Ebbe und Blut - Peter Gerdes - E-Book

Ebbe und Blut E-Book

Peter Gerdes

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

In einer stürmischen Winternacht stürzt der Rotor einer Windkraftanlage in der Nähe von Leer zu Boden. Eindeutig Sabotage - aber wer steckt dahinter? Boelsen und Kornemann, die in Ostfriesland das Windkraftgeschäft betreiben, sind alarmiert. Wer ist in Ostfriesland gegen die Windkraft - und zwar so, dass er vor Gewalt nicht zurückschreckt? Wenig später fließt bei einem Attentat auf Boelsen Blut und dann verschwindet der Öko- Aktivist und Volkstribun Eilert Iwwerks in den eisigen Fluten der Ems. Jetzt geraten Boelsen und Kornemann selber unter Verdacht und auch die Umweltschützer Melanie und Toni Mensing haben offenbar etwas zu verbergen. Die Journalistin Sina Gersema kommt bei ihren Recherchen Hauptkommissar Stahnke in die Quere. Und schließlich sind beide auf die Hilfe von Nanno Taddigs angewiesen - so wie der auf seinen Rollstuhl.

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Seitenzahl: 305

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Peter Gerdes

Ebbe und Blut

Kriminalroman

Zum Autor

Peter Gerdes, geb. 1955, lebt in Leer (Ostfriesland). Studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Schreibt seit 1995 Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 leitet er das Festival »Ostfriesische Krimitage«. Seine Krimis wurden bereits für den niedersächsischen Literaturpreis »Das neue Buch« nominiert. Gerdes betreibt mit seiner Frau Heike das »Tatort Taraxacum« (Krimi-Buchhandlung, Veranstaltungen, Café und Weinstube) in Leer. Neuere Veröffentlichungen: »Ostfriesische Verhältnisse«, »Langeooger Serientester«, »Friesisches Inferno« und »Ostfriesen morden anders«.

www.petergerdes.com; www.tatort-taraxacum.de

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen im Leda-Verlag 2006)

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © jaromo/stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6478-2

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Der bissige Ostwind jagte den Schneestaub in flachen Strudeln über die rissigen Betonplatten und ließ fransige Schleier um kleine, graue Trichter tanzen. Sieht aus, als ob die Straße kocht, dachte Toni Mensing. Behutsam steuerte er den alten Lieferwagen über den fleckigen Lichtteppich, den die Scheinwerfer auf dem schnurgeraden, welligen Wirtschaftsweg ausrollten. Wie weit noch? Bei dieser Dunkelheit war die Entfernung schwer zu schätzen.

Mensing fror. Er nahm die linke Hand vom Steuer, beugte sich hinunter, angelte den alten Schal aus der Werkzeugablage unter seinem Sitz und stopfte ihn in den Spalt zwischen Armaturenbrett und Fahrertür, durch den es wieder einmal erbärmlich zog. Jede einzelne Plattenfuge ließ die Tür in ihrem ausgeleierten Schloss scheppern, und das Knarren der nachwippenden Blattfedern mengte sich rhythmisch unter das Rasseln des Diesels.

Der alte Kapitän grinste herüber. Mit harten, hornigen Fingern kratzte er über die Schrammen des Handschuhfachdeckels und ergänzte die Fahrgeräusche des hinfälligen Lieferwagens um ein paar passende Wirbel. Melanie Mensing, die sich zwischen die beiden auf die Beifahrerbank des Ducato gequetscht hatte, begann mit suchenden Summtönen eine Melodie zu improvisieren.

Toni Mensing verlagerte sein Gewicht auf die letzten intakten Federn des durchgesessenen Fahrersitzes, der zur Türseite hin schräg abfiel. Es quietschte und kreischte disharmonisch. Die Melodie brach ab.

Vor ihnen auf der Straße bewegte sich etwas. Da stand der blaue Passat. Drei Türen wurden geöffnet, Fensterscheiben blitzten, drei Gestalten richteten sich auf, staksten unsicher im Scheinwerferlicht des näher kommenden Lieferwagens und hielten Handschuhe über die Augen. Toni Mensing ließ den Ducato ausrollen und schaltete das Licht aus. Einen Moment lang umgab sie massive Schwärze, dann stieß der Kapitän die Tür auf. Gleichzeitig mit der Innenbeleuchtung flammte draußen eine Taschenlampe auf. Sie stiegen aus.

Sie begrüßten sich schweigend, mit Handschlag, aber ohne die Handschuhe auszuziehen. Der eisige Wind fuhr ihnen unter die Pudelmützen und machte aus zehn Frostgraden gefühlte zwanzig. Es schneite immer noch leicht. Also keine Fußspuren, dachte Toni Mensing und tastete nach dem Arm seiner Frau. Melanie tänzelte unruhig. Ihre Steppjacken knautschten sich ineinander.

Die drei aus dem Passat gingen voran, überquerten den tiefen Abzugsgraben auf einer Plattenbrücke ohne Geländer, stapften bis zu einem hohen Weidetor. Sie trugen grüne Parkas, graue Fingerhandschuhe, Kapuzen über den Mützen, Hosenbeine in grünen Gummistiefeln. Alle drei sahen breit, füllig und entschlossen aus. Einer nach dem anderen stiegen sie über die glatten Torplanken, flink, geübt.

Der Kapitän kam als Nächster. Bis auf den Elbsegler, dessen eingeknickter Schirm aus seiner Kapuze lugte, war er genauso ausstaffiert wie die drei aus dem Passat. Er reichte etwas Längliches hinüber, ehe er loskletterte, ohne auf die helfend ausgestreckten Hände zu achten. Melanie Mensing, deren rote Jacke im Widerschein der abwärts gerichteten Taschenlampe glomm, packte die oberste Planke, drückte sich mit den Füßen ab und flankte elegant hinüber. Toni Mensing folgte vorsichtig, steif und ungelenk, ohne auch nur den Versuch zu machen, die flüssigen Bewegungen seiner Frau nachzuahmen. Dann sah er sich noch einmal um: kein anderes Licht weit und breit.

