Verrat verjährt nicht - Peter Gerdes - E-Book

Verrat verjährt nicht E-Book

Peter Gerdes

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Ein Toter im Oldenburger Jachthafen gibt Hauptkommissar Stahnke Rätsel auf. Der Fundort verweist auf die Journalistin Olivia Dressel. Diese vermutet, dass die Platzierung der Leiche bei ihrem Boot kein Zufall war. Der Tote hat eine KZ-Häftlingsnummer auf seinem Arm tätowiert, doch ist er offensichtlich zu jung dafür, dass es seine eigene sein könnte. Aber wem gehört sie? Stahnke taucht auf der Suche nach Täter und Motiv in die deutsche Vergangenheit ein. Die Verbrechen von damals haben Folgen. Rache führt zu neuem Leid - Verzicht auf Rache ebenso …

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Peter Gerdes

Verrat verjährt nicht

Oldenburg-Krimi

Zum Buch

Zeiten der Rache Leichenfund im Oldenburger Jachthafen – genau am Bootssteg der scharfzüngigen Journalistin Olivia Dressel. Die Platzierung des Ermordeten kann kein Zufall sein. Ebenso wenig die Häftlingsnummer Z 3030, die einem anderen gehört, auf dem Arm des Toten. Wo ist der Zusammenhang? Olivia, als Pflegekind aufgewachsen, interessiert sich nicht für familiäre Bindungen. Plötzlich sieht sie sich in die dunkle Geschichte gleich zweier Oldenburger Familien verstrickt. Gemeinsam verdienten sie an jüdischem Besitz. Dann kam der Verrat. Kann es sein, dass Verbrechen, die viele Jahrzehnte zurückliegen, noch heute Opfer fordern? Gibt es einen Rachefeldzug über Generationen hinweg? Hauptkommissar Stahnke, zurück an seiner alten Wirkungsstätte, greift auf der Suche nach Täter und Motiv weit zurück in die Vergangenheit, steigt hinab in dunkle Keller und hinter dichte Lügengespinste. Am Ende scheint die Lösung greifbar nahe. Aber ist sie auch zu fassen?

Peter Gerdes, 1955 geboren, lebt in Leer (Ostfriesland). Er studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Seit 1995 schreibt er Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 leitet Peter Gerdes die »Ostfriesischen Krimitage«. Seine Krimis „Der Etappenmörder“, „Fürchte die Dunkelheit“ und „Der siebte Schlüssel“ wurden für den Literaturpreis „Das neue Buch“ nominiert. Mit seiner Frau Heike betreibt der Autor die Krimi-Buchhandlung »Tatort Taraxacum« in Leer.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Tobias Arhelger / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-7004-2

 

 

1.

Heute

Jedes Mal, wenn sie zustach, spürte sie diesen wohligen Schauder. Wie die pralle Haut unter ihrer Klinge knarrte, wie sich der Schnitt klaffend öffnete, wie das weiche Innere hervordrängte! Als würde sie einen Froschmann sezieren. Oder einen Orca schlachten.

Sie blickte hoch. Die polierte Oberfläche der Kühlschranktür zeigte ihr Spiegelbild. Hohe Wangenknochen, starkes Kinn, blaue Augen, Lockenmähne. Die vollen Lippen ihres breiten Mundes waren zu einem spöttischen Grinsen verzogen. Olivia Dressel, die Spottdrossel, den Spitznamen hatte sie sich redlich verdient. Sich selbst nahm sie dabei nicht aus. Nicht einmal beim Würfeln einer Aubergine hatte sie ihre Fantasie im Griff!

Aubergine, Zucchini, Knoblauch, Kräuter und Harissa, ab damit ins heiße Olivenöl. Schon wieder mediterrane Gemüsepfanne! Das Fleisch blieb im Gefrierfach. Nächstes Jahr wurde sie 40, da hieß es aufpassen. Momentan war sie zwar ganz zufrieden mit ihrem kraftvollen Körper und seinen Rundungen, aber mehr durften es nicht werden. Deshalb hatte sie für den Nachmittag auch zwei Stunden Fitnessstudio angesetzt. Ihre Zeitungsseiten waren schon zu, ihr Arbeitszeitkonto war übervoll; ein guter Tag, um Überstunden abzubummeln.

Beim dritten Bissen summte ihr Smartphone. Direkt neben ihrem Teller, da lag es immer. Falls die Redaktion anrief. So wie jetzt. »Was gibt’s denn noch, Marco?«

»Guten Appetit! Na, was isst du gerade, blutiges Büffelsteak, selbst geschossen?« Kollege Marco Rosenfeld klang am Telefon viel selbstsicherer als im wahren Leben. Ein echter Telefonmensch, wie geschaffen für den Redakteursjob, der immer häufiger am Schreibtisch stattfand.

»Schieß mal selber los«, entgegnete sie, ungeniert kauend. »Du versaust mir doch wohl nicht den Nachmittag, mein Kleiner?« Ihr Kollege war einen Kopf größer als sie, aber in ihrer Gegenwart schien er immer zu schrumpfen; dabei gab er sich doch so hartgesotten, recherchierte selbst die übelsten Mordfälle, so wie neulich den Tod des dealenden Nazi-Rockers mit der aufgeschlitzten Kehle. Hinter seinem Notizblock schreckte er vor nichts zurück, dachte Olivia amüsiert. Alles Fassade! Schade eigentlich, Marco war ein ganz leckeres Kerlchen, und dass er erst Mitte 20 war, störte sie nicht im Geringsten. Aber ein bisschen selbstbewusster mussten ihre Männer schon sein. »Ich muss mich an etwas reiben können, um mich an jemandem zu reiben«, hatte sie das mal ausgedrückt, in der Kneipe, unter Frauen und nach dem dritten Glas Weißwein.

»Nee, natürlich nicht. Ist nur eine Kleinigkeit.« Marco druckste herum. Damit fiel er bei ihr schon wieder durchs Raster. »Ist auch nur, weil du doch momentan die Ostfriesland-Seiten machst. Da kam gerade eine Meldung aus Völlen rein, die muss noch zu morgen mit.«

»Na und? Dann stell sie doch rein.« Sie ließ ihn zappeln. »Rechts auf der Zwei, die Meldungsspalte, da stehen unten die DRK-Termine. Schmeiß die raus und stell die Meldung oben drüber. Ist doch kein Ding. Morgen schreibe ich einen Nachdreher.« Ihre Zeitung, die Regionale Rundschau in der alten Residenzstadt Oldenburg, war gerade dabei, ihren Beritt in Richtung Küste auszudehnen, weil das Leeraner Blatt den jahrzehntealten Kooperationsvertrag gekündigt hatte. Das bedeutete Krieg, deshalb hatte sich Olivia auch gleich für die neue Position gemeldet. Freie Hand und Konkurrenzkampf, so etwas liebte sie.

»Ja nee.« Ihr Kollege gab sich einen hörbaren Ruck. »Wir brauchen ein Foto, und von den freien Fotografen, die wir dort haben, hat keiner Zeit. Von uns hier in der Zentrale auch nicht.«

»Wie, und jetzt soll ich extra in die Sümpfe fahren, bloß, um ein Foto zu knipsen? Wovon denn überhaupt?« Sie schaufelte sich Gemüse in den Mund, soviel nur hineinpasste. Das Zeug schmeckte wirklich gut. Außerdem war ihr Widerstand in Wahrheit längst gebrochen. Also schnell hin, schnell fertig, dann blieb vielleicht noch Zeit für das Studio. Oder für ihr Boot, dort musste sie auch mal wieder nach dem Rechten schauen.

»Anschlag auf den Gedenkstein vor der Kirche«, sagte Marco.

Olivia prustete Auberginenstücke auf ihren Teller. »Wie bitte? Hat jemand das Ding in die Luft gejagt? Das hättest du gleich sagen sollen.«

»Nein, keine Bombe, aber ein Farbanschlag. Immerhin. Du weißt, das Ding ist sowieso brisant, seit die Sache mit diesem Johann Niemann aufgeflogen ist. Deswegen brauchen wir unbedingt ein Foto, die Fakten haben wir schon zusammen. Also, was ist? Nagelst du eben runter mit deinem Organspendermobil? Foto kannst du online schicken. Danach hast du frei.«

»Natürlich online! Das sagst du doch bloß, damit ihr mir die Rückfahrt nicht als Arbeitszeit berechnen müsst.« Sie nahm ihren Teller und stellte ihn auf die Spüle. »Und mach mir mein Moped nicht schlecht, verstanden? Wenn ich das nicht hätte, würdest du bei mir auf Granit beißen.«

»Moped! Selten so eine schamlose Untertreibung gehört. Höllenmaschine passt wohl eher.« Marcos Stimme war die Erleichterung anzuhören.

