Der Sekretär - Jochen von Lang - E-Book

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Jochen von Lang

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Beschreibung

Martin Bormann war auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Reichsleiter und ›Sekretär‹ von Hitler eine der mächtigsten Figuren des ›Dritten Reiches‹. Seine Herkunft, seinen Aufstieg, die Verbrechen, die er als Schreibtischtäter beging, und seine Intrigen schildert diese Bormann-Biographie. Der bekannte Hamburger Journalist und Zeitgeschichtler, Jochen von Lang, hat alle erreichbaren Dokumente und Details in jahrelangen Recherchen gesammelt und zu einer anschaulichen Darstellung zusammengefügt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 962

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Jochen von Lang

Der Sekretär

Martin Bormann: Der Mann, der Hitler beherrschte

FISCHER Digital

Unter Mitarbeit von Claus Sibyll

Inhalt

Vorwort1 Der unbekannte Angeklagte2 Von Halberstadt nach Parchim3 Roßbach und die Feme4 In Weimar ein neuer Anfang5 Einzug ins Braune Haus6 Vom unbekannten Pg. zum Reichsleiter7 Friedliches Obersalzberg-Idyll8 Harte Arbeit mit Ellbogen9 Der Haustyrann10 Gegen Christen und Juden11 Der Kriegsgewinnler12 Der Günstling räumt auf13 Hitler war sein Gott14 Der Schreibtischmörder15 Slawen sind Sklaven16 Am Ziel: Sekretär des Führers17 Die Peitsche für die Gauleiter18 Volkssturm19 Die Moral der „Goldfasanen“20 „Onkel Heinrich“, Freund auf Zeit21 Der heimliche Herrscher22 Zwei Tote auf der BrückeNachwort · Wie ich Martin Bormann fandAnhangDokumente Teil ATeil A: Schlußbericht der Frankfurter Staatsanwaltschaft unter dem Aktenzeichen Js 11/61 (GStA Ffm.) in der „Strafsache gegen Martin Bormann wegen Mordes“ vom 4. April 1973Anlage 1 Auszug aus dem Urteil des Staatsgerichtshofs zum Schutze der Republik vom 15. März 1924Anlage 2 Fingerabdruckblatt Martin BormannAnlage 3 Schreiben des Angeschuldigten vom August 1943Anlage 4 Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt/Main vom 4. Juli 1961Anlage 5 Presseerklärung vom 23. November 1964Anlage 6 Erlaß des Auswärtigen Amtes vom 4. Juni 1965Anlage 7 Fotografie des Angeschuldigten etwa aus der Zeit nach Beginn des Jahres 1939Anlage 8 Beschluß vom 25. April 1968 über die Eröffnung der VoruntersuchungAnlage 9 Schreiben der WASt vom 16. Januar 1963Anlage 10 Auszug aus dem Notizkalender des AngeschuldigtenAnlage 11 Zahnschema des Angeschuldigten nach Professor Reidar F. SognnaesAnlage 12 Zahnschema des Angeschuldigten von Professor Dr. Hugo J. BlaschkeAnlage 13 Bauplan des Ulap-GeländesAnlage 14 Ärztlicher Untersuchungsbogen über Dr. Ludwig StumpfeggerAnlage 15 Zahnärztliches Gutachten über Schädel Nr. 1 (Dr. Stumpfegger)Anlage 16 Zahnärztliches Gutachten über Schädlel Nr. 2 (Martin Bormann)Anlage 17 Gerichtsärztliches Gutachten des Dr. SpenglerAnlage 18 Fotografie des AngeschuldigtenAnlage 19 Fotografie des AngeschuldigtenAnlage 20 Röntgenologische Gutachten über Skeletteile des Dr. Ludwig Stumpfegger und des AngeschuldigtenAnlage 21 Röntgenaufnahme des linken Unterarms des Skeletts Dr. Ludwig StumpfeggerAnlage 22 Röntgenaufnahme des Schlüsselbeins des Skeletts des AngeschuldigtenAnlage 23 Fotomontage des Schädels Nr. 2 mit Fotografie des AngeschuldigtenAnlage 24 Fotomontage des Schädels Nr. 1 mit Fotografie des Dr. Ludwig StumpfeggerAnlage 25 Plastische Gesichtsrekonstruktion des Schädels Nr. 2 (Martin Bormann)Anlage 26 Plastische Gesichtsrekonstruktion des Schädels Nr. 1 (Dr. Ludwig StumpfeggerAnlage 27 Fotografíe des Dr. Ludwig StumpfeggerDokumente Teil BTeil B: Vollständig wiedergegebene Dokumente aus der Zeit vom 5. Oktober 1932 bis 15. April 1945 (in Auswahl)Verzeichnis der vom Autor befragten PersonenLiteraturverzeichnisPersonenregister

Vorwort

Ehe Hitler sich umbrachte, ernannte er Martin Bormann zum „treuesten Parteigenossen“. Doch er war mehr. Er glich zwar äußerlich – feist, gerade mittelgroß, kurzbeinig, rundschädelig und dunkelhaarig – nicht im geringsten dem Idealbild des nordischen Menschen, der das germanisch-deutsche Weltreich gründen und über die „Minderrassischen“ herrschen sollte. Dennoch war er nach Statur, Charakter, Herkommen und Bildung zugleich auch der perfekte Parteigenosse, und unter denen, die sich mit braunem oder schwarzem Tuch aufwerteten, war dieser Typ vorherrschend. Darum stand er auch nicht zufällig jahrelang an der Spitze jener Funktionäre, die das Volk wegen ihrer lamettaverzierten Uniformen als „Goldfasanen“ verspottete und zugleich fürchtete. Auch er war gefürchtet. Nicht vom Volk, denn es wußte von ihm nicht einmal den Namen, der während des Dritten Reiches in der gleichgeschalteten Publizistik selten erwähnt und von den Zeitungen sogar falsch geschrieben wurde. Gefürchtet wurde er von Ministern, hohen Beamten, Richtern, Parteigrößen, von Hitlers Hofstaat einschließlich der Geliebten Eva Braun, von Generälen, seinen Mitarbeitern, von seiner Frau und seinen neun Kindern. Grund zur Furcht hätten jedoch viele Millionen Menschen gehabt, angefangen von den „Meckerern und Miesmachern“, wie die Partei alle kritischen Deutschen nannte, bis zu den gläubigen Christen, den Konservativen, den Intellektuellen, den Slawen, den Juden. Zwar hat er zur Ideologie der Partei nicht einen Gedanken beigetragen, aber er steuerte diesen Apparat der Verführung, des Zwangs, des Terrors und der Verbrechen als ein hochbegabter Manager so effektiv, daß er in den Jahren des Kriegs der heimliche Herrscher Deutschlands wurde.

Geboren im Jahr 1900, aufgewachsen im kraftprotzenden Kaiserreich, verstört durch die Niederlage am Ende des Ersten Weltkriegs, enttäuschte ihn die Weimarer Republik, weil sie ihm nicht die kollektive Selbsterhebung der Zugehörigkeit zu einer Weltmacht bieten konnte. Aufgewachsen im Kleinbürgermilieu, erlebte er während der Inflation und Arbeitslosigkeit, wie die Menschen seiner Klasse zu besitzlosen Proletariern wurden. Daraus gewann er sein politisches Ziel. Sein Volk mußte wieder mächtig werden, damit auch er zu den Mächtigen gehörte. Und es mußte soziale Sicherheit gewinnen, damit auch er sich gesichert fühlen konnte. Er hielt sich für einen Revolutionär, aber er war nur ein Revoluzzer. Der Radau-Nationalismus der Völkischen zog ihn ebenso an wie der Glaube, daß eine starke Hand genüge, um die Welt wieder in Ordnung zu bringen, die nach seiner Meinung die „Roten“ und die Juden aus den Angeln gehoben hatten. Das waren die Bösen, also mußten ihre Gegner die Guten sein. So einfach war das – für einen jungen Mann, der von Taten mehr hielt als vom Nachdenken und der in seiner bescheidenen Halbbildung Schlagworte als Weisheiten betrachtete.

Er war nur einer von vielen, die diesen Trugschlüssen verfielen. Latent steckten Elemente des Nationalsozialismus in den zwanziger Jahren in unzähligen Deutschen; in anderen Völkern übrigens auch, nur mit dem Unterschied, daß sie nicht so sehr an den Rand ihrer Existenz gedrängt waren. Die Demokratie versagte offenbar. Als Bormann wegen Beteiligung an einem Fememord ins Gefängnis gesteckt wurde, hatte er einen weiteren Grund, das „System“ zu hassen. So beschloß auch er, Politiker zu werden. Da er nicht mit Meriten oder attraktiven Fähigkeiten glänzen konnte, mußte er die Ochsentour gehen, den langsamen Aufstieg im Apparat der Partei. Was er dafür brauchte, besaß oder entwickelte er in ungewöhnlichen Maßen: Fleiß, Beharrlichkeit, Organisationsgabe, eine rasche Auffassung, ein stupendes Gedächtnis, Anpassungsfähigkeit, den Gehorsam nach oben, die Rücksichtslosigkeit nach unten, ein Gefühl für Taktik, Schläue. Damit lassen sich auch heute noch Karrieren aufbauen. Auch sein Ehrgeiz, seine Herrschsucht, seine Gewissenlosigkeit, seine Lust an Intrigen hätten in jeder Epoche den Aufstieg gefördert. Dagegen besaß er keine Spur schöpferischen Denkens und nicht den kleinsten Funken von Genialität. Unaufhaltsam wurde er mit diesem Rüstzeug Hitlers höchster Bürokrat.

