Der Soldat, den niemand haben wollte - Gunnar Walter Richter Johansen - E-Book

Der Soldat, den niemand haben wollte E-Book

Gunnar Walter Richter Johansen

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Beschreibung

1942. Der 20jährige Walter Richter ist als deutscher Obergefreiter und in Norwegen stationiert. Dort erlebt er das Ende des Zweiten Weltkrieges. Ab diesem Zeitpunkt beginnt für ihn eine Odyssee zwischen Internierungslagern und Arbeitseinsätzen, bis er den Weg nach Hause antreten kann. Und inmitten des hoffnungslosen Kriegsalltags entsteht die schwierige Liebesgeschichte zu einem norwegischen Mädchen. Gunnar Walter Richter Johansen erzählt die Geschichte seines Vaters, den er selbst erst 1989 zum ersten Mal traf. Im Gegensatz zu manch anderen "Wiedervereinigungen" zwischen norwegischen Kindern und deutschen Vätern, war diese eine glückliche. Mit Hilfe der Berichte seines Vaters und dessen Fotos erzählt er eine Geschichte von einem Soldaten, der nach einem verlorenen Krieg nicht mehr gebraucht und in einem fremden Land noch viel weniger geduldet wird. Er begibt sich auf die lange und mühsame Heimreise nach Senftenberg. Doch auch dort ist er ein Soldat, den niemand will, der die toten Söhne, Brüder oder Geliebten nicht ersetzen kann. Trotz des Schmerzes ist es ein wichtiges Buch über den Menschen hinter der Uniform.

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Gunnar Walter Richter Johansen

Der Soldat, den niemand haben wollte

Richter Johansen, Gunnar Walter: Der Soldat, den niemand haben wollte, Hamburg, ACABUS Verlag 2013

Titel des Originals: Soldaten ingen ville ha

Aus dem Norwegischen von Gero Lietz

Originalausgabe

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-184-6

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-185-3

Print: ISBN 978-3-86282-183-9

Lektorat: Berit Liedtke, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: ds, ACABUS Verlag

Covermotiv und Fotos: © Gunnar Walter Richter Johansen

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2013

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Vorwort

Ich begegnete meinem Vater, Walter Richter, zum ersten Mal im Frühjahr 1989. Im Gegensatz zu den meisten Familienzusammenführungen wurde die unsrige ein Erfolg. Als mein Vater dann im Sommer 1990 zum ersten Mal seit dem Krieg wieder nach Norwegen kam, fuhren wir nach Åsenfjorden und Trolla Brug in Trondheim. Über unsere Wiederbegegnung nach so vielen Jahren veröffentlichte ich einige Texte, und vom ZDF kam sogar das Angebot, darüber eine Reportage zu drehen. Das wurde meinem Vater jedoch zu viel und er lehnte ab.

Mein Vater besitzt sehr viele Fotos aus seiner Zeit als Soldat in Norwegen. Diese dienten als eine Art Grundlage für die Erinnerungen. Schon früh bemerkte ich das schier fotografische Gedächtnis meines Vaters, bei dem die Fotos eine Vielzahl von Erinnerungen an verschiedenste Erlebnisse hervorriefen.

Die Idee, die Geschichte meines Vaters aufzuschreiben, entstand vor einem Jahr. Ich schickte ihm eine Reihe von Fragen, die den Ausgangspunkt für ein Buch bilden sollten. Das wiederum löste bei meinem Vater einen Prozess aus, der ihn viel Zeit darauf verwenden ließ, eine Art „Basisdokument“ von etwa 50 Schreibmaschinenseiten zu verfassen, in dem er seine Zeit in Norwegen eingehend schilderte. Die Arbeit hatte begonnen.

Ich reiste mehrmals nach Deutschland, um dort enger mit meinem Vater zusammenzuarbeiten. Dabei besuchte ich auch seinen Heimatort. In Senftenberg und Schwarzheide verbrachten wir viel Zeit damit, Orte seiner Kindheit aufzusuchen – die Volksschule, Läden, Spielplätze und andere. Vor kurzem waren wir auch in Schöningen und Hötensleben, um ihm die Erinnerungen an seine dramatischen Erlebnisse an der Zonengrenze von 1946 zu vergegenwärtigen.

Im Eisenbahnmuseum in Hattingen prüfte ich Angaben zu Zügen und Bahnhöfen. Im Gespräch mit Einwohnern von Schöningen konnte ich Details zur Topographie der Stadt und zu ihrer Bombardierung während des Krieges verifizieren.

