Warum Luther die Reformation versemmelt hat - Friedrich Christian Delius - E-Book

Warum Luther die Reformation versemmelt hat E-Book

Friedrich Christian Delius

4,4
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

500 Jahre nach Luthers Thesenanschlag bittet Friedrich Christian Delius den großen Reformator zum Zwiegespräch. Der Ausgangspunkt: Bei allem Eifer hat Luther doch eines der wichtigsten Dogmen der christlichen Kirche – die Erbsünde – unangetastet gelassen. Und das, obwohl es mitnichten auf Jesus oder die Überlieferung der Evangelisten, sondern nachweislich auf einen Übersetzungsfehler des Kirchenvaters Augustinus zurückgeht. Die Frage, die Delius auf der Seele brennt, hat auch im Reformationsjahr 2017, in dem an Hymnen wie Schmähschriften über Luther wahrlich kein Mangel herrscht, bislang niemand zu stellen gewagt: Warum, so möchte er wissen, hat der Erneuerer der Kirche auf halber Strecke schlappgemacht? Warum hat er es zugelassen, dass das Dogma der Erbsünde, dieses Seelenfolterinstrument erster Güte und bis heute größtes christliches Tabu, unberührt blieb? Warum folgte er unhinterfragt seinem Lehrmeister Augustinus, mit dem die frohe Botschaft zur drohenden Botschaft wurde? Friedrich Christian Delius bittet Luther um seinen Segen für das Unternehmen, dort weiterzudenken, wo dieser selbst aufgehört hat – und er tut es im gleichen Atemzug. Eine so anregende wie spannende Auseinandersetzung mit einem der Grundpfeiler des abendländischen Denkens.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 50

Bewertungen
4,4 (14 Bewertungen)
9
2
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Friedrich Christian Delius

Warum Luther die Reformation versemmelt hat

Eine Streitschrift

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

500 Jahre nach Luthers Thesenanschlag bittet Friedrich Christian Delius den großen Reformator zum Zwiegespräch. Der Ausgangspunkt: Bei allem Eifer hat Luther doch eines der wichtigsten Dogmen der christlichen Kirche – die Erbsünde – unangetastet gelassen. Und das, obwohl es mitnichten auf Jesus oder die Überlieferung der Evangelisten, sondern nachweislich auf einen Übersetzungsfehler des Kirchenvaters Augustinus zurückgeht. Die Frage, die Delius auf der Seele brennt, hat auch im Reformationsjahr 2017, in dem an Hymnen wie Schmähschriften über Luther wahrlich kein Mangel herrscht, bislang niemand zu stellen gewagt: Warum, so möchte er wissen, hat der Erneuerer der Kirche auf halber Strecke schlappgemacht? Warum hat er es zugelassen, dass das Dogma der Erbsünde, dieses Seelenfolterinstrument erster Güte und bis heute größtes christliches Tabu, unberührt blieb? Warum folgte er unhinterfragt seinem Lehrmeister Augustinus, mit dem die frohe Botschaft zur drohenden Botschaft wurde?

 

Über Friedrich Christian Delius

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, in Hessen aufgewachsen, lebt in Berlin. Seine Erzählungen und Romane machen ihn zu einem der bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart. Bereits vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Fontane-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis, wurde er 2011 mit dem Büchner-Preis geehrt.

Lockern Sie sich, Herr Doktor

Lachen Sie mal wieder, Herr Luther, sagte ich zu der Gestalt auf dem Sockel, lockern Sie einfach die Kiefermuskeln, versuchen Sie’s! Da hat sich eine Menge Ernst in Ihren Gesichtszügen gesammelt in den Jahrhunderten, so viel wuchtige Entschlossenheit, so viel demonstrative Standhaftigkeit, so viel Unnahbarkeit, dass wir, die Zeitgenossen des Jahres 2017, die Sie lieber lebendig als erstarrt sehen, nur ganz zivil empfehlen können: Rührt Euch, Herr Doktor! Auch eine Geschichtsbuchfigur wie Sie braucht mal eine kleine Abwechslung, ein paar Lockerungsübungen, ein kurzes Durchschütteln, bevor Sie für die nächsten fünfhundert Jahre wieder in Ihrem eigenen Standbild zu Stein oder Bronze werden. Sie sind kein Heiliger, also zieren Sie sich nicht, so unnahbar sind Sie doch gar nicht. Lockern Sie bitte ganz behutsam die Kiefermuskeln, lächeln Sie, ja, sehr schön, der rechte Mundwinkel zuckt schon, die Augen erwachen und blinzeln aus der Tiefe, weiter so, drehen Sie vorsichtig den Kopf, langsam, sehr gut. Bewegen Sie die Stirnfalten, die Finger, Hände, die Arme, die Beine, offenbar funktionieren auch die Ohren noch bestens, lächeln Sie, und jetzt steigen Sie bitte vorsichtig runter vom Sockel. Warten Sie, ich helfe Ihnen, setzen Sie sich her zu mir. Ich will Ihnen was erzählen, Sie müssen gar nichts sagen, wenn Sie nicht wollen, ich werde Sie nicht fragen, was Sie so gefühlt haben eben beim Steigen vom Sockel oder damals, als Sie den Hammer in der Hand hielten beim Anschlagen der 95 Thesen in Wittenberg, oder was Sie in Worms wirklich gesagt haben, ich werde Sie weder mit Karl V. noch mit der heutigen Weltlage belästigen. Ich würde Sie, wenn möglich, nur gern auf einen winzigen und doch hochheiklen Punkt aufmerksam machen, Herr Luther, über den seltsamerweise niemand spricht, etwas, was Ihr Werk betrifft oder eine Lücke in diesem Werk. Eine Frage, nur kurz, ein halbes Stündchen oder so lange Sie wollen.