Dieser Typ ist nicht spezifisch für die NS-Zeit; im Führerkorps der NSDAP, diesem Konglomerat aus Sektenpredigern, Gewaltmenschen, Hasardeuren, Neurotikern, Idealisten und Patrioten war Martin Bormann sogar eine Ausnahmeerscheinung. Gerade deshalb fand er seine Rolle. Neben dem sich genialisch gebenden Hitler wurde er der Famulus, der „trockene Schleicher“. Doch anders als in Goethes „Faust“ fällt den Bormann-Naturen in der Geschichte der Völker häufig eine bedeutsamere Rolle zu – als graue Eminenz im Hintergrund, als unentbehrliche Helfer der Herrschenden, als Einflüsterer, als Vollstrecker für die Detail- und Schmutzarbeit. Auf Ruhm und Nachruhm verzichten sie, weil sie wissen, daß ihnen dazu das Format und die Faszination fehlen. Doch um so intensiver genießen sie die geheime Macht. Sie bauen sich ihre Burg aus Papier, aus Gesetzen, Verfügungen, Befehlen, Aktenvermerken, Geheimberichten und Denunziationen. Von dort aus regieren sie unsichtbar, unangreifbar, ohne Verantwortung. Weil sie nur mit Akten umgehen, fällt es ihnen auch leicht, unmenschlich zu sein. Die Opfer ihrer Tätigkeit begegnen ihnen nur als Statistik auf einem Bogen DIN A4.

Was Martin Bormann so mächtig werden ließ im System des Hakenkreuzes, waren zwei Tatbestände. Da war einmal das vom sogenannten Führer bewußt gepflegte Chaos der Zuständigkeiten, aus dem der Bürokrat als einziger Ordnungsfaktor zwangsläufig hervorragt. Und da war zweitens Bormanns robuste Ellbogenkraft, mit der er jeden Konkurrenten aus dem Zentrum der Macht stieß. Zwar wurde er damit nie die oberste Autorität, denn sie brauchte er ja als Auftraggeber, aber er wurde der einzige Wächter am Tor zum Allerheiligsten, in dem der Götze mit dem kleinen Schnurrbart und der Stirnsträhne thronte. Passieren durfte dieses Tor schließlich nur noch, wer dem Wächter gefiel, und insofern war er gelegentlich sogar noch mächtiger als der Götze. Als seine beiden engsten Mitarbeiter in der Partei-Kanzlei, mit der er die NSDAP, ihre Organisationen und Gliederungen steuerte, in den letzten Monaten des Regimes einen neuen Funktionsplan für dieses Mammutgebilde nach seinen Weisungen zusammengestellt hatten, vermerkten sie, damit sei eigentlich der ganze Apparat von Würdenträgern überflüssig geworden. Die Partei-Kanzlei als oberste Instanz – selbstverständlich unter dem Führer Adolf Hitler – hatte deren Kompetenzen eingefangen und aufgefressen wie eine Spinne die Fliegen. Die groteske Tragik des Bürokraten Bormann war, daß mit der Ausdehnung seiner Kompetenzen gleichzeitig der Raum schrumpfte, in dem sie galten. Je mehr er Hitlers Herrschaftsbereich in den Griff bekam, desto kleiner wurde dessen Fläche. Kurz vor seinem Ende war er 36 Stunden lang absoluter Regent und ranghöchster Hakenkreuzler, aber sein Reich war nicht mehr sehr viel größer als ein Quadratkilometer Berliner Erde. Aus ihr verschwand er zunächst einmal spurlos.

Die Suche nach dem Verschwundenen hat seinen Namen bekannter gemacht, als er es zu seinen Lebzeiten war. Auch Jochen von Lang reizte zunächst die kriminalistische Aufgabe Bormann zu finden, tot oder lebendig. Dabei mußte er sich zwangsläufig mit dem Leben dieses Mannes beschäftigen, seinem Charakter, seiner Umgebung, seiner Bedeutung in jenen Tagen. Natürlich war es befriedigend, daß schließlich das Skelett des Gesuchten genau dort gefunden wurde, wo er es vermutet hatte. Wichtiger wurde Jochen von Lang jedoch bei seiner mehrjährigen Arbeit das erstaunliche Ausmaß des Wirkens von Martin Bormann – erst im Flitterglanz und dann im Elend des Dritten Reiches. Er entdeckte den Manager, der in der Zentrale des Regimes die Hebel der Macht bediente – im Auftrag und im Sinn seines Herrn, aber doch mit einem Maß an Selbständigkeit wie kein anderer aus der braunen Mannschaft.

Die Geschichte wiederholt sich nicht in ihren Abläufen, aber Parallelen hat es immer gegeben. Für einen Rückfall der Deutschen in die Barbarei der Diktatur gibt es keine Anzeichen. Doch wer wagt zu behaupten, daß deshalb die Bormanns bei uns keine Chance mehr haben?

 

Claus Sibyll

1 Der unbekannte Angeklagte

Der Engländer Richard William Hurlstone Hortin, Major in der Armee Seiner Majestät, bekam am 18. Oktober 1945 den Befehl, Martin Bormann mitzuteilen, daß ab 20. November gegen ihn im Gerichtsgebäude „zu Nürnberg, Deutschland“ verhandelt werde. Er sei der Verbrechen gegen den Frieden, der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Sofern er sich dem Internationalen Militärgerichtshof stelle, könne er sich dort verteidigen, persönlich und durch einen Anwalt. Erscheine er jedoch nicht, könne trotzdem gegen ihn verhandelt werden.

Die Prozedur der Mitteilung wurde Major Hortin vom Gericht vorgeschrieben. Die Bekanntmachung mußte bis zum Prozeßbeginn einmal wöchentlich im deutschen Rundfunk gesendet und in einer, im Heimatort Bormanns erscheinenden Zeitung veröffentlicht werden.

Hortin merkte sehr bald, daß die Dinge nicht so glatt laufen würden. Auch wenn man davon absah, daß von diesem Angeklagten bisher keine Spur entdeckt werden konnte – welche Stadt war eigentlich als seine Heimatstadt anzusehen? Berlin?

Dort hatte er einen Amtssitz gehabt, dort war er zuletzt gesehen worden – und dort war er verschwunden. Doch mit Sicherheit hatte er während der zwölf Jahre des tausendjährigen Reiches die wenigste Zeit in der Reichshauptstadt gelebt. Dem Major lag ein Bericht vor, wonach der Gesuchte ein großes Gut in Brandenburg besessen hätte, und so hätte er auch dort beheimatet sein können. Doch so recht wußte darüber niemand Bescheid. Oder sollte man die Suche auf Halberstadt konzentrieren, wo Bormann vor 45 Jahren geboren war?

Mit weit mehr Berechtigung hätte Major Hortin die „Hauptstadt der Bewegung“, also München, in Betracht ziehen können oder die Gemeinde Berchtesgaden, zu deren Gebiet auch Hitlers Berghof und das ganze Areal des Obersalzbergs gehörten. Denn wenn auch der Reichsleiter Bormann seine Ämter an verschiedenen Orten ausgeübt hatte, so waren diese beiden Orte ständig der Wohnsitz seiner vielköpfigen Familie gewesen, und an beiden Plätzen hatte er auch Dienststellen.

Daß dies alles im Aktenstapel über die Suche nach Bormann unerwähnt bleibt, ist bezeichnend: Niemand aus der ersten Garnitur der NS-Größen war so wenig bekannt wie er. Im Schatten seines Führers hatte er sich die ganze Zeit vor der Mitwelt verborgen. Gekannt hatte ihn eigentlich nur die unmittelbare Umgebung Adolf Hitlers.

So ordnete dann Major Hortin an, daß alle deutschen Sender und alle Zeitungen in den vier Besatzungszonen die „an den Angeklagten Bormann gerichtete Bekanntmachung“ jeweils viermal zu verbreiten hätten. Zusätzlich ließ er noch 200000 Plakate drucken. Sie wurden bei allen deutschen Behörden und alliierten Dienststellen als eine Art Steckbrief ausgehängt – ohne genaue Personenbeschreibung, aber mit einem Foto. Schon die Suche nach einem geeigneten Bild war schwierig gewesen, und der Major bezweifelte sehr, daß er mit diesem Allerweltsgesicht eines Spießbürgers jemand auf die richtige Spur bringen könnte.

Die meisten Deutschen, geschockt vom Ausmaß ihrer Niederlage und voller Haß gegen ihre „Ver“-Führer, hätten gewiß keinen Augenblick gezögert, einen prominenten Nazi seiner Bestrafung zuzuführen. Sie hatten zwar fast alle in den Wahlen vor Kriegsbeginn für Hitler gestimmt, oder eine braune, schwarze, graue oder blaue Uniform mit Hakenkreuz getragen. Doch diesen Irrtum büßten sie nun. Sie empfanden kein Mitleid mit jenen, die sich in den Sesseln der Macht breit gemacht hatten und die sich nun auf zwei harten Bänken des Nürnberger Justizpalastes verantworten sollten.

Da Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Heinrich Himmler sich selber umgebracht hatten und damit dem Gericht entgangen waren, blieb für die „Abrechnung“ nur die zweite Garnitur der NS-Prominenz übrig, aber von den 24 Angeklagten waren immerhin 13 einmal Minister gewesen. Etliche waren freilich nur auf diese Liste geraten, weil ihre Namen in den Ohren der Feinde einen schlechten Klang hatten – so Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, der traditionelle Kanonenkönig, ein Greis, der wegen geistigen Verfalls schon nicht mehr verhandlungsfähig war. So auch Hans Fritzsche, Abteilungsleiter im Propagandaministerium, der jede Woche einmal mit einem Rundfunkkommentar den Endsieg prophezeit und die Gegner geärgert hatte.

Bis zu einem gewissen Grad jedoch konnten die Deutschen in diesen zwei Dutzend Männern durchaus ein Abbild von Hitlers Gewaltregime sehen. Julius Streicher verkörperte die Judenverfolgungen, Ernst Kaltenbrunner den Terror von Gestapo und SD (Sicherheitsdienst der SS), Robert Ley das sinnlose Geschwafel vom nationalen Sozialismus, Hans Frank (parteiintern auch „Frank II“ genannt) die Verbrechen an den unterjochten Völkern, Wilhelm Frick die seelenlose Bürokratie, Joachim von Ribbentrop die Überfälle auf friedliche Staaten, Alfred Rosenberg die Unterdrückung der Christen, die Militärs das Kriegsinstrument. Doch wer, so fragten sich die meisten Deutschen, war dieser Martin Bormann?