Auskünfte in Norwegen verdanke ich den Mitarbeitern des Heeres- und Heimatfrontmuseums (Rustkammeret) in Trondheim, einem früheren Bürgermeister von Kvalsund sowie weiteren Gesprächspartnern vor Ort, von denen ich unter anderem erfuhr, wie ein flacher Lastkahn sich bei Unwetter auf See verhält. Weitere relevante Details verdanke ich der ausführlichen Lektüre der „Adresseavisen“ aus dem Jahre 1946. Vor allem jedoch bin ich das Erlebte immer wieder in mehrstündigen Gesprächen gemeinsam mit meinem Vater durchgegangen.

Rudolf, Rudi, der Bruder meines Vaters, war in der DDR bei der Polizei beschäftigt, arbeitete jedoch auch als Journalist. Er wohnt jetzt in Senftenberg und hat sehr detaillierte Aufzeichnungen über seine eigene und Walters Kindheit gemacht. Ihm verdanke ich wichtige Informationen zu den Kindheits- und Jugendjahren meines Vaters und zum politischen Hintergrund.

Mit anderen Worten: Ich habe versucht, in meinen Aufzeichnungen so korrekt wie möglich zu sein.

Moss, den 14. Juli 1995

Gunnar W. Richter Johansen

Den obigen Text habe ich vor 14 Jahren geschrieben. Viel Zeit ist seither verstrichen. Ich ging für längere Zeit nach Westafrika, wo ich bis 2007 blieb. Nach der Heimkehr aus Afrika holte ich das Manuskript des „Soldaten, den niemand haben wollte“ wieder hervor, entstaubte es und begann mit meinen Bemühungen, die Geschichte als Buch herauszubringen. In diesem Zusammenhang bin ich meinen Kollegen Torbjørn Aas und Lars Rune Debes zu großem Dank verpflichtet.

Moss, den 20. August 2009

Gunnar W. Richter Johansen

Kapitel 1

Walter lag in seiner Koje und fixierte die Stahlfedern des oberen Bettes. Die Federn griffen mit blaugrauen Krallen ineinander, und so manche Nacht hatten sie Walter den Schlaf geraubt mit ihrem quietschenden Jammern, hervorgerufen durch die Bewegungen des oben schlafenden Soldaten. Besonders in der letzten Zeit. Wie stellte man eigentlich solche Stahlfedern her? Denn sie waren im Grunde wohlgestaltet, eine glich der anderen, und in ihrer Verknüpfung teilten sie die auf ihnen ruhende Last. Wäre er Pfarrer, hätte er dies gleich an den Anfang einer guten Predigt stellen können, aber er war nun verdammt noch mal kein Pfarrer. Nein – er war Soldat, Obergefreiter in Norwegen am 8. Mai 1945, und sollte eigentlich irgendetwas fühlen, jetzt, da alles vorbei war.

Zusammen mit den zwölf anderen hatte er die „Scheinwerferstellung 6“ in der Flakabteilung 702 gestellt. Nach seiner Ausbildung an der Rekrutenschule in Horten im Sommer 1942, war er fast die ganze Zeit über in Åsenfjorden gewesen, von wo aus die „Tirpitz“ dann und wann einen Abstecher machte. Hier war seine Abteilung zur landgestützten Verteidigung des Schlachtschiffes eingesetzt. Als die „Tirpitz“ einmal nach Nordnorwegen fuhr, war Walter einer von fünfzig Männern der Flakabteilung 702, die mit ihr in Richtung Norden abkommandiert wurden. So hatte er auch einen Winter in Nordnorwegen miterlebt, worüber er sehr froh war. Als das Schlachtschiff dann bei Håkøy mit dem Kiel nach oben schwamm, wurde die Abteilung nach Steinan verlegt, gelegen an einem Hang gegenüber Trondheim.

Im Fensterrahmen schwirrte eine halbtote Fliege. Er musste gleich an die „Weltliche Schule“ in der kleinen Stadt Senftenberg denken – ein zweistöckiges Gebäude, das dort sicher seit Menschengedenken gestanden hatte. Dort hatte er mit den anderen Kindern diszipliniert in der Bank gesessen und im Großen und Ganzen die Anweisungen von Lehrer Barth befolgt. „Wenn ihr im Frühjahr eine Fliege tötet“, hatte Barth gesagt, „dann tötet ihr Tausende von Fliegen gleichzeitig, denn Fliegen legen im Frühjahr ihre Eier.“ Und jedes Mal, wenn Walter im Frühjahr eine Fliege am Fenster platt drückte, musste er an die Worte von Barth denken.

