Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich - Friedrich Christian Delius - E-Book

Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich E-Book

Friedrich Christian Delius

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Beschreibung

Kassandra wird gekündigt. "Kassandra" ist der Spitzname eines durchaus heiteren Wirtschaftsredakteurs, der den Fehler hat, lieber eigenen Recherchen zu folgen als den Pressesprechern der Minister und Konzerne. Der in der Kantine schon mal die Frage stellte, welche Politiker wohl in die Hölle kommen müssten, nachdem sie jahrzehntelang eine vernünftige Einwanderungspolitik verweigert haben. Noch am Abend seiner Entlassung schreibt er weiter – nun im Tagebuch, frischer und frecher. Manchmal denkt er dabei an seine achtzehnjährige Nichte, die später vielleicht fragen wird: Wie war das damals im frühen 21. Jahrhundert, als Europa auseinanderbröselte? So konzentriert er sich auf die Vergewaltigung Griechenlands in der Bankenkrise. Und auf die Blindheit gegenüber China, das mit seiner Wirtschaftsmacht und antidemokratischen Ideologie immer näher rückt. Der gefeuerte Journalist flaniert durch Berlin und durch die deutsche Presse; er hört Jazz und das tektonische Beben der alten Weltordnung. Mit seinem Freund Roon, der nach Jahren in den USA nun Landarzt auf Rügen werden will, phantasiert er beim Wandern über die Kreidefelsen schon mal hundert Jahre voraus: wenn dankbare Chinesen der heutigen Kanzlerin ein Denkmal auf Rügen errichten. Ein widerborstiger, pointierter, hochpolitischer und hellsichtiger Roman.

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Friedrich Christian Delius

Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Kassandra wird gekündigt. «Kassandra» ist der Spitzname eines durchaus heiteren Wirtschaftsredakteurs, der den Fehler hat, lieber eigenen Recherchen zu folgen als den Pressesprechern der Minister und Konzerne. Der in der Kantine schon mal die Frage stellte, welche Politiker wohl in die Hölle kommen müssten, nachdem sie jahrzehntelang eine vernünftige Einwanderungspolitik verweigert haben.

Noch am Abend seiner Entlassung schreibt er weiter – nun im Tagebuch, frischer und frecher. Manchmal denkt er dabei an seine achtzehnjährige Nichte, die später vielleicht fragen wird: Wie war das damals im frühen 21. Jahrhundert, als Europa auseinanderbröselte? So konzentriert er sich auf die Vergewaltigung Griechenlands in der Bankenkrise. Und auf die Blindheit gegenüber China, das mit seiner Wirtschaftsmacht und antidemokratischen Ideologie immer näher rückt. Der gefeuerte Journalist flaniert durch Berlin und durch die deutsche Presse; er hört Jazz und das tektonische Beben der alten Weltordnung. Mit seinem Freund Roon, der nach Jahren in den USA nun Landarzt auf Rügen werden will, phantasiert er beim Wandern über die Kreidefelsen schon mal hundert Jahre voraus: wenn dankbare Chinesen der heutigen Kanzlerin ein Denkmal auf Rügen errichten.

Ein widerborstiger, pointierter, hochpolitischer und hellsichtiger Roman.

Vita

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, gestorben 2022 in Berlin, wuchs in Hessen auf und lebte seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit einundzwanzig Bände.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2023

Copyright © 2019 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Walter Hellmann

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00415-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Dalia

1

30.9.2017 | Aus heiterem Himmel, schön wär’s, wenn ich sagen könnte: aus heiterem Himmel.

 

Gefeuert, entlassen, rausgeschmissen. Na, was fällt ihm sonst noch ein, dem alten Hasen? Freigestellt, abserviert, abgebaut, kaltgestellt, fallengelassen, verjagt, rausgekickt. Gut, aber da gibt es noch mehr im Vorratslager: in die Wüste geschickt, in den Ruhestand versetzt, in die Rente abgeschoben, zum alten Eisen geworfen, abgehalftert, ausgeschieden. Ausgeschieden! Das ist es, fünf Tage nach der Bundestagswahl und zwei Jahre vor dem Rutsch in die Rente hat meine Zeitung mich ausgeschieden, fristgerecht zum Ende des Jahres. Vorsicht, ich stinke.

 

Als ich den Brief gestern Morgen auf dem Tisch liegen sah, wusste ich Bescheid, obwohl der Himmel heiter war. Solche Briefe kommen freitags. Während ich las, rasselten mir alle diese Wörter durch den Kopf. Danach der erste klare Gedanke: kein Amoklauf bitte. Im Gegenteil: weiterschreiben, noch heute! Wenn es keine Artikel und Kommentare mehr sein dürfen, dann irgendwas anderes, was du noch nie gemacht hast. Eine Art Tagebuch. Subjektiv jedenfalls, rücksichtslos, falls ich das überhaupt noch kann nach so vielen Jahren Fron und Fakten, Zahlen und Meinungsservice.

 

Dann rief ich Susanne an, auch für sie war die Kündigung keine große Überraschung, sie hatte bis zuletzt nur das eine oder andere Pfund Hoffnung mehr als ich. Sie war in der Pause, wir hatten nur zwei Minuten, ich erklärte die Lage. Mit der Übergangsregelung will der Verlag keinen Ärger haben, ein Vierteljahr darf ich das Haus noch betreten, vielleicht hin und wieder ein paar hundert Zeichen schreiben, mein Maulkorb soll nicht wie ein Maulkorb aussehen, die Blöße einer fristlosen Kündigung will man sich nicht geben. Auf den ersten Blick alles mitarbeiterfreundlich und «sozialverträglich». Ab Januar zahlt man zwei Jahre lang ein Dreiviertelgehalt, bis die Rentenkasse meinen Fall übernimmt bis zum Monat meines Hinscheidens. Den Anwalt können wir sparen, ich will nicht klagen, ich werde nicht klagen. Wir kennen uns lange genug, ich musste meiner Beamtin nicht erklären, dass wir ein Tendenzbetrieb sind und so weit alles regulär scheint. Ich wunderte mich hinterher trotzdem, wie sachlich ich blieb.