Die Weide war hart gefroren und bucklig. Sie fühlten, wie Gras und Schnee um ihre Füße raschelten, während ihnen der Wind in den Ohren heulte. Er war noch stärker geworden, dafür schneite es jetzt nicht mehr. Das diffuse, fahle Weiß des Schnees wurde plötzlich intensiver. Toni Mensing schaute hoch. Die Wolkendecke war aufgerissen. Und da stand das Ding.

Drei Arme langten in den Himmel, immer einer nach dem anderen, schienen nach den Sternen zu greifen, die plötzlich klar und hell und in überraschender Fülle zu sehen waren. Drei Sensen fahren zur Erde herab, schoss es Toni Mensing durch den Kopf: In steter Vergeblichkeit schlagen sie nach dem stoppeligen Weiß. Dann schüttelte er ärgerlich den Kopf und knurrte leise, wobei ihm der Wind durch die gebleckten Zähne fuhr. Warum drängten sich ihm nur immer solche Bilder auf, wenn er vor einer dieser Maschinen stand? Damals, als er sich in Brokdorf und Kleinensiel mit roboterartig ausstaffierten Polizisten geprügelt hatte, hatte er doch auch keine Reaktor-Lyrik abgesondert.

Allerdings war damals auch alles einfacher gewesen, klarer. Gut und Böse eben. Heute verliefen die Fronten anders, weniger eindeutig. Alles war viel verzwickter. Aber ein Fehler war doch immer ein Fehler, verdammt. Oder?

Er merkte, dass er stehen geblieben war, und stolperte den anderen hastig hinterher.

»Dreht ganz schöne Touren«, sagte der Kapitän, als sie nahe genug heran waren und die Köpfe zusammensteckten.

»Wenn uns das man nicht die Leine weghaut«, sagte der, der den Passat gefahren hatte. Er öffnete seinen Parka ein wenig und zog. Dicke Kettenglieder kamen zum Vorschein.

Der Kapitän winkte ab. »Da quäl ich mich nicht drum. Die Leine hält. Aber treffen ist das Problem.«

Das Ding in seiner Hand erinnerte an ein gestutztes Gewehr. Obendrauf steckte etwas Dickes, Zylindrisches. Eine dünne, orangefarbene Kunststoffleine hing herunter. Die verzinkte Kette schabte und rasselte beim Festknoten. Dann traten alle zurück. Der Kapitän zielte. Und drückte ab.

Der Zylinder war gut auszumachen, als er stieg und eine hyperbolische Kurve beschrieb, orange auf himmelschwarz. Der Scheitelpunkt der Kurve lag genau zweiundfünfzig Meter hoch, so hoch wie der Schaft der Windkraftanlage. Genau dort, von hinten und etwas seitlich traf die Kurve des Geschosses auf die Senkrechte, auf die Ebene des Rotors. Sie traf genau. Ganz genau. Zu genau – mitten auf ein Rotorblatt. Der Zylinder prallte zurück wie ein Tennisball nach einem präzisen Rückhand-Volley und taumelte zurück zur Erde.

Unten war Panik. Sie schrien, sie liefen durcheinander, ein paar Sekunden lang. Bis der Kapitän brüllte. Als alle wie angewurzelt standen, sprang Toni Mensing los, griff sich die Leine, schoss sie schnell und sorgfältig auf, klarierte sie für den nächsten Versuch. Als er fertig war und seine weggeworfenen Handschuhe suchte, zitterten seine Hände.

Inzwischen hatte der Kapitän den Stutzen neu geladen. Suchend und sichernd blickte er sich nach allen Seiten um. »Einmal noch«, sagte er.

Diesmal wartete er, bis eins der Rotorblätter vor dem Schaft verschwand und genau nach unten zeigte. Wieder ein Knall, wieder ein Pulverbausch, der im Nu zerstob. Wieder die orangefarbene Kurve. Diesmal eilte sie über das aufstrebende Blatt hinweg, dicht an der Nabe entlang. Das Rotorblatt schob sich unter das Seil, fing es auf, der fallende Zylinder ruckte hoch und wirbelte um das Blatt herum. Das Seil hing fest, der Rotor drehte sich weiter und wickelte die Leine auf, um die eigene Achse herum.

»Kette frei!«, schrie der Kapitän in den aufbrandenden Jubel hinein. Das Kettenstück glitt schon über den Schnee, wurde angehoben, pendelte, stieg. »Weg! Alle weg!«

Sie rannten, zurückschauend, strauchelnd, mit den Armen rudernd. Die Kette war oben, ehe sie die halbe Strecke zum Tor geschafft hatten.

Zu hören war nichts, der heulende Wind übertönte alles. Sie sahen, wie das Windrad langsamer wurde, als habe man es in Sirup getaucht. Wie es dann anhielt, plötzlich, mit einem deutlichen Ruck. Wie die Blätter zitterten. Wie ein Stück der Verkleidung von der Generator-Gondel abplatzte und davonflog. Und wie dann der Rotor herabstürzte. Senkrecht, einfach so. Wie das untere Rotorblatt in den harten Boden eindrang, zu einem Drittel verschwand, wie das ganze Rad dastand und im Griff des Windes federte. Wie es ihnen zunickte und mit einem Paar scharfer Hörner drohte.

Sie hasteten zu ihren Autos, warfen sich hinein, rasten in entgegengesetzten Richtungen davon. Die Sieger jubelten nicht. In ihren Augen stand blankes Entsetzen.

2

In den Sieben-Uhr-Nachrichten brachten sie noch kein Wort. Toni Mensing blieb im Wagen sitzen und wartete den Wetterbericht ab, um sich zu vergewissern. Durch die mühsam freigekratzte Scheibe musterte er kritisch die Fassade seines Geschäfts. Es hieß immer noch Öko-Laden, obwohl der Begriff »Öko« doch längst missbraucht und gründlich entwertet war. Von der hölzernen Tafel über dem breiten, beschlagenen Schaufenster blätterte schon wieder die Farbe, dabei hatte er sie letzten Herbst erst ausgebessert. Die schwarzen, bauchigen Buchstaben auf weißem Grund, flankiert von Graugans-Silhouette und Sonnenblume, sahen mehr denn je aus wie eine Kinderzeichnung auf einem Grünen-Plakat der frühen achtziger Jahre.

