Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde - Friedrich Christian Delius - E-Book

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde E-Book

Friedrich Christian Delius

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Beschreibung

Bern im Sommer 1954. Deutschland steht im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft gegen Ungarn. Im Rundfunk dröhnt die legendäre Reportage Herbert Zimmermanns. In einem kleinen hessischen Dorf erlebt ein elfjähriger Pfarrerssohn den Sonntag, der sein Leben verändern wird. «Delius ist mit dieser Erzählung ein Meisterwerk gelungen. Sie sollte wenigstens so viele Leser finden, wie ein Fußballstadion Zuschauer fasst.» (Hessischer Rundfunk) «Witzig zelebriert Delius das Fußballspiel wie einen lästerlichen Gottesdienst, der den Jungen zugleich berauscht und verstört, die Leser jedoch nur widerstandslos hinreißen kann.» (FAZ) «Delius´ schönstes, poetischstes Buch über den Tag, an dem wir alle Weltmeister wurden.» (Elke Heidenreich)

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Seitenzahl: 141

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Friedrich Christian Delius

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Erzählungen

 

 

 

Über dieses Buch

Bern im Sommer 1954. Deutschland steht im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft gegen Ungarn. Im Rundfunk dröhnt die legendäre Reportage Herbert Zimmermanns. In einem kleinen hessischen Dorf erlebt ein elfjähriger Pfarrerssohn den Sonntag, der sein Leben verändern wird.

 

 

«Delius ist mit dieser Erzählung ein Meisterwerk gelungen. Sie sollte wenigstens so viele Leser finden, wie ein Fußballstadion Zuschauer fasst.» (Hessischer Rundfunk)

 

«Witzig zelebriert Delius das Fußballspiel wie einen lästerlichen Gottesdienst, der den Jungen zugleich berauscht und verstört, die Leser jedoch nur widerstandslos hinreißen kann.» (FAZ)

 

«Delius´ schönstes, poetischstes Buch über den Tag, an dem wir alle Weltmeister wurden.» (Elke Heidenreich)

Vita

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen seine Bücher als Werkausgabe.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2012

Copyright © 1994 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Cathrin Günther

Coverabbildung «Fritz Walter» ullstein bild und Privatfotos des Autors

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01841-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

für M. und für Ch.

Zum Hafen führt es abwärts, ich hoffe, ich fürchte, es geht in die Welt.

Wolfgang Koeppen, Jugend

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, begann wie jeder Sonntag: die Glocken schlugen mich wach, zerhackten die Traumbilder, prügelten auf beide Trommelfelle, hämmerten durch den Kopf und droschen den Körper, der sich wehrlos zur Wand drehte. Nur wenige Meter von meinem Bett stand der Kirchturm, da half keine Decke, kein Kissen, die Tonschläge drangen durch Fenster und Türen, durch Balken und Wände, füllten das Zimmer, vibrierten in Lampen, Gläsern, Spiegeln, und obwohl sie das ganze Dorf, das Tal und die Wälder ringsum beschallten, schienen sie kein anderes Ziel zu haben als meine Ohren und keinen anderen Zweck, als jedes Geräusch zu vernichten und jeden Gedanken zu zertrümmern. Von oben herab schickten sie schwingende, wuchtige Schläge gegen mich, rissen das blasse Gesicht fort, das ich in einer Hügellandschaft schweben sah, und zerfetzten es unbarmherzig mit ihrem Lärm, als sollte mir etwas Verbotenes, etwas Zartes mit Gewalt aus dem Kopf gestoßen werden.

Früh um sieben wurde der Sonntag eingeläutet, fünfzehn lange Minuten war ich den Glocken ausgeliefert. Ich wollte mich damit nicht abfinden und suchte die schwindenden Bilder festzuhalten, ich meinte, neben dem schwerelosen Gesicht, ein Mädchen vielleicht, den Großvater auf dem Meer stehend gesehen zu haben, ohne sein U-Boot, den Arm in der Luft. Ich wusste nicht, ob er gedroht oder um Hilfe gerufen hatte, der Film war gerissen, die Bildfolge gestört, ich war an Land, war geweckt.