 

Statt auszurasten, einzuknicken oder loszubrüllen, war ich seltsam glücklich mit dem Gedanken: weiterschreiben, aber ganz anders, frei, endlich frei, wirklich frei! Freigestellt, zum ersten Mal gefiel mir der alte Zynismus der Arbeitgeber. Abends war ich dann doch zu gereizt anzufangen.

 

Heute sitz ich zu Hause vor dem eigenen Bildschirm. Bin froh, nicht den Fehler gemacht zu haben, am Morgen in einen Papierladen zu rennen und ein dickes leeres Heft zu kaufen, das dann vollgeschrieben werden will, mit schludriger Handschrift und schludrigen Formulierungen und dem unlustigen Druck einer selbstauferlegten Chronistenpflicht.

Nein, Profi bleiben an der heimischen Tastatur, eine neue Datei beginnen, der es egal ist, ob man 10 Seiten oder 10000 Seiten hintippt. Täglich ein paar Sätze festhalten, ein Tagebuch ohne jede Chronistenpflicht, besser: Aufzeichnungen – was denk ich, was seh ich, wo bin ich, was will ich! (Und wie verbessere ich meinen Eintrag von gestern?)

 

 

1.10. | Vorgestern Ancelotti, gestern ich, sagte ich an den Mülleimern zu der freundlichen italienischen Nachbarin vom Musikinstrumentenmuseum, die mich bedauerte. Ancelottis Entlassung – bei ihm nimmt man das vornehme Wort Trennung – überall in den Schlagzeilen. (Wer war Ancelotti? wirst du fragen, Leserin Lena. Ein Trainer beim meistgehassten und meistgeliebten Fußballverein der Zehnerjahre. Und wer ich war? Das sollen dir diese Notizen zeigen, liebe Nichte.)

 

Bin bestenfalls ein Ersatzspieler. Alle wissen es, sogar die Statistiken: Mit der gedruckten Presse geht es abwärts. Für meine Chefs bin ich ein Kostenfaktor, eine Nummer. Überall in unserer bibbernden Branche wird Personal gekappt. Lieber in den Redaktionen als beim Marketing und in der Verwaltung. Nicht immer auf einen Schlag, bei uns schleichend, sozialverträglicher Stellenabbau heißt das. Die Dax-Priester dürfen natürlich bleiben. Ich muss versuchen, mich nicht als Opfer betriebswirtschaftlicher Schmalhänse zu stilisieren, was für einen Ökonomen besonders peinlich wäre.

Trotzdem, es ist eine Ohrfeige, im besten Berufsalter die Ohrfeige eines Berufsverbots. Das brennt im Gesicht, ätzt den Verstand, nagt am Humor. Obwohl es natürlich kein Berufsverbot ist, wir leben nicht in der Türkei, sondern auch übermorgen noch in einer freiheitlichen Gesellschaft, in der ich weiter schreiben darf, Bücher, Blogs, Tagebuch und Poesiealben – und in zwei Jahren als Rentner frei bin, frei für andere Zeitungen. (Zwei oder drei gute Blätter wird’s noch geben 2020.)

 

 

2.10. | Es wäre kindisch, sich in dieser Lage zu bemitleiden. Ich werde mich nicht als Opfer betrachten, man kennt sein Berufsrisiko im Meinungsgewerbe. Meine Chefs stehen der Regierungspartei nahe, ich nicht. Sie hätscheln die Kanzlerin, die mit Ach und Krach wiedergewählte, ich nicht. Mich hat man für Globalisierungsfragen angestellt, daran hab ich mich gehalten, folglich gelte ich im Haus als ihr Kritiker. Man sieht nicht gern, wenn ökonomisch begründet wird, warum ihre Politik oft falsch und fatal wird und sie für das laufende und das kommende Desaster in Europa auf ihre listige oder naive Art mitverantwortlich ist. Nicht sie als Person, sondern sie als Repräsentantin der kurzsichtigen deutschen Interessen. Dabei sage ich nicht mehr als die meisten europäischen Fachleute. Und teile nicht den deutschen Dünkel, die Wahrheit gepachtet zu haben. (Pass nur auf, nicht selber so ein Pächter zu werden, hat meine kritische Gefährtin neulich gesagt.)

 

 

3.10. | Längere Telefonate mit Jürgen und Bernd, die letzten Freunde, die ich in der Redaktion noch habe. Beide raten mir zu bloggen, ab Januar dürfte ich das. Statt solcher Notizen lieber fesche Thesen schnitzen und ins Netz werfen. Aber heute bloggt doch jeder, der einen Computer starten kann. Allein im deutschen Sprachraum Zehntausende von entlassenen oder nie vorwärtsgekommenen oder edelpensionierten Schreiberlingen aller Richtungen, die bloggen und ihre Meinungen durchs Internet schaukeln. Jeder bloggt und jagt sein Zeug ins Netz und bedient doch nur einen größeren Freundeskreis, ein paar tausend Anhänger, eine Fangruppe. Jeder sein eigener Rechthaber, unangefochten. Das mag narzisstisch befriedigend sein, aber ich mag keine Gemeindebriefe. Für mich bleiben die Blogs, selbst die besten, selbst die, die meiner Sicht am nächsten kommen oder mich zum Widerspruch provozieren, simple Gemeindebriefe. Da können sie sich noch so world wide spreizen, die Pfauen, mit dem schönen Schein der Verbreitung bis ins Unendliche oder in die Clouds. Deshalb bin ich ja zur Zeitung gegangen, weil ich gerade die Leute informieren und überzeugen wollte, die nicht meiner Meinung sind oder sich erst eine bilden wollen, eine sachlich begründete Meinung. Nur wenn du Minderheit bist, kannst du ein guter Journalist sein. Zeigefinger und Rechthaber haben wir genug.

