Ostfriesen morden anders - Peter Gerdes - E-Book

Ostfriesen morden anders E-Book

Peter Gerdes

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Beschreibung

Ostfriesen morden? Selbstverständlich! Warum denn auch nicht? Mag Ostfriesland auch als idyllisch gelten und seine Bevölkerung als friedliebend, so existiert doch auch hierzulande der komplette Kanon der Interessen und Gefühle, die Menschen dazu treiben, anderen Böses anzutun. Natürlich nicht alle und immerzu, na klar - aber doch so manche. Hin und wieder. Genau wie anderswo auch. Genauso wie anderswo? Na, das nun wieder nicht, denn: Ostfriesen morden anders! Sie sind eben sehr speziell. In ihrem Charakter, in ihrem Temperament, in ihren Methoden. Das mag durchaus mit der Landschaft zusammenhängen, mit der Randlage, mit dem ewigen Kampf gegen Wind, Wetter und Gezeiten. Ostfriesland ist eben ein Grenzfall. Einer zwischen Ebbe und Blut. Kurz gesagt: Wie das Land, so die Morde. Lauter spannende Stories enthält dieses Buch - kurze und ganz kurze, welche mit Hauptkommissar Stahnke, andere ohne, und einige spielen noch nicht einmal in Ostfriesland. Aber irgendwie haben immer Ostfriesen ihre Hände im Spiel. Sie mögen das Land? Dann werden Sie auch seine Mörder lieben.

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Peter Gerdes

Ostfriesen morden anders

KRIMINALGESCHICHTEN

Zum Autor

Peter Gerdes, geb. 1955, lebt in Leer (Ostfriesland). Studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Schreibt seit 1995 Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 Leiter des Festivals „Ostfriesische Krimitage“. Die Krimis „Der Etappenmörder“, „Fürchte die Dunkelheit“ und „Der siebte Schlüssel“ wurden für den Literaturpreis „Das neue Buch“ nominiert. Gerdes betreibt mit seiner Frau Heike das „Tatort Taraxacum“ (Krimi-Buchhandlung, Veranstaltungen, Café und Weinstube) in Leer.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

(Originalausgabe erschienen 2017 im Leda-Verlag)

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Roelof / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6460-7

Die große Friesenbrückenverschwörung

Verschwörungstheorien? Also bitte, davon halte ich überhaupt nichts. Sie etwa?

Ach. Glauben Sie ernsthaft, die Amerikaner wären gar nicht wirklich auf dem Mond gewesen, sondern hätten die Landung in einer Lagerhalle irgendwo in einer irdischen Wüste gedreht? Oder dass Prinzessin Diana überhaupt nicht gestorben ist, sondern unerkannt unter falschem Namen weiterlebt? Zusammen mit Kurt Cobain? Oder dass die Zerstörung des World Trade Centers nur ein Ablenkungsmanöver war, eins mit dreitausend Toten, damit keiner merkte, dass Präsident Bush von der Öl-Industrie gegen einen Roboter ausgetauscht worden war?

Na, sehen Sie. Das meine ich doch auch. Alles Quatsch.

Bis auf diese eine Sache natürlich. Da liegen die Dinge anders.

Welche Sache ich meine? Passen Sie auf.

Sie kennen doch die Geschichte mit den amerikanischen Eisenbahnen, oder? Nein? Also, damals, als die europäischen Einwanderer anfingen, den Ureinwohnern das Land abzunehmen, da haben die natürlich Widerstand geleistet. Indianer, so nannte man sie und tut das auch heute noch, bloß weil der Columbus seinerzeit keine Ahnung gehabt hat, wo er eigentlich war. Von wegen Indien!

So wirklich schnell ging die Landnahme jedoch nicht, es fehlte am richtigen Transportmittel. Aber nicht lange. Dann kam die Eisenbahn.

Die Bahn hat dem Landraub richtig Dampf gemacht, buchstäblich. Menschen, Material, später Soldaten und Pferde, danach Schlachtvieh – die Eisenbahn hat alles in großen Mengen und mit großer Geschwindigkeit überall hingebracht, wo Schienen lagen. Dagegen hatten die Ureinwohner keine Chance. Sofern sie das überlebten, mussten sie sich in staubige Reservate sperren lassen. Glauben Sie mir, die Spielcasinos dort sind eine schwache Rache.

Die Bahn aber, die trumpfte auf. Die hatte ihre große Zeit, war unverzichtbar und profitabel, brachte ihren Besitzern eine Menge Kohle ein. Nein, das war jetzt im übertragenen Sinn gemeint. Alles gut so weit – bis die Ära des Öls begann. Dieses Öl wollte verbraucht werden! Mit Dieselöl kann man zwar auch Züge befeuern; die sind aber viel zu sparsam, um damit richtige Profite zu erzielen. Was für den wahren Öl-Umsatz sorgt, ist der Individualverkehr! Ein, zwei Männeken in einer tonnenschweren Kiste, angetrieben von fossilem Brennstoff – das sorgt für Verbrauch, das spült Geld in die Kassen!

Es wurde also Propaganda für das Auto gemacht. Klappte auch gut, viele Leute kauften sich welche und gurkten damit herum. Viele andere aber fuhren weiterhin mit der Bahn. Die war ja auch noch da, mit einem gut ausgebauten Netz. Warum sollte man sich ein teures Automobil kaufen, wenn man mit dem Zug ebenso schnell ans Ziel kam? Und billiger?