Seufzend stieg Mensing aus, der kaputte Sitz ächzte mit. Das weiße, eingeschmutzte Auto trug an den Seitenwänden den gleichen Schriftzug wie das Ladenschild, handbreit blank eingerahmt, dort, wo er letzte Nacht die Klebestreifenreste der Tarnabdeckung entfernt hatte. ›Jetzt muss ich die Scheißkarre auch noch waschen‹, dachte er grimmig, während er die mehrfach geschweißte Seitentür in ihren knirschenden Roll­schienen nach hinten riss. Negative Dialektik des Schmut­zes: Wenn’s irgendwo ein bisschen sauber ist, sieht alles andere gleich noch viel dreckiger aus. Am liebsten hätte er überhaupt kein Auto gehabt, aus Prinzip. Aber ohne ging es ja nun einmal nicht.

Er stellte die Kunststoffpaletten in den feinkörnigen Schnee vor der gläsernen Ladentür, die von innen dicht mit Plakaten, Flugblättern, Unterschriftenlisten, Mitfahrangeboten und Wohnungswünschen verhängt war, wuchtete die Milchkannen aus dem Auto, schloss dann auf und trug das Gemüse so schnell wie möglich aus dem Lieferwagen in den Verkaufsraum. Immer noch war es mindestens acht Grad unter Null. So kalt war es in Ostfriesland selten, und schon gar nicht wochenlang. Dieser Winter war noch kälter als sein auch schon grimmiger Vorgänger, und es hieß, er habe die Chance, als kältester seit 1969 in die Statistik einzugehen.

Jetzt allerdings hatte der Wind nachgelassen und man spürte die Kälte nicht so wie letzte Nacht.

Letzte Nacht. Er lächelte grimmig, als er die Kisten und Kannen hereinholte. Dann schloss er von innen ab.

Den Duft, den der Laden ausströmte, liebte er immer noch. Diese Grundierung aus Holz, Frucht und Erde, abwechselnd überlagert von frischem Brot, Teearoma, Kräutern, Milch und Käse oder Naturkosmetik. Jetzt gerade herrschte allerdings eine leicht modrige Note vor. Toni Mensing seufzte erneut und machte sich daran, die hölzernen Gemüsekisten durchzumustern.

Das Angebot an heimischem Obst und Gemüse war Anfang Februar naturgemäß dürftig. Daneben leuchteten Kiwis, Zitronen und Orangen in den Regalen. Importware, aus giftfreiem, naturnahem, kontrolliertem Anbau rund ums Mittelmeer. Jedenfalls hatte er sich angewöhnt, seinen Kunden das zu versichern. Zu kontrollieren war da natürlich überhaupt nichts. Und diese Transporte über Hunderte, Tausende von Kilometern, das war doch genau der Energie-Wahnsinn, den er bekämpfen wollte. Prinzipiell. Aber mit so einem Geschäft war es wie mit der Politik. Nach fünf Monaten damals war sein Prinzipienladen praktisch pleite gewesen, obwohl es doch in ganz Emden und Umgebung keine einschlägige Konkurrenz gab, und hatte nach Kompromissen verlangt. Kompromiss oder Pleite. So lief das nun seit Jahren.

Schon halb acht durch, und er musste noch das Brot holen. Er zog sich die Steppjacke wieder an, nahm Mütze, Handschuhe und Schal von der Heizung. Dann fiel ihm der Schnee wieder ein. Verdammte Räumpflicht. Er stopfte alles in die Jackentaschen und ging quer durch den Laden in den zweiten Verkaufsraum. Seit einem knappen Jahr wurden hier Schafwolle, giftfreie Farben, Flickenteppiche, Töpferwaren und dergleichen angeboten. Hinter dem Ladentisch war der Durchgang zum Innenhof, und dort stand der Besen. Als Toni Mensing das schmutzige Ding zurück durch die Geschäftsräume trug, ängstlich darauf bedacht, dass kein Tropfen auf die wachslasierten Dielen fiel, kam er sich wieder einmal schrecklich umständlich und unpraktisch vor. Obwohl er beim besten Willen nicht sagen konnte, wo der Besen denn sonst hätte stehen können.

Er fegte den Bürgersteig vor der Ladenfront bahnenweise frei, stieß den Besen im Vorwärtsgehen unnötig kraftvoll und ungeduldig nach links, immer zur Straße hin, wo die Autos inzwischen Stoßstange an Stoßstange vorbeikrochen. Beim Regenwasserrohr verlief die Grundstücksgrenze, das war leicht zu erkennen, weil der Nachbar das Schneefegen schon wieder früher besorgt hatte als er. Toni Mensing machte kehrt, fegte jetzt nach rechts, seine schmalhüftigen Einsneunzig leicht vorgebeugt. Wieder nahm er sich vor, endlich einen Besen mit längerem Stiel zu kaufen. Als er fertig war, konnte er sich nur mit Mühe aufrichten. Rund um den deformierten Lendenwirbel, der neulich auf den Röntgenbildern ausgesehen hatte wie ein abgetretener Stiefelabsatz, tat sein Rücken höllisch weh.

Eine Minute vor acht. Er rüttelte an der Ladentür, obwohl er genau wusste, dass er sie hinter sich abgeschlossen hatte, und stellte den Besen daneben. Dann stieg er in den Lieferwagen, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte das Radio an. Jetzt brachten sie es. »In der vergangenen Nacht hat sich von einer Windkraftanlage bei Visquard in der ostfriesischen Gemeinde Krummhörn der Rotor gelöst und ist zur Erde gestürzt. Verletzt wurde niemand. Nach Angaben eines Sprechers der Betreiberfirma kann die Schadenssumme noch nicht endgültig beziffert werden, es sei jedoch von einem Totalschaden an der 400 000 Euro teuren Anlage auszugehen. Auch die Ursachen des Unglücks sind noch unklar.«

Toni Mensing startete den Diesel. Unglück! Konnte es sein, dass die Bowindra die Sache vertuschte? Unsinn. Ein Unfall würde gegen ihr eigenes Produkt sprechen. Wahrscheinlich haben sie einfach noch nichts gemerkt. Kommt schon noch, dachte er und ließ den Wagen anrollen.