 

Aber deine Leser werden dich vermissen, sagt Jürgen. Dann sollen sie den Chefs die Hölle heißmachen und mir nicht hinterherweinen, sag ich. Und weißt du, wie viele es sind, a) die es merken, dass ich ab 1.1. fehle, b) die es bedauern, c) die protestieren? Na bitte.

 

Noch hab ich ihm nicht gesagt, dass ich manchmal auch erleichtert bin, nicht mehr im Wettbewerb der Fakten und Meinungen mithecheln zu müssen. Will ich wirklich so weitermachen? Die Frage ist noch nicht beantwortet. Weiterlachen ist die bessere Devise. Gerade an den Tagen der Einheit.

 

 

4.10. | Kassandra geht in Rente, hörte ich heute in der Kantine hinter mir tuscheln. So schnell geht das. Mein Spitzname ehrt mich sogar, natürlich wird man zum Schwarzseher gestempelt, wenn man ein bisschen genauer in die Bilanzen schaut und Finanzministern und Wirtschaftsministern nicht nach dem Mund redet und nicht mitspielt beim Nachschreiben von PR-Meldungen und beim Networking mit Pressesprecherinnen und Pressesprechern. Habe nur einen Horror vor der Schönfärberei. Und bin alles andere als ein Pessimist, höchstens ein taktischer Zweckpessimist, der sich gern freut, wenn es besser kommt als gedacht, sogar bei Wahlen und Fußballergebnissen. Diesmal kam es schlechter als erwartet, aber ich kann mir auf die Schulter klopfen: Immerhin, du hast es gewusst!

Hört her, ihr Tratschtüten aus der Kantine: Auch jetzt in der Stunde des Feierabends sitzt Kassandra noch vor dem Schirm, gleich geht Kassandra mit seiner Frau essen und einen Rotwein trinken. Freut euch nicht zu früh, Kassandras Blog wird es nicht geben!

 

Gestern Geburtstag der Schwägerin Ella. Die es Helmut Kohl zu verdanken hat, immer an einem Feiertag feiern zu können. Die deutsche Einheit war, wo ich zuhörte, kein Thema, bei den Jüngeren schon gar nicht. Längeres Gespräch mit der aufgeweckten Nichte Lena, Abiturientin, die genauer wissen wollte, warum man mich rausschmeißt. Gab mir Mühe, ein guter Pädagoge zu sein: Ich hätte nichts gegen die Wirtschaft, sie sorge für unseren Wohlstand, auch nichts gegen die soziale Marktwirtschaft, aber die werde verdrängt von der asozialen Finanzwirtschaft, das sei mein Thema, damit ecke man dauernd an. Den Zeitungen gehe es schlecht, es gebe zum Glück sehr viele sehr gute Journalisten in Deutschland, ich sei nun etwas älter, und so weiter.

Auch sie liest nicht mehr auf Zeitungspapier, sie verstand die wirtschaftlichen Argumente, witterte schnell meine Abneigung gegen die Regierung, bohrte nach, wollte wissen, ob und warum ich «gegen die Merkel» sei. Ich lobte die ruhige Art der Kanzlerin, ihre Überlegenheit gegenüber den Gockeln, ihren Flüchtlingsentschluss trotz miserabler Planung und kritisierte vorsichtig ihren machtbewussten Opportunismus, die hilflose Lobbyhörigkeit (die ökologischen und ökonomischen Torheiten samt Griechenlanddesaster erwähnte ich nicht).

Lena wollte ein Beispiel, ich erzählte von der Finanzkrise, als die Chefs der vom Staat geretteten Banken nur noch 500000 € im Jahr verdienen durften und die CDU/CSU trotzdem bald danach, 2010 schon, natürlich mit Wissen der Kanzlerin, den Antrag einbrachte, diese Grenze aufzuheben, extrem kurzfristig und klammheimlich, und der Bundestag binnen 24 Stunden abstimmte, ohne dass die Opposition sich richtig regen konnte. Und alles für den Chef der Commerzbank und ein paar andere Herren.

Sie hat gerade zum ersten Mal gewählt, in Opposition gegen die in ihren Augen eiserne, ewige Kanzlerin. Habe sie nicht animiert, ihr süßes Wahlgeheimnis preiszugeben, obwohl ich das zu gern gewusst hätte, vermute FDP oder Grün.

 

 

5.10. | Der heftigste Sturm des Jahres, man rät zum Zuhausebleiben. Meine Anwesenheit im Büro wird sowieso nicht mehr verlangt. Also nehme ich mir Home Office und hole die alten Jazz-CDs vor. Zum Sturmgebraus die alten Teufel am Piano, Oscar Peterson, Thelonious Monk, Herbie Hancock. Der Rückenwind der Musik! Während draußen Bäume stürzen und Kinder in das Licht der Welt hüpfen.

 

Für wen schreib ich das hier? Für mich oder Susanne in zehn Jahren oder, wer weiß das, in zwanzig. Um später gerührt oder verbittert auf dem Altersheimsofa nachzulesen, wie es damals war, als ich tapferer Ritter gegen die bedrohlichen Windmühlen der Wirtschaft vorzeitig in die Rente gescheucht wurde, wie ich durch die Krise anno 2017 gekommen bin. (Ach was, Krise, alles ist Krise. Der Redakteur in mir bleibt streng, ehrlicher wäre: Kränkung. Auch wenn die Kündigung absehbar war, sie ist eine schwere Kränkung, eine Gemeinheit.)