In der Bekanntmachung Nr. 1 des Internationalen Militärgerichtshofs werden die Namen der 24 Angeklagten aufgeführt, ohne Titel und Ämter. Wozu auch? – Jedermann in Deutschland kannte sie. Doch wenn auch im Fall Bormann gesagt worden wäre, daß er Reichsleiter der NSDAP, Reichstagsabgeordneter, Reichsminister, Leiter der Parteikanzlei, Sekretär des Führers, Chef des Volkssturms und SS-Obergruppenführer gewesen sei, so hätten sich dennoch die wenigsten Deutschen erinnert, diesen Namen je gehört zu haben. Geläufig war er nur Funktionären der gehobenen Garnitur des untergegangenen Systems. Doch Leute dieses Schlags lebten jetzt fast alle hinter Stacheldraht. Wer jetzt in einem solchen Lager saß – und es waren an die hunderttausend –, wurde verhört und nach seinen Verbindungen in der Partei gefragt. Was davon in Gestalt von Protokollen beim Nürnberger Untersuchungsrichter und der Anklagebehörde landete, war, soweit es sich auf das Schicksal des Martin Bormann bezog, erstaunlich dünn. Nur wenige konnten sich überhaupt erinnern, ihn gesehen zu haben.

An Belastungen dagegen war kein Mangel. Die deutsche Gründlichkeit, die jeden Vorgang in einer Akte schriftlich festhält und dann auch noch bomben- und feuersicher verwahrt, lieferte genug Material für die Anklageschrift: 27 maschinengeschriebene Seiten, fast nur mit Hinweisen auf Dokumente, in den Gerichtsakten. Sie sollen beweisen, daß Bormann die Macht der Nazi-Verschwörer gefördert, sich an Kriegsvorbereitungen beteiligt und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat. Zum Lebenslauf des Angeschuldigten jedoch enthält die Anklageschrift nur ein paar dünne Fakten, wie sie in jedem größeren Zeitungsarchiv zu finden sind. Möglicherweise sei er noch am Leben, stellte die Anklage fest, und deshalb sei das Verfahren durchzuführen.

Tatsächlich waren die Indizien für den Tod Bormanns zu diesem Zeitpunkt nur schwach. Es gab eine Aussage seiner Sekretärin Else Krüger, daß er ihr am späten Abend des 1. Mai 1945 vor dem Versuch, aus der belagerten Reichskanzlei in Berlin auszubrechen, resignierend gesagt habe, wahrscheinlich werde er nicht durchkommen.

Etwas genauer waren die Aussagen von Hitlers Fahrer Erich Kempka, der in der Nähe des S-Bahnhofs Friedrichstraße bei der Weidendammbrücke beobachtet hatte, wie Bormann durch die Explosion eines deutschen Panzers zur Seite geschleudert wurde und vermutlich umkam. Die Leiche hatte Kempka nicht mehr gesehen.

Leiter der Anklageabteilung für die Abfassung der individuellen Anklageschriften und deren Vorbereitung, also gewissermaßen der persönlichen Sündenregister der Angeklagten, war ein Amerikaner, der etlichen Alt-Nationalsozialisten wohlbekannt sein mußte: Robert M.W. Kempner, bis 1933 Oberregierungsrat und Justitiar der Polizeiabteilung im Preußischen Innenministerium und damals ein streitbarer Gegner der mit allen Mitteln zur Macht drängenden Partei. Vor allem hatte er sich durch die Verbissenheit mißliebig gemacht, mit der er vom Polizeiressort des Innenministeriums aus die NSDAP von der Macht fernzuhalten suchte.

Als dann ein halbes Jahr später Hitler in die Reichskanzlei einzog und Göring die preußische Polizei in die Hand bekam, wußte Kempner, was ihn in Deutschland erwartete. Er emigrierte bald darauf – wie Zehntausende in jenen Tagen.

Nun war er als US-Bürger und als einer der maßgebenden Ankläger zurückgekehrt. Sicherlich gab es in seiner Dienststelle keinen, der neben der angelsächsischen Gerichtspraxis und ihren Finessen auch die Nationalsozialisten besser kannte. Als sich Göring und Kempner nun wieder gegenüberstanden, fragte Göring kaltschnäuzig: „Was kann ich von Ihnen, Doktor, schon erwarten?“ Kempner antwortete: „Fairneß, Herr Reichsmarschall; dadurch, daß Sie mich damals aus dem Amt gefeuert haben, habe ich überlebt.“

Den Angeklagten Martin Bormann hatte Kempner mit Sicherheit nie gesehen. Als der eine notgedrungen außer Landes ging, war der andere in München noch ein einflußloser Funktionär, der dafür zu sorgen hatte, daß die bei Schlägereien verletzten SA-Männer ihre Arztkosten nicht allein bezahlen mußten. Doch der Ankläger war überzeugt, daß jemand, der sich mit so viel List, Ellbogenkraft und Beharrlichkeit in den internen Fehden der Parteiklüngel bis ganz nach oben geboxt hatte, auch beim Zusammenbruch im Untergrund zu verschwinden verstand.

Dem Sekretär Hitlers dürfte es – so meinte Kempner – wohl nicht schwergefallen sein, sich noch in letzter Stunde mit neuen Personalpapieren zu versorgen. Es wunderte die Anklagebehörde deshalb auch nicht, daß bei der Suchaktion von Major Hortin nichts herauskam als ein paar diffuse Hinweise von Wichtigtuern, deren Angaben sich als Hirngespinste entpuppten.

Am 15. November, also wenige Tage vor Beginn der Verhandlungen, meldete Hortins Vorgesetzter, Oberstleutnant Alexander G. Brown, der Anklagebehörde seinen Mißerfolg bei der Suche nach Martin Bormann.

Zwei Tage später – es war ein Samstag – trat das Gericht zu der „Vorbereitenden Verhandlung“ zusammen. Es mußte nun endlich entscheiden, ob das Verfahren gegen Bormann unter diesen Umständen durchzuführen sei. Sir David Maxwell-Fyfe, stellvertretender Hauptankläger der Engländer, ein hervorragender Jurist und Mitglied des Unterhauses, trug dem Gerichtshof vor, daß nach dem Stand der bisherigen Ermittlungen der Angeklagte keineswegs tot sein müsse. Mit den Aussagen der Zeugen nahm er es nicht so genau; so behauptete er, Bormann sei in einem deutschen Panzer gewesen, der dann explodierte. Von drei Zeugen hätten zwei ausgesagt, Bormann sei dabei getötet worden, aber nur einer habe von einer Verwundung Bormanns berichtet.

Sir David muß damals wohl etwas den Überblick über seine Aktenberge verloren haben, denn diese Version taucht nur einmal und dann nie wieder auf. Doch sie genügte dem Gericht, und als der Ankläger noch mit Dokumenten nachgewiesen hatte, daß bei der Suche nach dem fehlenden Angeklagten alle Auflagen des Gerichts mehr als erfüllt worden waren, entschieden die Richter nach kurzer Beratungspause, „daß gemäß Abschnitt 12 des Statuts das Verfahren gegen den Angeklagten Bormann in absentia (in Abwesenheit, Anm.d.Red.) durchgeführt wird“, und gaben bekannt, „daß ein Verteidiger für den Angeklagten Bormann ernannt werden wird“.

Dazu wurde vom Gericht Friedrich Bergold bestimmt, der sich seines Auftrags gern gleich wieder entledigt hätte. In einem Prozeß aufzutreten, der von der ganzen zivilisierten Welt mit Spannung verfolgt wird, ist der Wunschtraum jedes Strafverteidigers. Mit diesem Fall jedoch – das war vorauszusehen – war wenig Ruhm zu ernten. Wer sollte dem Anwalt helfen, Anschuldigungen zu widerlegen, wenn nicht der Angeklagte selbst? Wer sollte Hinweise geben, wo Entlastendes in den Aktenbergen zu finden wäre? Wer konnte Zeugen für die Verteidigung benennen?

Bergold war immer überzeugt, sein Mandant sei bei den Kämpfen in Berlin ums Leben gekommen. Am liebsten hätte er schon am ersten Prozeßtag den Antrag gestellt, Bormann für tot zu erklären und das Verfahren einzustellen. Doch dafür war es zu früh. Also saß er am 20. November um 10.00 Uhr mit mehr oder weniger Engagement zwischen den anderen Verteidigern, nur wenige Meter vor den Bänken der Angeklagten, und wartete auf eine Chance, seinen Platz für immer räumen zu können.

Bis zu diesem Eröffnungstag waren von den ursprünglich 24 Angeklagten schon zwei ausgeschieden. Der Industrielle Krupp mußte von der Liste gestrichen werden. Robert Ley, Reichsorganisationsleiter der NSDAP und Leiter der NS-Gewerkschaft „Deutsche Arbeitsfront“, hatte sich in seiner Zelle erhängt, wenige Tage nachdem ihm die Anklageschrift überreicht und sein Vorschlag abgelehnt worden war, er werde, wenn man ihn am Leben ließe, aus dem Gefängnis heraus die Deutschen vom Antisemitismus kurieren. Als nächster, so hoffte Bergold, würde der Name Bormann von der Liste verschwinden. Gleich am dritten Verhandlungstag beantragte er, man möge das Verfahren gegen Martin Bormann abtrennen und vertagen, weil dieser Angeklagte als einziger zu seinem Fall nicht gehört werden könne und weil eine ordnungsgemäße Verteidigung zusätzlich noch dadurch erschwert werde, daß der Anwalt nicht hinreichend Zeit gehabt habe, sich in die Materie einzuarbeiten. Bergold sah nicht ein, warum er sich in den folgenden Monaten – es sollten zehn werden – durch einen Berg von Dokumenten (5330 waren es am Ende des Prozesses) hindurchwühlen und sich wegen eines nie vollstreckbaren Urteils abmühen sollte. Doch das Gericht lehnte seinen Antrag ab. Es erkannte nur an, daß ihm genügend Zeit zur Vorbereitung seiner Verteidigung gewährt werden müsse. Der Fall Bormann sollte deshalb zuletzt behandelt werden.

Das klang großzügig, aber es dauerte nicht einmal vier Wochen, da kam der US-Oberst Robert G. Storey auf Bormann zu sprechen.