Ich duckte mich unter dem vertrauten Getöse, versuchte das Unvermeidliche auszuhalten und Schlag um Schlag an dem schwingenden, wuchtigen Dreiklang Gefallen zu finden, etwas wie Musik zu entdecken, in den metallischen Klängen eine Melodie oder wenigstens einen Rhythmus. Die große Glocke hämmerte den tiefen Ton in langsamen Takten, die kleine sprang mit hellem, schnellem Bimmeln dazwischen, und die mittlere Glocke gab den hintergründig klaren, den versöhnlichen Klang dazu, drei Töne pausenlos, nacheinander und gleichzeitig in wechselnder, bald berechenbarer Folge. Ich wollte mich betäuben und tragen lassen, auf den Schallwellen noch einmal davonschwimmen, dem Mädchen hinterher, das in der grünen Landschaft versunken, dem Großvater hinterher, dessen Uniform trotz der hohen See trocken geblieben war. Im Rhythmus der Glockentöne in Bildern schaukelnd, gelang es mir trotzdem nicht, Anschluss an die Spuren des Traums zu finden und das Zerstörte zusammenzufügen, das verschwundene Gesicht aus dem Grünen und den Großvater aus dem Meer zu retten.

Nur eine Chance hatte ich: mich an das zu gewöhnen, was ich als Angriff erlebte. Ich wünschte, oben zu sein, auf dem Turm, wo die stärkeren Jungen, zwei oder drei Jahre älter und unerreichbar fern in ihrem Rang als Konfirmanden, auf dem Läuteboden hoch über Kirchenschiff und Altar die drei Glockenstricke zogen, das Dorf weckten, die Fenster zittern ließen und die Schallwellen kilometerweit schickten, da oben wollte ich sein, wo der Wind durch offene Fensterbögen und Schießscharten fuhr, und lieber den Lärm machen als ihn erleiden. Über gefährliches Dachgebälk, Treppen und Leitern schon hinweg, zog ich mit an den Stricken, wie ich es manchmal beim Samstagabendläuten, bei Hochzeiten oder Beerdigungen versuchte, tobte auf den wackelnden Bohlen im Dachstaub, schaute zwischen groben Mauersteinen hinab auf lange Scheunendächer und blassrote Ziegel der Wohnhäuser, auf die Muster aus hellem Verputz zwischen grauen oder braunen Fachwerkbalken, schwebte in meinen Kissen über Höfe und Gärten und zog gleichzeitig mit aller Kraft mal an dem einen, mal am andern Seil, als wollte ich mich gewaltsam versöhnen mit den klirrenden Schwingungen, als wären die Glocken ein Instrument, das ich beherrschen könnte.

Für einige Augenblicke gelang es, nichts als Harmonien zu hören und im Schwung der Glocken oben zu bleiben, ich flog mit dem Glockenklang dahin, unter mir lag die Straßenkreuzung mit dem dreistöckigen Gasthaus, mit der Reklametafel Durst wird durch Bier erst schön, ich segelte über Männer auf Traktoren, über Frauen mit Milchkannen, über Pferdegespanne, Leiterwagen und Kuhherden hinweg und hinauf in die Wälder, immer kleiner die Menschen unter mir, deren Schritte im Glockentakt ich verfolgte. Ich lebte auf in dem erhebenden Gefühl, alles zu sehen, ohne gesehen zu werden, und konnte für kurze Zeit dem strengen, rhythmischen Ruf der Schläge noch die Aufforderung ablauschen, alles gut sein zu lassen, den Lärm der Glocken und die donnernde Macht, die von oben kam, wie ein schützendes, väterliches Streicheln hinzunehmen. Dann schlug das Empfinden wieder um in eine schüchterne Wut, so weit von den eigenen Phantasien entfernt zu sein, und ich hörte in den Glockenschlägen beides, die Gewalt und die Wärme, das Wegstoßen und Hinziehen, Ohrfeigen und Musik.

Als die Klöppelschläge unregelmäßig heranwehten, als sie läppisch verebbten und der letzte, nur schwach angetippte tiefe Ton der großen Glocke verloren in der Luft hing und die letzten Schwingungen das Ohr streiften, stellte sich endlich Erleichterung ein. Diesen Ton, aus dem der Ton wich, hätte ich gerne länger angehalten, weil der Donner in etwas Zartes, der Lärm in Stille versank und die Stille wohltuend wurde wie das Nachlassen eines Schmerzes.

