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Krisen sind Prüfsteine für jede Demokratie – und Momente, in denen Macht sich oft schneller ausweitet, als Rechte zurückkehren. Der Staat im Ausnahmezustand zeichnet anhand prägnanter historischer Fallstudien nach, wie Regierungen in den letzten 100 Jahren auf Krieg, Terror, Wirtschaftskrisen und Pandemien reagierten – und welche Spuren dies in Gesetzgebung, Gesellschaft und Machtstrukturen hinterließ. Von der Weimarer Republik über den Kalten Krieg bis zu 9/11 und der COVID-19-Pandemie zeigt Tilman W. Birkenfeld, wie sich wiederkehrende Muster abzeichnen: Angst als politischer Katalysator, "temporäre" Maßnahmen, die dauerhaft werden, und juristische Grauzonen, die sich in Normen verwandeln. Ein sachlich-recherchiertes, aber pointiert formuliertes Werk, das historische Erkenntnisse mit aktueller Brisanz verbindet – und eine zentrale Frage stellt: Wie können Bürger ihre Freiheit auch in Zeiten größter Unsicherheit bewahren?
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Seitenzahl: 116
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tilman W. Birkenfeld
Der Staat im Ausnahmezustand – Lehren aus 100 Jahren Notstandspolitik
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Teil I – Historische Fallstudien
Kapitel 1: Weimarer Republik & Artikel 48
Kapitel 2: Zweiter Weltkrieg & Totalmobilisierung
Kapitel 3: Kalter Krieg & „Innere Sicherheit“
Kapitel 4: Indiens Notstandsperiode 1975–1977
Kapitel 5: 9/11 und der „War on Terror“
Kapitel 6: Finanzkrise 2008
Kapitel 7: Französischer Ausnahmezustand nach den Terroranschlägen 2015
Kapitel 8: Türkei nach dem gescheiterten Putsch 2016
Kapitel 9: COVID-19-Pandemie
Teil II – Analyse & Mustererkennung
Kapitel 10: Der politische Mechanismus
Kapitel 11: Rechtliche Grundlagen & Grauzonen
Kapitel 12: Medien und öffentliche Meinung
Teil III – Lehren für die Zukunft
Kapitel 13: Was Bürger aus der Geschichte lernen können
Kapitel 14: Widerstand, Reform & Resilienz
Kapitel 15: Handlungsempfehlungen
Schlusswort
Impressum neobooks
Ausnahmezustände sind keine Randnotizen der Geschichte – sie sind ihre Wendepunkte. In solchen Momenten entscheidet sich, ob eine Gesellschaft gestärkt oder geschwächt aus einer Krise hervorgeht. Wer in die Vergangenheit blickt, erkennt, dass jede Epoche ihre eigenen Begründungen fand, um Freiheiten einzuschränken: Krieg, Terror, Wirtschaftskollaps, Seuchen. Die Begründungen wechselten, die Muster blieben.
Dieses Buch entstand aus der Überzeugung, dass die Auseinandersetzung mit diesen Mustern kein rein akademisches Interesse ist, sondern eine Notwendigkeit für jeden mündigen Bürger. Denn Macht neigt dazu, sich in Krisenzeiten auszudehnen – und nur selten zieht sie sich freiwillig wieder auf ihr ursprüngliches Maß zurück. Die politischen, juristischen und gesellschaftlichen Mechanismen, die dies ermöglichen, sind über Jahrzehnte erstaunlich stabil geblieben.
Wir leben heute in einer Zeit, in der sich Informationen schneller verbreiten, Narrative gezielter gesetzt und Entscheidungen in nie dagewesenem Tempo getroffen werden. Das kann zum Schutz und zur Stabilisierung dienen – oder zur dauerhaften Verschiebung des Machtgleichgewichts. Der Unterschied liegt nicht nur in der Absicht der Regierenden, sondern vor allem in der Wachsamkeit der Regierten.