3

Melanie Mensing blickte dem Lieferwagen nach, der sich in die Autoschlange Richtung Innenstadt gequetscht hatte und jetzt nach und nach vom diesigen Morgengrau verwischt wurde. Sie verharrte in ihrer Haltung, auch als der eckige weiße Kasten schon lange nicht mehr zu sehen war, die linke Schulter an der weißen Raufasertapete, den linken Unterarm in die Beuge des rechten gelegt, zwei Finger ihrer schmalen rechten Hand an der Gardinenkante. Alles an ihr war schmal. Lang, schmal, hell und fein. Ihr ganzes Äußeres signalisierte Zerbrechlichkeit. Dass sie bis vor kurzem eine ziemlich erfolgreiche Leichtathletin gewesen war, Kreismeisterin im Hochsprung sogar, hatte daran nichts geändert.

Der wabernde Jaulton des Telefons ließ sie zusammenzucken. Sie trat einen Schritt zurück ins Zimmer, so ansatzlos, schnell und fließend, dass sich die Gardine einen Wimpernschlag lang schwerefrei zu bauschen schien, wie von einem Windstoß getragen, ehe sie in die Senkrechte pendelte. Melanie Mensings Körper, gerade noch völlig gelöst und ruhend, war von einem Moment auf den anderen von Unrast erfüllt, wirkte plötzlich angespannt und fluchtbereit. Ihre Eigenart, sich selbst beim Stillstehen in jedem bewussten Moment und scheinbar mit jedem Körperteil, mit jedem einzelnen Muskel zu bewegen, minimal nur, aber deutlich wahrnehmbar, hatte ihr früher in der Schule den Spitznamen »Vollblut« eingetragen, ein Name, der in einem merkwürdigen Gegensatz zu ihrer fast albinohaften Blässe stand. Seit der Geburt ihrer Kinder hatten sich die Signale der Ruhelosigkeit noch verstärkt.

Sie starrte über das schwarze Telefon hinweg auf die Kinderzeichnungen an der Wand, bewegte beim Zählen der Klingeltöne lautlos die Lippen: dreizehn, vierzehn. Stille. Hartnäckig, dachte sie. Ja, das ist er. Dann ging sie in die Küche, mit langen, unhörbaren Schritten auf dicken, grauen Socken, und begann den Frühstückstisch abzuräumen.

Die Zwillinge hatte sie schon in den Kindergarten gebracht, dort würden sie bis nach dem Mittagessen bleiben. Sie hatte also ein paar Stunden relativer Ruhe, bis gegen Mittag, dann wollte Toni im Laden abgelöst werden. Jetzt, da die Kinder schon vier Jahre alt waren, wurde manches leichter. In den ersten Jahren hatte sie oft gezweifelt, ob sie das aushalten konnte. Es war einfach eine Lüge, dass Frauen zu Müttern wurden, nur weil sie Kinder bekamen. Als sie damals das Ausmaß ihrer Hilflosigkeit erkannt hatte, war die Folge ein Entsetzen gewesen, das seither zwar verblasst war, aber unauslöschlich schien. Dass Tonis Mutter geholfen hatte und das auch heute noch tat, im Haushalt und mit den Zwillingen genauso wie im Laden, hatte sie vor dem Zusammenbruch bewahrt, die Situation aber nicht grundlegend verändert. Die ewige Angst zu versagen lag wie ein gusseiserner Deckel auf ihrer Liebe zu den Kindern. Und zu ihrem Mann.

Sie spülte gerade, als das Telefon erneut anschlug. Wieder klingelte es vierzehnmal, dann war Stille. Er ist fest und konstant, dachte sie. Aber auch berechenbar? Die feinen, blonden Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich auf. Für einen Augenblick wich der abwesende Ausdruck aus ihrem Gesicht. Sie tauchte die Hände ins heiße Wasser, aber die Gänsehaut blieb.

4

Rademaker schaltete herunter in den dritten Gang, scherte aus und beschleunigte. Hundertneunzig Pferdestärken rissen den BMW aus der freigefahrenen Spur, die breiten Vorderreifen trafen auf Schneeplacken, drehten durch, fanden wieder Asphalt und bissen sich fest, gerade rechtzeitig, um dem nachschleudernden Heck davonzueilen. Reent Rademaker murmelte leise vor sich hin, wie um ein scheuendes Pferd zu beruhigen. Aus den Augenwinkeln sah er gebleckte Zähne hinter dem Steuer des Überholten. Er grinste und stellte das Radio lauter. Neun Uhr, Nachrichten.

Das Windrad war jetzt die Top-Meldung: »Nach Aussage der Polizei ist die Zerstörung der Anlage eindeutig auf einen Sabotageakt zurückzuführen. Auskünfte dazu, wie der Bruch der Achswelle und damit der Absturz des Rotors verursacht worden ist, wurden nicht erteilt. Angaben zum Kreis der Tatverdächtigen lehnte die Polizei mit Hinweis auf die laufenden Ermittlungen ab.«

Das Autotelefon läutete. »Kornemann«, murmelte Rademaker und aktivierte die Freisprechanlage.

»Rademaker.«

»Kornemann. Schon gehört?«

»Gerade eben.« Rademaker machte den Rücken steif und bog die Schulterblätter nach hinten.

»So was gibt’s ja wohl nicht. Unglaubliche Schweinerei.«

»Ja, allerdings. Das sag man.« Rademaker nutzte das Vorspiel, um seine Stimme einzupegeln. Er wusste genau, worauf das hier hinauslief.

»Wer steckt dahinter? Ich muss das wissen. Kannst du das für mich rauskriegen?«

»Tja, das stell dir man nicht so einfach vor.« Rademaker zierte sich. »Wer sowas macht, der hält auch dicht.«

»Blödsinn. Wer sagt denn immer: Hier passiert nichts, wo ich nichts von weiß? Wer denn? Bläst dich auf, und kaum ist mal was, schon willst du kneifen.«

Rademaker zog den Kopf ein und rieb sich die rechte Ohrmuschel an der Schulter. Mann, ist der sauer, dachte er und staunte. Verliert ja richtig die Fassung. »Ich hör mich mal ’n bisschen um. Soll sich wohl alles finden, schätze ich«, versuchte er abzuwiegeln.