Sie musste lachen. »So was kann nur ein Weichei sagen. Sorry, nichts für ungut, aber – Weichei! Lass dich doch in die Gartenredaktion versetzen, oder hast du etwa vor Harken Angst? Die sind vorne ebenfalls aus Metall.«

»Nein, danke, ich bleibe bei meinen weichen Themen«, parierte Marco. »Solchen wie dieser ultrarechte Parteifunktionär, der gestern gegen eine Mauer gerast ist, weil sein Wagen die komplette Bremsflüssigkeit verloren hatte. Der ist jetzt butterweich, das kannst du mir glauben.«

Olivia lachte entzückt. »Oho, Marco! Willst du etwa doch noch auf Mann umschulen?«

Er lachte mit, gutmütig, wie er war. »Schönen Dank auch! Und treib’s nachher nicht zu doll, nicht, dass mir Klagen kommen.«

»Wenn ich es irgendwo treibe, kommen nie Klagen.« Sie alberten noch ein bisschen herum, während Olivia sich in ihre Lederjacke zwängte. Die Lederhose trug sie bereits, die war einfach schick, wenn auch etwas warm im Sommer. Aber was tat man nicht alles für ein paar bewundernde Blicke.

Sie beendete das Gespräch und trat aus der Tür. Hinaus in die grüne Hölle. Ihr kleines Siedlerhäuschen in Drielake hatte über 1.000 Quadratmeter Garten, viel zu viel für ihren Geschmack. Wenn sie mit Mähen und Schnippeln an einem Ende fertig war, konnte sie am anderen direkt wieder anfangen. Meistens tat sie das nicht, was die Sache nicht einfacher machte. Zum Glück hatte sie tolerante Nachbarn. Das Kifferpärchen rechts lobte sie sogar für ihren »Naturgarten«, während deren eigener an eine Müllkippe erinnerte. Und der alte Schulte links, der schon ewig dort wohnte und dessen Garten immer aussah wie geleckt, stutzte sogar die kleine Trennhecke auf ihrer Seite mit. Als Nachbar war der Mann ein Glücksfall, weil er nicht nur von Pflanzen, sondern auch von Motoren etwas verstand. Auf dem Weg zu ihrem Carport sah sie ihn drüben werkeln und winkte ihm zu.

Im Carport stand ihr roter Alfa Romeo Spider, klein und niedrig und so weit wie möglich hinten rechts in die Ecke gedrängt, als fürchte er sich vor dem anderen Fahrzeug, mit dem er sich den Unterstand teilen musste. Einem Klotz aus schwarzem Metall, der das Auto deutlich überragte, mit obszön unverkleideter Maschine und blanken Luftansaugstutzen, die wie Kanonenrohre aussahen. Die Yamaha V-Max, seinerzeit das erste Serienmotorrad auf dem deutschen Markt mit mehr als 100 Pferdestärken. Sogar mehr als 100 Kilowatt! Inzwischen war das keine Seltenheit mehr, aber dieses Monstrum mit seinen 262 Kilo Gewicht hatte einst den Bann gebrochen.

Sie stülpte den knallroten Helm über ihre Mähne und glitt in den Sattel. Dröhnend und fauchend erwachte der Motor zum Leben. Sanft gab sie Gas, ließ die Maschine niedertourig über den Hemmelsbäker Kanalweg rollen, um keinen Nachbarn vom Sofa zu scheuchen; hier am Stadtrand hielt man sich noch an die Mittagsruhe bis 15 Uhr. Erst hinter dem Bahnübergang gab sie kurz mehr Gas – und steckte sofort im dichten Stadtverkehr fest. Mit einem wirklichen Moped hätte sie sich jetzt zwischen den Autos hindurchgeschlängelt. Mit dem Monster tat sie das lieber nicht. Nicht hier, wo man sie kannte.

Statt sich durch die Innenstadt zu quälen, schlug sie den Weg zur Autobahn ein, nahm die Auffahrt Oldenburg-Ost, fuhr bis Eversten/Bloherfelde und nahm dann die B401, die in Hundsmühlen auf den Küstenkanal traf. Ab hier ging es mehr oder weniger geradeaus bis zur Abzweigung nach Papenburg. Trotz der Geschwindigkeitsbeschränkungen, an die sie sich weitgehend hielt, fuhr Olivia diese Strecke gern. Vor allem wegen des Kanals, dessen Wasser linker Hand immer wieder durch Baumreihen blitzte. Hin und wieder kam ein Motorboot in Sicht, dann reckte sie den Hals. Meist aber waren es behäbige Rentnerpötte, hoch und breit und mit allem Komfort. Olivia liebte es auch auf dem Wasser deutlich rasanter. Ihr eigenes Boot im Oldenburger Jachthafen legte Zeugnis davon ab.

Kurz vor der Abzweigung des Elisabethfehnkanals kam ihr ein niederländisches Binnenschiff entgegen, so groß, wie es gerade noch durch die Schleusen passte, hoch beladen mit Containern, einige davon knallbunt, die meisten matt und rostig. Wie hatten diese Blechbüchsen die Seefahrt verändert, weltweit, auf den Ozeanen wie auf den Flüssen und Kanälen! Albert Schulte, ihr netter alter Nachbar, schwärmte oft von den Zeiten, als Stückgut noch Stückgut war und mit Kran und Karre gelöscht wurde, als die Schiffsbesatzungen zahlreich und die Hafenarbeiter noch weit zahlreicher waren. Aus, vorbei, komplett umgekrempelt. Containerhäfen glichen heute Geisterstädten, arbeiteten dafür rund um die Uhr, und die Liegezeiten der Schiffe waren so kurz, dass es sich für die wenigen verbliebenen Seeleute kaum lohnte, einen Fuß an Land zu setzen.

Ihr Vater war einer von diesen Seeleuten gewesen. Na ja, was man so Vater nannte. Nennen musste, das hatte Mutter ihr eingebläut. Von wegen Mutter! Dass sie bloß ein Pflegekind war, eine Einnahmequelle, hatte die Frau ihr nach einem furchtbaren Streit ins Teenagergesicht gebrüllt. Sie hatte im Schock eine Blumenvase zerschlagen, und ihr sogenannter Vater, der zufällig mal zu Hause war, hatte sie vertrimmt, routiniert und gründlich. Danach hatte sie sich geschworen, sich vom Acker zu machen, sobald und so schnell es ging. Das hatte sie auch gemacht, an ihrem 18. Geburtstag. Seitdem konnte es ihr nie schnell genug gehen, bei allem, was sie tat.

Vor ihr bog ein Passat auf die Bundesstraße ein, nahm ihr die Vorfahrt. Hielt der Fahrer sie etwa für ein Mofa? Statt zu bremsen, gab sie Gas, huschte an der Familienkutsche vorbei und fädelte sich vor dem entgegenkommenden Lkw wieder ein, ehe der entsetzt glotzende Fahrer seine Lichthupe gefunden hatte. Dann noch schön den Mittelfinger! Ja, so machte es Spaß. Damit trieb sie sich trübe Gedanken wirkungsvoll aus Kopf und Gekröse.

Papenburg zerrte an den Nerven. Wie konnte eine Stadt nur so lang gestreckt sein! Ein abgewickelter Bindfaden war nichts dagegen. Klar, Fehnsiedlungen waren zur Zeit der Moorkolonisten entlang von Kanälen entstanden, weil es richtige Straßen nicht gab, schon gar nicht im Winter, wenn alles nass und der Untergrund aufgeweicht war. Ließ sich logisch erklären. Aber machten Erklärungen irgendetwas besser? Für Marco vielleicht, diesen Kopfgesteuerten, dachte Olivia. Aber nicht für sie. Papenburg fühlte sich blöd an, also war es blöd.

Im ostfriesischen Dorf Völlen angekommen, fuhr sie zunächst an dem Gedenkstein vorbei. Am Tatort, genau genommen. Sie hatte gedacht, die Gedenkstätte läge direkt an der Straße, Polizei und Spurensicherung wären im Einsatz und müssten sich dabei aufdringlicher Gafferhorden erwehren. Nichts davon traf zu. Das beschmierte Steintafel-Triptychon lag ein paar Meter zurückgesetzt und durch Büsche abgeschirmt zwischen Straße und Kirche und war mit Flatterband umsäumt; der Polizeieinsatz war bereits beendet, und wenn es einen Auflauf Neugieriger gegeben hatte, dann hatte sich der inzwischen verlaufen. Vermutlich hatte die Tat nachts stattgefunden, überlegte Olivia, während sie ihre V-Max in der nächsten Seitenstraße abstellte, dann war klar, warum hier niemand mehr herumstand. Blöde nur, dass die Rundschau so spät davon erfahren hatte! Schaulustige hätten sich auf dem Foto gut gemacht. Die Verankerung ihrer Zeitung im südlichen Ostfriesland musste noch sehr viel besser werden.

Das mit Backsteinen ummauerte Denkmal hatte drei Flügel aus Sandstein; zwei kleinere rahmten den mittleren, deutlich größeren ein. Links und rechts waren die Völlener Toten des Ersten Weltkriegs aufgelistet, von 1914 bis 1918 nach Jahrgängen sortiert. Die große Tafel in der Mitte zeigte die Namen der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Völlener, weitaus mehr, alphabetisch und im Fließtext. Über diese Namen hatte jemand mit roter Farbe das Wort »Mörder!« gesprayt, in zwei Zeilen und mit Trennungsstrich. Dahinter ein Ausrufezeichen. Und noch ein Strich darunter, wie um das Ganze … na, eben zu unterstreichen.

