Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus - Friedrich Christian Delius - E-Book

Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus E-Book

Friedrich Christian Delius

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Beschreibung

Märchenhaft, doch nicht erfunden «In der Mitte seines Lebens, im Sommer 1981, beschließt der Kellner Paul Gompitz aus Rostock, nach Syrakus auf der Insel Sizilien zu reisen. Der Weg nach Italien ist versperrt durch die höchste und ärgerlichste Grenze der Welt, und Gompitz ahnt noch keine List, sie zu durchbrechen. Er weiß nur, dass er die Mauern und Drähte zweimal zu überwinden hat, denn er will, wenn das Abenteuer gelingen sollte, auf jeden Fall nach Rostock zurückkehren.» So beginnt F. C. Delius' Chronik einer modernen Schwejkiade. Im Juni 1988 gelingt es Gompitz, mit einer Jolle von Hiddensee nach Dänemark zu segeln. Delius erzählt von der Mühsal der Vorbereitungen, von der Hartnäckigkeit, wie Gompitz das Segeln lernte, sein Boot tarnte, Geld in den Westen schaffte, wie er gegen jede Gefahr eine List fand, immer etwas schlauer als die Staatssicherheit. Einfach auf sein Recht auf eine Bildungs- und Pilgerreise pochend, auf den Spuren Johann Gottfried Seumes, dessen «Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802» er seit Jugendzeiten im Kopf hat. Doch zunehmend irritiert ihn die Frage: «Wie kommst du am besten wieder zurück?» «Delius hat genau recherchiert, er hat sich, ohne sie zu bevormunden, in seine Figur hineinversetzt, hat ihr seine Stimme gegeben. Und er hat eine spannende Geschichte geschrieben, die den Leser in Atem hält und die dazu noch gut ausgeht.» (Rheinische Post) «So entspannt, so sicher und souverän, daß nicht nur die Leser, auch die strengsten Rezensenten diesem Spaziergang von Rostock nach Syrakus und zurück applaudieren müßten.» (Deutsche Welle)

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Seitenzahl: 201

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Friedrich Christian Delius

Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus

Werkausgabe in Einzelbänden

Erzählung

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

«… und der letzte ...1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. KapitelEditorische NotizRezensionenBiographische Angaben
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«… und der letzte Gang nach Sizilien war vielleicht der erste ganz freie Entschluß von einiger Bedeutung.»

Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus im Jahr 1802

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1

– Heute wäre die Geschichte einfach zu erzählen, ungefähr so:

In der Mitte seines Lebens, im Sommer 1981, beschließt der Kellner Paul Gompitz aus Rostock, nach Syrakus auf der Insel Sizilien zu reisen. Der Weg nach Italien ist versperrt durch die höchste und ärgerlichste Grenze der Welt, und Gompitz ahnt noch keine List, sie zu durchbrechen. Er weiß nur, dass er Mauern und Drähte zweimal überwinden muss, denn er will, wenn das Abenteuer gelingen sollte, auf jeden Fall nach Rostock zurückkehren.

An einem wolkenarmen Augustabend im Hafen von Wolgast auf der «Seebad Ahlbeck», einem Schiff der Weißen Flotte, fällt der Entschluss, dem Fernweh endlich nachzugeben und das Land, um bleiben zu können, einmal zu verlassen. Gompitz ist müde, er hat den ganzen Tag die Urlauber zwischen Rügen und Usedom bedient mit Kaffee, Bier, Bockwurst, Käsekuchen. Die Abrechnung ist fertig, die Tische sind gewischt, er schaut auf das Wasser, Feierabend. Alles ist wie immer, nur im Kopf eine stürmische Klarheit.