Ich streckte mich und suchte eine neue Schlafstellung, beunruhigt nur von der Frage, ob der Großvater wirklich über das Wasser gewandelt war wie Jesus oder von mir gerettet werden wollte. Ich, elf Jahre und Nichtschwimmer, hätte den Korvettenkapitän niemals retten können, aber vielleicht hätte mir der Traum unbekannte Fähigkeiten beschert. Das Bild stellte sich nicht wieder her, die Glocken hatten alles verdorben. Ich hörte in die Morgenstille hinein, Schwalben, Spatzen, und bald schallten von der Kirchentür über den Hof die Stimmen der Jungen heran, die geläutet hatten und nun noch einen Augenblick beieinanderstanden. Ohne sie zu sehen wusste ich, wer sie waren, wie viele sie ungefähr waren, manche erkannte ich an ihren Stimmen. Ich hörte meinen Vater sprechen und einen Scherz machen, über den müde gelacht wurde, ehe sich alle zerstreuten.

Ich tauchte unter, suchte den Schlaf, ohne zu wissen, was ich suchte im Schlaf und was mir im Wachsein fehlte, tauchte unter die Decke, unter alle Geräusche, streckte die Beine, drückte mich in die Kissen. Jetzt erst hörte ich meinen Bruder, mit dem ich das Zimmer teilte, wie er sich drehte im Bett und nach der Störung weiterschlafen wollte. Ich wollte jetzt nichts von ihm, sprach ihn nicht an, tauchte zurück in die Wärme, das Glockengetöse noch im Ohr und allmählich entspannt nach der fünfzehnminütigen Plage. Nicht weil ich müde gewesen wäre, sondern weil ich ein seltenes Glück verlängern wollte, versuchte ich den Zustand des Halbschlafs zu erreichen und die Gelegenheit auszukosten, für kurze Zeit keinem Druck, keiner Erwartung, keinem strengen Blick ausgesetzt zu sein.

Es war der einzige Tag in der Woche, an dem ich nicht früh um sechs geweckt wurde, der einzige Tag, an dem die Glocken mich aus dem Schlaf rissen und nicht die auf Fröhlichkeit eingestellte Stimme der Mutter mit ihrem «Guten Morgen!», gedehnt betont auf dem U und dem O. Der einzige Tag, an dem ich nicht spätestens beim Frühstück an die lateinischen oder mathematischen Schrecken des anbrechenden und wie ein riesiges Hindernis vor mir liegenden Schultags denken musste, an mein schlechtes Vokabelgedächtnis, an die halbverdauten Formeln und mein erbärmliches Rechengedächtnis, an die mühsam eingepaukten Unterschiede zwischen Laubmoosen und Lebermoosen oder mein störrisches Biologiegedächtnis. Der einzige Tag in der Woche, an dem ich halbwegs geschützt blieb vor der Entdeckung, wie schlecht und schwach ich in allem war oder mich zu fühlen gezwungen war, schnell in der Angst gefangen, auf alle Fragen dieser Welt, wenn sie von Erwachsenen mit einer bestimmten herrischen Erwartung gestellt wurden, nur mit Stocken und Stottern reagieren zu können. Ich tauchte fort von all den gewöhnlichen Gefangenschaften der Woche und freute mich auf die Erleichterungen des Sonntags, obwohl auch dieser Tag abgesteckt war von milderen Drohungen und Geboten, Gebeten und Regeln, die schon am Sonnabendnachmittag anfingen, wenn mein Bruder und ich für fünf Groschen Taschengeld Straße und Hof zu fegen hatten.

Allein die Vorstellung, nicht wie sonst um diese Zeit im Bus sitzen zu müssen, war schon ein Triumph, auf der einstündigen Berg-und-Tal-Fahrt Wehrda Schletzenrod Wetzlos Stärklos Kruspis Holzheim Hilperhausen Kohlhausen Asbach Bad Hersfeld, über die Lateinische Grammatik oder das Geschichtsbuch gebeugt oder stehend, einer der Jüngsten und Pfarrerssohn hatte als Erster Platz zu machen für Ältere, im schaukelnden Bus durch hundert Schlaglöcher und Kurven geschubst. Ein Tag der Ruhe stand bevor, an dem keine Antworten von mir erwartet wurden, ein Tag, an dem ich mich nicht bloßstellen musste und an dem mein ängstliches, verkrampftes Schweigen weniger auffiel als sonst, weil alles leiser, ruhiger und ohne Temperament abzulaufen hatte.