„Obwohl der Angeklagte in persona nicht auf der Anklagebank sitzt, liegt der Beweis für seine Verantwortlichkeit bei der Führung und Förderung der Nazi-Verschwörung hier vor … Als Chef der Parteikanzlei direkt unter Hitler war Bormann ein außerordentlich wichtiger Machtfaktor bei der Führung des Korps der Politischen Leiter.“ Er habe zudem auch die Reichsregierung kontrolliert und durch seine doppelte Funktion als Parteilenker und Reichsminister geradezu eine Schlüsselstellung im NS-Apparat eingenommen.

Das war kurz vor Weihnachten 1945, und deshalb wirkte es besonders eindringlich, als Oberst Storey ausführlich und persönlich entrüstet schilderte, wie verbissen Bormann die christlichen Kirchen unterdrückt hatte. Für Bergold war das um so unangenehmer, als er gerade in diesem Anklagepunkt völlig auf verlorenem Posten stand. Aus vielen Dokumenten mit Bormanns Unterschrift ging eindeutig hervor, daß er am liebsten schon während des Kriegs das Christentum ausgemerzt hätte.

Auch nach der Weihnachtspause hatte die Anklage noch immer Bormann im Visier. Sie schickte Mitte Januar den jungen, von seiner Mission durchdrungenen Leutnant Thomas F. Lambert, Hilfsankläger in der USA-Mannschaft, ins Gefecht. Mit dem Eifer eines Weltverbesserers und voll Ehrgeiz, sich im Kreis der großen Juristen hervorzutun, schilderte er mit Emphase, wie „der Mann im Schatten Hitlers“ insgeheim eine ungeheure Macht besessen habe, wie er Kriegsverbrechen begangen, Christen und Juden verfolgt und die Ausrottung der Zivilbevölkerung in Osteuropa betrieben habe.

„Jeder Mensch weiß“, rief Leutnant Lambert, „daß Hitler ein böser Mensch war. Aber ohne Helfershelfer wie Bormann wäre er nie imstande gewesen, die totale Macht an sich zu reißen.“ Dieser Mann, der sein ganzes Leben der Verschwörung gewidmet habe, „war in der Tat ein böser Erzengel an der Seite des Teufels Hitler“.

Das war vielleicht mehr Pathos, als der Gerichtsvorsitzende, Lordrichter Justice Lawrence, an einem Juristen schätzte; ihm lag weniger an aufwendiger Rhetorik als an Sachlichkeit und Objektivität. Dessen ungeachtet – mit den konkreten Beschuldigungen mußte sich Bergold auseinandersetzen, und er hatte es dabei sehr viel schwerer als die Ankläger. Je mehr Macht Bormann in den letzten Jahren an sich gerafft hatte, um so mehr Verordnungen, Gesetze, Befehle hatte er unterschrieben. Die Anklagebehörde mit ihren vielen Hilfskräften fand deshalb in dem Aktenberg Belastendes in Mengen, und weil sie so häufig fündig wurde, konnte sie sogar auf Zeugen weitgehend verzichten. Wie konnte damit ein Anwalt mit wenigen Helfern konkurrieren?

Die einundzwanzig Angeklagten waren für Bergold alles andere als eine Unterstützung. Jetzt, zwischen Kriegsende und Urteilsspruch, waren sie nur scheinbar Schicksalsgenossen; untereinander waren sie Gegner und Konkurrenten – immer noch – wie unter Hitler. Hermann Göring spielte sich als Führer-Nachfolger auf. Karl Dönitz und Erich Raeder konnten sich nicht ausstehen, obwohl oder gerade weil beide die Marine befehligt hatten. Julius Streicher wurde von den meisten verachtet. Die Militärs, untereinander zerstritten, haderten gegen die Parteileute. Nur in einer Hinsicht waren alle der gleichen Ansicht – und sie deckte sich merkwürdigerweise fast mit den Ansichten des Leutnants Lambert: Bormann war der Luzifer Hitlers gewesen. Was immer an Strafwürdigem geschehen sei, habe außer dem toten Führer in erster Linie dessen Sekretär zu verantworten.

Als Göring Mitte März 1946 als Zeuge in eigener Sache vom USA-Ankläger Justice Robert H. Jackson verhört wurde, nannte er als die eigentlichen Schuldigen an den Verbrechen des Dritten Reiches: Hitler, Goebbels, Himmler und Bormann. Jedoch : „Den entscheidenden Einfluß während des Krieges auf die Person des Führers, und zwar gerade von 1942 ab … hatte Herr Bormann. Es war ein verhängnisvoller Einfluß.“

Ernst Kaltenbrunner, Chef des Reichssicherheitshauptamtes und nach Himmler der Mächtigste im SS-Sektor, behauptete allen Ernstes, er habe von den millionenfachen Morden an Juden nichts gewußt. „Die Leute, die das machten, sind alle tot: Hitler, Himmler, Bormann, Heydrich, Eichmann.“

Alfred Rosenberg, Verfasser des antichristlichen „Mythus“, lehnte es ab, für den kirchenfeindlichen Kurs der Partei geradezustehen. Weil er seine Dienststellen nicht als „geistige Polizei“ hatte mißbrauchen lassen, sei Bormann vom Führer „mit der Vertretung der kirchenpolitischen Haltung der NSDAP“ beauftragt worden. Ebenso habe jener seine harten Forderungen in der „Behandlung der Ostprobleme“ (das heißt Versklavung und Dezimierung der Bevölkerung) durchgesetzt. Der Angeklagte Baldur von Schirach berichtete, Bormann habe gegen ihn gehetzt, weil er als Reichsjugendführer und als Gauleiter von Wien den Kirchen keine Schwierigkeiten bereitet habe. Feldmarschall Wilhelm Keitel, von Bergold gefragt, wer für den Volkssturm, jene kriegsverlängernde, sinnlose und nur noch weitere Blutopfer fordernde Massenaushebung verantwortlich sei, wies auf Bormann hin, der „jede Beratung, jede Mitarbeit und jede Information über den Volkssturm gegen militärische Dienststellen abgelehnt hat“.

Sogar Goebbels, sagte der Angeklagte Hans Fritzsche, hatte „eine ausgesprochene Angst vor Martin Bormann“. Der Propagandaminister, selber auch Reichsleiter in der Partei, im Reichskabinett mindestens gleichrangig und während der letzten zwei Kriegsjahre bei Hitler wieder in hohem Ansehen, habe „jede seiner Handlungen, die vielleicht von radikalen Parteielementen mißdeutet werden konnten“, bei Bormann zu rechtfertigen gesucht. Wenn jener ein Fernschreiben geschickt habe, sei der „gesamte Apparat von Dr. Goebbels in schnelle Bewegung“ gesetzt worden.

Ende Mai, der Prozeß zog sich schon ein halbes Jahr hin, war Friedrich Bergold mit seiner Verteidigung kaum weitergekommen.

Er hoffte zwar, das eine oder andere belastende Dokument entschärfen zu können, aber was nutzte das, wenn für einen Schuldspruch immer noch mehr als genug übrigblieb?

Notgedrungen kam Bergold immer wieder auf den Versuch zurück, den Tod seines Mandanten zu beweisen. Vielleicht würde es gelingen, wenn er Hitlers Fahrer, Erich Kempka, und Bormanns Sekretärin, Else Krüger, die bisher nur von alliierten Geheimdiensten vernommen worden waren, als Zeugen in den Gerichtssaal bekommen und dort befragen würde.

Der Vorsitzende, Lordrichter Lawrence, genehmigte ihm die Zeugen, die Bormanns Tod beweisen sollten, entwertete aber gleich ihre Aussagen: „Es ist ganz unerheblich, ob der Angeklagte tot oder lebendig ist. Die Frage ist, ob er schuldig oder unschuldig ist.“

„Euer Lordschaft“, klagte Friedrich Bergold, „ich bin in einer ganz besonders schwierigen Lage. Ich habe schon sehr viele Zeugen gehört und habe mich sehr viel bemüht, aber ich kann nichts Entlastendes finden. Die Zeugen sind alle mit einem erheblichen Groll gegen den Angeklagten erfüllt und haben das Bestreben, ihn zu belasten, um sich zu entlasten.“ Es sei vor wenigen Tagen (es war die Verhandlung vom 28. 5. 46) ein Mitarbeiter Bormanns, ein gewisser Helmut von Hummel, in Salzburg verhaftet worden. „Ich werde zu ihm fahren. Vielleicht werde ich neue Informationen bekommen.“

Dieser von Hummel war tatsächlich einer von Bormanns Spitzenleuten gewesen. Er war Geschäftsführer für das Obersalzberggelände, für einige Güter in Mecklenburg und von Hitlers Privatkasse. Außerdem leitete er auf dem Obersalzberg eine Dependance der Parteikanzlei, weil Bormann die wichtigsten Akten griffbereit wünschte, wenn er und Hitler sich dort monatelang aufhielten. Doch offensichtlich konnte oder wollte auch von Hummel seinen ehemaligen Dienstherrn nicht herauspauken, denn als Zeuge tauchte er in Nürnberg nicht auf.