«Ja!», sagt er laut, geht in seine Kabine im Vorschiff, packt die schmutzige Wäsche in einen Koffer, verabschiedet sich beim Kapitän, läuft durch den Hafen und steigt in sein Auto. Nach drei Wochen Arbeit drei Tage Pause, die Frau wartet in Rostock, genug Trinkgeld in der Tasche, der Tank ist voll, es ist alles geregelt. Er verdient so gut, dass er nach fünf Monaten Saison im Winter nicht arbeiten muss, besser als ihm geht es nicht vielen. Er biegt auf die Fernstraße 111 Richtung Demmin ein. Ja, du brauchst ein Ziel, sagt er sich, Italien muss jetzt sein! Drei Jahre vielleicht, dann bist du in Syrakus!

Die Ruhetage zu Hause, die Frau, ausschlafen, die Freunde, er freut sich darauf, in Rostock wieder im Mittelpunkt zu stehen, viel zu erzählen und von den Geschichten zu zehren, die er auf der «Seebad Ahlbeck» gehört hat. Es ist seine erste Saison als Kellner auf einem Schiff, jahrelang haben ihm die Kaderleiter nicht erlauben wollen, auf See zu arbeiten. Nun hat er es geschafft und ist verantwortlich für die gastronomische Betreuung der Fahrgäste und der Mannschaft, er ist akzeptiert und beliebt, sitzt an den Quellen des Alkohols, und doch fehlt ihm etwas. Die Offiziere und Matrosen, die einen Sommer lang die Ausflugsschiffe um Rügen herum und über den Greifswalder Bodden schieben, sind fast alle einmal draußen gewesen: einer als Dritter Offizier auf der «Völkerfreundschaft» bis Kuba und Südamerika, einer kennt die asiatischen Häfen und die Mädchen dazu, einer hat als Steuermann bei der Fischerei die Stürme vor Labrador im Nordatlantik mitgemacht, vom Mittelmeer sprechen sie, als sei es die Wismarer Bucht. Für die Weltmeere ausgebildet, schippern sie nun lustlos die Urlauber durch die Boddengewässer, weil man ihnen die Seefahrtsbücher genommen hat aus lächerlichsten Gründen, Verwandte im Westen, von denen sie sich nicht lossagen wollten, oder eine unpassende Meinung geäußert oder den Sicherheitsorganen nicht zuverlässig genug, jeder Seemann ein möglicher Flüchtling. Man hat sie zum Küstenschutz, zur Baggerei oder zur Binnenschifffahrt abgeschoben, allein vier welterfahrene Seeleute auf der kleinen «Seebad Ahlbeck», wo sie abends, wenn das Schiff festgemacht ist, um den Tisch sitzen und bei Bier und Wodka ihre Geschichten auspacken, aus denen Gompitz immer wieder den größten Stolz heraushört, der in seinem Land zu haben ist: Wir haben was erlebt, wir waren mal draußen!

Er hat nichts zu erzählen. Er liebt die geistigen Abenteuer, sein Idol heißt Bloch und ist ein Philosoph, damit kann er hier nicht kommen. Mit Vollbart und Brille muss er sowieso aufpassen, nicht als der verlacht zu werden, der er auch ist, ein abgestürzter Intellektueller. Mit Frauengeschichten protzen, das kann er. Mit der einen oder anderen Schnurre aus seinem Leben, aber was ist schon sein Leben! Maschinenschlosser, von der Werkbank in die Schule geschickt, weil man aus dem Arbeiterkind einen Richter machen wollte, vor dem ersten Semester Jura schon verstoßen, weil er sich weigerte, jederzeit die Deutsche Demokratische Republik mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, dann Verkäufer Gompitz, Fremdenführer Gompitz, Aushilfskellner Gompitz. Aus Sachsen an die Ostsee gezogen, weil an der Küste leichter Geld zu verdienen ist mit Bestellblock und Tablett auf den Trampelpfaden zwischen Küche und Theke und Tisch 11 bis Tisch 20. Jahrelang versucht, als Seemann anzuheuern, alle Bewerbungen abgelehnt. Zur Armee gegangen, sich schinden lassen und gedient, trotzdem neue Absagen. Selbst bei der Fischerei, deren Matrosen im westlichen Ausland ohnehin nicht an Land kommen, hat man auf den gelernten Maschinenschlosser verzichtet. In Warnemünde und Rostock die großen Schiffe, schwer beladen mit seiner alten Sehnsucht. Und nun haben die Kollegen auf der «Seebad Ahlbeck» wieder den Seefahrertraum der Jugend geweckt, einmal herauszufahren in die weite, die westliche Welt.