Nein, keine Nostalgie bitte. Auch wenn das hier keiner liest, beim Schreiben sollte ich hin und wieder an andere denken. An Lena zum Beispiel. Eine passende Adressatin, eine Brücke in die unbekannte Zukunft, dieser Gedanke kam mir gestern auf dem Rückweg vom Geburtstag. Wenn schon keine Kinder, keine Enkel auf meine Brocken warten, könnte meine aufgeweckte Nichte vielleicht irgendwann einmal, in zwanzig oder noch mehr Jahren, Interesse an den Aufzeichnungen ihres politischen Onkels haben: Wie war das damals am Anfang des Jahrhunderts, in den letzten Merkel-Jahren, als Europa bröckelte? Einverstanden, Leserin Lena?

 

 

6.10. | Das wird natürlich in zwanzig Jahren keine Sau interessieren: Eine neue Koalition bahnt sich an, jeder Politikermund schmeckt das Wort Jamaika ab. Auch bei uns im Haus plappern die meisten das so selbstgefällig nach, als fiele ihnen sonst nichts mehr ein. Adieu, ihr Papageien!

 

Ich erzählte Jürgen vom Tarpejischen Felsen im alten Rom, von dem man die Greise geschubst hat, die zu nichts mehr nützlich waren, nicht mal die Ziegen mehr melken konnten. Das wäre eine hübsche Idee für die Junge Union zur Sanierung der Rentenkassen, meinte er, aber seiner Ansicht nach seien Mörder und Verbrecher von diesem Felsen gestürzt worden, nicht Greise. Die staatstreuen Greise, sagte ich, sind da sogar freiwillig in die Schlucht gestürzt. Aber du kannst beruhigt sein, ich bin zwar staatstreu, aber ich werd mich nicht als vorbildlicher Staatsbürger im Vorruhestand vom Hochhaus stürzen, weil man mich die Ziegen nicht mehr melken lässt.

 

Wenn ich doch einmal spekuliere über die Motive meiner Leute: Gerade jetzt, könnten die gedacht haben, wo die neue Rechte so stark ist und ständig die Kanzlerin attackiert, noch dazu auf die unflätigste Art, da dürfen wir denen nicht noch zusätzlich Munition liefern, jetzt müssen Demokraten zusammenstehen, Nörgelei schadet da nur, da schicken wir Kassandra lieber in Rente. Jetzt vereint gegen rechts, da brauchen wir keine Störungen von links mehr, diese abgenudelte Kapitalismuskritik gibt’s doch sowieso an jeder Straßenecke, ein Augstein und eine Augstein reichen doch. Dass ich die Politik der M. mit ganz anderen Argumenten kritisiere, nämlich als Pro-Europäer, das ignorieren die einfach.

Freund Jürgen und ich nennen die Frau, vor der zwei Drittel unserer Kolleginnen und Kollegen in die Knie gehen (oder gingen bis vor kurzem), die MÜK, die maßlos überschätzte Kanzlerin. Mein letztes Vergehen vor der Wahl: habe die Weisheit und den Reformwillen Macrons höher eingestuft als die der MÜK. Da macht der Franzose in Athen, mit viel Pathos und Klartext, mit konstruktiver Kritik eine Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung der EU in Richtung Demokratie, Italien und Spanien lechzen nach solchen Reformen – er streckt die Arme aus, aber aus den deutschen Wäldern kommen nur Schweigen und der weiße Nebel wunderbar. Man überlässt die Kritik an der EU den Rechten. Das wird sich rächen, schrieb ich wörtlich. Ohne an meine Chefetage zu denken.

Alles Spekulatius. Ich nehme mich zu wichtig, ich bin nur ein Kostenträger, Punkt. Und koste ab 1.1. weniger, so einfach ist das. Und ich darf mich nicht auf die MÜK fixieren. Sie auch nicht mit dieser schönen Abkürzung aufwerten, sondern es beim M. belassen. Wenn ich merke, ins Magnetfeld der M.-Meinungen zu geraten, sollte ich sofort den Schalter umlegen und mich ablenken mit Gedanken an den zweiten großen Aufreger dieser Wochen, den Haarriss in Manuel Neuers Mittelfußknochen. Der Nationaltorwart wankt, Deutschland bangt: Wird dieser haarfeine Riss uns die Weltmeisterschaft kosten?

 

 

7.10. | Die Zeitungen immer noch voll mit Artikeln, die Talkshows fixiert auf die Frage: Wie konnte die rechte Truppe nur so weit kommen? Aber niemand hat diese Leute vor der Wahl mit Fragen gelöchert, am wenigsten die Plapperkollegen vom Fernsehen: Wer fährt Ihren Müll weg, wer pflegt Sie im Krankenhaus, wer legt Ihnen die Ware im Supermarkt zurecht? Fehlen bei Ihnen keine Feuerwehrleute und auf dem Land keine Ärzte? Welche Ingenieure sollen die neuen Brücken bauen, woher sollen die händeringend gesuchten Lehrlinge kommen, die Mathegenies? Wissen Sie nicht, dass wir pro Jahr 300000 Einwanderer brauchen, damit Sie noch eine erträgliche Rente bekommen und Ihre Enkel einen Kitaplatz? Die Falschfrager, wie Kollege B. sie nannte, die Flachfrager und Nichtfrager unter den Journalisten, die sich lieber am Nationalgewäsch erregen, können durchaus für ein paar Prozent der zwölfeinhalb Prozent dieser Rechtsaußenaufwertung verantwortlich sein, über die jetzt alle barmern.

 

Unsere Zunft war ein Jahrzehnt viel zu kniefällig und zahm vor der M., ihr wurden viel zu selten substanzielle Fragen gestellt oder nachgebohrt, darum sind die meisten Kolleginnen und Kollegen auch so scheu und zahm vor dieser sogenannten Alternative. Handzahm vor der Alternative für Dummheit, das rächt sich. Kritik wird ausgelagert, ausgesourct – an die Kabarettisten und die «heute show», während «heute» brav und fromm auf der Mittellinie bleibt.