Olivia zückte ihr Smartphone. Sie mochte keine Bilder nur von Steinen, ohne Menschen, in der Zeitung. Aber hier waren immerhin genügend Namen drauf, und die Schändung des Mahnmals sprach für sich. Sie knipste aus verschiedenen Perspektiven.

Na ja, Mahnmal … Dass es eigentlich als Kriegerdenkmal gedacht war, sah man auf den ersten Blick, auch wenn die Überschrift »Unseren gefallenen Helden« inzwischen durch »Nie wieder!« ersetzt worden war. Die beiden steinernen Schwerter links und rechts des Mittelblocks aber hatte man belassen. Fadenscheinig, fand Olivia. Sie hatte nichts gegen archaische Waffen, hatte sogar schon überlegt, ob Fechten nichts für sie wäre. Aber weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg wurde mit Schwertern gekämpft, da wurde Menschen durch alle erdenklichen Körperteile geschossen, sie wurden mit Granaten und Bomben zerfetzt, zermalmt und zerstampft. In Frankreich und Belgien fanden Bauern heute noch Überreste in ihren Feldern. Moderne Kriege waren keine edlen Gefechte, sondern Gemetzel mit Maschinen, da gab es nichts zu beschönigen.

Hatte der unbekannte Sprayer das gemeint? Er hatte allein die mittlere Tafel besprüht, die mit den Namen aus dem Zweiten Weltkrieg. Links und rechts konnte Olivia kein Tröpfchen Farbe entdecken. Also eher eine Anti-Nazi-Aktion. Naheliegend, die extreme Rechte hatte in den letzten Jahren mächtig Zulauf gehabt, vor allem in den östlichen Bundesländern, aber auch hier im Nordwesten gab es immer mehr Aktivitäten. Die neuen Nazis beriefen sich immer ungenierter auf die alten, und von denen hatte mindestens einer jahrelang mit auf dieser Ehrentafel gestanden: Johann Niemann, der Kommandant des Konzentrationslagers Sobibor.

Vor einiger Zeit war das aufgefallen, es hatte Kritik gegeben, und sein Name war mit einer getönten Plexiglasscheibe überdeckt worden, die auf eine separate Tafel verwies, auf der die Verbrechen dieses Völleners erläutert wurden. Weder der überdeckte Name noch die Infotafel waren besprayt worden. Wollte der unbekannte Täter damit andeuten, dass auch alle anderen Weltkriegsteilnehmer in seinen Augen Mörder waren? Es gab Leute, die das so sahen – »Soldaten sind sich alle gleich, lebendig und als Leich’.« Die meisten aber differenzierten doch danach, wer für welche Sache kämpfte, mit welchen Mitteln, ob unfreiwillig oder aus Überzeugung. Oh ja, das Leben war kompliziert. Das Wort »Mörder« allein wurde dem nicht gerecht.

Genug davon. Olivia schickte drei Fotos an die Redaktion, wartete die Bestätigung von Marco ab und setzte sich den Helm wieder auf. So, was jetzt? Noch ins Fitnessstudio? Eigentlich war das Wetter zu gut dafür. Vielleicht später am Abend. Erst mal zurück nach Oldenburg und einen Abstecher zum Jachtklub machen, nach ihrem Boot schauen, vielleicht Leute treffen, bisschen klönen. Sie startete ihre Maschine, riss kurz das Gas auf. 145 Pferdestärken brüllten durch das halbe Dorf. Ups! Schnell legte sie den ersten Gang ein, wollte lossprinten, musste aber erst einen Kleinbus vorbeilassen, der Vorfahrt hatte. Der Bus war mit Werbung beklebt, drinnen saßen lauter Halbwüchsige in bunten Fußballtrikots. Die Jungs starrten sie aus großen Augen an, teils ungläubig, teils bewundernd und neiderfüllt. Waren die Burschen schon alt genug für den Mopedführerschein? Bis zu einer V-Max würden sie noch ein paar Jahre warten müssen. Gott sei Dank.

Sie überholte den Kleinbus bei der ersten Gelegenheit, gondelte durch Papenburg zurück an den Küstenkanal und bog nach links auf die Bundesstraße ein. Diesmal hatte sie mehr Gegenverkehr; nach ein paar krassen Überholmanövern ließ sie es sein und blieb hinter einem Tieflader, der seinerseits so schnell fuhr, wie es die Straße gerade noch zuließ. Seine Ladung bestand aus einem rostigen Seecontainer. Kein Spaß, heutzutage für eine Spedition zu arbeiten, dachte Olivia, ständig den Zeitdruck im Nacken und den Disponenten am Handy. Sie als Redakteurin stand normalerweise auch unter ständigem Zeitdruck. Aber ihr machte das nichts, sie war schnell im Denken und flott im Schreiben. Nicht so wortverliebt wie Marco, der jeden Satz viermal durchkaute.

In Oldenburg hatte schon der Feierabendverkehr eingesetzt. Sie brauchte eine Weile bis zum Jachtklub, wo ihr Boot lag. Der lange Schwimmsteg war in einem Seitenarm der Hunte vertäut, unterhalb einer Fischtreppe und seitlich der Schleuse, dort, wo aus dem Küstenkanal ein Fließgewässer wurde. Die Ufer waren dicht bewachsen. Ebbe und Flut reichten bis hierher, in die Mitte der Stadt; so war das binnenländische Oldenburg mit allen Ozeanen und Randmeeren dieser Welt verbunden. Ein Gedanke, der sie faszinierte. Sie grüßte flüchtig ein paar ältere Vereinskollegen, die ihr unverhohlen nachglotzten, während sie über den Verbindungssteg tänzelte. Olivia sah es genau, sparte sich aber den Mittelfinger. Diese alten Säcke hatten das Sagen im Verein und konnten ihr jede Menge Ärger machen, wenn sie denen dumm kam. Das war es ihr nicht wert. Sie wollte nur einen Liegeplatz für ihr Boot; die Welt verbessern, das sollten andere besorgen.

Der Schwimmsteg war ewig lang, ein Element folgte auf das andere. Ihr Boot lag ganz am Ende des Steges; Neulinge mussten sich hinten anstellen, wenn sie überhaupt einen Liegeplatz bekamen. Die alten Kämpen gingen nicht gerne weit zu Fuß. Olivia war inzwischen zwar seit acht Jahren Vereinsmitglied, hatte aber nie drauf gedrungen, dementsprechend weiter in Richtung Vereinsheim zu rücken; außen am Steg lag sie nicht in einem engen Schlauch mit hinterlistigen Steinen an der Böschung gegenüber, an denen sie sich bei Niedrigwasser den Propeller verhunzen konnte, sondern im freien Wasser, direkt am breiten Huntebecken mit Blick auf die alte Cäcilienbrücke. Ihr Boot war eine Cobalt 253, keine acht Meter lang, aber mit 250 PS, und führte den Namen Sting. Okay, sicher gab es Rennboote, deren spitze Form noch mehr an einen Stachel erinnerte, aber ihres kam schon ziemlich dicht heran. Offenes Cockpit mit Bimini-Verdeck, Schlupfkajüte, Steuerstand rechts, ultrabequeme Sessel, Liegefläche achtern. Und Getränkehalter. Herrlich, wie sich die alten Männer die Mäuler darüber zerrissen! Aber wenn sie den Volvo Penta anwarf, hörte sie nichts mehr davon. Und wenn sie beschleunigte, spürte sie die gierigen Blicke der Kerle mal nicht auf ihrem Hintern, sondern auf dem Heck ihres Bootes. Kurze Inspektion: An Bord war alles in Ordnung. Sie startete die Maschine und warf die Festmacher los, erst achtern, dann vorne. Die Ebbe lief bereits und Sting lag mit dem Bug stromaufwärts, das empfahl sich wegen des ständig von der Fischtreppe her fließenden Oberwassers. Also löste sie die vordere Spring zuletzt. Die Strömung drückte den Bug vom Steg weg, genau wie berechnet. Sie schob den großen, verchromten Hebel sanft nach vorne. Einkuppeln und Gas geben war eins. Federleicht löste sich ihr Boot vom Steg und beschrieb einen eleganten Bogen. Hach, war das schön!

Auf dem Warteplatz vor der Schleuse lag ein großes Binnenschiff, hoch mit Containern beladen. Olivia passierte das Schiff in sicherem Abstand. Am Heck hing die niederländische Flagge. Herinnering hieß das Schiff und kam aus Groningen. Viele Binnenschiffe waren in den Niederlanden beheimatet.

Die Strömung der Ebbe war deutlich spürbar, das Wasser aber stand noch hoch. Kein Problem, die Durchfahrthöhe der Hubbrücke reichte jederzeit für ihr flaches Boot. Das Ende dieser alten Brücke war besiegelt; demnächst würde sie durch einen Betonbau ersetzt werden, so wie vor vielen Jahren die Amalienbrücke am anderen Ende des Stadtkanals. Noch aber konnte sie das stählerne Baudenkmal von unten bewundern.