Die Sonne leuchtet den Horizont aus, sinkt hinter Alleebäume und weitgestreckte Hügel, Gompitz fährt westwärts direkt in das rötliche Abendlicht, vorbei an abgeernteten Feldern. Auf graudunkle Dorfkulissen, Betonställe, Mähdrescher und Wegweiser achtet er kaum, er kennt die Strecke. Er denkt an die Berge im Süden vor Dresden, sieht sich mit fünf oder sechs Jahren, kaum über einen Johannisbeerstrauch guckend, auf den Tisch der Gartenlaube steigen an klaren Sommertagen und, plötzlich zwei Meter groß, gebannt vom weiten Blick bis zu den Gipfeln und Felsen der Sächsischen Schweiz, jeden einzelnen Berg wie ein Ziel. Später ein Ausflug mit den Eltern auf einen dieser Gipfel, Königstein, von dort der erstaunte Weitblick in die Ebene und auf neue Bergketten in der Ferne, viele Kegelberge bis an den Horizont. Was ist hinter den Bergen da, Papa? Das ist Böhmen, aber da dürfen wir nicht hin, das ist verboten! Und dahinter? Hinter dem Böhmerland das Riesengebirge, da dürfen wir nicht hin! Weiter südlich die Alpen, hinter den Alpen Italien. Hinter den Bergen immer neue Berge, die verbotene Ferne, die Welt hört nicht auf.

Italien! Syrakus! Mit so viel guter Laune ist Gompitz noch nie über das Holperpflaster von Demmin gefahren. Drei Burschen suchen das Licht einer HO-Gaststätte, ein Alter sperrt mit seinem Fahrrad die halbe Straße, im Sommer sieht das Städtchen nicht einladender aus als im Winter. Du wirst wiederkommen, sagt sich Paul, und wieder durch Demmin fahren, aber mit Italien im Kopf! Ohne die mecklenburgischen Nester, ohne die Küste und Dresden und Berlin kannst du nicht leben. Aber einmal musst du es schaffen, dich an irgendwas festhalten und hochziehen, was hinter der Grenze liegt. Lange genug versucht, die Mauer zu vergessen, dich abzufinden und einzurichten, die Wohnung mit Helga, die alten Möbel, das Auto, die Kunstbücher, hast tapeziert und gewerkelt und ein paar Sachen um dich herum aufgehäuft. Das dulden sie, das fördern sie, die Habgier hätscheln und nach Besitz streben, obwohl das auch nicht gerade sozialistisch ist, die bürgerliche Anschafferei bis zur Datsche und all dem Ramsch, aber was nützt dir das, wenn du eingemauert bleibst!