Aber natürlich haben die sich zu helfen gewusst, die Öl-Multis und ihre Sachwalter, die Automobilkonzerne! Die Eisenbahnen aufgekauft haben sie; das ging, waren ja alle privat. Und dann haben sie die heruntergewirtschaftet, systematisch. Streckennetz und Verbindungen so lange ausgedünnt, bis es dermaßen unattraktiv geworden war, mit der Bahn zu fahren, dass sich auch noch der Letzte ein eigenes Auto kaufen und teures Benzin verheizen musste. Tja, so lief das.

Und bei Eisenbahn kommen wir zu der Verschwörungstheorie, die ich eigentlich meine. Die liegt uns etwas näher, rein geografisch …

Sehen Sie, das dachte ich mir, dass Sie davon schon gehört haben! Und dass Sie gleich lossprudeln. Da sind Sie mit im Boot, was? Vielmehr im Kreuzfahrtschiff. Was sagen Sie? Sowas würden Sie nie betreten? Tja, dafür gäbe es viele Gründe. Weil das unglaublich Dreckschleudern sind, weil sie groß sind wie Kleinstädte und aussehen wie Wohnblocks in Problemvierteln, weil jeder überhebliche Kapitän damit jederzeit eine Katastrophe anrichten kann, die die Titanic weit in den Schatten stellt … Aber das meinen Sie nicht, stimmt’s?

Dachte ich mir. Sie meiden diese Art Schiffe, weil durch ihren Bau ein wichtiges Stück Ihrer Heimat zerstört wird. Nämlich die Ems, der Fluss, an dem die berühmteste deutsche Kreuzfahrtschiffswerft viel zu weit oben liegt. Okay, das ist nachvollziehbar. Überhaupt keine Verschwörungstheorie, sondern schlicht Fakt. Viele haben sogar die Grünen gewählt, damit diese ewigen Ausbaggerungen und Vertiefungen, die ständig anwachsende Strömung und die Massen von Schlick, der Tod für Fisch und Fischer, die Gefährdung der Deichsicherheit – kurz, damit das alles aufhört. Und was passiert? Kaum sitzen die in der Landesregierung, wird alles eher noch schlimmer. Sachzwänge! Gorleben ist eben wichtiger.

Alles richtig. Aber dass diese Werft für die Zerstörung der Friesenbrücke verantwortlich ist, das stimmt so nicht.

Aber nein, selbstverständlich will ich nicht behaupten, dass dabei alles mit rechten Dingen zugegangen sei! Erlauben Sie mal, ein bisschen was verstehe ich auch davon. Dass ein Frachtschiff mit intaktem Ruder und funktionierender Maschine, mit kompletter Bordelektronik, mit Kapitän und Lotse auf der Kommandobrücke, einfach mal so eine wichtige Eisenbahnbrücke rammt und zerstört, obwohl diese Brücke geschlossen ist, ordnungsgemäß besetzt und über Funk erreichbar, obwohl die roten Signalleuchten brennen – nein, das ist natürlich nicht normal. Aber die Schuld an diesem Vorfall einfach so der Großwerft zuzuschieben, bloß weil die ein Interesse hat, dieses störende Bauwerk aus dem Weg zu bekommen? Weil nämlich kürzlich erst der Panama-Kanal verbreitert wurde und man bei den Neubauten ja mithalten muss? Das erscheint mir ein bisschen zu simpel.

Warum? Das will ich Ihnen sagen: Bestimmt nicht, weil ich das dieser Werft nicht zutrauen würde! Sondern weil die das doch gar nicht nötig hätte. Weil die doch sowieso immer bekommt, was sie will! Weil sämtliche Politiker vor ihr kriechen, sobald sie mit der Arbeitsplatz-Peitsche knallt! Darum.

Ja, ich verstehe Ihre Enttäuschung. Natürlich möchte man gerne, dass derjenige, der sich moralisch schuldig gemacht hat, auch der Täter ist. Aber so ist den wirklich Bösen selten beizukommen. Nehmen wir Al Capone – einen der größten Gangster seiner Zeit. Den haben sie nicht etwa wegen Mordes verurteilen können oder wegen Raubes, nein, am Ende war es Steuerhinterziehung! Dafür ist er hinter Gitter gewandert, und dort ist er dann verstorben. Was für ein Zufall, tja, das meine ich auch.

Aber bleiben wir bei der Friesenbrücke. Wenn es nicht die Werft war, der es zu mühsam wurde, das Mittelteil dieser Ems-Querung bei jeder Schiffsüberführung langwierig und teuer aushängen zu lassen – wer hat sie dann zerstört? Da gibt es durchaus ein paar Kandidaten. Wir kennen doch unsere Verschwörungstheoretiker, die lassen uns nicht im Stich.

Nummer eins: Wladimir Putin. Ja, ja, immer gleich hoch ins Regal gegriffen! Putins Russland hat Wirtschaftsprobleme, unter anderem wegen der niedrigen Energiepreise. Für die kann er nichts, das liegt an Saudi-Arabien und den islamistischen Terroristen im Irak und in Libyen, die ihre Mörderbanden damit finanzieren, dass sie große Menge Erdöl auf den Markt werfen, was den Preis drückt, wobei ihnen gewisse Kreise in der Türkei behilflich sein – wussten Sie, dass die Türkei Nato-Mitglied ist? Ja, man fasst es nicht.

Genau, Putin. Der will sein Land mit Gas- und Öl-Exporten finanzieren, daher passt es ihm gar nicht, dass Westeuropa derzeit auf dem Energiespartrip ist. Windkraft, Solarenergie, Elektroautos … wie soll Putin daran verdienen? Aber die beste Möglichkeit, Energie zu sparen, ist immer noch der öffentliche Personenverkehr. Nah und fern. Genau, vor allem die Eisenbahn. Merken Sie, wie gut das zusammenpasst?