Langsam tuckerte sie zwischen den Spundwänden hindurch, spürte die gebändigte Kraft des Motors in den Vibrationen des Ruderrades. Ungeduld auch, aber das war ihre eigene. Beim Stadthafen bog sie nach rechts ab. Zwischen ihr und dem Unterlauf der Hunte lag als letztes Hindernis nur noch die Eisenbahn-Klappbrücke. Ein vertracktes altes Ding, das sich an heißen Tagen wie diesem gerne mal verklemmte. Zwei rote Warnlampen leuchteten ihr entgegen. Mit den Augen nahm sie Maß: Reichte die Durchfahrthöhe auch ohne Öffnung?

Eine der roten Lampen erlosch; die Klappbrücke begann, sich zu heben. Hatte man sie vom Stellwerk aus bemerkt? Ach nein, auf dem Warteplatz vor der Brücke machte sich gerade ein weiteres Binnenschiff startklar, hatte die Öffnung wohl über Funk angefordert. Gute Gelegenheit, dachte Olivia und gab Gas. Sting hob seinen Bug und schob ihn auf die eigene Welle. Flott steuerte sie ihr Boot auf die Durchfahrt zu. Noch leuchtete zwar die eine rote Lampe, aber sie brauchte nicht auf Grün zu warten, die Durchfahrthöhe war bereits mehr als groß genug, und das lahme Binnenschiff hatte noch nicht einmal auf Schleichfahrt beschleunigt. Mit ihrem Speed war sie durch die Brücke, ehe sie jemand bemerkte.

Irrtum, stellte sie fest, kaum, dass sie das Rotlicht passiert hatte. Im toten Winkel auf der anderen Brückenseite lauerte sachte dümpelnd ein Polizeikreuzer. Worauf? Auf Verkehrssünder wie sie. Schon beschleunigte das schwere blaue Stahlboot und schob sich in einem Bogen längsseits, nicht weniger elegant als vorhin die Sting beim Ablegen. Olivia fletschte die Zähne und knurrte vor unterdrückter Wut. Wut auf sich selbst. Schon wieder in die Falle getappt! Lernte sie denn nie etwas dazu? Wenigstens kannte sie das Verfahren inzwischen, behielt Kurs und Geschwindigkeit bei, wie die Beamten es von ihr erwarteten; das Polizeiboot passte sich genau an und fuhr neben der Sting her, weniger als einen Meter entfernt. Zwei stämmige Uniformierte stiegen zu ihr herüber, fast gleichzeitig, sodass ihr Boot seitlich tiefer eintauchte und sie gut zu tun hatte, ihren Kurs stabil zu halten und eine Kollision zu vermeiden.

»Guten Tag, Bootsführerschein und Schiffspapiere bitte.« Der ältere der beiden trug einen ausladenden Schnurrbart. Er tippte sich an die Mütze und stellte sich vor. »Hauptkommissar Seifert, Wasserschutzpolizei. Sie wissen, warum wir an Bord gekommen sind?«

Olivia nickte. »Tut mir leid, ich war wohl etwas voreilig.« Sie investierte einen ihrer Augenaufschläge. Dunkelblaue Iris unter langen schwarzen Wimpern, ein reizvoller Kontrast zu ihren Zigeunerlocken und ihrem sommerbraunen Teint. Na, tat der Anblick seine Wirkung wie schon so oft zuvor?

Der Beamte ließ sich nichts anmerken, prüfte ihre Papiere akribisch, während sein jüngerer Kollege hinter ihm stand und interessiert über seine Schulter blickte. Galt sein Interesse dem Boot oder der Steuerfrau? Schwer zu sagen, dachte Olivia. Das konnte teuer werden. Wurde es aber nicht. Der ältere Beamte beließ es bei einer kleinen Geldbuße und einer väterlichen Ermahnung, der jüngere grinste sie zum Abschied breit an. Aha, alles klar, dachte sie und grinste zurück. Vielleicht ein anderes Mal, am besten am Strand oder im Huntebad. Auf Uniformen stand sie nicht.

Nachdem der Polizeikreuzer kehrtgemacht hatte, um sich erneut auf die Lauer zu legen, blieb Olivia noch ein paar Minuten auf ihrem Kurs, wendete dann aber auch ihr Boot. Die Lust an einer längeren Ausfahrt war ihr vergangen. Sie hatte sich überzeugt, dass mit Sting alles in Ordnung war, und damit ihrer Eignerpflicht genügt. Jetzt lieber ins Studio und Eisen stemmen, richtig abreagieren, darauf hatte sie mehr Bock.

Diesmal hielt sie sich penibel an die Geschwindigkeitsbegrenzung, unterquerte die Eisenbahnbrücke, ohne eine Öffnung abwarten zu müssen, da der Wasserstand inzwischen weit genug gefallen war, fuhr in Richtung Stadthafen und wollte dann nach links in den Stadtkanal einbiegen, der zum Huntebecken vor der Schleuse und zu ihrem Liegeplatz führte. Von dort näherte sich allerdings Gegenverkehr, ein ziemlich großes Binnenschiff voll mit Containern. Also stoppte sie und wartete ab, bis der Tausendtonner die Kurve bewältigt hatte. Dann erst fuhr sie zwischen die Spundwände, wo das Wasser immer noch von der Schraube des Binnenschiffs aufgewühlt war und schäumte, brachte den Stadtkanal hinter sich und steuerte ihren Liegeplatz an. Etwas flotter als erlaubt, denn jetzt wusste sie ja, wo das Polizeiboot lag.

Die Lücke am Steg, die sie beim Ablegen hinterlassen hatte, war noch frei. Das hintere Ende des langen Schwimmstegs war vom Huntebecken aus frei einsehbar, leere Plätze wirkten einladend. Manchmal legten Passanten, die nach der Schleusung eine Pause einlegen wollten, dort an, das führte jedes Mal zu Diskussionen. Diesmal nicht, dachte Olivia, zum Glück. Nach dem Erlebnis vorhin wäre sie womöglich grob geworden. Adrenalin war ein Teufelszeug.

Im spitzen Winkel steuerte sie die Lücke an, legte die vordere Spring und das Ende der Vorleine zurecht und vergewisserte sich, dass die Fender richtig hingen. Gut vorbereitet, waren solche Manöver auch allein gut zu schaffen. Die Strömung kam zuverlässig von vorn, von der Fischtreppe her, und war gut zu berechnen. Mit einem fein dosierten Gasstoß rückwärts brachte sie ihr Boot zum Stillstand. Jetzt die Einhebelschaltung auf Leerlauf gestellt und schnell auf den Steg gesprungen, das Auge der Spring über den Poller gestreift und die Vorleine durch den Ring gezogen, schon konnte sich Sting nicht mehr selbstständig machen. Das hatte sie oft geübt, das hatte sie drauf. Als sie sich nach dem Poller bückte, bemerkte sie, dass dort eine fremde Leine belegt war. Eine dünne Leine, die senkrecht ins Wasser zeigte. Was hatte die hier zu suchen? Fast hätte sie den richtigen Moment für die Spring verpasst; ihr Boot begann schon, rückwärts zu treiben, als sie das Auge des Festmachers endlich über den Poller warf. Schon kam die Leine steif und begann, unter dem Zug zu knarren. Olivia musste erst die Vorleine belegen, ehe sie sich darum kümmern konnte, was da am Poller ihres Liegeplatzes hing. Sie kniete sich auf die Holzplanken, beugte sich vor, näherte ihr Gesicht der Oberfläche des fließenden Wassers und versuchte, etwas zu erkennen. Was nicht einfach war, denn der Wasserspiegel reflektierte im Nachmittagslicht. Alles, was sie sehen konnte, waren ihre eigenen Augen. Augen und ein Gesicht. Aber ihr Gesicht war das nicht, und das waren auch nicht ihre Augen. Diese da waren zwar offen, aber blicklos, und die Gesichtshaut drum herum war bleich wie der Tod. Dort unter Wasser, an ihrem Liegeplatz, direkt unter ihr hing ein Toter. Olivia richtete sich kniend auf, schloss ihre Augen, atmete tief, zählte bis zehn, schaute erneut ins Wasser, in die blicklosen Augen. Dann stand sie auf, beendete das Anlegemanöver, stellte den Bootsmotor ab und rief die Polizei an. Ihre Stimme war ganz ruhig, und auch das Smartphone in ihrer Hand zitterte nicht.

2.

Heute

Erinnerungen, dachte Stahnke. Die leichten Bewegungen der sanft gebogenen Schwimmstegschlange unter seinen Schuhen, das gerade noch spürbare Abtauchen der Steg-Elemente unter seinem schweren Körper. An diesem Steg hatte einmal sein eigenes Boot gelegen, ehe er sich einen Liegeplatz in Elsfleth gesucht hatte, direkt an der Weser, näher an seinem damaligen Segelrevier. Später hatte dann Marian Godehau seinen alten Kutter hier festgemacht. Auch schon wieder lange her, kaum noch wahr. Und doch stand ihm alles plastisch vor Augen.