Einmal hatte er eine Ente geschossen, sieben Tage lang hatte er dafür im Arrest gesessen. Nie war er in Lebensgefahr gewesen, nie hatte er einen Feind gesehen, von einem einzelnen englischen Flugzeug vor ein paar Jahren einmal abgesehen.

Er hatte Glück gehabt. Dem Einsatz in Norwegen konnte er wohl sein Leben verdanken. Gleichwohl war ihm nicht sonderlich froh zumute. Die Klassenbesten aus Senftenberg – vielleicht waren sie jetzt alle tot? Dann hätte es ihnen in diesem Leben auf Erden gar nichts geholfen, dass sie die Schnellsten im Rechnen waren, gerade Ränder in ihren Heften hatten und dafür von Barth gelobt wurden. Allein der Gedanke daran, dass er am Leben war, reichte nicht aus, ihn vergnügt zu stimmen. Sein Sohn war jetzt fast ein Jahr alt, und Gerd – die Mutter des Sohnes – hatte er zum letzten Mal vor einem dreiviertel Jahr gesehen. Die Gedanken daran schob er von sich. Sollte sie die Verantwortung haben! Er würde kein schlechtes Gewissen haben, nein. Schließlich hatte er ihr angeboten, sie zu heiraten. Trotzdem war es ein seltsames Gefühl zu wissen, dass irgendwo in diesem Land ein Junge heranwachsen würde, wahrscheinlich mit den gleichen O-Beinen wie sein Vater. Darf man so denken? Vier Söhne hatten seine Eltern Otto und Frida in den Krieg geschickt. Otto hatte nie viel geredet. Nachdem sein ältester Sohn Hans gefallen war, wurde er noch wortkarger. Zum Großvater hatte Walter eigentlich ein besseres Verhältnis gehabt. Zumindest redeten sie mehr miteinander, besonders über Kaninchen. Ob sie, die Kaninchen, den Krieg überlebt hatten? Ob er wohl „Hercules“ wiedersehen würde, der im Jahre 1932 in Cottbus die Rote Schleife gewonnen hatte?

Plötzlich ging die Tür. Hans Rotmeier, Korporal und Walters Vertrauter seit den Zeiten an der Rekrutenschule, rief mit etwas unsicherer Stimme, dass unten in der Stadt geschossen werde. Walter zog seine Stiefel an und trat vor die Barackentür. Von dort bot sich eine gute Aussicht auf die Stadt. Bei dem klaren Wetter sah die Stadt aus wie immer, trotzdem meinte Walter, irgendeine Veränderung zu spüren. Die Stadt gehörte ja nun nicht mehr ihnen. Jetzt waren sie es, die sich vorsichtig bewegen mussten. Was das mit sich bringen konnte, wusste er noch nicht. Das Ende eines Krieges war stets bedrohlich für die Verlierer.

Im Sommer 1943 waren ihm bei einem Lehrgang in Pommern zum ersten Mal Zweifel am Endsieg gekommen. An einem Sommerabend hatten er und Hans Rotmeier am Rand eines Sportplatzes gesessen, als Hans sagte: „Wir werden immer den Idioten ausgeliefert sein. Bis sich etwas ändert.“ Was eine solche Veränderung beinhalten sollte, das war ihnen nicht ganz klar. Darüber sprachen sie auch nicht viel. „Überlasse das Denken den Pferden“, hieß es, „die haben einen viel größeren Schädel.“

Der Telefondiensthabende hatte in den letzten Monaten des Nachts den englischen Rundfunk abgehört. Tagsüber studierten sie die Deutschlandkarte und sahen, wie sich der Ring um Berlin immer enger schloss. Die meisten konnten eine Erleichterung angesichts des nahenden Endes schlecht verbergen. Das wurde einem der zählebigsten Nazis der Abteilung eines Tages zu viel. War es pure Dummheit oder Sturheit, die seinen Fanatismus aufrecht erhielt? Walter war sich nicht sicher. Jedenfalls schrie dieser Nazi eines Abends, nachdem sie über Landkarten gebeugt die Kriegsentwicklung diskutiert hatten: „Verdammte Verräter! Ich werde euch allesamt weitermelden. Und wenn die Siegesglocken für Deutschland läuten werden, werde ich euch an dieses Gespräch erinnern. Dann ist es zu spät, um zu bereuen!“ Im Grunde war es nichts Neues, dass er all jenen, die er für unzuverlässig hielt, mit Anzeige drohte. Und doch war etwas Furcht einflößendes an Leuten, die an Märchen glaubten und feuchte Augen bekamen, wenn sie sich selbst diese erzählen hörten.