»Du gehst jetzt los und kriegst das raus, klar? Oder glaubst du, ich füttere dich für lau durch?« Kornemann war am Siedepunkt. Rademaker sah den Bauunternehmer direkt vor sich: Mitte vierzig, breitschultrig, unanständig blonde Locken, kräftige Hände mit dicken roten Fingern. Korne­mann war gewöhnlich gerade so polterig, wie es sein beruflicher Umgang verlangte. Seine wirklichen Wutausbrüche waren selten und gefürchtet. Gerade jetzt schien sich einer anzubahnen.

»Alles klar. Werde alles anzapfen. Verlass dich auf mich.« Militärische Knappheit kam in solchen Fällen immer gut an, Rademaker wusste das aus Erfahrung. Trotzdem war er froh, als Kornemann auflegte. Grußlos. Der will ganz schnell Ergebnisse sehen, dachte er.

Dabei war diese Sache doch so besonders schwierig, weil die Fronten einfach nicht stimmten. Mit schwarz, rot, grün war da nichts zu wollen. Rademaker runzelte die solariumsgebräunte Stirn, über der er seit einiger Zeit ebenfalls blondierte Locken trug. Früher war das einfacher gewesen. Durchschaubarer. Als es darum gegangen war, wer die Munitionszüge auf ihrem Weg nach Emden blockieren könnte, da hatte er gleich gewusst, wo man suchen musste. Oder wer dafür in Frage kam, die Emsvertiefung zu sabotieren. Oder die Europipe, diese gewaltige Gasleitung mitten durchs Naturschutzgebiet.

Immerhin saß er jetzt schon zwanzig Jahre im Gemeinderat und fast genauso lange im Kreistag, erst für die SPD, dann für die CDU, mittlerweile für die WGO. Und auch im restlichen Ostfriesland passierte kaum etwas, ohne dass er rechtzeitig davon Wind bekam. Nein, das war nicht geprahlt, überhaupt nicht. Jetzt, im Nachhinein, trieben ihm Kornemanns Worte die Zornesröte ins Gesicht. Er gab Gas und überholte wieder.

»Radaumaker« hatten sie ihn früher genannt. Das war vorbei. Jetzt war er »ganz Diplomat«, so nannte er das selbst, mit allen gut Freund. Einer wie er wurde eingeladen. Zweiundfünfzig Jahre und Leiter des Grundbuchamtes. Geschätzt wegen seiner Geschicklichkeit in allem, was Mechanik und Motoren betraf. Geschieden. Sichere Basis und gesellschaftlich nach oben alles offen, dank Kornemann.

Aber der wollte eine Antwort. Wer ist gegen Windkraft, und zwar so, dass er zuschlägt? Tja, das war es eben. Die Naturschützer sollten dafür sein, von wegen saubere Energie. Aber viele von denen waren dagegen, weil die Windräder die Landschaft verschandelten und die Zugvögel bedrohten. Die Industrieverbände sollten dagegen sein, weil ihnen ins angestammte Geschäft gepfuscht wurde. Aber gerade in Ostfriesland boomte das Windrad-Geschäft, wurden florierende Firmen gegründet und Hunderte von Arbeitsplätzen geschaffen. Trotzdem konnte sich die Windkraft-Lobby nicht durchsetzen, weil die Tourismus-Lobby dagegen stand. Angeblich flohen die Touristen ja in Scharen, sobald sie nur ein Windrad zu Gesicht bekamen. Und die Tourismus-Industrie war mächtig in Ostfriesland. Und das war ja noch längst nicht alles. Je mehr man ins Detail ging, desto unübersichtlicher wurden die Frontverläufe. Viele Kleinbauern waren scharf darauf, so einen Quirl auf ihrem Land stehen zu haben und ein paar Hundert Euro Pacht monatlich einzusacken. Da hatte es viel Untergrundarbeit gegeben in den letzten Jahren, um an Baugenehmigungen zu kommen. Das wusste er ganz genau. Dass Neid und Rachsucht gute Motive waren, wusste er auch.

Etliche Landwirte mit mehr Klei an den Füßen, wie man so sagte, einflussreiche Großbauern darunter, hatten Windkraftanlagen in eigener Regie hochgezogen. Damit war es jetzt wohl vorbei. Der Trend ging zu größeren Parks mit fünfzig Anlagen und mehr, die natürlich von Großfirmen betrieben wurden. Zum Beispiel von Boelsen und seiner Bowindra. Wer da zu spät gekommen war, der konnte wohl neidisch werden. Und rachsüchtig.

Was die ganze Sache so lukrativ machte, war außerdem die Abnahmeverpflichtung. 8,7 Cent pro Kilowattstunde mussten die Energieversorger laut Gesetz an die Windrad-Betreiber zahlen, das waren fast viereinhalb Cent mehr, als der Strom aus anderen Kraftwerken kostete. Dabei würden knapp sieben Cent längst reichen, die technische Entwicklung war ja nicht zu stoppen, und die Windräder arbeiteten immer effektiver. Klar, dass die Versorger jetzt mit Strompreiserhöhungen drohten. Und damit war ja fast jeder Verbraucher ein potentieller Windrad-Gegner.

Rademaker dachte an all die Leute in Ostfriesland, die sich bis zum Hals verschuldet hatten für idiotisch große Häuser, im idiotischen Vertrauen darauf, dass sie auch im nächsten Jahr wieder genauso viele Überstunden machen und dass sie niemals krank werden würden. Tja, fleutjepiepen! Solchen Leuten könnte die Aussicht auf höhere Strompreise den Rest geben. Rademaker grinste. Früher hatte er selbst zu diesen Leuten gehört, heute hatte er sein Schäfchen im Trockenen.

Kornemann. Kornemann wollte Antworten. Rademaker nagte an seiner Unterlippe und gab Gas.

5

Ich bin übrigens ein sehr verschiedener Mensch«, sagte Ewald Thoben.