Schritte auf den Dielen im Flur, Mutterschritte treppab, Großvaterschritte auf dem Weg zur Küche, wo die Waschkanne gefüllt wurde, und zurück ins Großelternzimmer. In den Wänden die Wasserleitungen, unten auf dem Hof die Hühner, in den Bäumen Vogelgezwitscher, das waren die auffälligsten Geräusche. Die Schweine waren um diese Zeit gefüttert, also blieb es ruhig in den Ställen der Nachbarn, ein Pferd wieherte, entferntes Hundegebell, die Kühe draußen auf den Weiden, die Traktoren standen in Garagen und Scheunen – allein an dem, was nicht zu hören war, hätte ich den Sonntag erkannt. Es war hell, Sommer, durch die dünnen blauen Vorhänge die steigende Sonne zu ahnen, aber ich tauchte noch einmal weg, suchte einen Traum zusammen, wollte alles wegträumen, was die Träume verdarb, und doch schoben sich die Verhaltensregeln des Sonntags immer stärker ins Bewusstsein, als lenkten der Nachhall der Glocken oder eine andere unsichtbare Macht mich beharrlich auf die Hauptsache des Tages: Du sollst den Feiertag heiligen!

Nicht nur die beiden Gottesdienste für Kinder und für Erwachsene, nicht nur das Zeremoniell von Singen, Beten, Zuhören, sondern jede Regung, jeder Schritt standen unter diesem Gebot. Räuber und Gendarm und ähnliche Gruppenspiele in Scheunen, auf Straßen und Feldern waren verboten, Spiele in den Zimmern erlaubt, Toben und Streiten verboten, das Hämmern und Sägen an der selbstgebauten Holzhütte neben dem Hühnerstall verboten, das Sitzen in der Hütte erlaubt. Hausaufgaben zählten als Arbeit, selbst ein schneller Blick am Sonntagabend ins Lateinbuch, und Arbeit war verboten, weil Gott sich am siebten Tag erholt hatte, aber das Lesen anderer Bücher war erlaubt. Lederhosen verboten, Manchesterhosen erlaubt, Fahrradfahren vormittags zur Gottesdienstzeit verboten, nachmittags erlaubt, Fußballspielen auf dem Hof oder Kirchplatz vormittags wegen der Sonntagsruhe, nachmittags wegen der Sonntagskleider verboten, aber der Gang zum Sportplatz erlaubt, wo die Erste Mannschaft des F.C. Wehrda jeden zweiten Sonntagnachmittag ihre Spiele austrug. Ich hatte alle diese Regeln im Kopf, die mir beschämend einsichtig schienen, weil ich mit ihnen verwachsen, in sie hineingewachsen war. Ich mochte sie nicht, aber ich akzeptierte sie, und je länger ich im Bett lag, desto später würden sie in Kraft treten.

Ich hätte lesen können oder den TRIX-Baukasten aus dem Schrank holen oder den Bruder zu einem Spiel anstiften oder ärgern, hätte mich anziehen und aus dem Haus laufen können, aber ich blieb liegen, weil ich die Lust spürte, all das nicht zu tun, zu nichts verpflichtet zu sein und von niemandem beobachtet zu werden. Mehr und mehr wurde diese Lust jedoch von der Ahnung durchkreuzt, dass meine Freiheit, die Gültigkeit der Sonntagsregeln ein wenig hinauszuzögern, von Minute zu Minute abnahm und mir nicht viel länger als die eine Stunde zwischen Wecken und Aufstehen gegönnt war, denn bald musste alles wie gewohnt auf die gefalteten Hände und das Du sollst hinauslaufen.

Der Sonntag war nicht für mich da oder für die Familie, sondern für jenen bärtigen Vater über dem Vater, dem wir alles zu danken hatten. Ein Leben ohne Glocken, ohne den Feiertag, ohne christlichen Stundenplan voller Gebete und Gesänge konnte ich mir nicht vorstellen. Noch weniger, jemals dem alles überragenden, allgegenwärtigen Auge Gottes zu entkommen, das irgendwo im Himmel hing und alles sah und nicht gesehen wurde. Ich konnte versuchen, mich dem Blick zu entziehen, aber damit entlastete ich das Gewissen nicht, denn das Auge Gottes spiegelte sich in den Augen des Vaters, der Mutter, der Großeltern, ihre Augen flankierten und vervielfachten das Gottesauge, zu viele Augen sahen auf mich herab.