Immer wieder hat er auf eine Änderung der Politik gehofft, auf Tauwetter, auf Bruderküsse gegen Minenfelder, auf Reisepässe als Weihnachtsgeschenke. Biermann wird ausgebürgert, und kurz drauf gibt es Bücher, in denen mehr steht als vorher. Lernen sie da oben endlich, dass wir zufriedener werden, wenn die Leine länger wird? Dann stehen einige Frechheiten von Italiens Kommunisten im «Neuen Deutschland», da muss doch was folgen. Die Italiener sind die letzte Hoffnung, dass ein bisschen frischer Wind ins sozialistische Lager weht. Es folgt nichts. Höchstens eine Krise. Krisen machen Mut. Es bleibt, wie es ist, also wird es schlimmer, als es ist. «Noch eins, Herr Ober!» Du schaffst was ran und siehst, wie alles in den Suff sinkt. Musst nüchtern bleiben und höllisch aufpassen und rechnen, wenn du wirklich rauswillst. Der Schlosser weiß, was man tut gegen den Rost. Aber auf dich hören sie nicht. Sie kriegen es immer wieder hin, dass man enttäuscht zum Hammer, zum Putzlappen, zur Literatur und Philosophie zurückkehrt. Mit mir nicht mehr. Die Mauer abtragen, das schaffst du nicht, aber das Schlupfloch finden, irgendwo wirst du ein Schlupfloch finden. «Noch eins, Paul!» Ein mieser Beruf, das Kellnern, aber du kriegst zweimal so viel Geld wie die meisten und bist freier als die meisten. Bloß keine Illusionen mehr auf dem Tablett. Die Farbe blättert überall, aber du kriegst keine Farbe. Zwanzig Jahre steht die Mauer, zwanzig wird sie noch stehn, und die Welt zerrt dir an den Nerven, das Westfernsehen, die Bücher, die Kinderträume. Die sollen mich nicht mehr fertigmachen, ich geh jetzt meinen Weg, sagt sich Gompitz. Mein ganz persönlicher Fünfjahresplan: Ich geh meinen Weg allein, dahin, wo ich immer hinwollte, nach Syrakus wie Seume, und niemand darf davon wissen, auch nicht Helga!

Während er den Trabant über die F 110 durch Warrenzin, Zatnekow und Dargun steuert, versucht er sich an Seumes Route durch Italien zu erinnern. Das Buch mit dem witzigen Titel «Spaziergang nach Syrakus im Jahr 1802» hat er als Schüler gelesen und nie vergessen: ein Spaziergang! Auch ein Sachse, der Seume! Fast dreitausend Kilometer nach Italien und zurück!

Ohne Italien geht’s nicht in die Kiste! Das ist die neue Parole. Weit, verrückt weit muss das Ziel sein, Seume das richtige Vorbild. Und gegen das Motorengeräusch des Zweitakters brüllt er die Namen der Städte, durch die Seume getippelt ist, schmeckt sie ab und wiederholt sie immer wieder: «Triest! Venedig! Ancona! Terni! Rom! Neapel! Palermo! Syrakus!»

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2

– Wie will er das anstellen, er ist doch weder Funktionär noch Akademiker, Künstler, Sportler oder Seemann, also ohne Chance, mit vielfach genehmigten Papieren durch die Mauer zu fahren. Hat er Verwandte?

– Nein, nahe Verwandte im Westen kann er nicht vorweisen, und bis zum Rentenalter sind es noch fünfundzwanzig Jahre.

Es gibt zwei Wege, den amtlichen und den abenteuerlichen. Der erste, sagt sich Gompitz, führt über Anträge, da musst du drängeln, buckeln, warten, den zweiten musst du allein entdecken, planen, durchführen. Der legale und der illegale Weg, beide musst du vorbereiten, und wenn es Jahre dauert.

Wie kriegt man einen Besuchsantrag bei Verwandten im Westen, wenn man keine hat? Die Cousine in Solingen ist zwar eine Nichte der Stiefmutter, aber, als Cousine angesprochen und wenn sie Briefe bekommt, vielleicht die Brücke eines Tages. Gompitz hat Mühe mit dem ersten Verwandtenbrief nach Westdeutschland, sucht ein paar Sätze zusammen über Vater, Mutter, Onkel und Tante und Weihnachten und Ostern. Er unterschreibt als «Dein Cousin Paul» und hat das Gefühl, als erwachsener Mann zu dienern vor der dreizehnjährigen Göre, die Mitte der fünfziger Jahre mit ihren Eltern Dresden verlassen hat. Wie oft musst du dir das antun, «Dein Cousin Paul»?

Eine andere legale Möglichkeit könnte die Liga für Völkerfreundschaft sein. In der Hoffnung, eines Tages vielleicht in einer Delegation mitreisen zu dürfen, stellt er den Antrag, wegen seines Interesses an römischer Geschichte und deutscher Klassik in der Sektion Italien aufgenommen zu werden.