Jungredakteur Godehau und Sina Gersema, seine Kollegin und Freundin. Damals. Bis sie ihn verlassen hatte. Verlassen für einen deutlich älteren, seinerzeit noch schwergewichtigeren, oft knurrigen und alkoholgefährdeten Kriminalbeamten namens Stahnke. Marian hatte daraufhin Oldenburg verlassen, völlig frustriert, und sich einen Job beim Langeooger Inselboten gesucht. Sina hatte auf Psychotherapeutin umgeschult, Stahnke hatte sich nach Ostfriesland beworben. Letztlich waren sie alle drei immer wieder auf Langeoog zusammengetroffen. Ein ums andere Mal. Am Ende einmal zu viel.

»Herr Stahnke«, hauchte eine Stimme, nur einen Meter hinter ihm und doch wie aus einer anderen Welt. »Willkommen zurück an Ihrer alten Wirkungsstätte! Wie ich sehe, ist Ihnen noch alles wohlvertraut.«

»Moin, Herr Doktor.« Stahnke nickte kurz über seine Schulter. Er zuckte schon lange nicht mehr zusammen, wenn Doktor Mergner irgendwo auftauchte wie ein Geist aus einer Gruft. Der Zuständigkeitsbereich des Oldenburger Gerichtsmediziners umfasste auch Ostfriesland, und so waren sie in den letzten Jahren immer wieder beruflich aufeinandergestoßen. Immerhin eine Konstante. Ansonsten war bei der Kripo Oldenburg nichts mehr so wie damals, das hatte er schon nach wenigen Tagen im Dienst festgestellt. Aber wie auch immer, sein Abgang aus Leer war eine Flucht, und Flüchtlinge hatten keine Wahl.

»Gesprächig wie immer«, konstatierte Mergner. »Die neuen Kollegen beschweren sich bestimmt schon wegen der übermäßigen Kommunikation.« Irgendwie schaffte er es, sich auf dem schmalen Steg an Stahnkes ausladenden Schultern vorbeizuwinden und ihm vorauszueilen. »Wir sehen uns bei der Arbeit«, hauchte er noch, und Stahnke wunderte sich, dass seine Worte selbst unter freiem Himmel dumpf klangen. Auch darüber, dass sich kein weißer Arztkittel hinter dem dörrfleischdürren Mann bauschte. In Hemd und Freizeithose kannte er Mergner gar nicht. Sollte der Mann ein Privatleben haben? Vielleicht. War auch egal. Stahnke hatte momentan keins, deshalb war er gerade hier. In Oldenburg und an diesem Ort, der offenbar ein Tatort war.

Als der Hauptkommissar endlich das Ende des Steges erreicht hatte, kniete Mergner schon in der Pfütze, die sich auf den Planken rund um einen Toten gebildet hatte. Männliche Leiche, schlank, überdurchschnittlich groß, registrierte er automatisch. Die Arme über dem Kopf zusammengebunden, an den Handgelenken, mit einer dünnen Leine, deren anderes Ende zu einem Poller führte. Der Mann schien 60 Jahre alt zu sein oder älter, aber so weit gut erhalten. Volles, kurz geschnittenes Haar, anscheinend blond, vermutlich gefärbt. Bekleidet mit kurzärmeligem Oberhemd und knielanger Freizeithose, passend zum Fundort. Barfuß. Sonstige Merkmale … Stahnkes Gedankenfluss stockte. Eine Riesenfaust quetschte seinen Magen zusammen. Wie sahen diese Füße denn aus! Hinten und mittig schmal und mit hohem Spann, vorne breit. Unnatürlich breit, wie Flossen. Breitgequetscht. Sein Gehirn weigerte sich, eine Erklärung anzubieten für das, was er da sah.

»Prämortale Verletzungen«, sagte Mergner. »Eine Menge davon. Dort, an den Zehen, aber auch an den Unterschenkeln, hier und hier.« Sein Medizinerhirn arbeitete niederschwelliger. »Auch an den Händen und Unterarmen finden sich Quetschungen, Schnitte und Stiche. Muss teilweise heftig geblutet haben, aber das Wasser hat sämtliche Wunden ausgespült.«

»Wurde der Mann gefoltert?«, fragte einer aus der Gruppe, die um Mergner und den Toten herumstand. Zwei Männer trugen Uniform, zwei Frauen weiße Ganzkörperanzüge; der Sprecher hatte Jeans, Oberhemd und Weste an. Für Stahnke sah er aus wie ein Abklatsch von Marian Godehau: um die 40 Jahre, halblange braune Locken, struppiger Bart, schief sitzende, getönte Brille. »Oder könnten die Verletzungen von einer Bootsschraube stammen?«, fragte der Mann weiter.

Mergner blickte auf, schüttelte kurz den Kopf. »Natürlich wurde er gefoltert«, erwiderte er milde. »Und nein, Schraubenverletzungen sehen anders aus. Ganz anders.« Stahnke kannte Mergners Tonfallnuancen; so klang Geringschätzung. Dem konnte er sich nur anschließen. Wer war denn dieser Gehirnathlet überhaupt?

Der Lockenkopf hatte ihn bemerkt. »Moin, Herr Erster Hauptkommissar«, grüßte er. »Ich bin Thorsten Venema, ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Damals war ich ja noch …« Der Mann schien Stahnkes abweisende Miene zu deuten, stutzte, unterbrach sich, runzelte die Stirn. »Oberkommissar Venema, KDD«, rapportierte er dann betont sachlich. »Leiche ist geborgen, Tatort gesichert, Taucher sind bestellt, Wasserschutz ist unterwegs. Spurensicherung und Gerichtsmedizin …«

»Ja, Herr Venema, wir sind alle hier«, hauchte Doktor Mergner, gerade laut genug, um dem Ermittler das Wort abzuschneiden. »Und wir sind auch brav bei der Arbeit. Ich bin mir sicher, dass Herr Stahnke das bemerkt hat.« Er zwinkerte ihm zu: »Erster Hauptkommissar jetzt, aha! Eins rauf die Karriereleiter, wurde auch Zeit. Meinen Glückwunsch.«

»Bleiben wir doch trotzdem bei Hauptkommissar, Herr Doktor, aus alter Gewohnheit«, sagte Stahnke. Dann nickte er Venema zu, senkte aber schnell den Blick. Venema war in seiner ersten Oldenburger Zeit einer der talentiertesten Anwärter gewesen, und Stahnke hatte sich vorgenommen, den Jungen nach Kräften zu fördern. Dann aber trennte sich Katharina von ihm, seine Frau und Seelenpartnerin, und er ergriff die Flucht, brach alle Brücken hinter sich ab, fror alle Kontakte ein, löschte alle Festplatten. Thorsten Venema musste sehr enttäuscht von ihm gewesen sein, aber daran hatte er keinen Gedanken verschwendet, tief versunken in Selbstmitleid. Anscheinend hatte der Junge auch allein seinen Weg gemacht. Ob er sich gefreut hatte, als er hörte, dass Stahnke nach all den Jahren zurück nach Oldenburg kam? Falls ja, dann hatte die Freude nicht lange gedauert. Nur bis gerade eben. Selbstkontrolle, dachte Stanke, ich muss mich besser im Griff haben. Aber was sieht dieser Typ auch Marian so ähnlich! Diesem Blödmann, der ihm Sina weggenommen hatte. Bloß gut, dass Sina nicht hier war; sie konnte ihm alle Gedanken von der Stirn ablesen und würde ihm seinen stoppelhaarigen Kopf waschen. Natürlich war Marian kein Blödmann, natürlich war eine Frau oder Freundin kein Besitz, den jemand wegnehmen konnte. Ja doch! Wie hatte er diese Wortgefechte mit ihr geliebt. Warum konnte sie jetzt bloß nicht hier sein!

Stahnke stellte fest, dass sein Blick auf einem Gegenstand ruhte, der neben dem Kopf des Toten lag, in derselben Pfütze. Ein dünnes Drahtseil führte von diesem Gegenstand zum Hals der Leiche. »Eine Autofelge«, stellte er fest. »Damit wurde die Leiche beschwert?«

»Vielleicht ja«, raunte Mergner. »Vielleicht aber trifft das auch nur zum Teil zu.«

»Zu welchem Teil?«, knurrte Stahnke. Venema wich erschrocken einen Schritt zurück.