He, was gibt es da zu lachen! Sie haben doch das Wichtigste noch nicht gehört. Die Verschwörungs-Trumpfkarte, sozusagen. Der Kapitän des Schiffes, das die Friesenbrücke versenkt hat, ist Russe!

Ja, da gucken Sie. Obwohl ich sagen muss, überzeugt guckt anders. Sie wissen doch, Putin war zu Sowjetzeiten Geheimdienst-Chef! Der hat seine Leute im Griff, auch heute noch, auch im Ausland. Wenn der einem sagt, fahr mir mal eben diese Eisenbahnbrücke zusammen, die ist eine wichtige Verbindung zwischen Norddeutschland und Holland, viele Pendler, da geht uns eine Menge Benzin-Umsatz verloren – also, da möchte ich nicht diese Brücke sein, das sage ich Ihnen!

Apropos Holland. Das war ja noch lange nicht alles, was die Verschwörungs-Theoretiker zum Thema Friesenbrücke kombiniert haben! Da gab es nämlich einen merkwürdigen Vorfall, der ging auch durch die Medien. Nein, Tatsache! Da tauchten nämlich, kaum dass die Brücke abgetaucht war, plötzlich niederländische Offiziere am Ems-Ufer auf und nahmen die Zerstörung genauestens in Augenschein. Oh ja, da habe ich auch gestaunt! Ich meine, was haben die da zu suchen? Manche sagen zwar, Weener und das Rheiderland gehörten nicht wirklich zu Deutschland – aber deswegen ist es noch lange kein niederländisches Territorium! Was die Offiziere hier gewollt haben, wurde nie wirklich geklärt. Irgendwann wuchs Gras über die Sache.

Aber ich kann es Ihnen sagen.

Okay. Wissen Sie noch, was für ein weltoffenes, tolerantes Land die Niederlande einmal waren? Rasse, Nationalität, Religion – das war alles egal, keine Vorurteile, man nahm jeden so, wie er war. Traumhaft! Ich weiß noch, wie ich als Jugendlicher darüber gestaunt habe. Ach Quatsch, mit Marihuana hatte das nichts zu tun. Sondern damit, dass ich als Deutscher, der mit Vorurteilen quasi großgezogen worden ist, gemerkt habe, dass uns der kleine Nachbar in dieser Hinsicht weit voraus war. Dass es eben auch anders geht.

Und dann war es damit von einem Tag auf den anderen vorbei. Schuld waren islamistische Attentate. Holland war natürlich nicht das einzige Land, das unter dieser Pest litt – aber die Niederländer fühlten sich besonders betroffen. Erschüttert bis ins Mark. Weil man ihnen ihre Offenheit, ihre Gutherzigkeit derart gemein vergolten hatte. Was wollen Sie, man kann das verstehen.

Was dann kam, war allerdings bitter und gar nicht vorbildlich. Obwohl die Deutschen gerade drauf und dran sind, sich genau das zum Vorbild zu nehmen: Holländische Rechtspopulisten und ihre Parolen kamen in Mode und wurden gewählt. Das ganze Land vollführte einen Schwenk von extrem liberal zu Monokulti. Alles Muslimische wurde strikt abgelehnt – zuweilen gleich alles Fremde. Auch wir Deutschen kriegten unser Fett weg; plötzlich waren wir wieder die »Moffen«.

So. Und dann geht die Moffen-Kanzlerin bekanntlich her und verkündet, dass Flüchtlinge aus Syrien, deren Leben in Gefahr ist, selbstverständlich aufgenommen werden. Kommt eben aus einer christlichen Partei und einer christlichen Familie. Gemeint hat sie natürlich, dass ganz Europa diese vielen Flüchtlinge aufnehmen soll. Weil aber unsere superchristlichen EU-Partner plötzlich von Nächstenliebe nichts wissen wollen – allen voran das erzkatholische Polen – und sich abschotten, läuft es letztlich darauf hinaus, dass die große Masse dieser armen Menschen Deutschland ansteuert. Im Süden kommen sie an, dann verteilt man sie nach Westen, Osten und Norden. Und nach Nordwesten. Wo längst nicht alle bleiben wollen.

Sie verstehen, was das für die Niederländer heißt? Muslimischer Aufmarsch direkt an ihrer Landesgrenze! Und das bei offenen Schlagbäumen. Da muss man sich natürlich etwas einfallen lassen, um diese Menschen am weiteren Vordringen zu hindern. Schließlich will man ja keine Muslime mehr. Donald Trump lässt grüßen.

Und womit fahren mittellose Flüchtlinge in der Regel? Genau, mit dem Zug. Und was ist die große Spezialität der Holländer? Genau, wasserbauliche Konstruktionen aller Art, nicht zuletzt Brücken. Eisenbahnbrücken. Und Schiffe natürlich.

Crash boom bang, Sie verstehen?

Wie, was das soll? Ein offenes Tor für den Einfall von Muslimen nach Holland ist damit verschlossen! Mit Mitteln, die allesamt auf die wasserbaukundigen Niederländer verweisen! Und das letzte Indiz war diese klammheimliche Inspektionsreise holländischer Offiziere, um nachzuschauen, ob das Zerstörungswerk auch nach Plan verlaufen ist. Ist es! Damit ist die nächsten acht bis zehn Jahre Ruhe an diesem Frontabschnitt. Die Holländer wissen natürlich genau, dass die aufgeblasene deutsche Bürokratie mindestens so lange braucht, um eine neue Brücke auch nur zu genehmigen.

