Der Tod läuft mit - Peter Gerdes - E-Book

Der Tod läuft mit E-Book

Peter Gerdes

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Mord beim Ossiloop ! Nicht nur die Läufer-Szene ist entsetzt. Hauptkommissar Stahnke steht vor einem Rätsel. Journalist Marian Godehau, der das Kult-Spektakel über 6 Etappen von Leer bis Bensersiel mitmachen will, ist keine große Hilfe. Dafür rückt er bald selbst in den Brennpunkt. Ist der Täter ein Serienkiller? Welche Rolle spielt der rechtslastige Lokalpolitiker Helmut Zimmermann? Und was weiß der alte Levy? Trotz der Anschläge wird die nächste Etappe gestartet. Wahnsinn, sagen die Leute. Und Stahnke gerät in Zeitnot, denn Der Tod läuft mit...

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Seitenzahl: 274

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Peter Gerdes

Der Tod läuft mit

Kriminalroman

Zum Autor

Peter Gerdes, 1955 geboren, lebt in Leer (Ostfriesland). Er studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Seit 1995 schreibt er Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 leitet Peter Gerdes die »Ostfriesischen Krimitage«. Seine Krimis „Der Etappenmörder“, „Fürchte die Dunkelheit“ und „Der siebte Schlüssel“ wurden für den Literaturpreis „Das neue Buch“ nominiert. Mit seiner Frau Heike betreibt der Autor die Krimi-Buchhandlung »Tatort Taraxacum« in Leer.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Originalausgabe erschienen 2006 im Leda Verlag

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Drobot_Dean/stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6416-4

Widmung

Für Heike

Gedicht

Wasser

 

Brennende Nässe

unter kühlem Blätterdach

Ende im Frühling

 

 

Feuer

 

Der Flug durchs Helle

ein Moment der Erhöhung

der Weg endet hier

 

 

Luft

 

Dein Lauf wie ein Pfeil

unbeirrt stolz, doch der Tod

vollendet den Kreis

Prolog

Ich habe ihn wiedergesehen, heute früh. Er mich nicht. Ich habe ihn beobachtet, in aller Ruhe. Er stand einfach nur da, schien auf etwas zu warten, ich weiß nicht wo­rauf, und schaute in die Ferne, ich weiß nicht wonach. Auf mich wartete er sicher nicht, und er hielt auch nicht Ausschau nach mir. Und doch brach mir der Schweiß aus, das Herz klopfte mir bis zum Hals und meine Hände zitterten. Da wusste ich plötzlich: Es muss ein Ende sein. Er beengt mich, er nimmt mir die Luft, so lange schon. Er verfolgt mich, auch wenn er sich gar nicht rührt. Ich kann ihn nicht abschütteln, ihm nicht entkommen, auch wenn er keinen Schritt tut. Er ist schneller als ich, auch wenn ich renne. Wo immer ich mich vor ihm verstecke, er ist schon da. Er ist der Igel mit den giftigen Stacheln.

Er ist in meinem Kopf. Wie soll ich ihn da loswerden?

Loswerden muss ich ihn. Ein Ende muss sein. Muss. Ich will nicht mehr laufen, nicht mehr weglaufen vor ihm, will mich nicht mehr verstecken müssen, vor ihm, in meinem eigenen Kopf. Will nicht mehr der Hase, will der Jäger sein.

Aber ich muss aufpassen. Er ist nicht dumm. Er weiß viel über mich, sehr viel, und wenn ich nicht aufpasse, dann ist er auch diesmal wieder schneller. Er ist stark, auch wenn man es ihm vielleicht nicht ansieht. Aber ich weiß, dass er auch Schwächen hat. Die kenne ich, seit ich gehört habe, wie er gelacht hat, gelacht über mich.

Er wird nie wieder über mich lachen.

Mein Herz klopft mir bis zum Hals, und ich schwitze. Ich bin der Jäger. Meine Hände dürfen nicht zittern. Es muss ein Ende sein. Es muss.

1

Es knallte furchtbar. Marian zuckte zusammen, obwohl er den Schuss doch erwartet hatte. Er hatte ihn sogar herbeigesehnt, wie eine Erlösung hatte er ihn sich erhofft, aber als er dann fiel, ein helles, scharfes, schmetterndes Geräusch, ungedämpfter Schmerz in den Ohren, schallgewordene Unwiderruflichkeit, da war Marian doch erschüttert. Einen Moment lang war sein Körper wie erstarrt, schienen seine Muskeln verkrampft, seine Glieder wie eingefroren. Dann überlief es ihn heiß und er warf sich nach vorn, einem kompromisslosen Fluchtimpuls nachgebend, der älter war als alles, womit sich Menschen über andere Lebewesen erhoben zu haben glaubten. Marian rannte los wie ein gehetztes Tier.

Um ihn herum erklang ein Schnaufen, ein Fauchen, als würde Luft durch poröse Schläuche gesaugt und gepresst, und der Boden unter seinen Füßen begann leicht zu vibrieren. Er fühlte Hände auf seinem Rücken, Finger an seinen Armen, Stöße in seinen Rippen, eine streifende Berührung an seiner rechten Wade von einem nur um Haaresbreite fehlgegangenen Tritt. Von hinten, von allen Seiten drängte es heran. In Panik warf er sich nach vorn, beschleunigte seinen Schritt, ohne es wirklich zu wollen. Etwas schien seine Brust zu umklammern und er riss Lippen und Zähne auseinander, die er seit dem ohrenbetäubenden Knall aufeinander gepresst hatte, ohne es zu spüren. Der Laut, den er dabei ausstieß, ging in einem brausenden Geräusch unter, das an das Näherkommen eines vielbeinigen Untiers erinnerte. Schlagartig brach ihm der Schweiß aus.