Mergner grinste totenschädelhaft. »Zur Beschwerung diente die Felge allemal«, hauchte er. »Fraglich ist, ob zur Beschwerung einer Leiche. Bis jetzt habe ich unter den vielen Wunden an diesem Körper keine letale gefunden. Gut möglich also, dass ein Ertrinkungstod vorliegt. Das stellen wir in der Pathologie fest.«

»Erst gefoltert, dann ertränkt?« Der Hauptkommissar stemmte beide Fäuste in die Seiten. »Klingt nach Hinrichtung. Russenmafia. Überhaupt Mafia. Waffen- oder Drogenhandel. Irgendwelche Hinweise?«

Venema schüttelte den Kopf. »Der Tote hat nichts bei sich, überhaupt nichts außer der Kleidung, Herr, äh … Hauptkommissar. Identifikation muss also über Fingerabdrücke, Zahnstatus und Foto erfolgen. Fotograf ist benachrichtigt.« Er reckte seinen Lockenkopf: »Kommt er da hinten schon?«

Der Hauptkommissar spürte Vibrationen in den Holzplanken unter seinen Schuhsohlen und drehte sich um. Zwei Personen näherten sich eilig, ein Mann und eine Frau, letztere behängt mit Kamera und Fototasche. Stahnke kannte längst noch nicht alle Mitarbeiter seiner Oldenburger Dienststelle, aber die beiden sahen ihm für Kollegen etwas zu aufgeregt und eifrig aus.

»Presse!«, ließ sich Venema prompt vernehmen. »Los, absperren! Stellungnahme gibt es später.«

Die beiden Uniformierten schoben sich an Stahnke vorbei und eilten den Neuankömmlingen entgegen. Der Hauptkommissar musste sich ein Grinsen verbeißen. Gut gemeint und nett gedacht von seinem Kollegen, aber der Schwimmsteg verlief parallel zum hoch gelegenen Ufer, und da war nicht abgesperrt. Von dort ließen sich hervorragende Tatortfotos machen. Wenn das nicht längst geschehen war. Mit einer knappen Kopfbewegung zum Ufer machte er Venema auf dessen Unterlassung aufmerksam. Der Oberkommissar errötete und eilte davon.

Stahnke blieb mit Mergner, den Kriminaltechnikern und dem Toten zurück. Und mit einer Frau, die er bis jetzt nicht bemerkt hatte. Sie hockte auf der Cockpitkante einer kleinen Rennjacht, die Füße auf die Scheuerleiste gestützt, und nahm gerade den letzten Zug aus ihrer Zigarette. Die Kippe ließ sie achtlos zwischen Boot und Steg ins Wasser fallen, wo die Strömung sie schnell davontrug. Sauerei, dachte Stahnke, hat diese Person denn keine Ahnung, wie viele Liter Wasser durch einen einzigen Zigarettenfilter vergiftet werden?

Die Frau trug Lederhose und Motorradstiefel, was auf einem Boot mehr als ungewöhnlich war, ihr kräftiger Oberkörper steckte in einem engen T-Shirt, ihr breites Gesicht war von einer brünetten Lockenmähne umrahmt. Offenbar war sie die Zeugin, von der ihm die Zentrale am Telefon berichtet hatte. Stahnke nickte ihr zu und stellte sich vor.

»Olivia Dressel«, erwiderte die Frau mit belegter Stimme. »Ich bin die, die den Toten gefunden hat.« Sie schloss die Augen, und die gebräunte Haut ihrer Arme kräuselte sich. »Die Leiche wurde an den Poller dort gehängt, während ich kurz mit dem Boot unterwegs war. Unfassbar. Was wollten die damit bloß erreichen?«

Stahnke starrte auf die Frau, löste seinen Blick von ihrem T-Shirt, musterte ihr Gesicht. Ihre Augen waren blau, dunkler als seine wasserblauen; ihr Blick ging durch ihn hindurch. Hatte sie diesen Mord wirklich gerade auf sich bezogen? Eine Verwandte des Toten war sie offenbar nicht, das hätte dessen Identifizierung erleichtert. Wie also kam sie darauf, dass diese Tat etwas mit ihr zu tun hatte?

»Sie meinen, weil dies Ihr Liegeplatz ist?«, fragte er.

Sie nickte. »Kaum bin ich weg, hängen sie den Toten bei mir hin. Ich war etwa eine Stunde unterwegs, vielleicht eineinviertel, alles in allem. Sie können den Wasserschutz fragen.« Sie deutete mit dem Kopf vage in Richtung Cäcilienbrücke, wo gerade der Polizeikreuzer in Sicht gekommen war. Vermutlich brachte er die angeforderten Taucher.

»Woher sollen die das wissen? Haben Sie ein Ticket bekommen?«, scherzte Stahnke, wohl wissend, wie unangebracht das in dieser Situation war. Aber die Frau wirkte so, als könnte sie das vertragen. Nein: Als würde sie darauf stehen.

Prompt grinste sie. »Und ob! Total dämlich. Vielleicht wäre ich sonst noch weitergefahren, aber danach war mir die Lust vergangen.«

»Fahren Sie jeden Nachmittag um diese Zeit raus? Ich meine während der Saison?«

»Schön wär’s. Aber nein, um diese Zeit arbeite ich gewöhnlich, heute war eine Ausnahme. Ich fahre meist am Wochenende. Oder an freien Tagen, wenn ich Wochenenddienst hatte.« Sie lachte: »Sie merken schon, ist ziemlich unstet bei mir.«

Stahnke warf Mergner einen verstohlenen Blick zu; der Doc musterte seine Zeugin mit unverhohlener Belustigung. »Was arbeiten Sie denn so Unstetes?«, fragte Stahnke sein Gegenüber.

»Redakteurin«, antwortete die Frau. »Olivia Dressel, Regionale Rundschau. Noch nie meine Namenszeile bemerkt? Sie lesen doch Zeitung, hoffe ich?«

»Doch«, erwiderte Stahnke, ohne sich provozieren zu lassen. »Aber Ihr Blatt lese ich erst seit Kurzem wieder. Ich habe lange Zeit in Ostfriesland gearbeitet.«

»Dort sind meine Artikel aber auch erschienen.« Olivia Dressel richtete ihren Zeigefinger auf ihn; der schwarz lackierte Nagel berührte fast seine Brust. »Bis vor einigen Monaten hatte die Regionale Rundschau ein Kooperationsabkommen mit der Ostfriesen-Post. Deren neuer Chef war so leichtsinnig, das zu kündigen. Jetzt werden wir denen mal zeigen, was eine Harke ist.«

Stahnke warf einen weiteren Blick auf die Männerleiche, die gerade zum Abtransport vorbereitet wurde. »Glauben Sie etwa, dieser Mord hat etwas damit zu tun? Wird im Zeitungsbusiness mit so harten Bandagen gekämpft? Ich dachte eher, diese Branche würde einem baldigen und ruhmlosen Ende entgegendümpeln.«

»Mit dem Rücken zur Wand kämpft mancher bis aufs Messer.« Die Frau zuckte mit den Schultern. »Aber eigentlich meinte ich das mehr so allgemein. Die Presse steht heutzutage schwer unter Beschuss, jeder möchte seinen Willen und seine Meinung durchsetzen, und die Leute sind nicht gerade zimperlich. Verrohte Sitten. Aus Worten werden irgendwann Taten.« Sie nickte zu dem Toten hinüber. »Wenn ich wüsste, wer das da ist, könnte ich Ihnen vielleicht etwas Konkreteres sagen.«

Der Abtransport verzögerte sich, weil zuerst die Felge vom Hals des Toten entfernt werden musste und sich das Drahtseil als unerwartet stabil erwies. Einer der Kriminaltechniker wurde nach einem Bolzenschneider geschickt. Der Schwimmsteg dröhnte unter seinen eiligen Schritten.

»Herr Stahnke«, ließ sich Mergner vernehmen. »Wie es aussieht, haben wir noch etwas Interessantes.« Er wies auf den rechten Unterarm des Toten, der während des Gezerres an der Stahlfelge seine Position verändert hatte. »Eine Tätowierung. Scheint eine Nummer zu sein. Eine fünfstellige Zahl.« Er rückte seine Brille mit den flaschenbodendicken Gläsern zurecht und schaute genauer hin: »Nein, eine vierstellige. Das davor ist ein Buchstabe. Ein Z, wie es aussieht. Z 3030.«

Der Hauptkommissar hatte währenddessen Olivia Dressel im Auge behalten; sie ließ professionelle Neugier erkennen, sonst nichts. Erst jetzt drehte er sich um und hockte sich neben den Gerichtsmediziner. Der Anblick der tätowierten Zahl auf der Innenseite des totenbleichen Unterarms war ein Schock, so vertraut wirkte er. Vertraut von alten Fotos und aus Filmdokumenten. Dokumenten des deutschen Versagens. KZ-Insassen hatten solche Nummern getragen. Ganz wenige Überlebende trugen sie heute noch.

Stahnke schaute erneut in das Gesicht des Toten. Wie alt müssten KZ-Überlebende inzwischen sein, überlegte er, 80 Jahre? Wohl eher 90 oder mehr. So alt war dieser Mann auf keinen Fall. »Das kommt nicht hin«, murmelte Stahnke.