 

Susanne meint hin und wieder, ich solle mich mit einem Buchprojekt ablenken. Klar, das wäre die angenehmste Lösung. Aber die Welt ist so voll von Büchern und Meinungen, ein gnadenloser Verdrängungswettbewerb, da genieße ich lieber den größeren Luxus, an keine Abnehmer, Anhänger, keinen Markt zu denken, für mich allein zu schreiben, niemanden informieren und überzeugen zu wollen, zu müssen, nicht einmal Susanne und Lena irgendwann. Natürlich könnte ich auch jammern: Mit so viel aufklärerischem Elan angefangen vor vierzig Jahren, nach dem «Deutschen Herbst» (ein Thema für sich, Lena, bitte googeln oder mich fragen, falls ich noch antworten kann). Es ist genug Terror in der Welt, dachte ich damals, unsereiner hat nur ein Mittel dagegen: nach der Wahrheit fahnden, nach den Wahrheiten! Nicht die Leute bestätigen, sondern ihnen was zu denken geben. Zur Wirklichkeit vordringen, schon das ist nicht beliebt. Zur Wirklichkeit vordringen heißt: zur Wirtschaft vordringen. Das ist noch weniger beliebt.

 

 

8.10. | Dass bei so einem heftigen Sturm dicke Bäume umfallen, ist nicht verwunderlich. Aber ich habe gestern einige kleine, mickrige Bäume gesehen, die dem Wind überhaupt keine Angriffsfläche boten – und flach und entwurzelt auf der Straße lagen. Wer erklärt mir das?

 

Nach einer dieser unseligen Scheuklappen-Talkshows platzte es aus meiner Deutschlehrerin heraus: Einmal nur möcht ich diesen Abendlandmuffeln den Satz des kerndeutschen Friedrich Schiller hinwerfen: «Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens. Bildet, ihr könnt es, freier dafür, zu Menschen euch aus.»

 

 

9.10. | Wenn ich am Pförtner vorbei und dann durch die Gänge zu meinem Zimmerchen gehe, grüßend, an Gesichtern vorbei, die nicht wissen, ob sie mitleidig gucken sollen oder erleichtert, dass es nicht sie erwischt hat, dann tut sie durchaus weh, die Ohrfeige. Mit 63, auf dem Höhepunkt meiner Kenntnisse, Erfahrungen und bescheidenen Fähigkeiten einfach stummgeschaltet. Was für eine Verschwendung, auch für die Zeitung, die so viel in mich investiert hat. Aber ich werd mich nicht lächerlich machen und darauf pochen, was ich über zwanzig Jahre lang für unser Blatt getan habe, haufenweise Artikel und Kommentare, endlose Dschungel aus Zahlen, Statistiken, Managerfloskeln, Bilanzen durchforstet und durchforscht, tausend Recherchefragen mit stichfesten Belegen zu beantworten und ökonomisches Latein in gutes Deutsch zu übersetzen versucht. Soll ich dem Personalchef wie ein trotziger Schuljunge mein Zwischenzeugnis zeigen mit höchstem Lob für alle meine Tätigkeiten? Nee, weine nicht, wenn der Regen fällt. Tam tam, tam tam!

 

 

10.10. | Mea culpa, könnte ich sagen, wenn ich ein guter Katholik wäre. Und dir in Kurzfassung meine Vergehen auflisten, damit du deinen Onkel besser verstehst, Lena. Ja, ich gestehe, ich hab mich mit Kommentaren und Berichten wiederholte Male unbeliebt gemacht bei den deutschen Holzköppen und BWL-Hänschen, am meisten in der Griechenlandfrage. Aber wer einmal kapiert hat, wie die Bankenkrise zur Eurokrise umgelogen, die Deutschen zu Griechenhassern und die Griechen zu Deutschenhassern gemacht wurden, nur weil die feinen Banker und Banken von Hass, Kritik und Verlusten verschont werden sollten und das System auf Teufel komm raus angeblich «alternativlos» gerettet werden musste, der kann sich in diesem Sinn nur schuldig machen. Wer sagt, was war, und bei dieser oder jener Gelegenheit erwähnt, dass die Hunderte von Milliarden Euro, die angeblich nach Griechenland gingen, zu rund 90 % sofort als Zins und Tilgung an die europäischen Banken zu deren Rettung nach Frankfurt, Paris usw. flossen, muss auf Strafen gefasst sein. (Aber was kann ich dafür, dass wir so wenige sind und leider so viele schwachmatische, von der internationalen Fachwelt verlachte deutsche Nationalökonomieprofessoren haben.)

 

Die Mea-culpa-Liste wäre viele Seiten lang, die werd ich mir ersparen. Aber wenn Lena oder wer immer mich bittet: Hör doch auf zu meckern, hör auf, mit deiner Kritik anzugeben, sag doch mal, was du politisch willst, positiv, dann könnte ich Ulrich Beck zitieren von anno 2011: «Was die Ostpolitik der siebziger Jahre im geteilten Deutschland war, sollte angesichts der Finanzkrise die Europapolitik heute sein: Vereinigung über Grenzen hinweg. Warum war die unendliche Kosten verursachende Vereinigung mit der DDR selbstverständlich, warum ist die wirtschaftspolitische Integration der Schuldnerländer wie Griechenland und Portugal dagegen verpönt? Es geht darum, Europas Zukunft und seine Stellung in der Welt neu zu denken und zu gestalten. Mehr Europa!»

 

Wie gerne würde ich unsere politischen Dauerplauderer einmal staunen, richtig staunen sehen. Wenigstens über Gravitationswellen, die neulich in den USA und in Europa gemessen wurden, die minimalen Reste der Erschütterungen im Weltall beim Zusammenprall von zwei Schwarzen Löchern vor 1,8 Milliarden Lichtjahren. Milliarden! Lichtjahre! Mal schön unsachlich gesagt: Ein schwarzes Loch ist im Bundestag angekommen (und paart sich jetzt mit der schwarzen Null, haha), und es bleibt beim allgemeinen Austausch von Halbwahrheiten mit der Halbwertzeit von ein, zwei Tagen.