Er heftete seinen Blick, eingeengt wie von der Röhre eines Tunnels, an etwas Gelbes, das direkt vor ihm zu tanzen schien, zu wippen und zu wogen, das Falten und Wellen schlug und sich langsam entfernte, Raum schaffend, der schon Sekunden später von weißlich verwischten Keulenschwüngen ausgefüllt wurde, rudernden, bedrohlichen Bewegungen, abwehrend, abschreckend wie die Stacheln eines Igels oder die Zähne im Maul eines Hais.

Unwillkürlich verhielt Marian seinen Laufschritt ein wenig, hob den Kopf leicht an und mit ihm den bisher gesenkten Blick. Im selben Moment traf ihn ein Schlag mitten ins Gesicht, ein Hieb wie von einer Peitsche, blendend über beide Augen, brennende Nässe hinterlassend. Er schrie auf. Ein keckerndes, gehässiges Lachen war die Antwort. Gleich darauf traf ihn ein spitzer Ellbogen von rechts in die kurzen Rippen. Er strauchelte, taumelte, scherte nach links aus, verließ den Strom, konnte wieder sehen, sah eine helle, massige Gestalt vor sich aufragen und prallte dagegen. Zwei mächtige Hände packen seine Oberarme, hielten ihn fest, stellten ihn sich zurecht. Aus.

»Schon fertig?«, fragte eine wohlbekannte Stimme. »Ich dachte, es geht über zehn Kilometer.«

Marian fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, betrachtete seine Handflächen: Wasser, kein Blut. Regenwasser. Ein Zweig mit nassen Blättern, im leichten Wind federnd oder aus der Hand eines Konkurrenten geschnellt.

Fahrig, wie der eines aus einer Trance Erwachten, huschte sein Blick über das breite, füllige Gesicht seines Gegenübers. »Stahnke«, sagte Marian keuchend.

»Klar«, brummte der. »Konnte mir Ihre Premiere doch nicht entgehen lassen.« Er ließ Marians Arme los. »Scheint so, als hätten Sie etwas zu hoch einsteigen wollen. Jetzt wäre wohl der bessere Zeitpunkt.«

Marian drehte sich um. Immer noch rauschte der Strom der Läufer an ihm vorbei, Hunderte und Aberhunderte. Das da jedoch waren nicht mehr die langaufgeschossenen, drahtigen Gestalten der Spitzengruppe, die mit den hohlen Wangen und dem entschlossenen Blick. Die hier waren runder und bunter, liefen verhaltener, als hätten sie den weiten Weg im Sinn, nicht das Ziel. Hier schlenkerten Arme, drehten sich Köpfe, wandten sich Gesichter plaudernd einander zu. Jogger. Richtig um die Wette gelaufen wurde weiter vorne. Dort, wo er jetzt eigentlich hätte sein wollen.

»He, Marian!« Pink über Dunkelblau wippte es an ihm vorbei, gekrönt von einem kastanienroten Haarbusch, der auswehte wie die Heckflagge einer frechen kleinen Piratenschaluppe. Sina. Sie winkte, hielt aber nicht an. Marian holte tief Luft, winkelte die Ellbogen an, lief erneut los und reihte sich ein paar Plätze hinter ihr ein.

Der kühle Wind ließ ihn spüren, wie seine Wangen brannten. Anstrengung konnte das noch nicht sein, eher Scham. Marian Godehau, der Traumtänzer. Sieben Kilo abgespeckt, ein bisschen auf dem Ergometer gestrampelt, sich an lang vergangene Fußballerzeiten erinnert, mutig für den Ostfrieslandlauf angemeldet – und natürlich gleich Flausen im Kopf gehabt. In die Startergruppe der Spitzenläufer reingedrängelt, na klar. Wie es die Deppen tun, die unbedingt mit aufs Startfoto wollen und nur alles durcheinander bringen. Die angerempelt und nach hinten durchgereicht werden, weil sie stören und nerven. Wenn die Langläufer wirklich die große Familie waren, als die sie immer gepriesen wurden, dann eine mit Problemkindern.

Marian spürte, dass er die Lippen zurückgezogen hatte und mit gefletschten Zähnen lief. Seine Armmuskeln waren viel zu stark angespannt, seine Schritte zu stampfig, und das Herz pochte Alarm. Er versuchte sich auf seine Atmung zu konzentrieren: Ein – zwo, drei, vier, und aus – zwo, drei, vier. Er konnte spüren, wie sich sein Puls nach und nach normalisierte. Seine Schritte wurden länger und weicher. Ein gutes Tempo, es schien ihm zu entsprechen. Genau das Tempo der Jogger um ihn herum. Marian begann sich damit abzufinden.

Wieder heftete er seinen Blick an ein vor ihm tanzendes, wippendes, wogendes, Falten und Wellen schlagendes Läufertrikot, ließ sich von seinen Bewegungen beruhigen und ziehen. Ein pinkfarbenes Trikot über einer dunkelblauen Radlerhose. Marians Blick rutschte ein Stückchen hinunter über den dünnen, glatten Stoff der eng anliegenden Hose, der sich im Laufrhythmus mal links, mal rechts aufwölbte. Ein netter Anblick, der ihn dazu bewog, noch ein paar Meter aufzuschließen.

Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass er hinter Sina lief, dass er heute Morgen an genau diesen Po geschmiegt aufgewacht war. Sie lief mit unbekümmerter Lockerheit, federnd, fast schwebend, wie von Instinkten gesteuert. Marian wischte sich den Schweiß von der Stirn und wunderte sich über Sinas unruhige Armführung, bis er merkte, dass sie sich offenkundig angeregt und immer wieder heftig gestikulierend mit dem Läufer zu ihrer Rechten unterhielt, einem dunkellockigen, breit grinsenden, etwas übergewichtigen Kerl mit der animalischen Ausstrahlung ungetrübter Selbstgefälligkeit, der trotz seiner vielleicht 50 Jahre ziemlich fit wirkte und ganz bestimmt nicht deshalb hier im hinteren Teil des Feldes neben dieser bildhübschen Frau lief, weil er nicht schneller gekonnt hätte. Marian kannte diesen Mann, kannte ihn nur zu gut, und es behagte ihm gar nicht, gerade ihm auf einem Terrain zu begegnen, auf dem er offenkundig nicht mithalten konnte.

Man sollte nur Sachen machen, die man kann, dachte Marian. Aber wer wusste schon, was er konnte, ohne es zu versuchen? Laufen, um die eigenen Grenzen zu erkunden. Ha! Dafür, so schien es, würde er wohl nicht allzu weit laufen müssen.

2

Der Mensch hat sich auf treibende Baumstämme gesetzt, überlegte Stahnke, während er dem Ende der vielbeinigen Läuferschlange nachschaute, das gerade zwischen den dicht belaubten Bäumen des Julianenparks verschwand. Flöße hat er sich gebaut, dann Schiffe. Pferde hat er gefangen und gezähmt, Wagen gebaut, Kutschen, Eisenbahnen und schließlich sogar Flugzeuge. Alles, um nicht mehr laufen zu müssen. Und was passiert? Kaum muss er nicht mehr laufen, schon tut er’s gerade. So sind sie, die Menschen. Da kann ja nichts draus werden.

Wie zum Trotz blieb er noch ein Weilchen stehen, massig und massiv wie eine Litfaßsäule in seinem hellen, knitterigen Trenchcoat, der dünn war und doch schon viel zu warm für diesen unerwartet sonnigen Spätnachmittag im Mai. Dieser Tag gab sich alle Mühe, den nasskalten Herbst, den ebenso nasskalten Winter und die kaum weniger nasskalte erste Frühlingshälfte, die ihm vorangegangen waren, vergessen zu machen. Schöne Tage konnte es geben hier in Ostfriesland, herrliche Tage sogar, nur eben nicht im Überfluss, und wenn man mal einen erwischte, einen wie diesen, trotz der Schauer am Vormittag, dann musste man ihn auch nutzen. Und nicht weglaufen. Stahnke stand, mit der ganzen Ortsfestigkeit seiner zwei Zentner, drückte die breiten Schultern nach hinten, streckte seine Wirbelsäule und atmete tief ein. Und nutzte. »Carpe diem«, nutze den Tag, ach ja.

»Na Chef, gar nicht mitgelaufen?«

»Wir dachten, Sie sind längst in Holtland.«

Stahnke gestattete sich ein halbes Grinsen und grüßte die beiden grün uniformierten, knorrigen, graubärtigen Gestalten, indem er den dicken Zeigefinger seiner rechten Hand in die Nähe seiner weißblonden Haarstoppeln hob, dorthin, wo die Krempe eines großen, aber wirklich sehr großen, tief ins Gesicht gezogenen Borsalinos gewesen wäre, wenn er denn einen getragen hätte. Was er nie tat. Natürlich, Rieken und van Dieken, die Schupo-Zwillinge. Die beiden ließen wirklich keine Sportveranstaltung aus. Wie sie es schafften, immer wieder auch dann zum Sicherungsdienst eingeteilt zu werden, wenn es nach menschlichem Ermessen nichts, aber auch gar nichts zu sichern gab, war ihr seit Jahren wohlgehütetes Geheimnis.

»Fahren Sie nur vor, meine Herren«, sagte Stahnke. »Zielraum sichern. Oder?«

»Genau, Herr Hauptkommissar«, sagte Rieken. »Aber erst noch die Strecke observieren.«

»Man weiß ja nie, Herr Hauptkommissar«, sagte van Dieken.

Die beiden schlenderten Richtung Parkstreifen, wo ein VW-Bulli in Mint und Weiß durchs helle Blattgrün hindurch zu erahnen war, und auch Stahnke setzte sich nun in Bewegung, ging langsam zwischen dicken Bäumen hindurch zur Bolzwiese, die wie eine Lichtung am Rand des Julianenparks lag.

Jedes Jahr wurde hier der Ostfrieslandlauf gestartet, liebevoll Ossiloop genannt, und mit jedem Jahr wurde das Starterfeld größer. Inzwischen war man nicht mehr weit von tausend Teilnehmern entfernt. Sicher, viele Cityläufe hatten mehr Resonanz vorzuweisen. Der Ossiloop aber war etwas Besonderes, ein Sechs-Etappen-Lauf quer durch Ostfriesland von Leer bis nach Bensersiel, ein Unternehmen von insgesamt fast 70 Kilometern, zu absolvieren an sechs Tagen innerhalb von drei Wochen, jeweils dienstags und freitags. Als echter Ossilooper galt nur, wer wirklich alle Etappen hinter sich brachte. Die Zeit, so lautete die offizielle Version, war dabei Nebensache. Das aber galt längst nicht mehr für alle. Schadenfroh dachte Stahnke daran, wie Marian Godehau das vorhin zu spüren bekommen hatte.