Walter betrachtete Obermaat Hack, der neben ihm stand und zur Stadt hinüberblinzelte, wo laut vernehmlich mit 3,7 cm in die Luft geschossen wurde. Fast drei Jahre lang war dieser Winzling Walters unmittelbarer Vorgesetzter gewesen. Glatt und untertänig gegenüber seinem Vorgesetzten, unberechenbar und boshaft gegenüber allen, die ihm unterstanden. Genau wie in der Schmelzhütte des Stahlwerks Hattingen, wo er vor dem Krieg Schichtleiter gewesen war. „Es gibt viele Pferde, die intelligenter sind als er“, dachte Walter. Gerade einmal drei Wochen war es her, da hatte Hack Walter befohlen, sich mit den Händen auf dem Rücken in eine Pfütze zu legen. Und beim Appell vor einigen Wochen hatte er gesagt: „Es gibt keine größere Tat für einen Offizier, als an der Front vor allen Soldaten den Heldentod zu sterben.“ Und dann war er der Einzige gewesen, der sicher und ruhig mit der Pistole im Anschlag die Straße entlangging, während die Soldaten in den Wald ausschwärmten. Jemand hatte nämlich einen Schuss gehört, und die Möglichkeit, dass er zum ersten Mal einen Feind erblicken könnte, hatte Hack so erschrocken, dass er es für richtig hielt, zu den Soldaten zu sprechen. Es galt, die Moral hochzuhalten. Hack war der Einzige, der nicht wusste, dass sein eigener Wachtposten den Schuss abgegeben hatte.

Aus dem Funkraum kam der Diensthabende mit einem Blatt Papier für Hack. Dieser stand inmitten eines Halbkreises, und Walter hatte den Eindruck, dass fast alle Unteroffiziere versammelt waren. Einige hatten die Hände in den Taschen der grauen Uniformhosen, andere beschatteten mit der Hand die Augen, um feststellen zu können, von wo aus denn in Trondheim geschossen wurde. Hack räusperte sich, hielt den Zettel vor sich und verlas mit seiner dünnen Stimme: „Alle, die Deutschlands Untergang mit Salut feiern, sind ehrenlose Schufte! Der Stadtkommandant.“ Dann sagte Hack nichts mehr und war wohl noch bleicher, als er es für gewöhnlich war. Und Walter bemerkte, dass die dünnen, blutroten Äderchen auf Hacks Wangen noch nie so deutlich hervorgetreten waren wie in diesem Moment. Hack hob den Blick und suchte wohl den Kommandanten irgendwo da unten. Natürlich war er mit dem Kommandanten einer Meinung, aber er hätte wohl gerne gewusst, was er mit denjenigen machen sollte und konnte, die trotz allem Salut schossen. Und wenn nun die hier versammelten Männer auch beginnen würden, in die Luft zu schießen? Dann sollten sie es verdammt noch mal mit ihm zu tun bekommen! Plötzlich jedoch machte Hack kehrt und ging zurück in die Baracke.

Walter war sich sicher, dass niemand Deutschlands Untergang mit Salut begrüßen würde. Gefeiert wurde indes die Erleichterung, dass sie überlebt hatten, dass nun Schluss sein würde mit den Hinterlistigkeiten der Vorgesetzten, dass sie endlich nach Hause zurückkehren würden. Die Veränderung war eingetreten. Und in solch einem Moment musste man ja eigentlich etwas empfinden. Walter war natürlich erleichtert, aber Hack war ja noch da. Und all die anderen Unteroffiziere auch. Die Gewehre und die Kanonen waren da. Alles war da. Mit dem Gefühl der Erleichterung ging eine gewisse Unsicherheit einher. Er erinnerte sich an etwas, was er an der Rekrutenschule lernen musste: „Selbstbewusst, aber doch bescheiden. Ehrlich und treu. So soll der deutsche Soldat dem deutschen Volk ein Vorbild der Manneskraft sein. Die Wehrmacht ist der Waffenträger des deutschen Volkes. Sie beschützt das Deutsche Reich und Vaterland, das im Nationalsozialismus und seinem Lebensraum vereinte deutsche Volk. Die Wurzeln seiner Kraft liegen in einer ruhmvollen Vergangenheit, im deutschen Volkstum, in deutscher Arbeit und deutscher Erde.“