Jetzt kriegen die Physiker, die solche Messungen ermöglicht haben, den Nobelpreis. Für die Kunst des Staunens gibt es immer noch keinen.

 

 

11.10. | Genau einen Tag nach dem Entlassungsbrief meldete sich mein alter Schulfreund Fritz Roon wieder, Kardiologe an einer Uniklinik in Baltimore. Jahrelang nichts von ihm gehört. Nun berichtete er in wenigen Sätzen von seiner Karriere, seiner Familie, seiner Scheidung und gab zu, dieser seltsam kranke Präsident der USA, der leider weder bei ihm noch bei den psychiatrischen Kollegen in Behandlung sei, habe bei ihm den Wunsch geweckt, seine Kontakte nach Deutschland wieder «wachzuküssen». Er wolle mir nicht lästig fallen, aber … Natürlich antwortete ich ihm, überrascht und erfreut, dem besten Kumpel neben mir auf der Schulbank am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Eschwege und vor oder hinter mir auf dem Fahrrad beim Anstieg auf den Hohen Meißner. Berichtete ihm von meiner steilen Karriere abwärts ins Tal der Frührente.

Carpe diem reicht nicht, mailte er jetzt zurück, typisch Mediziner: Genieße jeden Schritt!

Hat Apple deshalb die Schrittzähler in unsere Telefone installiert?

 

Langsam lernen, Ich zu sagen.

 

 

12.10. | Seidenstraße – ein Wort, das auf der Zunge zergeht, ein magisches, morgenländisches Versprechen. Ich halte jedesmal inne, wenn es mir begegnet. Der Plan ist politisch genial: ein Netz moderner, chinesisch dominierter Handelswege durch alle Kontinente, Aufschwung, Freundschaft, Frieden und bessere Zukunft für alle versprechend. Nehme mir vor, die Antennen mehr in diese Richtung auszufahren.

 

Je mehr Zeit ich habe, desto mehr Verdrängtes kommt hoch, zum Beispiel die Nebenwirkungen der ökonomisch und politisch idiotischen Griechenlandpolitik: wie mit der erzwungenen und hastigen Privatisierung den Chinesen der Hafen von Piräus fast geschenkt wurde, wie sie nach Europa eingeladen wurden. Ein «Brückenkopf» der neuen Seidenstraße. Aus Dummheit lassen wir uns von chinesischen Firmen erobern oder erleichtern ihnen zumindest die Eroberungen. Vielen Dank, Herr Sarkozy, Frau Merkel, Herr Schäuble, Herr Dijsselbloem! (Entschuldige, Lena, du wirst in welcher Zukunft auch immer einige Namen googeln müssen, ich kann sie hier nicht alle erklären.) Arrogant und selbstzufrieden, wie sie sind, meinten unsere neoliberalen (sie so zu nennen gilt im Blatt schon als ideologisch) Experten, die Griechen über Marktwirtschaft belehren und die Privatisierung befehlen zu müssen, während die Chinesen Fakten schaffen und danke sagen. Schon deine Generation, Lena, wird bald merken, was wir für Trottel waren zu Anfang des 21. Jahrhunderts. Es ist ein Gemeinplatz, der Westen ist im Abstieg, China steigt auf. Wo die EU Risiken sieht, sieht China Chancen. Aber unsere Sparfüchse und Bankenschmeichler verschenken Griechenland an China. In gut zehn Jahren werden die Chinesen, und nicht nur ihre Roboter, den Weltmarkt beherrschen, auf den zehn wichtigsten Märkten wollen sie führend sein. Und wir dürfen sagen: Wir haben mitgeholfen.

Auch ich müsste mehr in diese Richtung, in die wahrscheinlichste Zukunft schauen: auf die riesigen Investitionsprojekte in aller Welt, aber eben auch in Griechenland, Mazedonien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Ungarn.

Im chinesischen ICE von Wien oder Budapest nach Athen rollen, vielleicht werd ich das noch erleben.

 

Fahre wieder öfter mit dem Rad in die Redaktion. Wer absteigt, muss mobil bleiben. Auch wenn es die Rechtsabbieger auf mich abgesehen haben.

 

 

13.10. | Schöner Satz des Fußballers Müller: «Wir haben die Qualität, wir müssen sie nur auf die Wiese bringen.» Meine Wiese ist jetzt diese Datei.

 

 

15.10. | Eine besonders kluge und sympathische freie Journalistin, Außenpolitik, wurde neulich beim Sturm von einem Baum erschlagen. Und in unserm Haus: Der vom Sport kämpft immer noch mit der Prostata, wie sein Vorgänger, der daran starb. Der vom Feuilleton, ein heiterer, pfiffiger Mensch, hatte Lungenembolie. Die Redakteurin Innenpolitik Brustkrebs. Alle jünger als ich. Gehöre immer noch nicht zur Generation Betablocker. Keine Klagen bitte.

 

Erst recht nicht vor Kolleginnen und Kollegen nach den Konferenzen, auf den Gängen, in der Kantine, wenn sie mich mit Worten (selten) oder Blicken (häufig) bedauern. In Würde (deutsche Sprache schöne Sprache), in Würde auftreten und abtreten. Tratsch und Interna nicht noch in diesen Aufzeichnungen aufwerten.

 

 

16.10. | Ein Brandanschlag auf eine Synagoge soll «nicht antisemitisch» sein? Sondern «politisch motiviert», von wegen «Kritik an Israel»? Geht’s noch, ihr Oberlandesgerichtsrichter? Wo lebt ihr? In Düsseldorf?