Glauben Sie nicht? Das können Sie mir ruhig abnehmen, ich bin doch selber Teil dieser Bürokratie! Wenn ich mich vorstellen dürfte: Stahnke. Hauptkommissar Stahnke, Fachkommissariats römisch eins, Polizeiinspektion Leer/Emden. Angenehm.

Ach so, das meinten Sie gar nicht! Klar, dass unsere Bürokratie längst jedes Maß verloren hat, weiß ja jeder. Sie meinten die Verschwörungstheorie mit den Holländern, alles klar. Soll ich Ihnen etwas sagen? Klingt ganz nett, aber so war es nicht. Ich jedenfalls glaube auch nicht dran.

Warum? Weil ich weiß, wie es wirklich war.

Erzählen darf ich das eigentlich nicht, Dienstgeheimnis. Andererseits … Ach, was soll’s. Passen Sie auf. Ich erzähle Ihnen mal was.

Da war dieser Mann, dessen Name natürlich nichts zur Sache tut, der wohnte in Weener und arbeitete bei Volkswagen in Emden. Das ist gar nicht so ungewöhnlich! Eine Stelle bei VW, das kommt in Ostfriesland gleich nach Beamter sein, was die Sicherheit betrifft; von den Löhnen und Gehältern dort ganz abgesehen. Dafür pendelt man gerne regelmäßig seine vierzig Kilometer oder so. Kosten? Benzin ist doch billig zur Zeit, dank der Terroristen, der Saudis und der Erdogans! Außerdem gibt es ja Fahrgemeinschaften.

Bestimmt arbeiten genügend Weeneraner bei VW, um mehr als eine Fahrgemeinschaft zu bilden! Andererseits hat das Emder Werk viele Abteilungen, man arbeitet in Schichten, das passt es nicht immer. Jedenfalls beteiligte sich unser Mann an einer Fahrgemeinschaft, die sich in Leer traf, Abfahrt Nord, beim Emspark, da gibt es endlos viele Parkplätze. Von dort ging es direkt nach Emden. Vier Mann insgesamt, er, zwei Leeraner und einer aus Ihrhove. Kennen Sie nicht? Liegt in Westoverledingen, unweit der Ems, quasi direkt gegenüber von Weener.

Unser Mann war fest liiert, und jeder, der ihn kannte, fragte sich, wie er an diese Frau gekommen war. Etliche Jahre jünger als er, phantastisch aussehend, hoch gebildet. Von Beruf Malerin. Nein, eine richtige, ich meine, sie stellte ihre Bilder in Galerien aus und konnte vom Verkauf ganz gut leben. Nun war unser Mann kein Bandarbeiter, sondern ein mittelhohes Tier in der Verwaltung. Trotzdem fragte man sich, wie einer wie er diese Frau auf Dauer halten konnte.

Wie sich herausstellte, konnte er das nicht.

Sein Nebenbuhler gehörte auch zur Fahrgemeinschaft. Einer aus der Entwicklung, Ingenieur und Doktor. Keiner wusste so recht, wieso man den eigentlich nach Emden versetzt hatte. Warum so einer eine Fahrgemeinschaft nötig hatte? Weil vom Geldausgeben noch keiner reich geworden ist! Außerdem war er ein geselliger Typ und fuhr nicht gerne allein.

Die Malerin und er lernten sich bei einer Werksfeier kennen. Tag der offenen Tür, Riesenaktion, musste wohl sein, weil das Image der Marke gerade ziemlich angeknackst war. Sie wissen schon, dieser Abgas-Skandal mit der Schummel-Software bei Dieselfahrzeugen. Da brauchte man positive Berichterstattung als Kontrast. Die schöne Malerin begleitete ihren Lebenspartner, war auf der Suche nach neuen Motiven und traf den Entwickler. Zack, war’s passiert.

Ob der Weeneraner nichts davon gemerkt hat? Zunächst einmal nicht. Der Doktor war ja nicht dumm und die Dame auch nicht. Er sorgte als Erstes dafür, dass seine Arbeitszeiten verlegt wurden, was in seiner Abteilung überhaupt kein Problem war. So konnte er seine neue Geliebte immer dann besuchen, wenn ihr Partner auf Arbeit war. Darüber war er bestens informiert, denn die Fahrgemeinschaft hatte so eine WhatsApp-Gruppe angelegt – und vergessen, ihn daraus zu löschen.

Tja, und die Dame war anscheinend so eine, die sich sehr gut verstellen kann. In allen Lebenslagen.

Der amouröse Doktor war derjenige, der in Ihrhove wohnte. Genau genommen am Ortsrand, in einer richtig schicken, großen Villa. Ihrhove in Westoverledingen, nicht weit von der Ems, gegenüber von Weener. Na, dämmert’s? So kommt unsere Brücke wieder ins Spiel! Die Friesenbrücke war ja nicht allein für die Eisenbahn gedacht, sondern auch für Fußgänger. Und Radfahrer. Für unseren gelehrten Lover war das natürlich sehr praktisch, so konnte er das Angenehme mit dem gesundheitlich Nützlichen verbinden.

Was meinen Sie? Sie ahnen schon, worauf das hinausläuft, und glauben mir kein Wort? Na, dann kann ich ja aufhören zu erzählen. Wenn ich hier sowieso tauben Ohren predige …

Ach so, jetzt wollen Sie es auch zu Ende hören. Obwohl Sie es unglaubwürdig finden! Warten Sie nur ab, Sie werden sich noch wundern.