Fehlschläge dieser Art mußten sich wohl auch auf der Anklagebank herumgesprochen haben, denn Mitte Juni erkundigte sich Göring, der aus gutem Grund Bormann auf den Tod haßte, vor Verhandlungsbeginn scheinheilig bei Bergold, ob er denn nun endlich Entlastungszeugen gefunden habe. „Schließlich hat er doch Sekretärinnen gehabt“, meinte der gewesene Reichsmarschall. Doch der Anwalt mußte bekennen: „Keine will zu seinen Gunsten aussagen.“ Triumphierend sagte Göring zu seinen Mitangeklagten: „Wenn Hitler vorzeitig ums Leben gekommen wäre, hätte ich als sein Nachfolger mich um Bormann gar nicht zu kümmern brauchen. Der wäre von seinem Personal umgebracht worden, ehe ich noch den Befehl hätte geben können, ihn umzulegen.“ Mit Zeugen hatte Bergold kein Glück. Ende Juni 1946 mußte er wieder einmal mehr dem Gericht bekennen, daß er mit leeren Händen dastand. Die Hitler-Sekretärin Gerda Christian wollte er vor den Richtern befragen, aber sie war kurz zuvor aus dem amerikanischen Frauen-Internierungslager Oberursel auf Heimaturlaub geschickt worden und hielt sich seitdem versteckt. Mit ihr hatte der Verteidiger beweisen wollen, daß sein Mandant keineswegs aus eigener Entscheidung Schlimmes getan habe, sondern im Grund genommen ein unselbständiger Befehlsempfänger Hitlers gewesen sei. Die gleiche Aussage erhoffte sich Bergold auch von leitenden Mitarbeitern der Parteikanzlei. Die Abteilungsleiter Helmuth Friedrichs und Heinrich Walkenhorst blieben zwar unauffindbar, aber kurz vor Verhandlungsbeginn am 29. Juni 1946 teilten ihm die Amerikaner mit, daß sie Gerhard Klopfer, Staatssekretär und gleichfalls Abteilungsleiter, aus einem Internierungslager ins Nürnberger Gefängnis gebracht hätten.

Bergold hätte ihn demnach sofort vorführen lassen können, doch das wagte er nicht. Nach so vielen Enttäuschungen wollte er nun nicht auch noch öffentlich eine böse Überraschung erleben. Er beantragte die Vertagung des Falles Bormann; das Gericht möge sich einstweilen mit dem Fall des Angeklagten Fritzsche beschäftigen, bis er mit Klopfer gesprochen habe.

Das war der Augenblick, da der sonst sachlich-kühle und gegen Bergold sogar wohlwollende Lordrichter die Geduld verlor.

„Viele Monate haben Sie für die Vorbereitung des Falles zur Verfügung gehabt“, donnerte er, „und der Gerichtshof ist der Meinung, daß Sie fortfahren sollten. Wenn nicht mit der Aussage Klopfers, so eben mit anderem Material.“ Bergold blieb nur noch übrig, sich aufs Bitten zu verlegen.

„Mylord, was ich habe, ist so wenig und mager; ich weiß selbst nicht, ob das stichhält, bis ich den Zeugen vernommen habe.“

So erreichte er schließlich eine Vertagung – nur für ein paar Stunden. Der ehemalige Bormann-Untergebene Klopfer war dann doch nicht der Meinung, sein Ex-Chef sei so einfluß- und machtlos gewesen, wie es der Verteidiger wünschte; am gleichen Tag verzichtete Bergold auch auf diesen Zeugen.

Statt dessen versuchte er nun anhand von Dokumenten „einen kleinen Beweis dahin zu führen, daß der Angeklagte nicht die legendenhafte große Rolle gespielt hat, die ihm jetzt nach dem Zusammenbruch zugeschrieben wird“. Doch auch dafür fühlte er sich nur schlecht gerüstet, und so entschuldigte er sich nach seinem Vortrag: „Es widerstrebt mir als Anwalt, aus Nichts etwas zu machen, und ich kann daher auch nur sehr, sehr wenig vortragen. Es ist nicht Nachlässigkeit, sondern Unvermögen, ohne Hilfe des Angeklagten aus den Dokumenten Positives herauszufinden.“

Am 3. Juli durfte er endlich seinen wichtigsten und letzten Zeugen vorführen: Erich Kempka, in einer kinderreichen Arbeiterfamilie des Ruhrgebietes zur Führer-Verehrung erzogen, war viele Jahre der „persönliche Fahrer“ seines Idols. In der letzten Phase verwaltete er den Fuhrpark in der unterirdischen Garage der Reichskanzlei. Ihm fiel auch die Aufgabe zu, das Benzin zu beschaffen, mit dem die Leichen Hitlers und seiner eben erst angetrauten Frau Eva verbrannt wurden. Verwaltungsmäßig war er Bormann unterstellt; Kempka nannte ihn vor dem Gericht „mein indirekter Vorgesetzter“.

Zu seinem direkten Vorgesetzten hatte Kempka einen direkten Draht, wie das zwischen Leibchauffeuren und ihren Herren so üblich ist. Aus diesem Grund intrigierte Bormann gegen Kempka, wie gegen alle, die ohne ihn zu Hitler Zugang hatten. Kempka andererseits ärgerte sich über die brutale Art, in der der Reichsleiter ihn wie alle Untergebenen herumkommandierte.

Auf Bergolds Fragen berichtete Kempka, wie er Bormann in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1945 beim Ausbruch aus der Reichskanzlei an der Weidendammbrücke getroffen habe und wie sie und eine Anzahl weiterer Männer aus dem Führerbunker versucht hatten, gedeckt durch deutsche Panzer, die Linien der Belagerer zu durchbrechen. Bormann sei seitlich neben dem Spitzenpanzer gegangen.

„Der Panzer flog auseinander, gerade dort, wo Bormann ging.“

„Haben Sie“, fragte Bergold, „Martin Bormann bei dieser Gelegenheit in der sich entwickelnden Stichflamme zusammenbrechen sehen?“ Kempka, damals von der Stichflamme geblendet und dann einige Augenblicke durch die Explosion besinnungslos, erinnerte sich an „eine Bewegung, eine Art Zusammenbrechen, man kann auch sagen ein Wegfliegen“, und nahm „bestimmt an, daß Bormann von der Stärke der Explosion ums Leben gekommen ist“.

Den Richtern genügte das nicht. Sie hakten nach, wollten Einzelheiten über das Gefecht wissen. Sie fragten, ob Kempka mit Bormann darüber gesprochen habe, auf welchem Weg sie am besten aus Berlin entkommen könnten und wo er denn in Gefangenschaft geraten sei. „In Berchtesgaden“, sagte er. Wann? „Im Sommer 1945.“

So fiel auch diese Befragung nicht gerade so aus, wie Bergold sie gebraucht hätte. Wenn Bormann, wie Kempka aussagte, in der Uniform eines SS-Obergruppenführers, also eines Generals, an der Weidendammbrücke umgekommen wäre, dann wäre dieser Tote den Russen am nächsten Morgen mit einiger Sicherheit aufgefallen. Wäre er nur verwundet gewesen, hätten sie ihn gefangengenommen. Nichts davon war geschehen. Auch Kempka hatte Bormann nicht tot gesehen. Andererseits war es ihm gelungen, durch den sowjetischen Belagerungsring zu schleichen, sogar noch in den Süden Bayerns zu entweichen und einige Zeit unterzutauchen. Wenn dies dem Fahrer des Führers gelang, warum nicht auch dem Sekretär?

„Daß Hitler tot ist, kann ich aussagen“, versicherte der Zeuge Kempka dem Gericht. Und Bormann? Die Antwort blieb er schuldig.

Friedrich Bergold übergab dem Gericht dann noch die eidesstattliche Erklärung der Sekretärin Else Krüger, daß ihr SS-General Johann Rattenhuber, Chef des Führer-Begleitkommandos, vom Tod Bormanns berichtet habe, doch der Anwalt wußte selbst, daß dieses Papier nach Kempkas Aussage nichts wert war. Denn dieser Rattenhuber war genauso wenig aufzufinden wie Bormann und – vielleicht ebenso entkommen.

Am 1. Oktober 1946 wurden in Nürnberg die Urteile verkündet. Drei Angeklagte wurden „im Sinne der Anklage für nicht schuldig“ befunden und aus dem Gefängnis entlassen. Sieben wurden zu Freiheitsstrafen zwischen zehn Jahren und lebenslänglich verurteilt. Gegen zwölf wurde die Todesstrafe verhängt, darunter auch gegen Bormann. Sein Urteil verlas Generalmajor Iola T. Nikitschenko aus der Sowjetunion.

Bormann wurde der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen. Freigesprochen wurde er von dem Vorwurf der Verbrechen gegen den Frieden.

„Es liegen keine Beweise vor“, heißt es im Urteil, „daß Bormann von Hitlers Plänen wußte, Angriffskriege vorzubereiten und zu führen.“ Erst als Leiter der Parteikanzlei, also nach dem Englandflug von Rudolf Heß im Mai 1941, und als der Angriff auf die Sowjetunion längst beschlossen war, habe er offenbar Zutritt zum engsten Kreis um den Führer bekommen.

In diesem Punkt hat sich das Gericht zugunsten des Angeklagten geirrt. Doch das ist unerheblich für jemand, der dem Strang ohnehin verfallen sein sollte, sofern die Nürnberger ihn noch fingen. Als am frühen Morgen des 15. Oktober 1946 die Todesurteile vollstreckt wurden, konnten dem Henker nur zehn der zwölf Delinquenten übergeben werden. Einer, Göring, hatte sich in der Nacht vergiftet. Der andere war nicht auffindbar.

Was jedoch weder das Gericht noch der Verteidiger zu diesem Zeitpunkt wußten, war, daß es doch jemand gab, der Martin Bormann tot und sogar aus nächster Nähe gesehen hatte. Bei den angelsächsischen Geheimdiensten gab es darüber auch schon Vernehmungsprotokolle, gestempelt mit dem Hinweis „top secret“ und deswegen im Panzerschrank gehütet. Wer sie lesen durfte, erfuhr eine etwas abenteuerliche Geschichte.

Im späten Oktober 1945 vertrieben Schneefälle in den Alpen eine Gruppe junger Männer aus einer hochgelegenen Almhütte in den bayerischen Bergen. Es waren ehemalige Hitlerjugend-Führer. In Memmingen stellten sie sich den Amerikanern. Geführt wurden sie von einem Mann, der vor einem halben Jahr noch Ranghöchster der Hitler-Jugend war: Reichsjugendführer Artur Axmann, 35 Jahre alt. In ihm hatten manche junge Parteigenossen den Nachfolger Hitlers gesehen.

Gleich zu Beginn des Rußland-Feldzugs hatte er einen Arm eingebüßt. Am Ende des Krieges war er im Führerbunker zum engeren Gefolge Hitlers gestoßen, war von dort mit den anderen ausgebrochen und auch beim Gefecht an der Weidendammbrücke dabeigewesen.