 

 

17.10. | Hältst du deinen Onkel für einen Feigling, Lena? Weil er seine Entlassung so einfach hinnimmt? Erwartest du, dass ich mich räche an meinen Chefs mit List und Gewalt und nachdenke über eine raffinierte Attacke, einen Anschlag, eine schöne spektakuläre Aktion? Nein, einen Krimi kann ich dir nicht bieten, einen Helden auch nicht. Meine Rachegelüste und anderen finsteren Triebe gehen nicht weit genug, um zur Pistole, zum Gift oder zu einer Machete zu greifen. Nicht mal zu einer Klageschrift.

Du musst wissen, ich hab schon mal einen strengen Verweis bekommen, vor zwei Jahren. Wir waren in der Kantine zu laut geworden, ich hatte in der FAZ etwas über den mittelalterlichen Dichter Dante gelesen. Der hatte es gewagt, drei Päpste, die er erlebt hatte und die in seinen Augen zu Sündern geworden waren, in die von ihm gebaute Hölle zu schicken und ihre Strafen und Qualen genüsslich auszumalen. Was für eine Ketzerei und Frechheit!

Wenn ich so ein Dante wäre, hatte ich zu den Kollegen Jürgen und Bernd am Tisch gesagt, würde Helmut Kohl in der Hölle braten, weil er das Dogma verkündet und zwanzig Jahre verfochten hat, Deutschland, das längst ein Einwanderungsland war, sei kein Einwanderungsland. Wir waren uns einig: Mit der Politik der Abweisung, der Verdächtigung der sogenannten Fremden, der «Ausländer», die bis heute durchschlägt, hat er dem Land schwer geschadet. Ebenso müsste Frau Merkel in der Hölle sitzen, weil sie darin Kohl gefolgt ist und sogar das vernünftige und auch in der CDU anerkannte Einwanderungsgesetz der Schröder-Regierung von 2002 erst befürwortet und dann auf Druck der CSU und einiger Scharfmacher der CDU abgelehnt hat. Der eine wegen seines Prinzips höllenwürdig, die andere wegen ihres Opportunismus.

Wir waren in guter Stimmung, nach Redaktionsschluss, und haben noch ein paar ähnliche Argumente pro oder kontra Hölle durchgespielt. Ohne uns wie der radikale Herr Dante spezielle Strafen auszumalen. Dummerweise waren wir etwas zu eifrig und laut. In der Nähe saß jemand mit Gästen von auswärts, die Beschwerde landete beim Chef.

Der konnte sich gar nicht einkriegen, das Wort Hölle im Zusammenhang mit der Kanzlerin, und das von Redakteuren einer bürgerlichen Zeitung! Wenn das nach außen dringt! Und so weiter, und so weiter. Er hätte mich damals schon gern rausgeschmissen. Mein Argument: Ich hab doch nur im Konjunktiv gesprochen! Wenn ich Dante wäre, habe ich gesagt, ich bin aber nicht Dante, der ist siebenhundert Jahre tot, und ich hab leider gar nicht zu entscheiden, wer in die Hölle sollte – es nützte nichts.

(Das kommt davon, wenn man ausnahmsweise mal das Feuilleton liest. Ein Artikel von F.C. Delius über den «frechsten Dichter aller Zeiten», der hat mich frecher gemacht als erlaubt. Die Achtundsechziger sind schuld!)

Der größte Witz kommt jetzt, auch deshalb erzähle ich die alte Geschichte: Wegen ihres miserablen Wahlergebnisses ringen sich die Christdemokraten, dank des Drucks von FDP und Grünen jetzt bei den Sondierungen, endlich zum Plan eines Einwanderungsgesetzes durch – das sie vor 15 Jahren schon in viel besserer Form hätten haben können. Wie bei der Energiewende – erst macht die M. als Atomkanzlerin ein gutes Gesetz rückgängig, aus Opportunismus, dann passiert ein Atomunglück, und es droht ihr ein Wahlunglück, und sie lässt, aus neuem Opportunismus, als Klimakanzlerin, ein neues, aber schlechteres, für den Steuerzahler viel teureres Gesetz bauen und sich von ihren Claqueuren dafür als Energiewendekanzlerin feiern, die maßlos Überschätzte.

Ein Einwanderungsgesetz, bei dem man die Humanitätspflichten von Wirtschaftsinteressen und die eigenen Bedürfnisse von denen der Flüchtlinge unterschieden, Rechte und Pflichten ähnlich vernünftig wie in den USA, Kanada oder Australien definiert hätte. Vor solchem Regelwerk für solide Integration hat sie nicht nur 2002 gekniffen, sondern all die Jahre, sogar nach ihrem mutigen Satz «Wir schaffen das», aus Angst vor den Rechten. Um mal wieder vom Haarriss in den Füßen der Nation zu sprechen: Weil jener Satz nicht ordentlich begründet, nicht mit Plänen konkretisiert, nicht offen und offensiv vertreten wurde und die krankhafte bürokratische Exklusion der «Ausländer» weitergeht, ist der Haarriss im deutschen Fuß so schwer heilbar geworden. Feigheit vor der eigenen Courage nannte man das in Zeiten, als das Wort Courage noch kein Fremdwort war.

 

Keine Sorge, Lena, an die Hölle glaubt hier und heute im Jahr 2017 niemand.

 

 

18.10. | Der Chor der Spötter über den amerikanischen Präsidenten ist groß genug, da muss ich nicht mitsingen, nicht in diesen Aufzeichnungen. Nach seiner Wahl reichte mir der Satz: 50 Jahre Verblödungsfernsehen können doch nicht umsonst gewesen sein. Es ist allzu leicht, bei diesem Herrn recht zu haben und Witze zu machen. Aber er lässt uns politisch denkfaul und einfältig werden, wenn wir meinen, das sei schon politisch, gegen ihn zu sein. Dabei gibt er harte Nüsse zu knacken.