Jedenfalls pendelte unser Doktor immer lustig, um nicht zu sagen wolllustig über die Friesenbrücke hin und her, während der eigentliche Partner der Malerin zur Arbeit nach Emden pendelte. Sobald WhatsApp grünes Licht gab, schwang sich der Entwickler gemütlich auf sein Rad, strampelte zum Fluss und über die Brücke, und immer pünktlich eine Viertelstunde, bevor der Hausherr wieder eintrudelte, machte er sich auf den Rückweg. Das spielte sich sehr schnell ein, man konnte bald die Uhr danach stellen.

Und das hätte vermutlich noch lange so gehen können, wenn der Weeneraner nicht eines Tages einen Tipp gekriegt hätte, was da so abging mit seiner kunstbeflissenen Partnerin und dem einfallsreichen Entwickler. Wie? An seinem Arbeitsplatz hat er das erfahren, im VW-Werk. Anonymer Anruf mit verzerrter Stimme.

Diese Bombe platzte kurz vor Feierabend, und mit ihr platzte unser Weeneraner. Eigentlich ganz untypisch für einen Ostfriesen, sich so aufzuregen! Und für einen Rheiderländer sowieso. Er schimpfte und tobte und stieß wüste Drohungen gegen seinen Nebenbuhler aus. Umbringen war noch das Geringste!

Eins aber tat er nicht, nämlich sofort losfahren und seine Drohungen in die Tat umzusetzen. Das sind nämlich die Tücken einer Fahrgemeinschaft: Man ist auf die anderen angewiesen! An diesem Tag war nämlich einer der beiden Leeraner mit Fahren dran; das Auto des Weeneraners stand unerreichbar beim Emspark in Leer. Unser Mann musste also wutschnaubend bis zum Feierabend warten.

Und als er dann endlich abends mit quietschenden Reifen bei sich zu Hause eintraf und seine Lebensabschnittsgefährtin zur Rede stellte, hatte der unkeusche Doktor nicht nur bereits das Liebesnest verlassen – er war auch nicht mehr unter den Lebenden. Weil er nämlich den Fußweg der Friesenbrücke genau in dem Moment überquert hatte, als die Brücke von einem Frachtschiff gerammt und völlig zerstört wurde.

Okay, Sie glauben mir also nicht. Ich nehme das zur Kenntnis. Ihr Pech. Ich weiß, was ich weiß.

Na gut, dann fragen Sie. Warum man von dem Todesfall nichts in der Zeitung gelesen hat? Hat man doch! Allerdings erst Tage später und ohne Zusammenhang zum Brückenunfall. Die Leiche des Auto-Entwicklers war bei dem Crash nämlich ins Wasser gestürzt und sofort abgetrieben worden. Man fand sie erst Tage später. Da niemand das Opfer auf der Brücke beobachtet hatte, brachte man beide Vorfälle zunächst nicht miteinander in Verbindung. Diese Erkenntnis ist relativ neu, und außer mir und meinen Kollegen weiß das noch keiner. Na ja, Sie natürlich. Aber Sie glauben mir ja nicht.

Weil sie es sich nicht vorstellen können, dass ein wenig bedeutender VW-Verwaltungsangestellter einen russischen Kapitän und einen Lotsen dazu bringen kann, einen gemeinschaftlichen Mord zu begehen und dazu eine -zig Millionen Euro teure Brücke zu Klump zu fahren? Und das per Telefon, innerhalb weniger Stunden? Das halten Sie nicht für glaubwürdig?

Damit haben Sie völlig recht. So war es auch nicht. Mal ehrlich, wer würde sich denn solchen Quatsch ausdenken! Aber zäumen Sie das Pferd mal von der anderen Seite auf, dann ergibt sich ein völlig anderes Bild.

Sagte ich nicht, der tote Doktor-Ingenieur sei Automobilentwickler gewesen? Und dass niemand so recht wusste, warum man ihn nach Emden versetzt hatte? Sie haben da gar nicht nachgefragt. Vielleicht, weil Volkswagen tatsächlich als so etwas wie eine große Behörde angesehen wird, die öfter mal Dinge macht, die bloß Geld kosten und überhaupt keinen Sinn ergeben. Und das stimmt ja auch! Nur auf diesen Fall, da trifft das nicht zu.

Der bewusste Doktor war nämlich Software-Entwickler. Software für die Abgas-Steuerung bei Diesel-Motoren. Besser bekannt geworden als Schummel-Software. Genau! Nachdem dieser Betrug aufgeflogen war, haben die Hauptverantwortlichen diesen Mann, der in ihrem Auftrag gehandelt hatte, sofort aus der Schusslinie genommen; wäre er aufgeflogen, hätte sie das ja mit reingerissen. Daher die sinnlos erscheinende Versetzung an den Rand der Republik. Daher auch seine beliebig festsetzbaren Arbeitszeiten, denn eigentlich hatte der Mann in Emden gar nichts zu tun.

Ja, Untätigkeit bringt auf gefährliche Gedanken, da haben Sie recht. Daraus ergab sich nicht nur besagte Liebesaffäre, sondern auch die Idee, aus dem ganzen Dilemma, in das der Konzern geschlittert war, ein bisschen was fürs eigene Konto herauszuschlagen! VW muss schließlich Milliarden bezahlen, an Strafen, an Auto-Umrüstungen und an wütende Käufer – Geld, das man anscheinend hat. Da käme es doch auf ein paar weitere Millionen für das Schweigen eines Software-Entwicklers nicht weiter an. Dachte der Software-Entwickler. Und betätigte sich als Erpresser.