Das Ziel dieses Werkes ist es, nicht nur historische Beispiele zu liefern, sondern Strukturen erkennbar zu machen. Wer versteht, wie in der Weimarer Republik, im Kalten Krieg, nach 9/11 oder während der COVID-19-Pandemie mit Notstandsmaßnahmen umgegangen wurde, kann aktuelle Entwicklungen besser einordnen. Die Kapitel zeigen, dass jede Einschränkung, so begründet sie auch erscheinen mag, immer den Keim einer möglichen Dauerlösung in sich trägt.
Dieses Buch richtet sich an alle, die nicht warten wollen, bis ihre Rechte auf dem Prüfstand stehen, sondern jetzt verstehen möchten, wie sie im Ernstfall handeln können. Es ist eine Einladung, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für die Gemeinschaft und für die politische Ordnung, in der wir leben.
Möge die Lektüre nicht nur Wissen vermitteln, sondern den Willen stärken, Freiheit auch dann zu verteidigen, wenn sie im Namen der Sicherheit zur Verhandlungsmasse wird.
Die Weimarer Republik entstand aus den Trümmern einer untergegangenen Ordnung. Der Erste Weltkrieg hatte nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich und moralisch tiefe Wunden geschlagen. Das Kaiserreich war Geschichte, der Kaiser ins Exil geflohen, und eine völlig neue Staatsform trat an seine Stelle – eine Republik, die von Anfang an unter einem schlechten Stern stand. Das Land war durch den Versailler Vertrag belastet, der nicht nur hohe Reparationszahlungen und Gebietsverluste vorschrieb, sondern in den Augen vieler Deutscher eine regelrechte Demütigung darstellte. Diese Ausgangslage prägte die politische Kultur der folgenden Jahre: Misstrauen, Groll und das Gefühl, von äußeren Mächten bevormundet zu werden.
Die politischen Lager waren tief gespalten. Auf der einen Seite radikalisierte sich die kommunistische Bewegung, die nicht selten offen auf eine Revolution nach sowjetischem Vorbild hinarbeitete. Auf der anderen Seite sammelten sich Monarchisten, Nationalisten und paramilitärische Verbände, die die Republik von Beginn an ablehnten. Zwischen diesen Extremen versuchten gemäßigte Kräfte zu regieren, doch ihre Koalitionen waren fragil, oft nur durch den kleinsten gemeinsamen Nenner verbunden. Regierungen hielten nicht selten nur wenige Monate, bevor neue Wahlen ausgerufen oder andere Kabinette gebildet werden mussten. Diese ständige Wechselhaftigkeit erzeugte den Eindruck einer handlungsunfähigen Politik, was das Vertrauen der Bürger in das demokratische System weiter schwächte.
Inmitten dieser politischen Unsicherheit trat ein Paragraph der neuen Verfassung in den Vordergrund, der in seiner Tragweite kaum zu unterschätzen ist: Artikel 48. Er gab dem Reichspräsidenten die Möglichkeit, im Falle einer „erheblichen Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ Grundrechte auszusetzen und per Notverordnung zu regieren. Die Idee dahinter war zunächst nachvollziehbar – ein Staat sollte in der Lage sein, in einer akuten Krise schnell zu reagieren, ohne lange parlamentarische Prozesse abwarten zu müssen. Doch wie so oft bei solchen Ausnahmeregelungen erwies sich die Versuchung als groß, dieses Instrument auch dann einzusetzen, wenn die Lage längst nicht so dramatisch war wie im Gesetzestext vorgesehen.
Bereits Reichspräsident Friedrich Ebert griff in den frühen Jahren der Republik mehrfach auf Artikel 48 zurück. Ob es um Aufstände in einzelnen Regionen ging, um Streiks oder um politische Unruhen, das Notverordnungsrecht schien ein bequemes Mittel zu sein, um den Staat schnell und effektiv handlungsfähig zu machen. Doch mit jedem Einsatz verschob sich die Schwelle, ab wann ein solcher Eingriff gerechtfertigt erschien. Was als Ausnahme gedacht war, begann sich schleichend in ein fast alltägliches Mittel der Regierungspolitik zu verwandeln.