Kein Tag vergeht, an dem Gompitz nicht an Syrakus denkt. Auf den Fahrten der «Seebad Ahlbeck» zwischen Wolgast und Lauterbach blühen seine Phantasien, schon vergleicht er den Greifswalder Bodden mit der Straße von Messina und nennt Rügen das Sizilien des Nordens.

Es wird September, das Wetter kühl und diesig, die Urlauber wollen nicht am Strand frieren und trinken kräftig Korn und Wodka, der Rubel rollt, das Saisongeschäft belebt sich noch einmal. Nur bei Nebel steigen die Leute nicht gern aufs Schiff, der Urlauber will auf dem Meer das Land sehen und ein bisschen schaukeln, bei Nebel geht beides schlecht. Alle schimpfen, der Kapitän auf die Waschküche, die wenigen Fahrgäste auf die Verspätungen, die Kollegen, weil wenig Trinkgeld einkommt.

Das Schiff hält, von Radar geleitet, den vorgeschriebenen Kurs durch die Grenzgewässer. Gompitz lehnt an der Theke. Kein Land in Sicht, keine Sicht vom Land. Das ist es! Wasser kann man schlecht absperren. In dieser Suppe können die Grenzwächter auf ihren Kreuzern niemanden aufklären, höchstens mit Radar, aber mit einem kleinen Boot müsste man durchwitschen, das ist der Weg! Nichts mit falschen Pässen versuchen, nicht durch die Minenfelder robben, das ist nicht der Weg! Es ist ihm, als höre er den Nebel flüstern, den Nebel schreien: Hier wird dich niemand erkennen, hier ist das Loch, hier geht es raus!

Er weiß nicht, wie er über das Wasser kommen soll, mit welchem Fahrzeug und an welcher Stelle, aber er ist nun sicher, dass er über das Meer nach Syrakus starten muss. Als bald darauf in einem Brief der Liga für Völkerfreundschaft auf die Statuten verwiesen wird, die Liga sei nicht für Privatleute gedacht, sondern für Vertreter der Massenorganisationen, die für die Politik der DDR werben sollen, beschließt Gompitz, den abenteuerlichen Weg zu wählen und zuerst das Segeln zu erlernen, im Winter die Theorie, im nächsten Sommer die Praxis.

Ein Stapel Bücher reicht, und Paul verbringt den Winter zu Hause in Rostock auf dem Wasser und in Italien. Er hat in der Saison genug abkassiert, in den Wintermonaten serviert er nur Helga das Frühstück und Abendessen. Er kauft ein, rückt in den Schlangen vor, bis er Gemüse bekommt, und hält die Wohnung in Ordnung. Sie streiten weniger als früher, das Thema Trennung wird nicht berührt, aber Paul weiß, dass sie öfter daran denkt als er. Seinen Beschluss verrät er nicht, weil er sicher ist, sie würde es vor Angst nicht aushalten neben ihm. Er sagt nur: «Irgendwann möcht ich in meinem Leben nochmal nach Italien, warum haben wir bloß keine Verwandten in Italien!» Damit rechtfertigt er seine Lektüre und fängt ihren milden Spott ab: «Du mit deiner Italiensehnsucht!»

Während sie in der Bücherei Warnemünde arbeitet, studiert er jeden Vormittag drei Stunden lang das Segellehrbuch, lernt Begriffe wie Want und Ducht, Schwert und Pinne, segelt durch die Theorie Hoch am Wind, Vor dem Wind und mit Halbem Wind. Danach liest er zum zweiten Mal Seume, jeden Tag zehn bis zwanzig Seiten. Er spaziert mit ihm von Grimma über Dresden nach Prag und Znaim und Wien und durch die Alpen, im Januar durch die Alpen!, verfolgt den Weg von einer Stadt zur andern, immer den Atlas neben dem Buch, bis er die Route auswendig weiß und die wichtigsten Erlebnisse seines sächsischen Landsmannes im Gedächtnis hat.