In solchen halbwachen, unkontrollierten Momenten befiel mich, auch wenn ich nichts Verbotenes tat oder dachte, eine unerklärliche Scham, eine zapplige Schwermut und Lähmung. Ich fürchtete mich und wusste nicht, wovor und vor wem, wusste kein Rezept gegen die Furcht, wehrte mich mit verlängerten Träumen und ahnte, wie begrenzt meine Kraft zum Phantasieren und zum Vervielfältigen der Träume war. Mein Kopf war belagert und mein Körperbündel besetzt von der unbegreiflichen Macht Gott, die in alle Gedanken hineinregierte, mein verschupptes, verstottertes Leben bestimmte, eine Macht, die zugleich gütig und streng sein sollte und als höchste Instanz der Liebe Vater und Mutter wie Marionetten zu führen schien. Mutlos und erschöpft wurde ich, wenn mich ein bohrender Gedanke an den vom Himmel herab segnenden oder drohenden lieben Gott streifte. Nie würde ich es schaffen, mich an diesen unberechenbaren Herrn zu gewöhnen mit Beten, Dienen, Danken, Glauben, Singen, aber noch schlimmer war die Vorstellung der Leere, der Verdammung, der Schuldgefühle, mit denen Gott den verfolgte, der sich seinen Befehlen nicht zu unterwerfen verstand und zum Heiden wurde. Verwirrt ließ ich von den Ansätzen zu solchen Gedanken ab, ich wollte nicht, ich konnte und durfte nicht wittern und vermuten, in welchen Teufelskreis dieser Gott mich stieß.

Ich hatte eine Stunde länger als sonst geschlafen, wollte nicht mehr wie gefesselt im Bett liegen, wehrlos den Ahnungen und Ängsten ausgeliefert, die wie in leichten, tückischen Brisen durch den Kopf wehten. Die Hände strichen hin und wieder über den Körper, auf der Haut lag noch etwas Seifengeruch vom Samstagabendbad. Ich fühlte mich wach, sah mich auf dem Sportplatz stürmen, hinter dem Ball herlaufen, den Ball abgeben, stoppen und schießen. Ich wusste, dass ich mir die leichten und beherrschten Bewegungen vorlog, mein Kinderkörper war nicht kräftig, nicht schnell, nicht groß und nicht sportlich, und ich wollte zu den Besseren, den Siegern gehören. Gerade erst hatte ich beim Schulsportfest mit heller Stimme Wenn die bunten Fahnen wehen gesungen und dann erbärmlich wenig Punkte erreicht, war allein aufgefallen durch die weißblass blätternde Haut an Ellbogen, Knien und Knöcheln, die Krankheit mit dem fürchterlichen Namen Schuppenflechte, die mich eher in Richtung der Fische, Lurche, Insekten schob als auf die Höhe einer Siegertreppe. Und während ich nun in stiller Wut an den Schuppen kratzte und die Mahnung nicht hören wollte, dass noch mehr Haut aussätzig werden könnte, lief ich immer schneller über den Sportplatz und dribbelte, flink und geschickt, bis niemand mehr meine schorfigen Knie oder Ellbogen beachtete, ich musste die Angst und die Flechte besiegen, ein kräftiger Stürmer, ich überspielte zwei, drei, vier Gegner und schoss das Tor, das entscheidende Tor für mich, meine Mannschaft, die Schüler von Wehrda. Als ich den Jubel der Mitspieler, den Beifall der Zuschauer dazugab, fiel mir ein, welcher Tag heute war, der Tag des Endspiels. Ich sah mich zwischen den deutschen Stürmern in schwarzen Hosen und weißen Hemden, der Ball zuerst schneller, dann langsamer als die Männer, die ihn beherrschten, Kopfbälle, Flanken, Eckbälle, alle Bewegungen belebt von der märchenhaften Gewissheit, dass diese Männer das Endspiel der Weltmeisterschaft erreicht hatten. Ich sah mich dabei und wollte dabei sein, am Nachmittag durfte ich die Übertragung im Radio hören, ich sprang endlich auf, wusch mich, zog mich an, sonntags frische Wäsche.

Das Brot, in der Mitte des Tisches das Brot, um das Brot herum Sanellamargarine, Marmelade, Johannisbeergelee, Milchkrug, Kaba der Plantagentrank,