Lächeln tut er nicht, überlegte Nanno. Ich soll mir also etwas dabei denken. Er legte den Kopf in den Nacken und musterte den kräftigen Mann, der die Schwelle zum Alter erreicht hatte, sich aber eindeutig weigerte, sie zu überschreiten. Thobens kantiges Gesicht schien nur aus eingebrannten Falten zu bestehen, vor allem um die schmalen Augen herum. Ein Eindruck, der sich verstärkte, wenn der Kapitän lächelte.

Was er gerade jetzt aber nicht tat.

Nanno Taddigs kannte das Spielchen: Wer anders ist als die anderen und außerdem selbstbewusst, der provoziert. Dadurch erfährt er viel über sein Gegenüber, schnell und direkt. Zum Beispiel über seinen neuen Untermieter.

Nanno kannte natürlich auch die Gerüchte, die über Thoben in Umlauf waren. Ein Einzelgänger, kauzig, unberechenbar. Gefährlich sogar. Angeblich hatte er damals, als seine Frau gestorben war, auf den Notarztwagen geschossen. Der Doktor hätte keine Anzeige erstattet, weil ihm der Mann leid getan hatte, hieß es. Außerdem wurde erzählt, der Arzt sei ein Kurpfuscher, dem gehörte längst mal eins auf den Pelz gebrannt. Gut zwei Jahre war das nun her. Wenn’s denn so gewesen war.

»Genau genommen ist doch jeder verschieden«, sagte Nanno. »Doppelt verschieden sogar. Verschieden von allen anderen und verschieden von sich selbst. Niemand ist immer ganz derselbe.«

Thoben lächelte. »Seh’ ich auch so. Aber gut gesagt, Sie!« Er stand auf. »Dann will ich Ihnen mal die Butze zeigen.«

Nanno griff in die Räder, dirigierte sich hinter dem plüsch­deckigen Esstisch hervor, gab Doppelschub und ließ seinen schmalen Sportrollstuhl schnell und exakt durch die aufgehaltene Tür sausen. Die Neunziggradkehre im Flur erzeugte ein leises Quietschen. Jeder hat so seine Methoden, dachte Nanno.

Falls der Kapitän von diesem Manöver beeindruckt war, so ließ er es sich nicht anmerken.

Von der Vorderküche, dem ostfriesischen Alltags-Esszimmer, ging es über den Flur, von dessen Wänden blau bemalte Kacheln leuchteten, Richtung Diele. Nirgendwo Türschwellen, registrierte Nanno. Und hinter der Tür, wo eigentlich die Diele hätte sein sollen, fing eine zweite Wohnung an. Komplett neu eingebaut oder höchstens ein paar Jahre alt. Extrabreite Türen. Nanno öffnete die erste rechts: ein Badezimmer mit sensationellen Abmessungen und allen Behinderten-Einrichtungen. Inklusive Wannenkran. Er kippte seinen Stuhl auf die Hinterräder, wirbelte herum und schaute den Kapitän an. Der wich seinem Blick aus. »Kommen Sie man mit nach achtern«, knurrte er und ging voraus ins Wohnzimmer. Zielsicher öffnete er eine Klappe der niedrigen Anrichte und griff nach deren einzigem Inhalt, einer grünlich schimmernden Flasche und zwei kleinen Gläsern.

Dass er den Kräuterschnaps ablehnte, nahm Thoben nicht krumm. Ein Punkt für ihn, dachte Nanno. Sein komplizierter Tagesablauf vertrug sich nun einmal nicht mit Alkohol. Und seine Selbstachtung auch nicht. Er konnte nicht begreifen, dass viele Fußgänger ihre Privilegien einfach wegwarfen, dass es Leute gab, die soffen und soffen, bis ihre gesunden Beine lahm waren. Er hatte sich geschworen, dass er das niemals begreifen würde, ganz egal, welche Rolle der Alkohol in seinem eigenen Früher gespielt hatte. Ein saufender Rolli machte sich selbst zum Säugling.

Der Kapitän trank, dann stellte er die Flasche unter den Tisch des kleinen Wohnzimmers, drehte das tulpenförmige Glas auf der Stelle und blickte hinein, während er erzählte. »Vor sechs Jahren ging das mit meiner Mutter los. War ja schon eine alte Frau. Da haben wir das alles bauen lassen, Platz war ja genug in der riesigen Diele. Damit sie klarkommt. Hier sollte eine Pflegerin wohnen können, falls meine Frau das nicht mehr schaffte. Wohnzimmer, Schlafzimmer, kleine Küche. Na, und eben das Bad. Aber vor drei Jahren ist Mutter dann gestorben.« Er schien nach der Flasche angeln zu wollen, legte seine linke Hand aber sofort wieder auf die Tischplatte und drehte weiter am Glas.

»Und dann ist meine Frau auch krank geworden, sofort hinterher. Musste auch in den Rollstuhl. Damals war ich ja schon zu Hause, bin nicht mehr gefahren. Ich wollte sie alleine pflegen. Da hab ich dann erst gemerkt, was das heißt, und wie das gewesen sein muss für sie, allein mit meiner Mutter, drei Jahre lang.« Er räusperte sich und richtete seinen Oberkörper auf. Seine Stimme klang wieder fester. »Vor zwei Jahren ist sie dann auch gestorben, ganz schnell. Und ich glaube heute noch, es hätte nicht sein müssen. Na ja. Erst wollte ich ja von dem ganzen Kram hier nichts mehr wissen. Vermieten sowieso nicht. Aber das ist natürlich Unsinn. Und als ich dann gehört habe, dass Sie suchen, hab ich gedacht, kannst ja mal was sagen.«

Nanno hatte Übung darin, Gefühle zu deuten. In den letzten sechs Jahren hatte er genügend falsche serviert bekommen. Er nickte: »Echt nett von Ihnen.«

Die Räume lagen rechts und links vom Flur, an dessen Ende eine breite Holztür in den Garten führte. »Da haben Sie Ihren eigenen Ausgang«, sagte Thoben. »Fester Plattenweg zur Auffahrt, da können Sie auch parken. Mein Wagen steht immer unterm Carport vorm Haus.«

Nanno mochte es, wenn auf diese Art über seine Bedürfnisse gesprochen wurde. Immerhin war seine Behinderung Fakt, und sein Alltag war an Bedingungen geknüpft.