Er stärkt seinen Mut an der Furchtlosigkeit Seumes, der vor seiner großen Wanderung in Amerika, in Russland und als russischer Offizier in Polen gewesen ist, dieser gescheite Abenteurer hatte einige Erfahrungen auf dem Buckel, die Paul gut zu brauchen meint. Er studiert genau, wie Seume Gefahren meisterte, wie er das Gerede der Leute über wirkliche Gefahren zu unterscheiden wusste von dummer Angstmacherei. Die Räuber und Mordbuben, die dir auflauern, hocken nicht in Italien, sie sprechen deine Sprache!

Einen Satz aus dem Vorwort streicht er an: «Meine meisten Schicksale lagen in den Verhältnissen meines Lebens; und der letzte Gang nach Sizilien war vielleicht der erste ganz freie Entschluß von einiger Bedeutung.» Vorsicht, denkt er, das ist eine Spur, und radiert den Strich weg, schämt sich sogleich seiner Feigheit und setzt nach kurzem Überlegen den Bleistift neu an, markiert die Stelle wieder und unterstreicht die letzten Wörter deutlicher als vorher. Der erste ganz freie Entschluß von einiger Bedeutung. So ist es, das sollen sie ruhig wissen, falls sie dir mal auf die Schliche kommen, diese Typen!

So geht der Winter dahin, und neben Helga liegend denkt er: Ich kehre ja wieder, mein Lieb! Wenn ich es schaffe rauszukommen, bin ich ein halbes Jahr später wieder hier, ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders auf der Welt zu leben als hier!

Eingesperrt oder an der Grenze erschossen zu werden, von solchen Ängsten lässt er sich nicht einschüchtern. Am meisten fürchtet er, nicht wieder in die DDR hereingelassen zu werden. Darum muss alles so sorgfältig und legal wie möglich geplant werden. Nie den Eindruck erwecken, einfach türmen zu wollen, um am Konsumrausch des Westens teilzunehmen, sondern strikt dabei bleiben: Ich ertrotze mir eine Bildungs- und Pilgerreise nach Italien auf den Spuren meines Landsmanns Seume, ich versuche alle legalen Wege, aber wenn man mich nicht lässt, dann such ich meinen Weg über das Meer!

Die einschlägigen Paragraphen des Strafgesetzbuchs hat er im Kopf. Wer die Grenzanlagen beschädigt, in Gruppe, unter Mitführung gefährlicher Gegenstände, als Vorbestrafter oder mit falschen Pässen türmt, begeht schweren Grenzdurchbruch und wird nach § 213 Absatz 2 mit bis zu sechs Jahren Haft bestraft. Allein, ohne falsche Papiere und Waffen, über das Wasser, das wäre ein einfacher Grenzdurchbruch, § 213 Absatz 1, der höchstens zwei Jahre kostet. Daran wirst du dich halten. Zwei Jahre Sitzen für sechs Monate Reisen, schlimm genug, aber das ist die Sache wert!

Ende April 1982 packt Paul wie in jedem Frühjahr den Kellnerkoffer, setzt sich in den Trabant, fährt an der Küste entlang und fragt in den HO-Kreisverwaltungen nach freien Stellen für die Saison. Eine feste Anstellung ist immer ungünstiger als die Position eines freien Gastronomen, denn wer sich früh bewirbt, bekommt oft die schlechteren Arbeitsplätze zugeteilt. Kellner ist ein Mangelberuf, also kann er sich unter den freien Stellen die beste aussuchen, mit seinen Zeugnissen nimmt man ihn gern.

