nur in meinem Kopf. Trage so viel Schmerz nach außen, wie du willst, oder auch gar keinen. Blöde Regeln. Ich war die Blöde. Ich lache, weil überall um mich herum Farbe ist und die Gesellschaft meine neue beste Freundin ist.

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Tagträume

Die meiste Zeit meines Lebens habe ich im Tagtraum zugebracht. In Irland kann es so bewölkt und grau sein, dass man das Gefühl hat, jemand habe das Licht ausgeschaltet. Da hilft das Tagträumen. Lichter spielen keine große Rolle, solange deine Träume leuchten. Tagträume kümmert es nicht, ob der Himmel bewölkt ist.

Bestimmte Geschichten über die Kinder werden von den Eltern so lange wieder und wieder erzählt, bis sie zur Tatsache werden. »Du warst immer ein Kind, das gern im Bett war«, sagt meine Mutter noch heute. »Nie bist du herausgeklettert. Wenn du einmal drin warst, dann bliebst du dort bis zum Morgen.« Natürlich. Das Bett ist die Brutstätte von Träumen im Schlaf und im Wachzustand. Das Bett war mein sicherer Hafen, nachdem ich den ganzen Tag durch die dunklen Gewässer der Wirklichkeit navigieren musste.

Als kleines Mädchen verbrachte ich viele zufriedene Nächte und zahllose Stunden am Tag im Refugium meines Bettes. Außerhalb der hell erleuchteten Küche war unser Haus alt, kalt und unheimlich, doch das kümmerte mich nicht. Ich war zu sehr damit beschäftigt, vom Bett aus den Heizkörper zu betrachten. Darauf waren Gesichter. Unendlich viele wunderliche Gesichter, Formen und Geschichten. Sie krochen unter der abgeblätterten Farbe hervor. Mein Heizkörper war wie Lucys Wandschrank. Ein jedes Mal brachte er mich nach Narnia.

»Abendessen!«, rief meine Mutter aus der warmen Küche. Vermutlich ist Essen der einzig vertretbare Grund, einen Tagtraum zu stören. Ich tauchte aus meinem Tagtraum auf, und innerlich jubilierte ich. »Hier bin ich! Ich bin wieder da! Alles ist in Ordnung!« Hat niemand sich gefragt, wo ich gewesen bin? Sind Sekunden verstrichen, Stunden oder Tage? In dem großen, alten, geschäftigen Haus mit sechs Kindern aber hatte niemand etwas bemerkt. Dass niemand etwas bemerkt hatte, machte die Tagträume noch wunderbarer.

 

Tagträume waren einsame Angelegenheiten, bis jemand davon Wind bekam. Simon trat in mein Leben und platzte in meine Tagträume. Simon redete in GROSSBUCHSTABEN. Mit blauen Augen und flatternden Händen schlenderte er herbei. Seine Stimme spazierte geradewegs in meine Tagträume und sah sich alles ganz genau an. Er redete viel, und das gefiel mir. Die Stimme und die Tagträumerin hakten sich unter. Diese Stimme machte die Tagträume so greifbar und sinnlich.

Das Bett mit der Liebe zu teilen war eine Offenbarung. Mit roten Wangen und peinlich berührt begegneten wir am nächsten Morgen unserem Nachbarn. Die Wände der Reihenhäuser waren wie aus Pappe, und das Schlafzimmer jenes armen Mannes grenzte direkt an unseres. Ich brachte es nicht fertig, ihm ins Gesicht zu schauen. Er konnte nichts als Hass auf die lauten Nachbarn empfinden.

Die Stimme und die Tagträumerin unternahmen an Sonntagen lange Spaziergänge und hielten nur inne, um zu essen. Wenn man verliebt ist und mitgerissen von gutem Sex, schmeckt das Essen besser denn je. Sie aßen viel. Sie gingen spazieren und lagen sich in den Armen, sie gingen spazieren und aßen das Beste, was das Land zu bieten hatte.

Sie aßen und schlangen ihre Körper umeinander, dann aßen sie noch etwas und schmiedeten neue, gemeinsame Tagträume. Sie dachten sich Geschichten aus und machten großartige Pläne. Er wollte Filme drehen, und sie wollte Bücher schreiben. Vereint waren diese Stimme und jene Tagträume ein wahr gewordener Schöpfungstraum.

Dein Bett mit dem richtigen Mann zu teilen ist eine herrliche Sache. Sein Geruch und sein Geschmack, umeinander geschlungene, miteinander ringende Gliedmaßen. Anfangs war sogar Simons Spleen, jeden Abend vor dem Einschlafen den Soundtrack von Blade Runner anzuhören, seltsam großartig. Die Liebe war nicht blind, aber in meinem Fall war sie definitiv taub.