Seinetwegen war Stahnke überhaupt hergekommen. Schließlich waren sie sich in den letzten Jahren oft genug über den Weg gelaufen, da hatte sich einiges an gemeinsamer Erfahrung angesammelt. Die meiste Zeit war ihr Verhältnis nicht gerade positiv gewesen; Stahnke hatte sich darüber geärgert, dass sich dieser vorwitzige, fast 20 Jahre jüngere Journalist immer wieder in seine Fälle eingemischt hatte, Marian Godehau hatte dem Hauptkommissar nicht nur anfänglich stark misstraut und sich mehr als einmal von ihm benutzt gefühlt. Sie siezten sich immer noch, aber eine gewisse Verbundenheit war dennoch nicht zu leugnen. Eine kumpelhafte Vertrautheit, anders als Freundschaft, aber nicht minder intensiv. Ob es das war, wovon alte Kriegskameraden immer faselten? Grinsend schüttelte Stahnke den Kopf.

Das Fahrrad war noch da. Grellgelb leuchtend lehnte es an einem der alten Bäume zwischen Bolzwiese und Fahrradweg, der hier die Peripherie des Parks schnitt. Ein Anblick wie ein Willkommensgruß, fand Stahnke, erfüllt von frischem Besitzerstolz und der Erleichterung darüber, dass sein neues Spielzeug noch nicht Eingang in die alarmierende Fahrraddiebstahl-Statistik gefunden hatte. Na ja, das Stahldrahtschloss war ja auch nicht eben billig gewesen.

Ein bisschen war dieses Fahrrad – 21 Gänge und optisch einem Mountainbike nachempfunden – eine Antwort auf Marian Godehaus sportliche Aktivitäten und damit Ausdruck jener unterschwelligen Rivalität, die sich zwischen den beiden Männern entwickelt hatte. Die stämmige Figur und die in mehrfacher Hinsicht belastenden Gewichtsprobleme hatte Stahnke eigentlich immer als verbindende, dauerhafte Gemeinsamkeit zwischen ihnen betrachtet, waren sie doch nicht nur Ausdruck einer ähnlichen Veranlagung, sondern auch eines vergleichbaren Lebensstils.

Als Marian dann eines Tages seine Diät- und Sportpläne verkündet hatte, fand Stahnke das lächerlich. Dass er diese Pläne tatsächlich umzusetzen begann, hatte etwas Provokantes. Sein Erfolg aber war Verrat.

Also hatte Stahnke sich dieses Fahrrad gekauft, um zu beweisen, dass er noch viel mobiler sein konnte und dabei mit Sicherheit eine bessere Figur machte als so ein hoppelnder Jogger mit steifen Hüften. Um das Geld – weit über 500 Euro hatte das Schmuckstück gekostet – tat es ihm nicht leid. Allerdings war er bei dieser Gelegenheit darauf gestoßen, dass bei ihm zu Hause im Keller ein Rudergerät, ein Hometrainer und ein Satz Hanteln gründlich eingestaubt herumstanden. Offenbar neigte er dazu, Taten durch Käufe zu ersetzen. Jedenfalls, wenn es um körperliche Fitness ging.

Wie hieß das noch: »The difference between man and boy is in the price of his toy.« Tja, vermutlich. Jedenfalls würde er jetzt nach Holtland radeln und Marian Godehau dort am Ziel bei der Mühle erwarten. Vielleicht mit einer Flasche Wasser in der Hand. Der würde gucken.

So ein Trenchcoat war nicht sehr praktisch auf dem Rad, außerdem schien es immer wärmer zu werden; unter dem feuchten Blätterdach des Parks begann sich sogar sommerliche Schwüle zu verbreiten. Stahnke zog den Mantel aus und rollte ihn zusammen, um ihn auf den Gepäckträger zu klemmen, wobei er sorgfältig da­rauf achtete, dass nichts aus den Taschen fallen konnte. Vor allem dieser komische Brief nicht, der rechts außen steckte und durch vernehmliches Knistern an seine Existenz erinnerte.

Heute früh hatte der Brief bei der Dienstpost gelegen, ausdrücklich an ihn adressiert, »z. Hd. Hauptkommissar Stahnke«. Ohne Absender. Inhalt: ein Gedicht.

Jedenfalls eine Art Gedicht, ziemlich kurz und ungereimt, irgendwas von brennendem Wasser und einem Ende im Frühling. Nichts, was irgendeinen Sinn ergab. Stahnke konnte sich keinen Reim darauf machen. Möglicherweise etwas Privates, trotz der dienstlich klingenden Anrede. Aber was? Ging es um seinen Hang zu Feuerwasser? Schnaps trank er doch kaum, im Gegensatz zu Wein und Bier. Und Schluss gemacht hatte er in diesem Frühling mit niemandem. Da war ja gar nichts gewesen, was hätte beendet werden können. Traurig genug, aber wenigstens in diesem Fall halbwegs beruhigend.

Vielleicht ein blöder Scherz. Jedenfalls hatte Stahnke den Brief nicht weggeworfen. Man wusste ja nie, ganz recht, Kollege van Dieken.