Ach, jetzt sind Sie auf einmal bei mir, was? Dass die Oberen von Volkswagen einen russischen Kapitän und einen Lotsen bestechen können, das glauben Sie sofort! Und dass die eine unverzichtbare, nur schwer ersetzliche Eisenbahnbrücke zu Klump fahren lassen? Keine Frage, natürlich! Und einen Mord trauen Sie denen anscheinend sowieso zu – ebenso wie den Versuch, den Verdacht auf einen kleinen Angestellten der eigenen Verwaltung zu lenken. Leuchtet Ihnen alles ein, was?

Zumal – das wissen Sie ja noch gar nicht: Es gab da einen weiteren Anruf. Bei der Malerin. Wieder anonym, wieder mit unterdrückter Nummer und technisch verzerrter Stimme. Jemand sagte, ihr Freund hätte alles herausgefunden und sei gerade auf dem Weg zu ihr, wutschnaubend. Die Frau ist natürlich furchtbar erschrocken und hat ihren Galan sofort heimgeschickt. Mit dem Resultat, dass der genau zum richtigen Zeitpunkt die Friesenbrücke überquerte. Oder zum falschen, wie man will.

Meine Kollegen versuchen gerade, diesen Anruf zurückzuverfolgen. Ist nicht einfach, aber ich glaube, es lohnt sich. Gerade weil sich der Anrufer so viel Mühe gegeben hat – und das richtige Equipment besaß. Das hat längst nicht jeder. Da waren Profis am Werk, und Profis muss man sich leisten können. Sie verstehen?

Schön, dass Sie verstehen. Und dass Sie mir jetzt glauben. Endlich! Nur, ehe Sie dies alles womöglich weitererzählen: Können Sie das auch beweisen?

Nein? Aha. Ich nämlich auch nicht.

Wie bitte? Moment, ich habe nur gesagt: Ich weiß, was ich weiß. Und das ist im Moment leider noch nicht genug für einen Haftbefehl.

Aber – wir arbeiten dran.

Was meinen Sie? Na, was soll schon sein, wenn wir das alles niemals beweisen können? Wer weiß – dann war es am Ende ja vielleicht doch die Werft.

Don Cemento

Stirnrunzelnd betrachtete Antonio seine neue Pizzeria in der Altstadt. Okay, noch war es nur ein verkommener alter Laden, daher hatte er das Haus ja so günstig bekommen. Bis zur Eröffnung gab es noch eine Menge zu tun. Antonio aber scheute keine Arbeit. Ohne Arbeit kein Profit.

Don Pasquale sah das anders. »Schutzgeld ist fällig«, knurrte er, als er Antonio aufsuchte, zwei Wochen vor der Eröffnung.

Antonio wischte sich den Schweiß von der Stirn, mit dem Handrücken, denn seine Finger waren krustig vom Kalk. »Und wenn ich nicht zahle?«, fragte er trotzig.

Don Pasquale lachte böse und schob sich seinen cremefarbenen Hut in den Nacken. »Dann gehst du zu den Fischen.« Er zeigte auf Antonios Mörtelkübel. »Mit Schuhen aus Beton! Alte Tradition. Praktisch, so dicht am Hafen. Man nennt mich auch Don Cemento, wusstest du das nicht?«

»Ist ja gut«, sagte Antonio. »Ich hol schon das Geld.« Aber als er sich wieder zu Don Pasquale herumdrehte, hatte er kein Geld in der Hand. Fluchend griff der Don nach seiner Pistole. Da sauste etwas auf ihn zu.

Die Eröffnung war ein voller Erfolg. Auch die Zeitung war da. »Das haben Sie alles selber gemacht?«, staunte der Reporter. »Das war bestimmt eine Menge Arbeit. Allein der große Steinofen!«

»Oh ja«, nickte Antonio. »Vor allem das Betonfundament. Aber dafür hält das auch ewig.«

Für das Pressefoto stellte er sich mit dem langen Pizzaschieber in Positur. Dessen Kante hatte er vorher sorgfältig abgewischt.

Der fremde Zwilling

Alles begann im Supermarkt, als sich plötzlich ein wildfremder älterer Mann zu ihr herüberbeugte und ihr vertraulich seinen Arm um die Schultern legte. »Mein Durchfall ist deutlich besser geworden«, raunte er ihr zu, nickte noch einmal mit hochgezogenen Augenbrauen und schob seinen Einkaufswagen in Richtung Spirituosen.

Sie war viel zu erschrocken, um zu protestieren oder um Hilfe zu schreien, wonach ihr eigentlich zumute war. So lächelte sie nur irritiert und nickte dem abschiebenden Senior reflexhaft hinterher. Gütiger Himmel, was war denn das? Hatte die Klapse heute Tag der offenen Tür? Oder hatten sie hier im Supermarkt einen Dementen-Nachmittag eingeführt?

Das Rätsel löste sich erst in Runde vier. Bis dahin hatte ihr ein sportlicher, aber völlig verschleimter junger Mann etwas vorgehustet und eine übergewichtige Matrone hatte ihr ihren Ausschlag unter die Nase gehalten. Beide Male war Evelyn Wattjes viel zu erschrocken gewesen, um sich solche Aufdringlichkeiten zu verbitten. Erst die vierte dieser unheimlichen Begegnungen verlief anders.