»Die Tür nach drinnen wird natürlich dichtgemacht«, fügte der Kapitän hinzu. Daran hatte Nanno schon gar nicht mehr gedacht.

Die Zimmer schienen nach dem Ikea-Katalog möbliert zu sein. Alles in allem aber gut zu ertragen. Dort, neben der niedrigen Couch, konnte er seine Musikinstrumente aufhängen: Gitarre, Mandoline, Mandoloncello. Die Hängeschränke in der kleinen Küche, in die sein Stuhl gerade gut hineinpasste, waren natürlich unerreichbar, aber mit den unteren Stauräumen würde er leicht auskommen. Und es gab eine kleine Spülmaschine.

»Was soll’s denn kosten?«

Thoben zuckte die Achseln. »Zweihundert?«

Das war fast geschenkt, selbst wenn man bedachte, dass dies hier ein Fehndorf war und nicht die Innenstadt von Leer.

»Ich muss da nicht von leben«, sagte Thoben.

Scharfer Beobachter, dachte Nanno und nickte: »Alles klar von mir aus.« Er drückte die ausgestreckte Hand des Kapitäns und verkniff sich die Frage nach einem Mietvertrag, weil er sie unpassend fand.

Hinter dem Haus war eine großzügige Terrasse mit Sonnenschirmständer, abgedecktem Grill und dem unvermeidlichen Windschutz. Straße und Haus lagen etwa drei Meter höher als der Garten und der Hammrich dahinter. Nanno genoss den Ausblick.

»Wie weit geht denn Ihr Grundstück?«, fragte er, als ihm auffiel, dass es keinen Zaun gab.

»Bis da hinter dem Schuppen«, sagte Thoben.

Das war allerdings gewaltig. Dieser Wellblechschuppen im Nissenhütten-Stil, halbrohrförmig und an die vierzig Meter lang, war bestimmt zweihundertfünfzig Meter entfernt.

»Was ist denn da drin? Ackergeräte?«, fragte Nanno.

»Och, alter Kram.« Thoben winkte ab. Dann ging er in Richtung Auffahrt, Nanno folgte. Die Vollgummireifen schmatzten leise auf den feuchten Waschbetonplatten.

»Früher hatten wir ja noch viel mehr Land«, erzählte der Kapitän, als er neben Nannos Golf Position bezogen hatte, wohlüberlegte anderthalb Schritt von der Fahrertür entfernt. »Ich stamme ja aus einer reinen Bauernfamilie. Witzig, was? Aber das ist ja nun lange vorbei.«

Nanno lächelte, während er seinen Rollstuhl zur Beifahrertür lenkte. »Viele Leute denken, sie tun mir einen Gefallen, wenn sie beim Parken auf meiner Fahrerseite besonders viel Abstand halten«, sagte er. »Dabei brauche ich den Platz auf der anderen Seite. Sonst könnte das ja mit dem Stuhl gar nicht klappen.«

Er hatte die rechte Tür geöffnet, den Rollstuhl neben den Beifahrersitz rangiert und die Räder blockiert. Jetzt stemmte er seinen Körper hoch, setzte sich auf die linke Seitenlehne des Stuhls, stützte den linken Arm auf den Autositz, drückte und schwang sich hinein. Nanno war jung, kräftig, schlank und geübt, daher hatte das Manöver eine gewisse Eleganz. Seine schlaffen dünnen Beine zog er mit den Händen nach, einzeln und vorsichtig. Es war unglaublich, wie schnell man sich an diesen leblosen Anhängseln verletzen konnte. Dann rutschte er weiter zur Mitte und bugsierte die Beine in den Fußraum auf der Fahrerseite. Als er saß, beugte er sich zurück, löste die Sitzsperren des Rollstuhls, klappte ihn zusammen, zog ihn hinein und stellte ihn vor den Beifahrersitz.

Der Kapitän klopfte zum Abschied aufs Dach: »Dann man bis morgen!«

Nanno grüßte mit dem Kopf zurück. Seine Hände brauchte er zum Fahren. Bis zur Durchgangsstraße ging es ein paar hundert Meter geradeaus. Im Radio begannen gerade die Elf-Uhr-Nachrichten. Immer noch nichts Neues über das Windrad-Attentat, nur das übliche Geschwätz von ein paar schrecklich empörten Politikern. Nanno schüttelte den Kopf. Als er an der Ecke kurz anhielt, sah er im Rückspiegel, dass auch Thoben in seinen Wagen stieg.

6

Mittlerweile war der Plattenweg an beiden Enden abgesperrt, trotzdem herrschte eine Völkerwanderung wie sonst nur am Emsdeich bei den Passagen der tiefgehenden Kreuzfahrt-Riesen aus Papenburg. Da pflegten viele Gaffer nach einer Katastrophe zu lechzen, hier war sie bereits eingetreten. Natürlich kam niemand durch das bewachte Weidetor, trotzdem standen die Menschen zu Hunderten um den kahlen, schlanken Stumpf und den sachte wippenden Rotor herum. Trampelpfade im dünnen Schnee der Nachbarweiden wiesen Nachzüglern den Weg zu den Löchern im Stacheldraht. Jetzt am Mittag war der Zustrom noch einmal angeschwollen. Dennoch versuchte niemand, in den sauber abgezirkelten Kreis vorzudringen, in dessen Zentrum die Spurensicherung gerade zusammenpackte. Die Leute, die dem Sog eines imposanten Unglücks nachgaben, hatten ein sicheres Gespür dafür, bei welcher Distanz mit Abwehrmaßnahmen zu rechnen war. So blieb das Gleichgewicht gewahrt, Polizei und Publikum schienen sich nicht umeinander zu kümmern.

Reinhold Boelsen stapfte eine Zickzacklinie nach der anderen in den auch hier schon längst zertrampelten Schnee. Die Hände hielt er hinter dem kerzengeraden Rücken verschränkt, den Blick seitlich an seine demolierte B-340 K geheftet. Seine schwarzen Halbschuhe waren durchnässt, sein heller, viel zu dünner Trenchcoat knatterte ihm um die Beine. Der beherrschende Ausdruck in seinem langen, durch die breite Stirn und das spitze Kinn dreieckig wirkenden Gesicht war Verständnislosigkeit. Aufgerissene Augen und ein gelegentliches Kopfschütteln zeugten von Lücken in seiner sonst so verlässlichen Selbstkontrolle.