Einst hatte er all dies mit Begeisterung gesagt, aber das war lange her. Jetzt schossen viele Kameraden in die Luft, weil sie erleichtert waren, nicht länger ein Vorbild der Manneskraft sein zu müssen. Walter überlegte, wo der Kapitänleutnant der Propagandaabteilung gerade war. Was solche wie der jetzt wohl dachten? Vor etwas mehr als einem Monat hatte er ihre Einheit mit einem Vortrag besucht. Walter hatte zum Glück Postendienst, er glaubte also, dem Gefasel entgehen zu können. Aus irgendeinem Grunde hatte der Kapitänleutnant Walter angesprochen, und dieser hatte ihm erklärt, leider beim Vortrag nicht dabei sein zu können, da er Dienst habe. Nun, das machte doch nichts. Walter konnte doch schließlich vor dem offenen Fenster stehen und so den Dienst mit der kampfmoralischen Erbauung verknüpfen.

Der Kapitänleutnant redete sich in Form und versicherte, der Sieg stünde unmittelbar bevor. Gerade heute hätte eine neue Wunderwaffe den Engländern enorme Verluste beigebracht, der Krieg stünde vor einer Wende. Nichtsdestoweniger hätte jeder deutsche Soldat die Pflicht, bis zur letzten Patrone zu kämpfen. Der Kapitänleutnant hatte nicht viel Zeit, schaffte es aber dennoch, Walter zu fragen, ob ihm der Vortrag gefallen habe. „Jawohl, Herr Kapitänleutnant.“ Walter erinnerte sich, dass er darüber nachgedacht hatte, inwieweit der Offizier eigentlich selbst an das von ihm Gesagte glaubte. Nein, er wollte nicht mehr denken. Hatte irgendwer vielleicht einen Schnaps?

Die meisten der 13 Soldaten der Scheinwerferstellung 6 versammelten sich um den Tisch im größten Raum der Baracke, der sich ganz am Ende gegenüber dem Schlafsaal mit 12 Kojen befand. Obermaat Hack war der Einzige mit einem eigenen Zimmer. Sein Zimmer lag genau am anderen Ende der Baracke, gegenüber der Küche. Zwischen der Küche und dem Schlafsaal befand sich der Funkraum. Es wurde geraucht und Karten gespielt. Zu einer Diskussion kam es eigentlich nicht. Die Stellung der Vorgesetzten war unklar. Konnten sie einen immer noch in den Arrest stecken, wenn man etwas Falsches sagte oder konnte man nun getrost sagen: „Ihr könnt mich mal …!“? Keiner wagte es, das so richtig auszutesten. Walter zumindest nicht. Er hatte sich stets in der Mitte gehalten. Das hatte er in der Rekrutenschule gelernt. Zu Anfang war er noch stolz gewesen, dass er immer der Schnellste war. Seine Schnelligkeit führte allerdings dazu, dass immer er es war, der zum Schießplatz zurücklaufen musste, wenn die Vorgesetzten etwas vergessen hatten. Fortan beschloss er, sich doch lieber in der Mitte zu halten. Eine Entscheidung, die er nie bereute.

Zwei Soldaten waren dabei, einen Holzkasten durch die Tür zu bugsieren. „Verleiht dem Rucksackkumpel das Eiserne Kreuz!“, rief der eine außer sich vor Freude und schob den Kasten weiter auf das Bein seines Vordermannes. „Der Österreicher hat einen ganzen Kasten französischen Likör organisiert!“ Den Spitznamen Rucksackkumpel hatte der Soldat aus Lech nie gemocht, aber er konnte dagegen kaum etwas ausrichten. Eine Art sozialen „Anschluss“ an die Scheinwerferstellung 6 hatte er nie erlebt, aber das konnte sich ja nun nach Kriegsende als Vorteil erweisen. Wenn die Soldaten nach Hause entlassen werden sollten, würde man vielleicht zuerst die schicken, die keine Deutschen waren … Am Nachmittag war er nach Trondheim hinuntergeradelt, wo er in allem Chaos entdeckte, dass das „Verpflegungslager“ freigegeben worden war. Zumindest hatte ihn niemand daran gehindert, einen Kasten mit 12 Flaschen französischem Likör mit sich zu nehmen. Der Frieden, der Untergang oder wie man es nun nennen mochte, bot große und kleine Möglichkeiten. Man musste sie nur entdecken.