3

Er hatte überlegt, ob ihm wohl zuerst die Lungenflügel wehtun würden oder die Beinmuskeln und hatte schließlich auf Seitenstechen getippt. Tatsächlich waren es die Arme. Unglaublich, wie schwer es ihm wurde, die Ellbogen angewinkelt zu halten. Immer wieder wollten seine Unterarme, deren gut entwickelte Muskeln seine heimliche Eitelkeit ansonsten erfolgreich stützten, wie schlappe Leberwürste der Schwerkraft nachgeben und die verkrampften Hände kraftlos Richtung Straße baumeln lassen. Schon mehrmals hatte Marian die Hände haltsuchend auf die Hüftknochen gestemmt, was aber einen derart peinlichen Watschelgang zur Folge gehabt hatte, dass er das ganz schnell wieder sein ließ und lieber die Zähne zusammenbiss.

Ein Schal müsste die Lösung sein, dachte er. Ein dünner Schal um den Nacken, beide Enden um die Hände gewickelt. Das hatte er schon einmal irgendwo gesehen, bei einem dieser kostümierten Juxläufer zwar, aber egal, das müsste gehen. Auf der nächsten Etappe würde er das machen, ganz bestimmt. War doch egal, ob die anderen dumm guckten.

Wenn er diese Etappe nur erst überstanden hätte.

Den Julianenpark, ein paar Asphaltstraßen und den Wanderweg vom Leeraner Stadtteil Heisfelde zum Vorort Logabirum hatten sie jetzt hinter sich, und Marian hatte sich an den Klang seines eigenen Keuchens gewöhnt. Immer öfter liefen sie jetzt in der prallen Sonne. Es war heiß, und es schien immer heißer zu werden. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, glitzernde Kügelchen, die sich aufblähten, bis die Oberflächenspannung ihrer Masse nicht mehr Herr zu bleiben vermochte, so dass sie platzten und zu sickernden Rinnsalen wurden, aus deren Zusammenfluss sich kleine Bäche bildeten, die ihm über die Schläfen und in die Augenwinkel rannen. Einzelne Tropfen, durch die Erschütterungen seiner stampfenden Schritte von der Haut katapultiert, fanden den Weg an den Augenbrauen vorbei bis an die Innenseiten seiner Brillengläser, wo sie herabliefen und verdunsteten und dabei breite, salzige Spuren hinterließen, die seinen Blick noch zusätzlich trübten. Das T-Shirt pappte ihm am Rücken wie ein nasser, warmer, vom vielen Wischen klebriger Feudel. Ebenso wie seine Zunge am trockenen Gaumen. Getränke-Stände bei Volksläufen hatte er immer für albern gehalten. Jetzt sehnte er einen herbei.

Längst hatte sich das Feld auseinander gezogen, war der vielbeinige Lindwurm in seine Segmente zerfallen, kleine Pulks, zwischen denen aufholende und zurückfallende Läufer wie keuchende Boten die Verbindung aufrechterhielten. Marian stellte fest, dass diejenigen, die zu ihm aufschlossen und ihn überholten, bei Weitem in der Mehrzahl waren gegenüber denen, die er überholte. Steigerten die anderen das Tempo? Nicht anzunehmen, hier auf der ersten Hälfte der Strecke. Vermutlich wurde er nur langsamer.

Sie waren vom Wanderweg nach rechts auf eine Straße abgebogen. Jetzt ging es erneut nach rechts. Alles in ihm sträubte sich dagegen, wieder zurück in Richtung Leer, in Richtung Start zu laufen, und er musste sich regelrecht dazu zwingen, dem Streckenverlauf zu folgen. Zum Glück ging es wenig später wieder nach links, und der Weg wurde leicht abschüssig, was überraschenderweise aber keine Erleichterung brachte; vielmehr drohten die Beinmuskeln bei dieser ungewohnten Belastung zu verkrampfen.

Wieso ging es überhaupt bergab, hier im pfannkuchenflachen Ostfriesland? Marian schaute hoch und stellte fest, dass sie an einem Friedhof entlangliefen, einem einladend begrünten Platz mit sauberen schwarzen Steinen und ordentlichen hellen Karrees, gesprenkelt mit ein paar Findlingen und fast deplatziert wirkenden Kreuzen. Das musste der Friedhof von Logabirum sein; der lag natürlich direkt neben der Dorfkirche, und die wiederum auf einer Warft, einem künstlichen Hügel, der das Gotteshaus einst bei Sturmfluten vor dem Wasser hatte schützen sollen. Hoch und trocken. Gott und die Toten haben es gut, dachte Marian, während ihm der Schweiß über die Wangen perlte und in den struppigen Bart sickerte.

Der Weg knickte erneut nach rechts ab, führte um den Friedhof herum und tauchte dann wieder nach links weg, hinein in einen niedrigen Tunnel, der unter der Bundesstraße hindurchführte. Marian genoss die dämmerige Kühle, die nur wenige Schritte weit andauerte. Dann ging es wieder hinaus in die Hitze und den Lärm der Straße, der die Laufstrecke nun folgte.

Eins zwo, eins zwo, eins zwo. Längst hatte sich seine Atem-Schritt-Frequenz vom Idealwert entfernt und der rauen Realität angepasst. Die Lungen verhalfen dem Körper eigenmächtig zu seinem Recht, und er merkte, dass ihm diese Anpassung, dieses Gehenlassen beim Laufenmüssen durchaus Erleichterung verschaffte. Inzwischen hatte er es aufgegeben, sich um seinen Laufstil oder seine mutmaßliche Platzierung auch nur einen feuchten Schmutz zu scheren. Es war, als folge er seinem eigenen Schritt wie in Trance, als beobachte er die Anstrengung, statt sie selbst zu leisten.