Er hat den festen Vorsatz, in diesem Sommer das Segeln zu lernen, deshalb will er nicht wieder auf ein Schiff der Weißen Flotte. Als er beim Kreisbetrieb Rügen vorspricht, der sämtliche Gaststätten der Insel verwaltet, bietet man ihm die Leitung der Nachtbar «Zur Tonne» in Binz an. Paul kann es kaum glauben, plötzlich hat er, weil der bisherige Chef wegen einer Krankheit oder eines Verdachts ausfällt, einen der besten Jobs der ganzen DDR. In dieser Bar trifft sich alles, was Geld hat, die Berliner Schickeria, die Unterwelt, Künstler. Zweimal am Tag rollen die Züge aus Berlin in Binz an, die Leute kommen fast vor die Tür gefahren und fallen mit ihren vollen Brieftaschen in die «Tonne». Gompitz organisiert, wie er es gelernt hat, den Nachschub an Speisen und Getränken, dirigiert die Kellner und spielt zwischen acht Uhr abends und vier Uhr morgens den Gästen aus der Lebewelt den kumpelhaften Chef im Frack vor der Theke und hinter der Theke den Barmixer Paul. Er verdient gut wie nie, zu den tausend Mark Gehalt zweitausend bis dreitausend Mark Trinkgeld, und es ist erst Mai. Er sitzt in der Goldgrube und wünscht zu segeln.

In den freien Stunden fährt er die Dörfer am Bodden ab auf der Suche nach einem Segelclub. Anfänger sind nirgends gern gesehen, ein Mann mit vierzig macht Verdacht, man will unter sich bleiben. Paul ist es peinlich, sich ranzuschmieren wie ein Stasimann, aber es gibt keinen anderen Weg nach Syrakus. Anfang Juni findet er in Gager im Mönchgut einen Vorsitzenden, einen freundlichen Käptn, der ihn nicht abweist, und einen Club, in dem es nicht so streng zugeht. Paul weiß, dass man das Boot in den Wind legt, wenn man die Segel setzen will, dass man das Großsegel vor der Fock setzt, und kann, als der Käptn ihn mitnimmt aufs Hagen’sche Wiek und weiter hinaus in den Greifswalder Bodden, seine theoretischen Kenntnisse schnell mit den richtigen Handgriffen ergänzen. Er hat sofort Spaß an diesen Törns und denkt, warum hast du das nicht früher gelernt! Von Anfang an treibt ihn der Ehrgeiz, die 420er-Jolle, die normalerweise zwei Mann beschäftigt, allein zu beherrschen. Nach fünf Fahrten darf er an einem Vormittag die Segel allein anschlagen und anschäkeln und sich selbst zurufen: Leinen los! Zum ersten Mal allein auf den Wellen, in Sichtweite des Hafens, fühlt er sich bald den Regeln und Tücken von Wasser und Wind gewachsen. Er hat noch viel zu lernen, aber endlich geht es hinaus, ein Stückchen hinaus. Das Glück, die Küste des Landes entfernt zu sehen.

Wenn nur die Goldgrube in Binz nicht so weit von seinem Segelplatz entfernt läge! In der «Tonne» wächst die Arbeit, und Paul fürchtet, in dieser Saison ein reicher Mann zu werden, aber kein Segler. Er träumt von einem einfachen Job nah am Hafen. Er fragt in den Gaststätten von Gager, Groß Zicker und Lobbe nach einer Stelle. In der «Fischerklause» von Lobbe wird ein Kaffeekoch gebraucht. Kaffeekoch, das ist das Letzte, und Paul muss vor dem Gaststättenleiter flöten, er würde viel lieber hier arbeiten, in dem alten Fischernest, am schönen Strand von Lobbe, neben den wunderbaren Bergen des Mönchguts, im Naturschutzgebiet, die vielen Leute und die Snobs in diesem blöden Binz gefielen ihm nicht, er sei ein Naturliebhaber und Segler und möchte mal richtig segeln!