Seinen Vernehmern – darunter Major Hugh R. Trevor-Roper, im Zivilberuf Geschichtsprofessor an der Universität Oxford – gestand er, er sei nach dem Gefecht zunächst mit Bormann und einigen anderen Männern aus der Reichskanzlei weitergezogen, aber die Gruppe habe sich dann aufgelöst. Später habe er auf einer Brücke in der Nähe des Lehrter Bahnhofs zwei Tote gesehen, von denen der eine Hitlers Leibarzt Ludwig Stumpfegger, der andere Martin Bormann gewesen sei.

Auf diesen Axmann-Bericht wie auch auf die Vorgänge in jener Nacht wird später noch gründlich einzugehen sein. Hier an dieser Stelle muß gefragt werden, was die Geheimdienste bewogen hat, diese neue Bormann-Version vorübergehend unter Verschluß zu nehmen. In Briefen, die Trevor-Roper an Kollegen geschrieben hat, finden sich dazu einige Andeutungen. Da war zunächst der Widerspruch zwischen der Kempka- und der Axmann-Story. Wer irrte sich – oder wer log? Vielleicht konnte man keinem glauben. Das mußte zunächst einmal geklärt werden. Das Motiv für eine bewußte Irreführung war naheliegend; nach einem Toten wird nicht mehr gesucht. Daß beide behaupteten, sie seien alles andere als Freunde von Bormann gewesen, machte ihre Aussagen nicht glaubhafter, denn wenn es gegen die Besatzungsmacht ging, mochten die „Alten Kämpfer“ doch wohl ihre internen Querelen vergessen.

Wer schon mit seiner Bormann-Geschichte die Unwahrheit sagte, dem war überhaupt nicht zu trauen. Beide waren wichtige Zeugen dafür, daß Hitler nicht mehr lebte und daß seine Leiche zu Asche verbrannt worden war. Was war daran wahr?

Die Russen behaupteten, sie hätten den Leichnam Hitlers gefunden, und ein Pathologe hatte darüber ein ausführliches Gutachten verfaßt, in dem er unter anderem feststellte, der Führer habe von Geburt an nur einen Hoden besessen. Der USA-Geheimdienst wußte, daß dies nicht zutraf. Hitlers Leibarzt Theodor Morell saß, ein Wrack seiner selbst, in einem ihrer Internierungslager, und natürlich hatte man ihn darüber gründlich befragt. Würde nun Bormann vom Gericht für tot erklärt, und würde er später dennoch wieder auftauchen, läge zumindest für die unverbesserlichen Nazis unter den Deutschen die Vermutung nahe, daß angesichts der unterschiedlichen Versionen über die Leiche Hitlers vielleicht auch der Führer noch am Leben sein könnte. Und natürlich würde ein wiederauferstandener Bormann auch das Vertrauen in die Arbeit des Geheimdienstes erschüttern.

Trevor-Roper schreibt in seinem nach über zwei Jahrzehnten noch immer einzigartigen Quellenwerk über „Hitlers letzte Tage“, die Aussagen Axmanns seien in Nürnberg „offensichtlich, obwohl verfügbar, übersehen“ worden. Das ist bei solchen Aktenbergen zwar denkbar, obgleich gerade die Ungewißheit über das Schicksal Bormanns sowohl die Ankläger als auch den Verteidiger zu intensiven Nachforschungen geradezu gezwungen hatten. Doch wenn es so gewesen sein sollte, bleibt immer noch die Frage offen, warum dann die Geheimdienstleute, die sicherlich den Prozeßablauf aufmerksam verfolgten, keinen Hinweis auf Axmanns Aussage gegeben haben. Trevor-Roper hat sie offensichtlich schon sehr früh für wahr gehalten; wenige Jahre nach Nürnberg schrieb er, daß diese Version „abgesehen von zufälligen Irrtümern in den Zeitangaben sich … als genau erwiesen hat“.

Bergold ließ das Gericht im Urteil ein verstecktes Lob zukommen.

„Der Verteidiger Bormanns“, las Generalmajor Nikitschenko vor, „der seine Tätigkeit unter schwierigen Umständen auszuüben hatte, war nicht imstande, dieses Beweismaterial (über Bormanns Verbrechen) zu widerlegen. Angesichts der Dokumente, welche Bormanns Unterschrift tragen, kann man schwerlich einsehen, daß ihm dies gelungen wäre, selbst wenn der Angeklagte zugegen gewesen wäre … Sein Verteidiger brachte vor, daß Bormann tot sei … Aber es liegen keine überzeugenden Beweise für den Tod vor, und daher beschloß der Gerichtshof, … ihn in absentia abzuurteilen.“

Sollte er je wieder auftauchen, dann könnte, falls sich mildernde Umstände ergäben, das Urteil geändert werden.

Weitere Genugtuung brachten Friedrich Bergold die folgenden Jahre. Als er im Gerichtssaal darüber klagte, daß ihn die „Hohe Anklagebehörde nicht mehr unterstützen konnte“ bei seinem Versuch ‚ den Tod Bormanns nachzuweisen, prophezeite er, es werde „auf solche Weise die Legendenbildung außerordentlich gefördert“. Es hätten sich bereits falsche Bormanns mit Briefen bei ihm gemeldet.

Das war nur der Anfang. In dem folgenden Vierteljahrhundert wurden weltweit wohl vier Dutzend sogenannte »Bormanns« entdeckt, mit immer neuen phantastischeren Geschichten. Doch stets verhielt es sich wie mit dem sagenhaften Ungeheuer im schottischen Loch Ness: Sobald jemand genauer nachforschte, enthüllte er einen Irrtum oder einen Schwindel. Später wird darüber noch zu berichten sein.

Doch zunächst gilt es zu klären, wer dieser Martin Bormann eigentlich war. Wie kam er zu einer Karriere, die ihn für ein paar Jahre zu einem der mächtigsten Männer in Europa machte? Warum kannten ihn nur wenige und warum haßten ihn fast alle, die ihn kannten? Sie empörten sich über seine schlechten Eigenschaften, aber wer vom „unbekannten SA-Mann“ (wie die Nazis ihr Fußvolk heroisierten) zur rechten Hand des Führers aufsteigt, muß doch auch „Fähigkeiten und Tugenden“ besessen haben.

2 Von Halberstadt nach Parchim

„Mein Vater muß ein grundguter Mensch gewesen sein“, schrieb Martin Bormann im August 1944 aus dem Führerhauptquartier Wolfsschanze in Ostpreußen an seine Frau Gerda auf dem Obersalzberg.

Anlaß zu diesem Ausbruch der Bewunderung war ein Foto des Vaters, das ein alter Bekannter der Familie dem zu hohen Würden gekommenen Sohn geschickt hatte. Aufgenommen war das Bild wohl vor 1890; es zeigte den Stabstrompeter Theodor Bormann in der Uniform der Halberstädter Kürassiere mit den Abzeichen der Militärmusiker, den „Schwalbennestern“ auf beiden Schultern. Er hat also nicht nur die damals übliche Dienstzeit von drei Jahren bei den „schweren“ Reitern abgedient, sondern darüber hinaus noch etliche Jahre zusätzlich und freiwillig in dem betont preußisch-feudalen Regiment musiziert.

Als Martin Bormann den oben erwähnten Brief an seine Frau schrieb, forschten er und in seinem Auftrag eine Anzahl Partei- und Staatsdienststellen schon jahrelang nach seinen Vorfahren. Nicht daß ihn die Verwandtschaft besonders interessiert hätte, im Gegenteil, aber auch er mußte wie jedes Parteimitglied nachweisen, daß seine Ahnen ausnahmslos arischer Abstammung und beileibe nicht etwa jüdischer „Rasse“ waren. Es stimmte jedoch keineswegs alles, was er seiner Frau über seinen Vater und seine Herkunft erzählte. Er polierte seine Familie ziemlich großzügig auf – wohl, weil Gerda als Tochter des kaiserlichen Majors a.D. Walter Buch von einer wenig ansehnlicheren Familienvergangenheit enttäuscht sein könnte.

So behauptete er, sein Großvater habe einen Steinbruch besessen. In Wahrheit war Johann Friedrich Bormann, 1830 in Schöningen bei Braunschweig geboren, Arbeiter in einer Ziegelei, und seine bescheidene Existenz war nach den sozialen Maßstäben jener Zeit herkunftsbedingt: Johann Friedrichs Mutter, also Martins Urgroßmutter, Tochter eines Hofknechts, hatte ihren ersten Sohn geboren, als sie noch unverheiratet und keine zwanzig Jahre alt war.

Damit die Armut in der Familie des Johann Friedrich Bormann erklärbar wird, läßt Enkel Martin in seinen Erzählungen den Großvater früh sterben. So habe denn dessen Sohn Theodor nicht Förster werden können, wie er es gewollt habe, sondern früh Geld verdienen müssen, „um die Familie zu ernähren“. Tatsächlich lebte der Großvater noch in Hohendodeleben bei Magdeburg, als sein Sohn – 20jährig – bei den Halberstädter Kürassieren einrückte. Dort entdeckte Theodor, daß er mit seinem musikalischen Talent vorankommen konnte. Den Grundstock zum späteren kleinen Wohlstand blies er sich mit der Trompete zusammen. Nach Dienstschluß konnten die Militärmusiker in den Lokalen von Halberstadt aufspielen – damals eine Kreisstadt mit über 30000 Einwohnern, mit Landratsamt, Landgericht und einer schnell wachsenden Industrie. Martin Bormann berichtete – das konnte er natürlich nur aus Erzählungen wissen –, sein Vater habe damals nächtelang die Noten der einzelnen Instrumentenstimmen abgeschrieben, um so ein paar Pfennige zu sparen. Und seinen Abschied habe der Vater genommen, weil er als Musiker keine Aufstiegschancen gehabt habe, da sogar die Regimentskapellmeister damals noch rangmäßig weit hinter den Offizieren eingereiht waren.