Bilder, die im Rhythmus seiner Schritte vorbeihüpften, fesselten seine Aufmerksamkeit jeweils für Sekunden, lenkten ihn ab, während seine Schuhsohlen über den immer gleichen grauen, glatten Asphalt schurrten. Dieser Mann zum Beispiel, der da am Rand der Laufstrecke stand und den Läufern seinen Rücken zuwandte, als wollte er ihnen tiefste Verachtung demonstrieren, dabei versonnen einen gekrümmt dahockenden Rauhaardackel betrachtend, der gerade auf den Grasstreifen zwischen Radweg und Fahrbahn kackte. Die beiden Frauen in dunkelblauen Kittelschürzen, die eine weiß gepunktet, die andere weiß geblümt, die den Zug der Läufer anstarrten, als würde er jeden Augenblick verschwinden, dem unsichtbaren Befehl einer zappenden Fernbedienung folgend, und einer anderen Sendung Platz machen. Der dicke, stoppelhaarige Mann da neben dem knallgelben Fahrrad, das aussah, als hätte er es seinem jüngsten Sohn weggenommen. Die beiden Typen, die breit grinsend an ihm vorbeischauten und irgendjemandem hinter ihm zuriefen: »Hol ihn dir!«

Wer soll sich wen holen, überlegte er. Wer, wer, wer, wen, wen, wen. Irgendwer mich, irgendwer mich. Irgendwer holt mich. Worte. Worte haben Rhythmus. Rhythmus ist gut. Gute Worte. Marian lief im Rhythmus der Worte, die keine Bedeutung zu haben schienen.

Die nächste Richtungsänderung warf ihn wieder zurück in die Realität des Leidens. Ein Streckenposten mit orangefarbener Weste, vollkommen bewegungs- und teilnahmslos dastehend, markierte durch seine schiere Existenz einen 90-Grad-Knick der Strecke in den Wald hinein. Harter Asphalt wurde von weichem Waldboden abgelöst, die stechende Sonne von kühlendem Schatten, all das aber war nichts gegen die Tatsache, dass er sich des Laufens schlagartig wieder bewusst wurde. Seinem Hintermann schien es ebenso zu gehen; Marian hörte ihn husten und stöhnen.

Mehr als ein Gehölz konnte das hier eigentlich nicht sein, aber es sah wahrhaftig nach Wald aus, und es roch auch nach Wald, was Marian vor allem deswegen angenehm fand, weil er schon seit geraumer Zeit einen Geruch wie von Klobeckensteinen in der Nase hatte. Verwitterte Baumreste ruhten rechts und links des Weges auf braunen Nadelteppichen, einer an eine Riesenschildkröte erinnernd, ein anderer an ein stachelbewehrtes Fabeltier. Schön, dachte er. Eins zwo, eins zwo.

Schon wurde das Wäldchen wieder lichter, und zwischen schlanken, kahlen Nadelbaumstämmen konnte er einen Wall aus Erde und zusammengeschobenen Baumstümpfen erkennen, überragt von Hausdächern. Also doch nur ein Gehölz. Aber immerhin.

Vor ihm tauchten vereinzelt Zuschauer auf, und ihm wurde bewusst, dass er minutenlang vollkommen allein gelaufen sein musste. Na ja, relativ allein; die Kurven des gewundenen Waldwegs verbargen die vor ihm Laufenden, und wer hinter ihm war und wie nah, wusste er nicht, denn sein Atem übertönte jedes Laufgeräusch, und sich umzudrehen traute er sich nicht.

Plötzlich erklang eine Trommel, ein Paar Kongas vielmehr, von kundigen Händen geschlagen in einem stimulierenden Rhythmus. Die Strecke schnitt jetzt die Siedlung, und ein paar Leute hatten nicht nur für Musik gesorgt, sondern tatsächlich auch einen Erfrischungsstand aufgebaut. Trotz seiner brennenden Augen überkam Marian ein Glücksgefühl, getragen von tiefer Dankbarkeit.

Im selben Augenblick nahm er eine Bewegung links neben sich wahr. Der Mann, der ihn da überspurtete, mochte gut doppelt so alt sein wie er, 60 Jahre oder mehr, mit fast weißen, gewellten Haaren über einem borstigen Nacken und altersfleckiger, an Oberarmen und Schultern erschlaffter Haut. Aber er war schlank und groß, hatte lange, sehnige Arme und Beine, und er war ganz offensichtlich fit. So fit, dass er Marian beim Überholen ein freundliches, aufmunterndes Lächeln widmen konnte, dazu einen dieser Blicke, die bei aller Freundlichkeit vor allem Überlegenheit transportierten und ein wenig Hohn. Marian sah in ein markantes Gesicht, dessen dominanter Ausdruck von senkrechten Falten noch betont wurde. Das Gesicht eines gewohnheitsmäßig Erfolgreichen. Ein Chefgesicht. Ein wohlbekanntes Gesicht, das Marian alle paar Tage aus seiner eigenen Zeitung entgegenzulächeln pflegte. Wie lautete doch gleich der dazugehörige Name? Ein merkwürdiger Name, hinten schlicht und vorne albern. Er war da, irgendwo dort hinter seinen Augen, holpernd im Rhythmus seiner Laufschritte, und es hätte nur einer kleinen Anstrengung bedurft, ihn sich vor Augen zu führen. Aber wozu? Er hatte keine Energie zu verschenken.