Warum reizt es mich heute, den öffentlichen Satz eines republikanischen Senators über den Präsidenten festzuhalten? «Es ist eine Schande, dass das Weiße Haus zu einem Pflegeheim für Erwachsene geworden ist.» Nur weil die Bosheit so elegant formuliert ist? Oder weil ich doch jeden Tag hoffe, dass er strauchelt, damit wir ihn nicht ernst nehmen müssen. Jedenfalls ein ergiebiges Gesprächsthema, dieser Kerl, mit Roon in unseren Mails und mit Susanne beim Fernsehen oder in der Kantine und mit den Freunden: kein Tag ohne Mister T.

 

Kleinkindgruppe im Laub, beim Suchen möglichst großer, schöner Blätter. Auch bei Vierjährigen ist das Haupt- und Spitzenwort: cool. «Guck mal, so groß: cool!»

 

 

19.10. | Vogeldeuter! Wenn wir uns ein bisschen aufpumpen wollen, sagte Kuno, der Chef der Journalistenschule, nennen wir uns Journalisten. Wenn wir die Luft rauslassen, Zeitungsschreiber. Wenn wir uns beschimpfen, steht uns ein gut gefülltes Arsenal von Wörtern zur Verfügung. Aber in Wahrheit sind wir nicht viel mehr als Vogeldeuter, nicht viel besser als die Auguren der alten Römer, die aus dem Vogelflug deuten, ob ein Vorhaben den Göttern gefallen könnte oder nicht. Nur darum ging es den Römern, sie wollten nicht die Zukunft lesen aus dem Vogelflug und den Eingeweiden, sie wollten wissen, was den Göttern gefallen oder missfallen könnte, ob man einen Plan durchführen, absagen oder verschieben sollte. Für uns aus dem Ressort Wirtschaft sind Firmen, Banken, Ministerien, Volkswirtschaften die Götter. Unsere Vögel sind die Zahlen: Gewinn, Rendite, Dividende, Umsatz, Statistiken. Auch für das Handwerk der Vogeldeutung gibt es Regeln, es macht einen Unterschied, ob ein Schwarm Sperlinge nach Westen abdreht oder ein Adler nach Süden. Wir kennen das, Bilanzen lesen kann auch nicht jeder, sagte Kuno, sogar viele Wirtschaftsredakteure nicht. Er war aus der strammen Schumpeter-Schule (bitte googeln, Lena). Heute gebe ich ihm recht: Wir sind die Priester des Aberglaubens an die Zahlen, an die je nach Bedarf neu gemischten und anders deutbaren Zahlen. Wir sind Vogeldeuter, weiter nichts.

Ein Vogeldeuter bin ich, ja – immer noch besser als Vogelfänger.

 

Aufzeichnungen eines abgestürzten Vogeldeuters. Das wäre die Leitlinie. Was kommt da wie aus China angeflogen, mit welchen Zielen?

 

Die Zeiten sind zu aufregend, um nicht über sie zu schreiben. Man will reagieren, und sei es mit kleinen Randbemerkungen. Die laufenden Ereignisse zu beschweigen ist, Seneca hin oder her, jedenfalls auch keine Lösung.

 

 

20.10. | In der U-Bahn kochte sie mal wieder hoch, die Wut: In zwei Monaten fährst du nicht mehr zur Arbeit.

Die Gesichter rundum, als wären die Leute auch gerade rausgeschmissen worden. Jeder trägt seine Kündigung auf der Stirn.

 

 

22.10. | Als ich im Sommer anhand des neuen Buches von Yanis Varoufakis «Die ganze Geschichte» den Griechenlandschlamassel auf einer Seite darstellen wollte, hieß es: Nicht im Wahlkampf! (Es hatte sich herumgesprochen, wie zerstritten Frau M. und Herr Sch. in dieser Frage waren.) Nun, nach der Wahl und nach der Kündigung, machte ich, ohne Hoffnung, einen neuen Anlauf. Jetzt heißt es: ich solle mich in meiner Lage nicht mehr exponieren (auf dem Abstellgleis). Man lässt mich ins Büro und an die Datenbanken, aber schreiben, auch noch Gutes über die bösen Griechen und den Buhmann Nummer 1, denkste!

 

Vorteil des Tagebuchs: die eigenen Dummheiten von denen der übrigen Welt trennen. Im Blog, bei Twitter, Facebook usw.: die eigenen Dummheiten mit denen der restlichen Welt vermanschen.

 

 

23.10. | Nein, will mir kein Buchprojekt aufladen, erst mal jedenfalls nicht. Susanne wünscht ja schon lange und drängt jetzt wieder, dass ich über ihren Onkel schreibe, der in einem Altersheim bei Hannover sitzt und in der Geschichte der Bundesrepublik eine winzige, aber wichtige Rolle gespielt hat, ein linker Lehrer, der Ulrike Meinhof der Polizei ausgeliefert hat und dafür sein halbes Leben lang als Verräter beschimpft und belästigt wurde. Das war anno 1972, das ist bald ein halbes Jahrhundert her. Tut mir leid, mich interessiert der wirkliche Verrat, der Verrat von heute.

 

Der Verrat vor der Haustür in Malta zum Beispiel. Wo die Journalistin Daphne Caruana Galizia von einer Autobombe getötet wurde, Mitarbeiterin an den Panama Papers. Sie hatte Belege für die mafiösen Strukturen ihrer Regierung geliefert, die offenbar Geldwäsche, Ölschmuggel, Drogengeschäfte, Steuerflucht fördert und den finsteren Vertretern dieser Branchen aus Russland, China, Vorderasien auch noch EU-Pässe verkauft. Mitten in der EU ist es lebensgefährlich geworden, investigativ zu arbeiten. Und die Regierung scheint die Aufklärung des Mords verhindern zu wollen. Es rächt sich, dass die EU