Eine ähnliche Begründung trägt er dem Direktor des Kreisbetriebs Rügen vor. Der schüttelt den Kopf, das ist noch nie vorgekommen, dass einer mitten in der Saison, Ende Juni, noch vor der großen Kasse im Juli, August, den besten Job der Insel aufgibt, vom Barleiter zum Kaffeekoch, von viertausend Mark auf tausend, der muss verrückt sein! Naturliebhaber? Aussteiger! Sie lassen ihn ziehen, genug Neider wollen Barleiter in der «Tonne» werden.

Paul weiß, dass sein Abstieg ihn verdächtig macht, mindestens ein Vermerk in der Akte, aber er kann nun in fünf Minuten an seinem Hafen sein. Die «Fischerklause» ist ein mieser Beatschuppen, mittags wird Küche gemacht für die Urlauber vom Zeltplatz, nachmittags verkauft Paul Kaffee und Kuchen, nachts gibt es Tanz und Krach bis Mitternacht. Er hat viel Zeit, kann den ganzen Vormittag und abends ein paar Stunden segeln, an Wochenenden und freien Tagen jede Minute nutzen. Bald hat er es geschafft, vom Vorsitzenden einen Schlüssel zu kriegen für die Boote, die am Steg angekettet liegen, und für den Schuppen, aus dem er die Segel holt. Bald wird es Routine, die Schoten anzustecken, durch die Leitösen zu ziehen und hinauszusegeln.

Er lernt mehr als das Gefühl für Wind und Gleichgewicht. Auf der Jolle, die Blicke konzentriert auf Wellen, Küste und Windrichtung, muss er nicht mehr an die Goldgrube denken, die er zugeschüttet hat, an die tausend Mark, die ihm jede Woche entgehen, und nicht an die meckernden Urlauber, die in diesem Sommer besonders unzufrieden sind. Wegen der Maul- und Klauenseuche in Mecklenburg sind im Frühjahr große Viehbestände notgeschlachtet worden, nun gibt es kein Fleisch, Fisch sowieso nicht, immer nur Eierspeisen, und die Leute stopfen sich zum Mittagessen lieber mit Kuchen voll, um nicht zum dritten Mal in der Woche Setzei mit Senfsoße essen zu müssen, nachmittags ist der Kuchen weg, ohne Kuchen kein Urlaub, und der Zorn trifft zuerst die Kellner. Nebenan in Polen regiert das Kriegsrecht, hier regiert der Mangel, und Paul verfolgt eisern seinen Plan: Du musst dein Boot beherrschen! Er übt Anluven, Abfallen, Halsen und Wendemanöver, mit dem Bug durch den Wind.

Nach jeder Ausfahrt aus dem Hafen von Gager rückt die Insel Vilm in den Blick, auf der die Bonzen aus dem Politbüro abgeschirmt ihren Urlaub verbringen. Für sie werden, das wissen die Kollegen aus Lauterbach, Fisch und Südfrüchte angekarrt, sie sitzen im Fleisch wie die Maden und verbieten Leuten wie Paul Gompitz das Reisen. Seine Flüche gehen über die Wellen Richtung Vilm, die Wut spornt ihn an, immer mutiger segelt er in jedes Wetter und lernt, die Jolle richtig auszureiten. Ehe er sich für dieses Jahr von Rügen verabschiedet, bringt er die praktische Prüfung für den Segelschein hinter sich und kauft in Gager für 6000 Mark eine Yxylon-Jolle.

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3

– Wie will er sich im Westen durchschlagen, ohne Geld bis Italien?

– An Geld fehlt es ihm nicht. Er weiß, dass der Westen teuer ist, das Essen, die Fahrten, die Übernachtungen, und er will nicht als armer DDR-Bürger um Almosen betteln.

– Aber er braucht DM!

– Hat er. Von Gästen, von Seeleuten, vom Schwarzmarkt. Das Problem ist nur: Wie kriegt man Westgeld in den Westen?

Paul misstraut seinem Staat, er fürchtet, die DDR-Mark könnte wie in den fünfziger Jahren durch einen Blitzumtausch von einem Tag auf den andern entwertet werden. Deshalb hat er seit Jahren DM