Der Überholer ignorierte den Tapeziertisch mit den Wasserbechern, lief weiter mit vorbildlich gestreckter Wirbelsäule und geraden Schultern. Fast wäre Marian ihm gefolgt, plötzlich beflügelt vom Trotz, der ihm schon über manche Klippe geholfen, ihn aber auch in manche Klemme getrieben hatte. Dann jedoch siegten Durst und Vernunft, und er bremste ab.

»Möchtest du so eine Figur haben?«, fragte eine Stimme auf der anderen Straßenseite. Marian, der seinen Becher in einem Zug halb geleert hatte, schaute misstrauisch hinüber, während er sich den Rest des Wassers über den glühenden Nacken schüttete. Aber die beiden grün uniformierten, knorrigen Männer, die dort standen, meinten nicht ihn; sie starrten dem großgewachsenen Überholer nach, dessen extrem schlanken Körperbau sie nicht für erstrebenswert zu halten schienen. Tatsächlich wirkte der Mann von hinten übermäßig leptosom, fast dürr, seine Beine unnatürlich lang und knotig, die Oberarme mager. Die Schönheit liegt eben doch im Auge des Betrachters, dachte Marian, und wo nichts ist, da ist nichts. Dankbar grinsend ergriff er einen nassen Schwamm, der ihm hingehalten wurde, nahm die Brille ab und wischte sich über Stirn und Augen. Dann ließ er den Schwamm fallen und lief weiter.

Auch der lange, dürre Mann bekam seine Erfrischung. Im Vorbeilaufen drückte ihm ein Helfer einen nassen Schwamm in den Nacken. Marian bekam es gerade noch mit, während er sich seine Brille wieder aufsetzte. Der Erfolgsmensch schien nicht gerade erfreut zu sein. Marian sah, wie er den Kopf zur Seite wandte und etwas rief. Der freundliche Helfer drehte sich weg.

War wohl nicht die richtige Wassersorte, dachte Marian, der Herr bevorzugt offenbar »Evian«. Wahrscheinlich aber gefiel diesem Menschen grundsätzlich nichts, was er nicht selber bestellt und angeordnet hatte. Und wenn eine Kühlung nicht von ihm befohlen war, dann fiel es ihm eben überhaupt nicht ein, sie zu genießen.

Da lag der Schwamm im Gras am Rand der Laufstrecke, nicht weit von der Stelle, wo er zu Boden gefallen war. Ein orangefarbener Schwamm, dunkler als der gelbe, den Marian zuvor bekommen hatte, und auch etwas größer. Vom Streckenposten keine Spur. Dem war wohl die Lust vergangen; Marian konnte es ihm nicht verdenken. Ob er den Schwamm ins Gebüsch kicken sollte? Nein, lieber nicht. Gerade war er wieder im Rhythmus, da wollte er lieber nichts riskieren.

Merkwürdig nur, dass dieser Helfer trotz der Hitze eine langärmlige Jacke getragen hatte. Und merkwürdig blasse Hände hatte er gehabt. Aber das lag wohl daran, dass die Haut vom vielen Anfeuchten schon ganz aufgequollen war.

Das erinnerte Marian daran, dass die Spitzengruppe vermutlich schon lange im Ziel war. Und das Schlusslicht nicht mehr fern.

Sofort war der Durst wieder da. Ächzend stolperte er weiter.

4

Traurig, dachte Stahnke, einfach nur traurig. Wie kann der Mensch so tief sinken. Hängende Schultern, schlackernde Arme und die Fußsohlen knallen aufs Pflaster, dass er die Schläge bis hinauf in sein armes, gemartertes Hirn spüren muss. Wenn er überhaupt noch etwas spürt, so wie er nach Luft schnappt, mit vorgestülpten Lippen, krampfhaft und verzweifelt wie ein Fisch auf dem Karren kurz vor dem Markt. Grellrote Flecken im Gesicht und glasige Augen – der hat glatt durch mich hindurchgesehen. Da fragt man sich nicht: Wo läuft der denn hin? Da fragt man sich doch nur: Wovor läuft der wohl weg?

Stahnke schwang das rechte Bein über den Sattel seines gelben Fahrrades, erspähte eine Lücke im Läuferstrom, trat an und fädelte sich ein, Marians schwankenden Rücken immer im Blick. Kurz vor Holtland würde er ihn überholen und ihn dann, wie geplant, am Ziel erwarten. Bis dahin konnte er ebenso gut noch ein bisschen zuschauen, sich ein bisschen daran weiden, wie sich der Mann da vorne quälte.

Mit dem Fahrrad hatte er überhaupt keine Probleme, sich dem Tempo der Läufer anzupassen. Die grobstolligen Reifen schienen ganz von allein zu rollen, die Pedale ließen kaum Widerstand spüren, während seine Finger die Gänge durchprobierten. Spielerisch leicht klickten die Hebel, das Hoch- und Herunterschalten ging absolut narrensicher. Ein schönes Spielzeug, in der Tat.