»Nein, das tut es nicht. In mehrfacher Hinsicht.« Doktor Mergner war in seinen Überlegungen schon weiter. »Nicht nur der Tote ist zu jung für eine solche Nummer, die Tätowierung ist es auch. Wobei mir das eher geritzt aussieht als fachkundig tätowiert. In die Haut geritzt und dann etwas in die Wunden gerieben, Ruß vielleicht. Ziemlich frisch, höchstens ein paar Tage alt. Und der Buchstabe Z passt auch nicht für mich.«

»Z für Zigeuner?«, riet der Hauptkommissar. Ausschlussverfahren. Sicher wusste er nur von den farbigen Winkeln, mit denen die verschiedenen Gruppen von Gefangenen in den Konzentrationslagern der Nazis markiert worden waren – gelb, rot, grün, lila, blau, schwarz und rosa, auch in Kombination und mit verschiedenen Zusätzen. Die Winkel aber befanden sich an der Kleidung. Von einem tätowierten Z hörte er zum ersten Mal.

Mergner nickte. »Genau. So wurden die Insassen des Zigeunerlagers in Auschwitz tätowiert. Sagen Sie selbst, sieht dieser Mann für Sie aus wie ein Angehöriger der Volksgruppe der Sinti und Roma?«

»Sehen alle Zigeuner wie Zigeuner aus?«, fragte Stahnke zurück. »Und alle Juden wie Juden? Ephraim Kishon war hochgewachsen und blond, das hat ihm damals das Leben gerettet, weil alle dachten, so sieht doch ein Jude nicht aus.«

»Und Sally Perel ging als Volksdeutscher durch, obwohl er auffallend klein und knubbelig war.« Mergner seufzte theatralisch. »Lieber Herr Hauptkommissar, wir beide kennen unsere Schriftsteller, und wir kennen uns auch mit Ausnahmen aus. Aber bleiben wir ausnahmsweise bei der Regel, ja? Dieser Tote ist geschätzt 1,90 Meter groß, seine Haut ist extrem pigmentarm, seine Haare waren mal blond. Nordisch-keltischer Typus. Solche Männer haben seinerzeit im Zigeunerlager Auschwitz bewaffnet auf den Wachtürmen gestanden, nicht stramm vor den Baracken.« Der Mediziner hob die Hand: »Und ehe Sie sich daran festbeißen – auch dafür ist er deutlich zu jung.«

»Und seine Tätowierung sowieso.« Stahnke nickte. »Da will uns einer ein Rätsel aufgeben.« Er wandte sich der Frau auf dem Boot zu: »Oder vielleicht Ihnen?«

Olivia Dressel hatte ihre Haltung nicht verändert, nur den Hals gereckt. »Einen Moment lang dachte ich das«, antwortete sie. »Letztes Jahr habe ich eine Serie veröffentlicht im Oldenburger Lokalteil. Besondere Bauten und ihre Geschichte. Dabei bin ich auf allerhand vertuschte Arisierungen gestoßen. Sie wissen schon, Häuser, die früher mal Juden gehört und zwischen 1933 und 1938 den Besitzer gewechselt haben. Meist unter dubiosen Umständen, und jedes Mal hat sich irgendwer dabei eine goldene Nase verdient. Ich glaubte schon, die KZ-Nummer könnte ein Hinweis auf einen dieser Fälle sein. Aber das Z vor der Zahl passt da nicht hinein. In meinen Berichten ging es ausnahmslos um Juden.«

Erneut bebten die Planken des Stegs; diesmal war es tatsächlich der Polizeifotograf, ein Glatzkopf von den Ausmaßen eines Sumoringers. Gleichzeitig fuhren am Ufer zwei Streifenwagen auf, und mehrere Uniformierte begannen, den Bereich mit Blick auf den Tatort abzusperren, so gut es ging. Mehrere Leute knipsten sie dabei, darunter die beiden Journalisten, die Venema des Stegs verwiesen hatte. So lässig, wie die sich gaben, hatten sie ihre Pflichtaufnahmen bestimmt längst im Kasten.

Apropos. »Sie haben doch hoffentlich keine Tatortfotos gemacht, Frau Redakteurin?«, fragte er Olivia Dressel.

»Wo werde ich denn«, erwiderte die Frau. »Ist doch mein freier Nachmittag. Außerdem habe ich überhaupt keine Kamera dabei, nicht einmal ein Smartphone.« Zum Beweis hob sie beide Arme und drehte ihren Oberkörper hin und her.

»Ich seh’s, vielen Dank«, sagte Stahnke ungerührt. »Ich hätte Sie morgen gerne in der Polizeidirektion gesprochen. Wer weiß, vielleicht fällt Ihnen noch etwas ein. Wann passt es Ihnen am besten?«

Olivia Dressel senkte ihre Arme und kreuzte sie unter der Brust. »Mittags«, antwortete sie. »Morgens ist immer Konferenz, dann werden die Themen vergeben und Kontakte angeleiert. Nachmittags ist Produktion, abends Umbruch. Mittags passt am besten. 14 Uhr?«

14 Uhr war für Stahnke schon Nachmittag, aber er wollte nicht kleinlich sein und nickte. Dann schloss er sich dem kleinen Zug an, der hinter der Bahre mit der Leiche hertrottete.

Olivia Dressel wartete, bis der Hauptkommissar außer Sicht war. Dann schwang sie sich ins Cockpit ihres Bootes. Im Sichtschutz des Steuerstandes zog sie ihr Smartphone aus dem Schaft ihres rechten Motorradstiefels und aktivierte die Kurzwahl ihrer Redaktion.

3.

Heute

Es war schon spät, aber immer noch hell, als Olivia an diesem Abend zu Hause eintraf. Leise ächzend, stellte sie ihr Motorrad ab, riss sich den Helm vom Kopf und schüttelte ihre Mähne. Von wegen freier Nachmittag! Ein echter Maloche-Tag war das noch geworden. Aber immerhin hatte sie morgen mal wieder die Seite eins. Mord im Jachthafen, mit Augenzeugenbericht und Tatortfotos aus nächster Nähe! Natürlich mit Pixeln und Balken an den kritischen Stellen. Die Regionale Rundschau gab sich immer noch gerne als das seriöse Chronistenblatt, das sie vor vielen Jahren einmal gewesen war. Aber alle in der Redaktion wussten, dass die Zukunft auf dem Boulevard lag und ohne bluttriefende Schlagzeilen gar nicht erst stattfand. Die Konkurrenz der Blasen-Blogger und Verschwörungs-Fabulierer aus dem Netz war einfach zu groß.

Aus dem Nachbarhaus drangen rhythmische Geräusche. Hörte der alte Schulte etwa laut Musik? Nein, das Geräusch kam aus seiner Garage. Anscheinend bastelte der Rentner wieder an einem seiner Einzylinder herum. Für diese antiquierten Dinger hatte der Alte wirklich ein Faible, dachte Olivia. Und ein Händchen. Etwas Ablenkung würde ihr guttun, denn diese blicklosen blauen Augen waren hartnäckig und schwer zu verdrängen. Also ging sie hinüber und wollte an die Seitentür der Garage klopfen, aber ihr Nachbar kam ihr zuvor. »Hab’ dein Monster schon brüllen hören«, begrüßte er sie lächelnd. »Über euch sollte man mal einen Film drehen. Die Schöne und das Biest.« Er winkte sie herein.

»Alter Charmeur. Deine Sehstörungen sind vermutlich erste Vergiftungserscheinungen«, erwiderte Olivia. Die Schmeichelei tat ihr gut. »Ziemlich dicke Luft hier. Ist das deine Vorstellung von einem schönen Tod? Benebelt umfallen, während du an einer deiner Geliebten herumfummelst?«

Schultes Lachen ging in ein heftiges Husten über. Er schaltete die Zündung der kleinen schwarzen Maschine aus, die im Leerlauf vor sich hin getuckert hatte, und stemmte das Garagentor hoch, um frische Luft hereinzulassen. Olivia half ihm dabei. »Du weißt doch, die lärmempfindlichen Nachbarn«, sagte Schulte. »Ein paar Minuten lang macht mir der Qualm nichts aus. Da hab’ ich schon ganz andere Sachen erlebt. Meine Lunge ist von innen geteert, die hält was aus.«

»Ich weiß, ich weiß.« Olivia rollte mit den Augen. »Deine Generation ist durch den Scheuersack gegangen wie früher die armen Silberlöffel, und was euch nicht umgebracht hat, macht euch nur härter. Und so weiter. Tausendmal gehört. Ich war schon öfter bei dir zu Besuch, du erinnerst dich?«

»Freches Gör.« Der Alte zwinkerte ihr zu. »Kaltes Bierchen?«

Sie setzten sich auf die alte Bank neben der Auffahrt, genossen die letzten Strahlen der tief stehenden Sonne, die auch in die Garage fielen, wo sie die sorgfältig an der Wand aufgereihten Werkzeuge aufblitzen ließen und sich im Lack der alten Motorräder spiegelten. Eine Maico im Militär-Look, eine uralte Royal Enfield und eine Yamaha SR 500 aus den 80er-Jahren konnte Olivia identifizieren. Außerdem standen zwei undefinierbare Böcke mit Elchgeweih-Lenkern und ein Haufen Einzelteile im abziehenden Abgasdunst. Wann wollte der alte Herr das bloß alles noch fahren, fragte sich Olivia, sprach den Gedanken aber nicht aus. Albert Schulte war bemerkenswert fit für sein Alter – aber welches Alter? Zwischen 80 und 90 war alles möglich.