Nun kamen auch die Notrationen zu ihrem Recht. Zwischen den Likörflaschen auf dem Tisch schimmerten als kleine Herrlichkeiten trockene Biskuits, harte Schokoladentafeln und Schinken aus der Konserve. Walter war der jüngste in dieser Gruppe grau gekleideter Soldaten, die Reste von Öl aus Sardinendosen in sich hineinschlürften, die an den Zigarettenkippen saugten, bis sie sich fast die Lippen verbrannten und die gierig von dem süßen Likör tranken. Hans Rotmeier kurbelte das Grammofon an; Marlene füllte den Raum mit Erinnerungen, und ihr Gesang drang durch die Rauchschwaden:

„Nun leb wohl, du kleine Gasse

Nun leb wohl, du stilles Tal

Vater, Mutter waren traurig

Und die Liebste sah mir nach.“

„Noch einmal, Hans, spiel’s noch einmal.“ Walter war gedanklich bereits zu Hause in Schwarzheide. Er legte das eine Bein auf den Stuhl, lehnte sich zurück, verschränkte die Hände im Nacken und schloss die Augen. „Jungs, was glaubt ihr, wie wird das, wenn wir nach Hause kommen? Geht mir gleich einer ab oder halte ich mit Lotte die ganze Nacht durch?“ „Das weißt du doch selber am besten. Ist doch wohl nicht so’n großer Unterschied zwischen Lotte und all den Weibern in Åsenfjorden, die du gefickt hast.“ Walter richtete sich auf und sah Hack an, ohne ein Wort zu sagen. Selbst heute musste Hack seine Galle loswerden.

Der Likör war furchtbar süß, aber Schnaps war Schnaps. Hack starrte auf die Likörflasche vor sich auf dem Tisch und erwartete gar keine Antwort. Man ist vorsichtig, wenn man einem Vorgesetzten antwortet. In Walter stieg eine plötzliche Wut auf, die die guten Gefühle fortjagte. Er saß da und bewahrte sein Schweigen, war jedoch immer neugieriger, was da im Schädel von Hack so vor sich ging. Wie einfältig war er eigentlich? Als sie in Åsenfjorden stationiert waren, tauchte plötzlich ein Sanitätsoffizier auf und erzählte Hack, dass in der Abteilung eine unbestimmbare Krankheit ausgebrochen sei. Alle außer Hack mussten sich daraufhin nackt ausziehen und den Hintern in die Luft strecken, während der Sanitätsoffizier auf und ab ging, wobei er schrie, dass Onanie die Krankheit der Schwachen sei. Alle begriffen, dass hier ein Perverser seine Stellung missbrauchte – alle außer Hack, der stramm stand, als der Sanitätsoffizier aus dem Raum eilte.

Die Musik verstummte. Vielleicht war es die Stille, die Hack dazu brachte, laut zu denken. Es hatte den Anschein, er spräche mit der Likörflasche, die er in der Hand hielt: „Eigentlich bin ich doch mit den Kommunisten immer gut ausgekommen. Wieso sollte ich nicht nach diesem Scheißkrieg mit ihnen zusammenarbeiten können?“ Alle außer ein paar Kartenspieler am Ende des Tisches sahen Hack an. „Mein Vater war Kommunist“, sagte Walter und starrte Hack an. „Bei der BRAG AG in Schwarzheide arbeiteten etwa 4.000 Personen. Vater und ich waren zwei von ihnen. Eines Tages las ich am Schwarzen Brett, dass er verhaftet worden war. Mit solchen Nachrichten hielten sie einen auf dem Laufenden. Er wurde dann 1941 zu sechs Monaten verurteilt, wegen Verbreitung unwahrer Gerüchte. Hätte ich gewusst, dass Sie solche wie ihn mögen, hätte ich Ihnen früher von ihm erzählt.“ Jetzt wurde es still um den Tisch. Sogar am anderen Ende schauten sie verdutzt von ihren Karten auf. Was zum Teufel war in Walter gefahren? Hatte er nicht meist erst die große Klappe, wenn der Vorgesetzte ein Stück weg war?