Wie nannte man das, wie er sich jetzt fühlte? Glücklich etwa? Glücklich, weil er hier an diesem schönen, sonnigen Tag auf einem hochmodernen Fahrrad dahinrollte, während alle anderen sich zu Fuß abquälen mussten? Stahnke fand den Gedanken pervers. Etwas frische Luft, ein Mangel an Mühe, ein funkelndes Stück Besitz, ein Vorteil gegenüber den Mitmenschen – doch, schon möglich, dass es Leute gab, die sich ihr Glück so definierten. Nicht nur möglich, sondern todsichere Tatsache. Aber Stahnke verbot sich das. Seit der Trennung von Katharina hatte Glück außerdem für ihn aufgehört zu existieren.

Was für ein Unsinn! Heftig schüttelte er den Kopf, hielt aber gleich wieder inne, schließlich war er hier nicht allein. Diesen theatralischen Quatsch nahm er sich nicht einmal mehr selber ab, und für seinen dämlichen Hang zum Selbstmitleid konnte er sich selber hassen. Katharina hatte eine Entscheidung gefällt, und er hatte eine Weile darunter gelitten. Beides nicht unnormal, mit einigem Abstand betrachtet. Die außergewöhnliche Länge seines Leidens hatte vor allem mit verletztem Stolz zu tun gehabt. Mittlerweile aber diente dieser gut konservierte Schmerz doch nur noch dazu, Entscheidungen zu vermeiden und Untätigkeit zu begründen. In seinen ehrlichen Momenten gestand er sich das ein. Ein solcher hatte ihn offenbar gerade wieder erwischt. Auch so ein Frühlingsgefühl.

Unwillkürlich hatte er etwas stärker als beabsichtigt in die Pedale getreten und musste nun abstoppen, um nicht auf den Läufer direkt vor ihm aufzufahren. Ein älterer Herr, lang und dürr. Stahnke hatte ihn noch nie in Turnhose und ärmellosem Leibchen gesehen, aber er erkannte ihn sofort, allein schon an dieser schneeweißen Tolle, die auch beim Laufen makellos in Form blieb, als wäre sie mit Spray fixiert. Was sie vermutlich auch war.

Wendelin Krüger. Stahnke kannte den Mann gut, was weiter kein Wunder war, schließlich prangte Krügers Bild seit Monaten alle paar Tage in der Zeitung. Geschäftsführer einer Tochterfirma der Opto-Werke, des größten Arbeitgebers weit und breit, Mitglied im IHK-Vorstand, Gastprofessor an der Fachhochschule in Emden, Wirtschaftskolumnist in diversen Blättern. Kürzlich erst hatte die Regionalzeitung einen großen Artikel über ihn gebracht: »Ein Mann arbeitet für Ostfrieslands Wohlstand«. Ganz allein offenbar und im Gegensatz zu allen anderen, das jedenfalls schien die Überschrift zu suggerieren. Stahnke hatte sich mächtig darüber geärgert, das wusste er noch gut.

Aber er hatte den Mann auch schon vor dessen jüngstem Popularitätsschub gekannt. Wendelin Krüger, Im- und Export, vor allem Rohkaffee und Schalenfrüchte. Keine sehr glanzvolle Erscheinung damals. Umweltschützer und Gesundheitsfanatiker hatten noch vor kurzem einige seiner Lager verwüstet, angeblich, weil Krüger verdorbene und giftstoffhaltige Lebensmittel in den Handel brachte. Stahnke hatte damals gegen Unbekannt ermittelt, wegen Vandalismus, seine Kollegen vom Betrugsdezernat gegen Krüger selbst, wegen Verstoßes gegen irgendwelche lebensmittelrechtlichen Paragraphen. Beide Verfahren waren eingestellt worden. Stahnke hatte Krüger als zwielichtig eingestuft und sich vorgenommen, ihn im Auge zu behalten. So war er Zeuge eines erstaunlichen Aufstiegs geworden.

Die Strecke knickte ab in den Wald und Stahnke musste sich etwas mehr aufs Fahren konzentrieren, denn der Boden war hier locker und voller Furchen und glatter Tannennadeln. Es roch unangenehm modrig; er hasste diesen pilzigen Waldgeruch, atmete verstärkt durch den Mund, um ihn so wenig wie möglich wahrnehmen zu müssen, wurde dann aber von der Vorstellung überfallen, wie winzige Sporen mit der Atemluft in Hals und Lunge eindrangen und sich ein grünlich-weißer Schimmelpelz in seinem Körper auszubreiten begann, grünlich-weiß wie der VW-Bulli von Rieken und van Dieken. Stahnke stöhnte auf, hustete krampfhaft und hielt dann die Lippen fest aufeinander gepresst.

Zum Glück war das Gehölz nicht sehr groß. Schon wurde es lichter, Zuschauer tauchten am Wegesrand auf, Trommeln waren zu hören. Krügers bolzengerader Rücken direkt vor ihm schien sich noch mehr zu strecken, die langen Beine holten noch raumgreifender aus. Stahnke sah, wie Krüger sich anschickte, Marian zu überholen, während der gerade auf den Erfrischungsstand zuhielt wie ein schlingerndes Wüstenschiff auf eine Oase. Der Hauptkommissar bremste ab, unschlüssig, ob er nun hinter Marian bleiben oder die Gelegenheit zum Überholen nutzen sollte, um vor ihm am Ziel zu sein. Dann hielt er an, keine fünf Meter vom Getränketisch entfernt.

Marian trank nicht, er soff, fand Stahnke. Unbeherrscht und unästhetisch, wie nur Menschen saufen konnten. Es war nicht fair, für so etwas denselben Ausdruck zu benutzen wie für die kontrollierte und wohl dosierte Wasseraufnahme von Tieren.