Bei der zweiten Flasche Bier erzählte Olivia, was sie am Nachmittag erlebt hatte. Schulte hörte aufmerksam und teilnahmsvoll zu, als sie von dem Toten im Jachthafen berichtete. Dabei zeigte er keine Spur von Entsetzen. Na klar, abgebrühte Kriegsgeneration, dachte Olivia und erzählte, wie sie den tumben Kriminalbeamten aus Ostfriesland ausgetrickst und heimlich Tatortfotos an die Redaktion geschickt hatte. Schulte grinste. »Wenn der das wirklich nicht gemerkt hat, ist er keinen Schuss Pulver wert«, sagte er. »Ich glaube eher, er hat dich machen lassen. Schließlich will er doch den Toten identifizieren, sagst du. Und je mehr Wirbel du in der Zeitung machst, desto schneller geht das.«

So hatte Olivia das noch nicht gesehen. Hatte der stoppelhaarige Klotz sie wirklich benutzt? So etwas machte keiner mit ihr. Jedenfalls nicht ungestraft. Na, dieser Stahnke lief ihr bestimmt irgendwann noch mal über den Weg. Ach ja, fiel ihr ein, gleich morgen Mittag!

»Auf jeden Fall war das ziemlich gruselig«, nahm sie das Hauptthema wieder auf. »Dass der Tote ausgerechnet an meinem Liegeplatz hing. Und dass er angeblich auch dort gestorben sein soll. Ertrunken, mit einer Stahlfelge um den Hals.«

»Mit einer Felge um den Hals? Von einem Auto?«

»Klar von einem Auto«, schnappte Olivia. »Fahrradfelgen sind ja wohl …« Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie viele Motorradfelgen sich in der offenen Garage befanden. »Ja, eine Autofelge«, wiederholte sie. »Altes Ding, schwer, aus Stahl. Fabrikat soll noch ermittelt werden.«

»Und das ist beim Jachtklub passiert?« Jetzt zeigte der vom Leben abgehärtete Mann doch Wirkung. »An deinem Liegeplatz? Ungeheuerlich.«

»Nicht wahr? Ich frage mich ernsthaft, ob die Aktion auf mich gemünzt war.« Sie leerte ihre Bierflasche in zwei durstigen Zügen. »Als ich meine Arisierungsserie geschrieben habe, du weißt schon, über die früher jüdischen Geschäftshäuser und Villen, da haben mich einige Leute gewarnt. Keine schlafenden Hunde wecken und so. Kann das heute die Quittung gewesen sein? Oder eine Warnung, künftig die Finger von solchen Themen zu lassen?«

Schulte schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn du den Toten gar nicht kennst«, sagte er. »Wenn jemand dir schaden wollte, würde er doch etwas gegen dich selbst unternehmen. Oder gegen dein Haus, dein Boot, dein Motorrad. Ganz zu schweigen von deinen Angehörigen.«

»Nach Angehörigen können die lange suchen.« Olivia machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber was ist mit der Warnung? Wenn ich so weitermache, könnte es mir auch so ergehen? Diese Aussicht gefällt mir gar nicht.«

»Deine Serie war doch letztes Jahr«, sagte Schulte. »Ich weiß es genau, denn ich habe alle Folgen gesammelt.« Er zeigte in den Hintergrund der ungewöhnlich geräumigen Garage; in einer Ecke war dort eine Art Büro eingerichtet, mit Schreibtisch und Regalen voller Aktenordner. »Es war nie die Rede davon, dass die Reihe fortgesetzt werden sollte. Ist das geplant? Dann könnte etwas durchgesickert sein.«

»Nein, nichts in der Richtung geplant, die Sache ist durch.« Jetzt schüttelte Olivia den Kopf. »Momentan bin ich mit der Ostfriesland-Ausweitung der Rundschau voll und ganz ausgelastet. Und falls in nächster Zeit wieder ein Wechsel ansteht, dann geht es für mich in Richtung Sportredaktion, das habe ich mit der Chefetage längst abgekaspert.«

»Stimmt, du willst ja unbedingt über stramme Fußballerwaden schreiben.« Schulte grinste schelmisch. »Dann fang doch gleich mit mir an, ich war mal ein sehr hoffnungsvoller Jugendspieler.« Er krempelte eines seiner Hosenbeine hoch; seine Wade war noch erstaunlich muskulös, allerdings auch bleich, knotig und voller Besenreiser.

In gespieltem Entsetzen hob Olivia beide Hände vor die Augen. »Verschone mich, ich erblinde«, stöhnte sie. »Sag mir lieber, ob du noch irgendwo Bier versteckt hast.«

»Ich hol dir eins.« Schulte erhob sich und ging mit rutschendem Hosenbein in die Garage, wo neben dem Schreibtisch auch ein alter Kühlschrank stand. Die Garage war nicht nur ungewöhnlich breit, sie musste auch ein Stück ins Haus hineinreichen, so lang war sie. Platz genug für noch mehr Bikes aus dem vergangenen Jahrtausend, dachte Olivia, während sie dem kleinen, untersetzten Mann zuschaute, der mit geübten Griffen zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank holte, die Kronkorken am Rand der Deckplatte abschlug und zu seiner Besucherin zurückkehrte. Er schlurfte, aber seine Schritte waren flink.

Sie prosteten sich zu; Olivia nahm einen langen Zug, Schulte nippte nur. »Und?«, fragte er dann. »Glaubst du immer noch, dass dieser Mord irgendwas mit dir zu tun hat? Vielleicht hat der Mörder nur die Gelegenheit genutzt, dass dein Liegeplatz gerade frei war. Wochentags sind doch die meisten Stegplätze besetzt.«

»Ich stelle mir gerade vor, wie er sein Opfer den ganzen Steg entlang geschleppt hat.« Olivia verzog zweifelnd den Mund. »Ich glaube nicht, dass der Mann zu diesem Zeitpunkt gehen konnte, so wie er zugerichtet war. Und der Täter wäre gesehen worden. An der Slipanlage hingen zu der Zeit nämlich ein paar von unseren Grufties rum. Nach dem, was dieser Oberkommissar Venema als offizielles Statement rausgegeben hat, wollen die aber nichts bemerkt haben.«

»Grufties, ja? Solche wie ich?« Schulte drohte ihr scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Wie auch immer, es war dein Liegeplatz, und der Täter hat sich die Mühe gemacht, den Ertrinkenden an deinem Poller anzuleinen. Hätte ihn einfach ins Wasser stoßen können, dann wäre er auch gestorben und die Strömung hätte seine Leiche mitgenommen. Wäre vielleicht entdeckt worden, aber viel später. Absicht steckte also wirklich dahinter. Bloß welche? Gab es denn keinen Hinweis?«

»Es gab das hier.« Olivia aktivierte ihr Smartphone, öffnete die Bildgalerie und präsentierte ihrem Nachbarn ein Foto von der Tätowierung des Toten. »Hier, hab’ ich aufgenommen, als gerade keiner hingeguckt hat. Soll eine KZ-Nummer sein. Z 3030, Zigeunerlager Auschwitz.«

Schulte beugte sich vor. Seine Miene verhärtete sich. »Diese Nummer trägt der Tote auf dem Arm?«, fragte er heiser.

Olivia nickte. »Kommt aber nicht hin, sagt der Gerichtsmediziner, weil das Opfer gar nicht das Alter hat, um jemals in einem KZ gesessen zu haben. Eindeutig nach dem Weltkrieg geboren. Er trägt die Nummer eines anderen. Die Frage ist, von wem?« Mit gelenkigem Daumen wischte sie durch die Bilder, die sie am Tatort gemacht hatte. »Ich habe mal gelesen, dass die Nazis über ihre Opfer akribisch Buch geführt haben. Gibt es vielleicht heute noch Verzeichnisse dieser Nummern? Kann man rauskriegen, welcher Name zu welcher Nummer gehörte?«

»Gibt es«, sagte Schulte mit belegter Stimme. »Und kann man sicher.« Er räusperte sich. »Wenn du willst, höre ich mich mal um.«

4.

Spätsommer 1933

»Kohle! He, Kohle, wo bleibst du denn?«, brüllte jemand draußen über den Hof. Erhard Köhler schwante Böses. Vorsichtig lugte er aus dem Fenster.

Erich, sein älterer Bruder, schob sich rücklings unter dem Pritschenwagen hervor, Schmutz in den Augen, das ohnehin dunkle Gesicht dreckig von Öl, Rost und Ruß. »Wer schreit hier rum?«, blaffte er und blinzelte in die blendende Sonne. »Keine Zeit, ich muss fertig werden, gleich ist Fußball.«

»Kohle, bist du bekloppt?« Ein blonder Hüne im ausgebeulten Trainingsanzug baute sich neben Erich auf. »Von wegen gleich! Jetzt ist Fußball, du Idiot!«