Walter angelte sich eine Zigarette aus seiner Brusttasche. Er zündete ein Streichholz an und sog dann den Rauch bis tief in die Lungen ein. „Was Sie erzählen, überrascht mich“, redete er weiter. „Noch vor vierzehn Tagen haben Sie wie wild zusammen mit dem Offizier von der Propagandaabteilung herumgeschrien, wir müssten bis zum letzten Mann gegen den Bolschewismus kämpfen. Jetzt wären Sie wohl zu gern der letzte Mann, der immer nur in der hintersten Linie marschiert ist!“ Was in aller Welt war denn das? Hack erhob sich so plötzlich, dass der Stuhl umfiel: „Jetzt sind Sie verdammt noch mal zu weit gegangen, Walter Richter. Sie kommen vors Kriegsgericht. Noch besteht die deutsche Wehrmacht. Ich bin Ihr Vorgesetzter, Sie sind Soldat. Sie sind verhaftet!“ Walter hatte sich reden hören, ohne seine Worte kontrollieren zu können. Er war nicht in der Lage gewesen, zwischen dem, was er dachte und dem, was er sagte, zu unterscheiden. Das konnte aber offenbar Hack und Walter überlief ein Schauer. Lieber Gott! Warum konnte er nicht seinen Mund halten, wenn er es doch bis jetzt geschafft hatte? Wollte er sich am letzten Tag alles zerstören? Er wich dem Blick von Hacks Pferdeaugen aus und starrte auf die Tischplatte.

„Herr Obermaat Hack.“ Hans Rotmeier sprach ruhig und bestimmt. „Wer soll denn Walter verhaften? Soweit ich verstanden habe, haben wir heute kapituliert. Und ich glaube kaum, dass die Norweger ihn erschießen würden, nur weil er behauptet hat, dass Sie das Weite suchen würden, sobald Sie einen Russen sähen.“ Hack wandte sich Hans zu, als ob er nun von zwei Seiten angegriffen würde. Er hielt Hans den Zeigerfinger unter die Nase und fauchte: „Vorsichtig, Hans Rotmeier, sonst werden auch Sie mit verbundenen Augen dastehen. Warten Sie nur, bis der Stadtkommandant mit seinen Leuten kommt, dann werden wir sehen, wer das Lachen auf seiner Seite hat. Euren Treueschwur, Jungs, dürft ihr dann langsam und deutlich dem Erschießungskommando vortragen.“ Dann drehte er sich um, machte einen kleinen, unsicheren Schritt und stampfte hinaus.

Hack stürmte in den Funkraum und rief das Stabsbüro des Stadtkommandanten an. Hier sollte verdammt noch mal ein Exempel statuiert werden. „Hallo? Hier Obermaat Hack, Scheinwerferstellung Nr. 6. Ich bitte um augenblickliche Verhaftung des Obergefreiten Walter Richter wegen Aufmüpfigkeit gegenüber dem Vorgesetzten. Schriftlicher Bericht folgt umgehend.“

Es antwortete eine Stimme, die Hack nie gehört hatte: „Alle deutschen Einheiten haben heute kapituliert, das gesamte deutsche Kommando steht unter alliiertem Oberkommando. Folglich kann Ihrer Bitte nicht entsprochen werden. Morgen kommt ein Kapitänleutnant der Wehrmacht mit der Befugnis, den Transport der Abteilung ins Internierungslager nach Orkanger zu leiten.“

Hack stand da und hielt den Telefonhörer noch in der Hand, als am anderen Ende schon längst aufgelegt worden war. Orkanger? Sollten sie bis dahin zu Fuß gehen?

Kapitel 2

Am nächsten Tag gab es genauso viele Gerüchte wie Soldaten. Die Diskussion am Tisch war sehr erregt. Ein Mann aus Elsass-Lothringen meinte, er würde wohl als nächster nach Hause geschickt werden, da er Bergmann sei. Denn er hatte gehört, dass die Kohlegruben als Erstes wieder in Gang gesetzt werden sollten. Außerdem war er – genau wie der Rucksackkumpel – kein Deutscher. Andere wussten zu berichten, dass sie von nun an wohl mit denselben Rationen auskommen mussten, die die russischen Gefangenen bekommen hatten. Und sie stopften ihre Rucksäcke voll mit Feldrationen und anderem Essbarem, das sie zur Seite geschafft hatten.