Die wirtschaftlichen Turbulenzen taten ihr Übriges. Hyperinflation, Arbeitslosigkeit und der Verlust von Ersparnissen führten zu wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Die Regierenden konnten sich darauf berufen, dass außergewöhnliche Zeiten außergewöhnliche Maßnahmen erforderten – und der Artikel 48 lieferte ihnen die juristische Grundlage dafür. Im Kern bedeutete dies, dass demokratische Entscheidungsprozesse immer häufiger umgangen wurden. Statt im Reichstag Debatten zu führen und Mehrheiten zu suchen, genügte die Unterschrift des Reichspräsidenten, um weitreichende Maßnahmen in Kraft zu setzen.
Dieses Vorgehen blieb nicht ohne Folgen für das politische Klima. Zum einen erodierte es das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie, da viele Bürger den Eindruck gewannen, dass ihre gewählten Vertreter ohnehin nur noch eine Statistenrolle spielten. Zum anderen gewöhnte sich die Gesellschaft langsam daran, dass Grundrechte wie Versammlungsfreiheit oder Pressefreiheit „temporär“ eingeschränkt werden konnten, wenn es die Lage erfordere. Die vorübergehende Aussetzung von Rechten wurde zur akzeptierten Realität – ein gefährlicher psychologischer Prozess, der die Hemmschwelle für künftige Eingriffe senkte.
Mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 verschärfte sich die Situation dramatisch. Millionen verloren ihre Arbeit, Unternehmen gingen reihenweise bankrott, und das politische System geriet unter enormen Druck. Paul von Hindenburg, der 1925 Reichspräsident geworden war, nutzte Artikel 48 in einem Ausmaß, das selbst in den turbulenten Anfangsjahren der Republik undenkbar gewesen wäre. Unter seiner Führung regierten wechselnde Kanzlerkabinette, die sich fast ausschließlich auf Notverordnungen stützten, da im Reichstag keine stabilen Mehrheiten mehr zustande kamen. Die parlamentarische Debatte wurde zur Formalität degradiert, während die tatsächliche Gesetzgebung im präsidialen Alleingang erfolgte.
In dieser Phase verwischte sich endgültig die Grenze zwischen echter Notlage und politischem Kalkül. Die Regierung konnte nahezu jede Situation als „Gefährdung der öffentlichen Ordnung“ deklarieren, um Artikel 48 anzuwenden. Damit verschob sich das Machtgefüge nachhaltig: weg von der Gewaltenteilung, hin zu einer Konzentration der Autorität in der Hand des Staatsoberhauptes. Dass dieser Zustand nicht nur eine Reaktion auf äußere Umstände war, sondern auch einem strategischen Machtinteresse diente, wurde in der damaligen öffentlichen Debatte kaum thematisiert.
Die immer häufigere Anwendung von Artikel 48 führte zu einer stillschweigenden Gewöhnung an einen Ausnahmezustand, der längst zur Normalität geworden war. Was zu Beginn der Republik als letzte Rettungsleine in extremen Situationen galt, entwickelte sich zu einem Dauerinstrument. Die politische Führung nutzte es nicht nur, um akute Gefahren zu bannen, sondern auch, um Gesetze und Verordnungen ohne zeitraubende Auseinandersetzungen im Reichstag durchzusetzen. Der eigentliche Sinn parlamentarischer Demokratie – das Ringen um Mehrheiten, das Austarieren von Interessen, die öffentliche Debatte – wurde auf diese Weise zunehmend ausgehöhlt.
Für viele Bürger war dies ein schleichender Prozess. Man nahm zwar wahr, dass „von oben“ entschieden wurde, ohne große Diskussion, doch solange bestimmte Missstände scheinbar schnell behoben wurden, schien die Methode gerechtfertigt. Die anfängliche Skepsis gegenüber der neuen Republik wich bei manchen einer pragmatischen Akzeptanz autoritärer Maßnahmen, sofern diese Ruhe und Ordnung versprachen. Gleichzeitig vertiefte sich bei anderen der Argwohn, dass die Demokratie nur eine Fassade sei, hinter der sich eine Machtelite unbehelligt bedienen konnte. Dieses wachsende Misstrauen bildete den Nährboden, auf dem radikale Kräfte ihre Parolen wirksam platzieren konnten.