Die Frau mit der Nagelbettentzündung war ihr im Leeraner Evenburg-Park über den Weg gelaufen. Sie hatte sich ihr lächelnd von vorne genähert statt überfallartig von hinten oder von der Seite. So waren ihr Evelyns Stirnrunzeln und ihre abwehrende Haltung nicht entgangen. »Ach, Sie sind es ja gar nicht!«, rief sie nach kurzem Zögern aus.

»Wer soll ich nicht sein?«, schnauzte Evelyn Wattjes zurück. Wenn man ihr quer kam, kannte sie kein Pardon. Und ihre Existenz anzuzweifeln, das war mehr als quer.

»Meine Apothekerin!« Die Unbekannte lächelte entschuldigend. »Ich hab erst gedacht, Sie wären sie! Sie sehen ihr unglaublich ähnlich.« Peinlich berührt, versuchte sie ihre geröteten und geschwollenen Finger, die sie Evelyn zur Begutachtung entgegengestreckt hatte, hinter dem Rücken zu verbergen. »Aber wenn Sie sprechen, merkt man es. Tut mir leid, nichts für ungut.« Die Frau wandte sich zum Gehen.

»Welche Apotheke denn?«, rief Evelyn ihr hinterher.

»Na, da hinten, an der Hauptstraße!« Die Frau machte eine vage Handbewegung und eilte davon. Evelyn Wattjes aber hatte schon verstanden.

Gut, dass es von der Evenburg bis zur Hauptstraße ein gutes Stück zu laufen war. So hatte sie Zeit zum Nachdenken. Als sie die Apotheke erreicht hatte, stürmte sie nicht hinein, sondern trat ans Schaufenster und inspizierte das Innere über die Auslagen hinweg. Es war, als würde sie in einen Spiegel blicken. Die Frau dort hinter dem Tresen, in dem weißen Kittel, mit den halblangen, noch kaum ergrauten brünetten Haaren, den grauen Augen, den runden Wangen und dem Grübchen im Kinn – wenn das nicht sie war, wer war es dann?

Sie betrat die Apotheke auch jetzt nicht, sondern ging schnurstracks nach Hause, ihren Vater befragen.

Sie hasste ihren Vater seit frühester Jugend, weil der sich immer nur einen Sohn gewünscht hatte – ein Wunsch, den ihre Mutter ihm nicht hatte erfüllen können und unter dem sie immer gelitten hatte. Einen Sohn und Erben für die Firma, die er aufgebaut hatte und die ihm das Wichtigste auf der Welt war. Mutter war dann früh gestorben, und Evelyn Wattjes hatte gleich nach dem Abitur Ostfriesland verlassen, war in der Anonymität des Ruhrpotts untergetaucht und hatte sich so bald wie möglich auf eigene Füße gestellt. Berufliche Selbstständigkeit – das war ein Wunsch, den sie vom Vater übernommen hatte. Und was der konnte, das konnte sie doch wohl auch!

In diesem Punkt allerdings hatte sie sich getäuscht. Nach kurzem Boom und tiefem Absturz stand sie ohne Firma, aber mit einem riesigen Berg Schulden da. Privatinsolvenz, putzen gehen, im Billigmarkt an der Kasse sitzen. Ihr war nichts erspart geblieben. Obwohl sie sich das bestimmt hätte ersparen können. Aber den Gedanken, ihren reichen Vater um Hilfe zu bitten, erstickte sie im Keim. Alles lieber, als bei dem angekrochen zu kommen!

Jahre später kam dann er bei ihr angekrochen.

Vater war krank, unheilbar krank, hatte seine florierende Firma längst vorteilhaft verkauft und lag jetzt in einem eigens und perfekt eingerichteten Krankenzimmer in seiner Logaer Villa, wo er auf den Tod wartete. Der sicher noch einige Zeit auf sich warten lassen würde, denn Bertram Wattjes konnte sich jede erdenklich ärztliche Behandlung leisten. Auch in das edelste aller Pflegeheime hätte er sich locker einkaufen können. Das aber wollte er nicht. Er wollte seine letzten Jahre in seinem eigenen Haus verbringen, betreut von seiner eigenen Tochter.

Alles in Evelyn sträubte sich dagegen, dieses Angebot anzunehmen. Aber es war einfach zu verlockend. Nicht nur freie Unterkunft und Verpflegung, auch ein regelmäßiges Gehalt stellte Vater ihr in Aussicht, außerdem Unterstützung durch professionelle Pflegekräfte, die ihr zuarbeiteten und ihr freie Nächte und Wochenenden verschafften. Trotzdem hätte sie sicherlich nein gesagt, nach all der Ablehnung, die sich als Kind und Jugendliche empfunden und all dem Hass, der sich bei ihr angestaut hatte. Aber Vater wäre nicht Vater gewesen, wenn er das nicht einkalkuliert hätte. Er verband das Angebot mit einer Daumenschraube: Entweder Evelyn kam, dann blieb ihr Name in seinem Testament stehen – oder sie kam nicht, dann würde er sie aus seinem letzten Willen streichen.

Nur das nicht! Die Hoffnung auf ein reiches Erbe war das Einzige gewesen, was Evelyn in langen Jahren wirtschaftlicher Not bei der Stange gehalten hatte. Natürlich wusste sie, dass sie einen Pflichtteil erhalten würde; angesichts der Höhe ihrer Schulden aber würde der vermutlich nicht reichen, um ihr eine sorgenfreie Zukunft zu gewährleisten.

Vater hatte ihr ein Angebot gemacht, das sie nicht ablehnen konnte. Zähneknirschend nahm sie es an.