Er bemerkte Kornemann erst, als der ihm in den Weg trat. Einen Moment lang standen sie Brust an Brust, Korne­mann musste zu dem deutlich längeren und mit seinen siebenunddreißig Jahren auch deutlich jüngeren Ingenieur und Geschäftsführer aufschauen. Das passt ihm nicht, aber es macht ihm auch nichts aus, dachte Boelsen automatisch. Dann hob er die Konfrontation auf, indem er einen halben Schritt zurücktrat und sich dem Stumpf zuwandte. Jetzt standen sie Seite an Seite.

»Haben sie dir das Ding gezeigt?«, fragte Kornemann.

Boelsen nickte. »Nylonbändsel und Kette. Welle blockiert und mit der Schwungmasse des eigenen Rotors gesprengt. Clever.« Er klemmte seine eiskalten Hände in die Achselhöhlen. »Wäre beim 345er aber schon nicht mehr gegangen, wegen der neuen Verkleidung. Dieser ringförmige Abweiser – da hätte sich der ganze Krempel höchstens außen drumgewickelt. Vermutlich aber wäre die Wurfleine gleich abgerutscht. So gesehen, haben die Burschen Glück gehabt.«

Kornemann schnaubte durch die Nase. »Von wegen Wurfleine. Das Ding ist da hochgeschossen worden, ganz professionell. Und so ein Abweiser hätte die Mühle auch nicht gerettet. Sowie die Kette am Flügel hängt, ist doch eine Unwucht da, und der ganze Apparat ist im Handumdrehen Schrott.« Er stellte den Kragen seines Ledermantels hoch und stopfte die Enden des Schals hinein. Natürlich trägt er Handschuhe, dachte Boelsen. Und natürlich hat er Recht. Er kombiniert ja immer logisch. Und immer verdammt schnell.

Die Polizei rückte ab, die Einsatzleiter verabschiedeten sich per Handschlag, zuerst und beflissen bei Kornemann, dann, eher flüchtig und mit Kondolenzmiene, bei Boelsen.

»Dass die was finden, darauf brauchen wir nicht zu warten«, sagte Kornemann, ohne Rücksicht darauf, wie weit der Wind seine Worte trug. »Müssen wir schon selbst sehen, dass wir zu was kommen. Die sollen das jedenfalls kein zweites Mal machen.«

»Kennst du denn jemanden, der zu so etwas imstande wäre?«

Kornemanns Blick ließ Boelsens Ohren glühen. »Wo lebst du denn, Menschenskind? Die Leute hier sind nicht zimperlich, das müsstest du doch auch schon mitgekriegt haben. Wenn’s ums Prinzip geht, dann gilt Gewalt gegen Sachen hierzulande nicht viel, ganz egal, ob die Sache nun hundert Euro kostet oder eine Million. Und wer diese Prinzipienreiter sind, das weiß ich genau.«

Boelsen schüttelte den Kopf. »Alles etablierte Leute, die meisten sind doch Geschäftsleute oder Beamte.« Die führenden Windkraft-Gegner hatte er in den letzten Jahren bei den verschiedensten Anlässen getroffen und kennen gelernt. Jetzt ließ er ihre Gesichter Revue passieren. Ausgeschlossen. »Die setzen doch nicht so einfach ihre Existenz aufs Spiel.«

»Das kapierst du nicht.« Kornemanns Urteil klang unanfechtbar und vernichtend, und Boelsen, der schon seit über fünfzehn Jahren in Leer wohnte, kam sich für einen Moment wieder so fremd vor wie damals, ganz zu Anfang. »Überleg lieber, wer so was überhaupt kann. Ein paar Grundkenntnisse der Physik braucht man ja wohl dazu, oder?«

»Weiß nicht.« Was ganz ist, muss kaputt, was hoch ist, muss runter, was sich dreht, muss gestoppt werden – die Grundregeln des Demolierens stellte Boelsen sich nicht sonderlich anspruchsvoll vor. »Frag doch mal, wer an so ein Leinenschießgerät herankommen könnte, so ein Ding, wie heißt das eigentlich genau?«

»Keinen Schimmer.« Kornemann schüttelte unwillig den Kopf. »Aber gesehen habe ich so etwas schon. Die Dinger gibt’s auf den Seenotrettungskreuzern, aber auch auf Schleppern. Die geben so ihre Schleppleinen rüber. Dünne Leine zum anderen Schiff schießen, dickere Leine nachholen, und dann so weiter, bis die Trosse kommt.«

»Bei der Marine machen die das auch.« Boelsen erinnerte sich an einen Werbefilm: Zerstörer und Versorger üben Materialübergabe auf See. »Quellen gibt es also. Und jetzt? Alle Soldaten und Seeleute filzen?«

Flapsigkeit ließ sich Kornemann nur gefallen, wenn er den Ton selbst vorgab. Sogar Boelsen hatte sich an diese Regel zu halten. Dass er sie gerade gebrochen hatte, ohne es zu wollen, ließ ihn schlagartig erkennen, wie verstört er war. Erschrocken blinzelnd beobachtete er Kornemann aus den Augenwinkeln, aber der reagierte gar nicht.

»Vergiss die Jäger nicht«, sagte er stattdessen.

»Was hat denn das jetzt mit der Jagd zu tun?«, fragte Boel­sen, lebhaft und für den Augenblick erleichtert.

»Jäger interessieren sich grundsätzlich für alles, was schießt. Kannst ja mal einen Jäger nach Signalwaffen fragen, oder meinetwegen nach einem Leinenschießgerät. Wetten, die kennen sich aus? Und die kommen an alles heran.«

Kornemann war Jäger, das wusste jeder. »Einer von deinen Grünröcken also? Ich dachte, ihr wärt so eine verschworene Gemeinschaft.« Wieder hätte sich Boelsen am liebsten auf die Zunge gebissen.

Kornemann schaute geradeaus. »Sind wir auch, aber in punkto Windkraft gibt es einen Riss. Quer durch.«