 

Brauchen Sie erst mal was zu trinken, zum Wachwerden, damit das Gehirn wieder anspringt nach so langem Denkmalschlaf, nach dem ewigen Dämmern im kalten Bronzekopf? Für die kurze Unterbrechung Ihres Ruhestandes, zu der ich Sie nötige und einlade, rate ich Ihnen, ein Bier zu heben, einen guten Humpen Bier zur Belebung, Beruhigung oder seligen Erinnerung, ganz wie Sie wollen. Denn alles, wirklich alles hat sich verändert seit Ihrer Lebenszeit, seit fünfhundert Jahren, der Mensch, die Kirche, die Geschichte, die Moral, die Bräuche, alles, wirklich alles, nur das Bier nicht. Nur das Bier ist so rein geblieben wie zu Ihrer Zeit, als in Ingolstadt das dauerhafte Reinheitsgebot gegen die Panscherei beim Bierbrauen verfügt wurde im Jahr 1516, genau ein Jahr bevor Sie in Wittenberg mit Ihren Thesen das theologische Reinheitsgebot gegen die Panscherei mit dem Ablass verfügt haben. Das reine Bier und die reine Lehre und der reine Glaube feiern zusammen Jubiläum. Ein halbes Jahrtausend Reinheit in der sonst so dreckigen, bösen Welt … Also ein Bier, ordentlich gezapft, das dauert einen Moment.

 

Sie lächeln skeptisch, mit Recht, Sie ahnen, Sie wissen ja, was Ihnen blüht in diesem landauf, landab gefeierten Lutherjahr. Da werden Sie von allen Seiten mit Phrasen bombardiert, mit Reden zugeschüttet, mit Feiern umheiligt. Keine Sorge, ich bin keiner der hunderttausend Lutheranbeter und Lobredner, die derzeit an allen Lutherorten und in allen Lutherstädten, vor Lutherdenkmälern und Luthereichen mit mehr oder weniger frommen, säuselnden, sanftprotestantischen Sätzen sich über Sie und Ihre Taten und Ihre Aktualität auslassen und brüchige Brücken schlagen von 1517 bis 2017. Ich bin auch keiner der vielen Lutherspezialisten, die mit immer dickeren Büchern immer dünnere, angeblich neue Details aus Ihrem Leben und Wirken zum Besten geben, ohne auch nur einen Funken Ihrer Sprachkraft und Sprachwut und Sprachlust zu bieten. Nein, Sie werden von mir nicht zum tausendsten Mal gewürdigt als wichtigster Reformator aller Zeiten, als Papstgegner, mutiger Rebell, der sich auf sein Gewissen und sein Ich berief, als tüchtiger Ketzer, trefflicher Übersetzer und Begründer des evangelischen Glaubens, als ungewollter Retter des Katholizismus, und was der glorreichen Luther-Effekte mehr sind, alles richtig, aber eben schon tausendmal gesagt und hunderttausendmal wiederholt.

 

Ich werde Ihnen auch nicht mit dem Gegenteil kommen und statt der Lutherlobrednerei die allbekannten Lutherverdammungsurteile auspacken, ich werde Ihnen nicht vorhalten, wie stur und gnadenlos Sie gegenüber Ihren Mitreformatoren gewesen sind, wie verbrecherisch gegenüber den Bauern, wie widerlich gegenüber den Juden, wie opportunistisch gegenüber den Fürsten, wie töricht gegenüber Erasmus. Alles richtig, an diesen Ihren schwersten Vergehen gibt es nichts zu beschönigen, das ist mit Recht schon zehntausendmal vorgebracht worden, darüber muss ich nicht auch noch meinen Abscheu ausgießen.

Die 96. These von Wittenberg