Besonders problematisch war, dass sich die Nutzung des Ausnahmeartikels oft nicht auf klar definierte Zeiträume beschränkte. Maßnahmen, die als vorübergehend angekündigt wurden, blieben in der Praxis häufig länger in Kraft als notwendig. Die offizielle Begründung dafür lautete fast immer gleich: Die Lage habe sich zwar gebessert, sei aber noch nicht vollständig stabilisiert. In der Rückschau zeigt sich, wie leicht es ist, auf diese Weise eine Art Dauer-Notstand zu rechtfertigen. Der politische Wille, Einschränkungen wieder aufzuheben, war oft gering, zumal der Ausnahmezustand den Machthabern bequeme Möglichkeiten eröffnete, unpopuläre Entscheidungen ohne langwierigen Widerspruch umzusetzen.
Das Spiel mit der Angst der Bevölkerung erwies sich als effektives Werkzeug. Wirtschaftliche Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und politische Gewalt lieferten den ständigen Vorwand, Notverordnungen zu erlassen. Dabei spielte es kaum eine Rolle, ob die Bedrohung tatsächlich akut war oder ob sie in den Köpfen durch eine geschickte Rhetorik größer gemacht wurde, als sie in Wirklichkeit war. Die Erfahrung zeigt: Wenn eine Regierung erst einmal gelernt hat, Angst als Hebel zu benutzen, um außergewöhnliche Vollmachten zu beanspruchen, wird sie diese Technik nicht leicht wieder aufgeben.
Die Jahre 1930 bis 1932 markieren den Höhepunkt dieser Entwicklung. Kanzler wie Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher regierten fast ausschließlich per Präsidialverordnung, abgesegnet von Hindenburg. Das Parlament wurde immer häufiger umgangen oder ganz ignoriert. Die politischen Entscheidungen wurden in kleinen Zirkeln hinter verschlossenen Türen getroffen, während der öffentliche Raum für Debatte schrumpfte. Die Opposition – egal ob von links oder rechts – sah sich zunehmend in die Rolle eines machtlosen Zuschauers gedrängt.
In dieser Situation wuchs die Versuchung für radikale Parteien, das System von innen heraus zu sprengen. Sie konnten glaubhaft behaupten, die Demokratie habe ohnehin versagt, da sie nicht mehr in der Lage sei, ohne Ausnahmebefugnisse zu funktionieren. Insbesondere die Nationalsozialisten nutzten diesen Zustand geschickt aus. Sie präsentierten sich als Kraft, die „klare Entscheidungen“ treffen könne, ohne sich in parlamentarischen Ränkespielen zu verlieren – ein Versprechen, das in einer politisch müden und frustrierten Gesellschaft durchaus verfing.
Dass die Vorarbeit für den späteren Machtmissbrauch bereits geleistet war, wurde vielen erst im Nachhinein bewusst. Die rechtliche Struktur für ein autoritäres Regime war längst vorhanden, als Hitler 1933 an die Macht kam. Artikel 48 hatte das Regieren ohne Parlament normalisiert und gezeigt, dass sich die Bevölkerung an dauerhafte Einschränkungen gewöhnen ließ, wenn diese nur ausreichend mit Sicherheit und Stabilität begründet wurden. Das Ermächtigungsgesetz war daher nicht der radikale Bruch, als den es manche sehen, sondern eher die logische Fortsetzung einer Entwicklung, die Jahre zuvor begonnen hatte.
So zeigt der Blick auf die Weimarer Republik, wie dünn die Trennlinie zwischen Demokratie und Autoritarismus in Zeiten der Krise werden kann. Ein Notstandsparagraf, der als Schutzmechanismus gedacht war, verwandelte sich in ein politisches Allzweckinstrument. Die Lehre daraus ist unbequem: Selbst gut gemeinte Ausnahmebefugnisse können zur größten Gefahr für die Freiheit werden, wenn ihre Anwendung nicht streng begrenzt und kritisch überwacht wird.