Zivilist wurde Vater Theodor Bormann im Sommer 1888, in dem Jahr, da der schon sehr alte Kaiser starb und die Krone seinem todkranken Sohn hinterließ, so daß der Enkel Wilhelm, erst 29 Jahre alt, den Thron erbte. Eine neue Zeit voll jugendlichen Schwungs schien anzubrechen, und vielleicht beflügelte sie Theodor Bormann, zusammen mit einigen ehemaligen Kameraden eine Kapelle zu gründen, die Märsche und Tänze spielte, zunächst in der Provinz Sachsen und schließlich auf Tourneen, die ihn bis zu den englischen Seebädern führten. Joachim von Ribbentrop erzählte später als Reichsaußenminister nicht ohne Herablassung, er habe den Vater des allseits verhaßten Reichsleiters dort auf dem Musikerpodium sitzen sehen. Doch das war eine billige Lüge, denn als Joachim Ribbentrop – das Adelsprädikat kaufte er sich erst später dazu – noch ein Kind war, hatte Theodor Bormann schon umgesattelt und war Postbeamter geworden.

Im Jahr 1891 hatte Theodor Bormann die Tochter Louise des Wachtmeisters Grobler aus alteingesessener Halberstädter Familie geheiratet, und sie war froh, als er das unstete Musikantenleben aufgab. In den ersten fünf Ehejahren kamen zwei Söhne (von denen einer bald starb) und eine Tochter zur Welt. Bei der Post wurde der Neuling – er war jetzt immerhin schon über 30 Jahre alt – rasch befördert, weil er Französisch lernte, fleißig und intelligent war. 1897 sah sich die Familie in der Lage, ein neu gebautes Wohnhaus zu erwerben. Wie alle Städte der Wilhelminischen Zeit, ging auch Halberstadt damals in die Breite, und wie üblich wurden die neuen Straßenzüge mit Namen bedacht, die an die glorreichen Siege über die Franzosen erinnerten. Das 500 Quadratmeter große Hausgrundstück, das Theodor Bormann und seiner Frau gemeinsam gehörte, zählte zur Sedanstraße. Seine Schwiegermutter, eben verwitwet, lieh ihnen etliche Tausender, die sie außer einer Hypothek dazu brauchten.

Frau Louise, geborene Grobler, konnte sich des Besitzes nicht lange erfreuen; sie starb ein Jahr später, 30jährig. So nötigten Kinder, Haus und Garten den Witwer, sich nach einer zweiten Frau umzusehen. Es traf sich gut, daß ein Kollege, der Postagent Mennong in Wegeleben, elf Kilometer vor Halberstadt, seine immerhin schon 35jährige Tochter Antonie unter die Haube bringen wollte – nicht mehr ganz taufrisch, auch nicht gerade eine Schönheit, aber temperamentvoll, resolut, umtriebig und von Haus nicht ganz unvermögend. Schon sieben Monate nach dem Todesfall heiratete sie Theodor Bormann in der alten Martinikirche. Dort wurde dann auch nicht ganz ein Jahr später ihr erster Sohn, geboren am 17. Juni 1900, auf den Namen des großen Reformators evangelisch getauft. Das nächste Kind, wieder ein Sohn, kam schon elf Monate später, lebte aber nur kurz. Um so prächtiger gedieh dann der dritte Junge, der im September 1902 zur Welt kam und nach einem Schwager der Mutter den Vornamen Albert erhielt.

Von diesen beiden Alberts wird noch mehr die Rede sein; vom Schwager in diesem Kapitel und vom Sohn Albert erst wieder ausführlicher, wenn die Bormanns dem Glauben ans Hakenkreuz und an Hitler verfallen. In jenen Tagen jedoch hingen die meisten Deutschen einem anderen Idol an: ihrem Kaiser mit den nach oben gezwirbelten Schnurrbartspitzen, der ihnen versprach, er werde sie herrlichen Zeiten entgegenführen. Seiner Majestät Bild hing natürlich auch im Haus Bormann, als Farbdruck hinter Glas.

Nur die „Proleten“, die Roten, auf die nach des Kaisers erklärter Absicht seine Soldaten notfalls einmal schießen müßten, auch wenn sie dabei auf ihre Brüder zielten, nur solche Leute hatten kein Kaiserbild, sondern eines von August Bebel, dem Drechslermeister aus Sachsen, der mit seinen Reden im Reichstag immer wieder Furore machte. Diesen „Sozis“ hätte sich vielleicht noch der Ziegelstreicher Johann Friedrich Bormann, der Großvater, anschließen können, aber dessen Sohn Theodor gehörte selbstverständlich zu den Patrioten; man hatte nicht nur bei den feudalen Kürassieren gedient, sondern hatte es auch sonst noch zu etwas gebracht und war Beamter mit dem Titel eines Oberpostassistenten. (Martin machte später daraus sogar einen Inspektor.) Man hatte als allseits geachteter Bürger jetzt mehr zu verlieren als nur seine Ketten, die man ohnehin nicht spürte. Und ebenso vaterländisch gesinnt war auch die ganze Sippschaft der Mennongs mit ihren Handwerksmeistern, Beamten und dem Schwager Albert Vollborn, der in Halberstadt die Zweigstelle einer Bank leitete.

Der Oberpostassistent Theodor Bormann kränkelte bereits, als sein Sohn Albert geboren wurde, und der Junge war noch kein Jahr alt, als der Vater im Juli 1903 mit 41 Jahren starb. Martin, gerade drei geworden, verlor damit seinen Helden, den er eben erst bewundern gelernt hatte. Erst mehr als zwei Jahrzehnte später sollte Martin einen Vater-Ersatz finden.

Viele eigene Erinnerungen an den Toten konnte er nicht haben; so war er auf Erzählungen seiner Mutter und der Stiefgeschwister aus der ersten Ehe angewiesen, als er sich während seiner Jungenjahre sein Leitbild nach dem früh Verstorbenen formte.

Für seine Mutter war der Verlust des Ernährers ein böser Schlag. Vier Kinder waren zu versorgen, denn außer den beiden eigenen waren da noch die Stiefkinder Walter, gerade zehn, und Else, acht Jahre alt. Für das Haus mußten die Hypothekenzinsen aufgebracht werden. Die Witwenpension war wegen der kurzen Dienstzeit bescheiden. Doch lebenslustig und lebenstüchtig fand sie schnell eine Lösung. Sechs Monate nach dem Tod ihres Mannes heiratete sie wieder.

Ihren neuen Ehemann kannte sie schon lange, und auch die Kinder waren mit ihm vertraut, denn er war schon zu Theodor Bormanns Lebzeiten häufig ins Haus gekommen: Albert Vollborn war durch den Tod von Antonie Bormanns Schwester vor zwei Jahren Witwer geworden und suchte für seine fünf Kinder eine Mutter.

Gelegentlich wurde gemunkelt, der Witwer Vollborn sei schon vor dem Tod von Theodor Bormann mit dessen Ehefrau nicht nur verwandtschaftlich verbunden gewesen, und es sei seltsam, daß der nur mittelgroße, dunkelhaarige und zur Rundlichkeit neigende Martin so wenig Ähnlichkeit mit seinem blonden und schlanken Bruder Albert habe. Doch diese Mutmaßungen lassen sich durch nichts beweisen – auch nicht damit, daß Martin seinen Stiefvater nie gemocht und schließlich sogar gehaßt hat. Für ihn war Albert Vollborn stets jener Fremde, der sich auf den Platz des Vaters gedrängt hatte. Ob diese Ehe mehr auf Vernunft oder auf Liebe gegründet war, muß offen bleiben. Sie blieb kinderlos. Antonie Vollborn, verwitwete Bormann, war bei der Heirat gerade 40, ihr Ehemann 37 Jahre alt.

Das Haus in der Sedanstraße beherbergte Anfang 1904 eine Familie mit seltsamen Verwandtschaftsverhältnissen: außer den Eltern, die erst verschwägert und dann verheiratet waren, vier Mädchen und einen Sohn (der übrigens ebenfalls auf den Namen Albert getauft war) aus Vollborns erster Ehe, dazu einen Sohn und eine Tochter aus Theodor Bormanns erster Ehe und die beiden Söhne aus dessen zweiter Ehe – insgesamt also neun Kinder, von denen das älteste knapp 13 Jahre, das jüngste noch nicht einmal zwei Jahre alt war. Diese Geschwister, Stiefgeschwister, Vettern und Basen sind nie zu einer richtigen Familie zusammengewachsen; etliche wurden schon früh von diesem Kreis getrennt, und die anderen strebten auseinander. Als Martin 1943 auf der Höhe seiner Macht von einem SS-Hauptscharführer Bormann (Oberfeldwebel der Waffen-SS) um eine verwandtschaftliche Gefälligkeit angegangen wurde, und seine Frau ihn über den Vetterngrad befragte, schrieb er ihr: „Das ist mir ganz egal … Ich lehne es ab, künftig irgendwelche Briefe von diesem Absender anzunehmen.“ Wozu sollte er sich auch unnötig dem Verdacht des Nepotismus aussetzen? Verwandte erinnerten ihn später immer nur an eine unangenehme und für ihn offenbar peinliche Vergangenheit. Das galt sogar für seinen Bruder Albert. Einzig seine Mutter durfte dann und wann die Familie auf dem Obersalzberg besuchen.

Im August 1906, knapp vor der Einschulung Martins, zog Albert Vollborn mit seiner Familie nach Eisenach und bekam eine bessere Stellung als Bankfilialleiter. Die beiden Bormann-Kinder aus erster Ehe, Walter und Else, blieben bei Angehörigen ihrer verstorbenen Mutter in Halberstadt; sie sind, genau genommen, mit dem Ehepaar Vollborn in keiner Weise verwandt. Martin vermißte diese Halbgeschwister wohl nie. Er muß überhaupt in jener Zeit schon ein gestörtes Verhältnis zu seiner Familie gehabt haben, denn von seinen Eisenacher Erlebnissen erzählte er später kaum etwas. Er hat sich immer als Halberstädter bezeichnet.