Die ersten Monate verliefen gar nicht so schlecht. Die meiste Arbeit erledigten die polnischen Pflegerinnen; ihre eigene Funktion war mehr die einer gehobenen Gesellschaftsdame. Nur, wenn sie mit ihm allein war, kommandierte er sie herum wie in alten, bösen Zeiten. Also hielt sie diese Phasen so knapp wie möglich. Sie war kurz davor, sich mit ihrer neuen Lebenssituation anzufreunden, als die merkwürdigen Begegnungen begannen.

»Vater, wer ist diese Frau? Und versuch gar nicht erst zu leugnen. Solch eine Ähnlichkeit kann kein Zufall sein.«

Bertram Wattjes seufzte. »Was soll ich lange drum herum reden«, sagte er mit heiserer, aber fester Stimme. »Ja, Eva ist meine Tochter. Ebenso wie du. Sie ist ein Jahr jünger.« Er seufzte. »Weißt du, deine Geburt war mit Komplikationen verbunden, und danach teilten die Ärzte deiner Mutter mit, dass sie nie wieder ein Kind bekommen konnte. Was glaubst du, wie verzweifelt wir waren! Ich hatte mir doch so sehr einen Erben für meine Firma gewünscht. Aber die Hoffnung konnte ich mir aus dem Kopf schlagen. Da habe ich es dann anderweitig versucht. Bei einer Jugendfreundin, die deiner Mutter übrigens sehr ähnlich sah. Was sollte ich denn machen!«

Evelyn blieb ganz ruhig; darüber staunte sie selber. Was ihr Vater hätte machen sollen? Eine unglaubliche Frage! Treu bleiben, gefälligst. Sich seiner erstgeborenen Tochter zuwenden. Ihr das Vertrauen schenken, das sie verdiente, und sie zu seiner Nachfolgerin aufbauen, statt in der Gegend herumzuvögeln und darauf zu hoffen, einen männlichen Nachfolger zu zeugen, der genauso klotzköpfig war wie er. Aber auf den Gedanken, dass ein Mädchen in der Lage sein könnte, eine Firma zu leiten, war er natürlich nie gekommen!

»Natürlich bin ich auch auf den Gedanken gekommen, dir die Leitung meiner Firma anzuvertrauen«, krächzte der alte Mann. »Warum sollte ein Mädchen dazu nicht in der Lage sein? Aber dann hast du ja fluchtartig das Nest verlassen. Tja, und nachdem du deinen eigenen Laden in den Sand gesetzt hattest, war mir klar, dass es wohl besser so war. Auch mit Eva habe ich es dann gar nicht erst nicht versucht. Sie weiß ja bis heute nicht, wer ihr Vater ist und wer ihr das Studium bezahlt hat.«

Immer noch blieb Evelyn ganz ruhig; das konnte sie quasi sehen, weil sie inzwischen neben sich stand, innerlich schäumend vor Wut. Wie sie diesen verfluchten Kerl hasste! Aber was hätte es für einen Sinn, jetzt noch die ungekämpften Kämpfe vergangener Zeiten auszufechten? Das brachte ja doch nichts mehr. Wichtig war jetzt nur noch eins.

»Diese … Eva«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. »Die hast du doch wohl nicht in deinem Testament bedacht, oder?«

»Aber natürlich«, sagte Bertram Wattjes. »Sie ist doch meine leibliche Tochter, genau wie du. Jede von euch bekommt die Hälfte, wenn ich mal nicht mehr bin. Mach dir keine Sorgen, es ist genug da, das reicht für euch beide.«

Evelyn nickte, und sie brachte sogar ein Lächeln zustande, ehe sie das Zimmer verließ. Ein gequältes Lächeln. In ihrem Kopf schrillten Alarmglocken. Natürlich hatte sie jede Gelegenheit genutzt, sich einen Überblick über die Finanzen ihres Vaters zu verschaffen. Die Gesamtsumme war beachtlich, aber auch nicht astronomisch. Sie würde durchaus reichen, um all ihre Schulden zu tilgen und ihr außerdem noch ein angenehmes Leben zu gewährleisten. Wohlgemerkt, die volle Summe. Mit der Hälfte konnte sie gerade eben ihre Verbindlichkeiten begleichen, dann müsste sie wieder arbeiten gehen. So aber hatte sie sich das nicht vorgestellt.

Außerdem kosteten Villa und Pflegedienst eine Menge Geld, was von den geringen Zinserträgen nicht aufgefangen wurde. Mit jedem Monat, der verging, schmolz Vaters Vermögen ein wenig zusammen. Und auf das, was blieb, wartete nicht nur sie, Evelyn. Sondern auch Eva, ihr Ebenbild. Mit der sie schwesterlich würde teilen müssen.

Nein, verdammt! Das durfte nicht geschehen.

Das würde auch nicht geschehen. Die demütigenden Jahre auf den Knien hinterm Putzeimer und an der ewig piepsenden Scanner-Kasse hatten sie hart gemacht. Sie wusste genau, was sie wollte, und war bereit, alles dafür zu tun.

Sie begann damit, mehr über diese Eva herauszubekommen. Nach Feierabend folgte sie ihr mit Vaters Mercedes. Ihre Halbschwester wohnte in einem schmucken Häuschen unweit des Flusses Leda, und zwar nicht allein. Anders als Evelyn schien sie Glück bei der Partnersuche gehabt zu haben. Auf dem Türschild standen die Namen Eva Blohm und Dr. Michael Blohm. Aha, der Mann war Doktor! Evelyns Neid nahm zu und fachte ihre Wut weiter an.