Als die Nationalsozialisten im Januar 1933 die Regierung übernahmen, war der Übergang vom instabilen Präsidialsystem zur offenen Diktatur erschreckend reibungslos. Die Mechanismen, mit denen man zuvor in vermeintlich demokratischer Absicht den Ausnahmezustand verlängert und ausgedehnt hatte, standen nun einer radikalen Partei zur Verfügung, die keinerlei Hemmungen hatte, diese Befugnisse bis zum Äußersten auszureizen. Das Parlament war ohnehin marginalisiert, und die Bevölkerung hatte sich längst daran gewöhnt, dass politische Entscheidungen aus dem Präsidentenpalais oder den Kanzlerbüros kamen, ohne dass eine breite öffentliche Diskussion vorausging.
Der Reichstagsbrand im Februar 1933 bot die ideale Gelegenheit, das bestehende Notverordnungsrecht auf eine neue Stufe zu heben. Unter Berufung auf die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit erließ Reichspräsident Hindenburg – auf Drängen Hitlers und Görings – die „Reichstagsbrandverordnung“. Sie setzte zentrale Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und den Schutz der Privatsphäre außer Kraft. Formal stützte sich dieser Schritt auf die bereits etablierten Verfahren nach Artikel 48, doch der Umfang und die politische Zielrichtung machten deutlich, dass hier kein temporärer Eingriff mehr beabsichtigt war. Diese Verordnung wurde nie aufgehoben und bildete eine tragende Säule der NS-Diktatur.
Die Bevölkerung erlebte, wie sich die Ausnahme zur neuen Norm verfestigte. Wer vorher geglaubt hatte, der Missbrauch des Artikels sei auf Krisenzeiten beschränkt, musste nun feststellen, dass ein entschlossener Machtblock jede noch so vage definierte „Gefahr“ nutzen konnte, um Vollmachten dauerhaft zu beanspruchen. Der juristische Rahmen, der ursprünglich zur Verteidigung der Republik gedacht war, erwies sich als perfektes Instrument für deren Zerstörung.
Die Weimarer Erfahrung lehrt, dass die Gefährlichkeit solcher Ausnahmeregeln nicht allein in ihrem Wortlaut liegt, sondern in der politischen Kultur, die sie umgibt. Wenn eine Gesellschaft daran gewöhnt wird, dass Rechte und Freiheiten unter bestimmten Umständen jederzeit eingeschränkt werden können, dann reicht später ein vergleichsweise kleines Ereignis, um diesen Mechanismus vollständig gegen die Bürger zu wenden. Die Schwelle, ab der eine Regierung zu solch drastischen Maßnahmen greift, sinkt mit jeder Wiederholung – und mit ihr schwindet das Bewusstsein, dass dies überhaupt eine außergewöhnliche Maßnahme ist.
Rückblickend zeigt sich, dass die eigentliche Gefahr nicht in einem einzelnen, spektakulären Akt des Machtmissbrauchs liegt, sondern im schrittweisen Gewöhnen an den Ausnahmezustand. In Weimar war es kein plötzlicher Staatsstreich, der die Demokratie beendete, sondern eine Reihe kleiner, oft scheinbar notwendiger Eingriffe, die das Gleichgewicht der Gewaltenteilung aushebelten. Als der entscheidende Schlag kam, war das Fundament bereits morsch.
Für heutige Demokratien ist diese Entwicklung ein warnendes Beispiel. Der Glaube, man könne Ausnahmerechte gefahrlos in der Verfassung verankern, weil sie ja nur im Ernstfall und mit guten Absichten genutzt würden, ist trügerisch. Geschichte zeigt, dass diese Rechte in Zeiten politischer Unsicherheit zur Versuchung werden – und dass Machthaber immer Gründe finden, um ihre Nutzung zu rechtfertigen. Die Missbrauchsgefahr liegt nicht nur in der Absicht der Handelnden, sondern in der bloßen Existenz der Möglichkeit.