Für die Schule scheint der Sechsjährige zunächst nicht so recht reif gewesen zu sein, denn in den ersten drei Jahren besuchte Martin Bormann eine private Lehranstalt in Eisenach. Beim nächsten Umzug der Familie nach Oberweimar im Jahr 1909 wird er in den Akten des Meldeamtes anfänglich nicht mit aufgeführt; möglicherweise hatte ihn der Stiefvater vorübergehend in ein Internat gesteckt. Leisten konnte sich die Familie solche Ausgaben in jener Zeit; sie zählte in Weimar zur Schicht des gehobenen Bürgertums. Trotz der nicht unbeträchtlichen Kosten wurden alle Kinder in höhere Schulen geschickt, und auch die Töchter des Bankdirektors Vollborn – mit dieser Berufsbezeichnung stand er im Adreßbuch der Stadt – wurden für ein Leben in besseren Kreisen erzogen. Mit Erfolg, denn eine von ihnen heiratete später einen Arzt, eine andere wurde die Frau eines Katasteramtsdirektors.

Als Martin – fast zehnjährig – nach Weimar kam, wurde er für die vierte Klasse des Realgymnasiums angemeldet. Das war im damaligen Schulsystem der letzte Einstieg in eine höhere Lehranstalt, denn in dieser Klasse begann der Unterricht in Fremdsprachen. Übrigens scheinen ihm gerade diese Fächer kein Vergnügen bereitet zu haben. Obwohl er von der Sexta bis zur Obersekunda, also sieben Jahre lang mindestens eine lebende Fremdsprache „eingetrichtert“ bekam, lassen sich in Akten, Briefen und Gesprächen keine Anzeichen für solche Kenntnisse finden. Wenn er ins Ausland reiste, selten genug und fast nur als Begleiter seines Führers, hatte er immer einen Dolmetscher dabei. In den vielen Fragebogen, die der Parteifunktionär im Lauf der Jahre ausfüllen mußte, machte er denn auch immer nur Striche, wenn er seine Kenntnisse in Fremdsprachen angeben sollte.

Sichtbarer war der Einfluß der Schule bei der Erziehung zum deutschen Jüngling. Wie im ganzen Reich, waren auch in Weimar die meisten Gymnasiallehrer fanatische Nationalisten, denen die Franzosen als marklose Lüstlinge, die Engländer als habgierige Krämer und die Russen als saufende Barbaren galten. Deshalb müsse am deutschen Wesen die Welt genesen.

Daß deutsche Kultur über alles ging, war selbstverständlich, gerade in Weimar. Die Zeit war zwar vorbei, da es die Geistesheroen und Genies in die Residenz an der Ilm zog, doch Schiller ließ sich immer zitieren, wenn es ums Vaterland, ums teure ging, und auch Goethe war mit einiger Vorsicht dafür zu nutzen. Sogar aus Friedrich Nietzsches Büchern konnten die Professoren kernige Sätze zitieren, obgleich der Philosoph im nationalen Lager viele Widersacher hatte. Anders als bei den Preußen schätzte man im kleinen Großherzogtum Kunst und Wissenschaften höher als Kanonen, und so konnte es sich der Generalintendant des Hoftheaters sogar erlauben, Ibsens „Wildente“ aufzuführen. Fürstlichem Brauchtum gemäß war dieser Theatergeneral ein ehemaliger Offizier, Carl Benno von Schirach, und sein Sohn Baldur, sieben Jahre jünger als Martin, wird diesem später im Kreis der NS-Prominenz begegnen. Auch prähitlerische Keimlinge gediehen in Weimar schon damals; eine Gruppe wilder Wagnerianer kämpfte in der Nachfolge ihres Meisters eifrig gegen das Judentum in der Musik, und der Literaturprofessor Adolf Bartels selektierte aus der deutschen Dichtung die Werke jüdischer Autoren und verdammte sie als artfremd und zersetzend.

Das alles gehörte zur Atmosphäre, in der der Gymnasiast Martin aufwuchs und in der er, seinem Alter gemäß, seine Ideale suchte. Die Schicht, zu der die Familie des Bankdirektors Vollborn damals gehörte, war überzeugt, in der besten aller möglichen Welten zu leben, denn Väter und Großväter hatten zumeist noch ein kümmerliches Dasein als Bauernsöhne oder handwerkliche Industriearbeiter geführt. Wer sich Mühe gab, konnte es zu etwas bringen. Man mußte nur vor Neid und Mißgunst auf der Hut sein – im eigenen Land vor den Roten, die alle Habe an die Armen verteilen wollten, und an den Grenzen vor jenen Völkern, die den Deutschen den Platz an der Sonne nicht gönnten. So wurde auch Martin stolz, ein Deutscher zu sein.

Elf Tage nach Martins 14. Geburtstag erschoß ein serbischer Verschwörer in Serajewo den österreichischen Thronfolger.

Am 31. Juli 1914 verlas ein Offizier, begleitet von ein paar Soldaten, mit Trommler und Hornist vor dem Weimarer Schloß den „Zustand der drohenden Kriegsgefahr“, und einen Tag danach ordnete der Oberste Kriegsherr die Mobilmachung von Heer und Marine an. Die Deutschen jubelten, und es gibt Gründe, anzunehmen, daß in der begeisterten Menge, die durch Weimars Straßen zog und vaterländische Lieder sang, auch der Gymnasiast Martin mit bunter Mütze marschierte. Sieg um Sieg wurde gefeiert, mit Glockengeläute und Fahnen vor den Fenstern, mit Extrablättern der Zeitungen, Dankgebeten in den Kirchen und markigen Professorensätzen in den Schulen. Schon fürchteten die Primaner des Gymnasiums, der Krieg werde zu Ende sein, ehe sie mit dem Matura-Zeugnis in der Tasche freiwillig zu den Waffen eilen könnten. Doch sie sollten noch früh genug zum Sterben kommen.

Es gab allerdings auch Empörendes. Der Stiefvater berichtete in den Tagen um den Kriegsausbruch, daß ihm die Bankkunden fast die Schalter stürmten, um schnell noch ihre Guthaben abzuräumen. Und die Mutter beklagte, daß Mehl, Zucker, Reis und schlechthin alle Nahrungsmittel, die sich lagern lassen, in den Läden knapp wären, weil so viele Leute sich Vorräte anlegten. Daß Albert Vollborn sich nicht freiwillig als Krieger meldete und noch immer in Zivil herumlief – dabei war er schon 48 – nahm ihm Martin übel; der Vater, wenn er noch lebte, wäre gleich bei den Kürassieren in den Sattel gestiegen. Und als gar der Stiefvater Ende September zu Hause am Familientisch vorrechnete, was er mit der ersten Kriegsanleihe umsetzte und verdiente, war dies für Martin eine Bestätigung für seine Abneigung. Später nannte er ihn deshalb einen Kriegsgewinnler.

Zunächst allerdings brauchte er noch die Hilfe dieses Mannes, um so mehr, als er in der Schule nicht so recht vorankam. Der Reichsleiter Bormann gab später in seinen Fragebogen an, er habe das Gymnasium nach der Obersekunda verlassen und sei dann Soldat geworden.

Demnach hätte er mindestens acht Jahre gebraucht, um sieben Klassen zu durchlaufen.

Am Fleiß fehlte es nicht. Doch bei intellektuellen Gedankengängen versagte er – auch später noch. Baldur von Schirach hat ihn, als beide schon erwachsen waren, fast zwei Jahrzehnte lang und häufig aus nächster Nähe erlebt.

„Was seine Bildung anbelangt“, urteilte er, „kann man eigentlich nur sagen: Fehlanzeige. Seine Geschichtskenntnisse waren bestenfalls die eines Untersekundaners – und weiter hat er es auf der Schule sicher nicht gebracht. Literatur, Bildende Kunst, Musik gleich Null.“

Hinter dieser abfälligen Charakterisierung steckt zwar auch der Hochmut des Sohnes aus adligem Haus gegen den Emporkömmling und die Abneigung gegen den in der Partei übermächtig gewordenen Funktionär, aber im wesentlichen ist sie dennoch zutreffend.

Weil die NSDAP sich schon in ihrer Frühzeit als Hort des Frontsoldatengeistes verstand, erzählte Bormann später, habe er sich in den ersten Kriegsjahren mehrmals freiwillig zum Waffendienst gemeldet, sei aber nie angenommen worden. Das kann wahr sein, aber Zweifel sind auch erlaubt. denn als er im Juni 1918 beim Feldartillerie-Regiment 55 in Naumburg als Rekrut einrückte, war er gerade 18, und in diesem Alter wurden die jungen Leute regulär eingezogen. Auch sein militärischer Werdegang spricht nicht gerade dafür, daß er Freiwilliger war, denn sonst wäre er mit seinem Einjährigen-Zeugnis für die Offizierslaufbahn vorgesehen worden. Er war jedoch in Naumburg noch immer schlichter Kanonier, als sein Kaiser längst nach Holland entwichen und in Berlin die Macht an die verabscheuten Roten, die Sozialdemokraten, gefallen war. Bormanns Altersgenosse Heinrich Himmler dagegen brachte es als Einjährig-Freiwilliger vom Einrücken Ende 1917 bis Kriegsende zum Wachtmeister und Fahnenjunker.

Bormann habe sich, so erzählten sich später die Generale im Führerhauptquartier, nur so lange im Garnisonsdienst gehalten, weil er „Putzer“, also Bursche eines Offiziers, gewesen sei.

Baldur von Schirach behauptete, Martin Bormann sei von Grund auf feige gewesen, aber das wird nicht dadurch bewiesen, daß er sich 1918 in den letzten Monaten eines weitgehend verlorenen Krieges vor der Front gedrückt hat. Das tat im fünften Kriegsjahr fast jeder, der es konnte. Drückeberger – das war schon kein Schimpfwort mehr, eher Anerkennung.

Bemerkenswert ist nur, wie rasch der bisher so patriotisch tönende Jüngling zwischen Theorie und Praxis unterscheiden lernte. Geholfen haben ihm dabei die schnauzbärtigen Unteroffiziere in der Ausbildungskompanie. Mit der Begründung, sie würden aus ihm, dem Zivilisten, nun einen Menschen machen, brachten sie ihm bei, daß der Klügere sich mit Beflissenheit dem Stärkeren anpassen sollte. Daran hat er sich dann sein Leben lang gehalten.

In einer Hinsicht war er jedoch nicht bereit, sich anzupassen. Als er im Februar 1919