Als die Scheinwerferstellung Nr. 6 zum letzten Mal bei Steinan antrat, gab es auch nicht sehr viel mehr Informationen. Der Kapitänleutnant gab mit lauter Stimme seine Befehle. Die Scheinwerferspezialisten der Abteilung sollten zur Demontage der Anlage noch zurückbleiben, alle anderen hingegen sollten sich als Gruppe zum Hafen in Trondheim begeben. Von dort sollte sie ein Schiff ein Stück in Richtung Orkanger bringen, wo die Abteilung interniert werden sollte. Sämtliche Soldaten sollten ihre Gewehre behalten. Außerdem sollte die Abteilung ein Maschinengewehr mit 100 Schuss mitführen.

Walter hatte ein paar Konservendosen Schweinefleisch und eine Dose Kunsthonig. Diese packte er ganz unten in seinen Rucksack. Nach den vier Jahren des Soldatendaseins kamen diese Dosen fast Gegenständen persönlichen Eigentums nahe. Abgesehen von Gerds Foto besaß er nichts, was nicht der Marine gehört hatte. Das sollte jetzt vielleicht bald anders werden. Obwohl er kein Bergmann war, würde auch er eines Tages nach Hause kommen. Zum Glück gab es noch mehr Frauen als Gerd. Lotte war stolz gewesen auf ihre Jungfräulichkeit in jenem Sommer 1943, als er zu seinem einzigen Heimaturlaub in Schwarzheide war. Zusammen waren sie zum Fluss hinunter gegangen und hatten sich in der Sonne geaalt. Eine Art Nest hatten sie sich gebaut in dem hohen Schilf, aber obwohl niemand sie sehen konnte und Walter alle Register gezogen hatte, hatte Lotte ihre Jungfräulichkeit bewahrt. „Warte, bis du nach Hause kommst, Walter“, sagte sie und knöpfte ihre Bluse zu. Ja, nun sollte er sich bald auf den Heimweg machen.

Die Scheinwerferstellung Nr. 6 marschierte in Reih und Glied hinunter nach Trondheim. Die stählernen Schuhbeschläge scharrten über den Schotterweg im Steindalsveien und die Rucksäcke baumelten seitlich von den grauen Soldatenrücken herunter. Walter musterte die Stiefelhacken seines Vordermanns: oben blank geputzt, unten dreckig. Wie weit konnte ein Soldat eigentlich zu Fuß marschieren? Falls seine Eltern, der Großvater und nicht zuletzt Lotte zu Hause in Schwarzheide gewartet hatten, könnte er es dann schaffen, bis dorthin zu Fuß zu gehen?

Der Helm wurde immer schwerer. Jedes Mal, wenn der Kinnriemen verrutschte, löste sich der Helm und schlug leicht gegen den Kopf. Das ärgerte Walter zunehmend. Er hatte richtig Lust, den Helm abzureißen und ihn ganz weit weg zu schleudern, so wie er es mit den Magazinen kurz vor dem Abmarsch getan hatte. Immer musste man etwas schleppen. Maschinengewehre, Munitionskisten, Benzinkanister. Falls jemand einmal fragen würde, was er im Krieg gemacht hatte, würde er antworten: Ich habe geschleppt. Auf keinen Fall jedoch würde er den verdammten Helm weiterhin schleppen Er schob das Kinn vor, löste den Riemen, zögerte einen Augenblick und warf den Helm in hohem Bogen in den Straßengraben. Alle hatten es gesehen, aber niemand sagte etwas. Nicht einmal Hack, der ganz hinten ging. „Alle deutschen Einheiten haben heute kapituliert, das gesamte deutsche Kommando steht unter alliiertem Oberkommando.“ Auch ihm war es nun scheißegal. Der Krieg war wirklich zu Ende. Nun nahm einer nach dem anderen seinen Helm ab und warf ihn fort. Ein Bild tauchte in Walters Erinnerung auf. In der dritten Klasse saßen seine Mitschüler und er mit Lehmklumpen in der Hand in der „Weltlichen Schule“ und drückten sie mit ihren Händen wie einen Schneeball zusammen, ohne zu wissen, was sie daraus formen sollten. Plötzlich begann einer der Schüler, daraus einen flachen, runden Kuchen zu machen. Dann drückte er eine Vertiefung hinein und zeigte allen das Ergebnis – einen Aschenbecher sollte das darstellen. Die anderen taten es ihm gleich.