Sand und Asche - Peter Gerdes - E-Book

Sand und Asche E-Book

Peter Gerdes

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Bei einer Modenschau in Leer wird die 17-jährige Stephanie auf dem Laufsteg angeschossen. Der Täter entkommt unerkannt. Wird er es erneut versuchen? Um Stephanie aus der Schusslinie zu bringen, schickt ihr Vater, der wohlhabende Reeder Venema, sie in eine Klinik auf Langeoog, wo auch ihr bedenkliches Untergewicht behandelt werden soll. Doch schon bei der Ankunft auf der Insel geschieht Ungeplantes. Stephanie erwischt am Fähranleger den falschen Koffer. Und der enthält etwas, das sein Besitzer unbedingt wiederhaben will. Abends fallen bei einer wilden Schülerparty am Strand Schüsse - wie sich herausstellt, war es dieselbe Waffe, aus der auch auf Stefanie geschossen wurde. Inselpolizist Lüppo Buss ist alarmiert. Und der schwergewichtige Stahnke ermittelt undercover - in einer Klinik für Essgestörte.

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Peter Gerdes

Sand und Asche

Langeoog-Krimi

Zum Autor

Peter Gerdes, geb. 1955, lebt in Leer (Ostfriesland). Studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Schreibt seit 1995 Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 Leiter des Festivals »Ostfriesische Krimitage«. Die Krimis »Der Etappenmörder«, »Fürchte die Dunkelheit« und »Der siebte Schlüssel« wurden für den Literaturpreis »Das neue Buch« nominiert. Gerdes betreibt mit seiner Frau Heike das »Tatort Taraxacum« (Krimi-Buchhandlung, Veranstaltungen, Café und Weinstube) in Leer.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2010 im Leda-Verlag)

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © chrisaram2 / pixabay.com

ISBN 978-3-8392-6466-9

Widmung

Für J. K.

1.

Sie spürte es brennen. Sie spürte sich brennen. Endlich.

Feuer. Verzehrendes Feuer, reinigendes Feuer. Sie seufzte erwartungsvoll bei dem Gedanken, dass dieses Feuer alles verbrennen würde, was nicht wirklich zu ihr gehörte. All das, was nur an ihr hing wie kiloschwere Kletten, das an ihrem Selbstbewusstsein saugte wie eklige Egel, das um sie herumwallte wie Fett gewordene Häme. Das gute, das herrliche Feuer würde ihr wahres Ich aus diesem widerlichen Kokon herausschälen. Herausbrennen. Herrlich. Endlich.

O loderndes Feuer. O göttliche Macht.

Wo kam das jetzt auf einmal her? Sie grinste. Kaiser Nero in Quo vadis, diesem schwülstigen Hollywoodschinken, den sie sich in der Schule hatte anschauen müssen. Peter Ustinov als fette Witzfigur. Nero, der Rom verbrennen ließ, der das verkommene Alte beseitigte, um Platz für das herrliche Neue zu schaffen. Die Römer hatten ihn erst vergöttert, dann gefürchtet, schließlich hatten sie ihn für verrückt erklärt.

Was wussten denn die!

Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihr ganzes Zimmer hing voller Spiegel, zwei davon reichten bis zum Boden. Keiner davon war fest montiert, denn die anderen durften sie nicht sehen. Wenn sie richtig stand, konnte sie ihren Körper von allen Seiten zugleich betrachten. Nackt, ungeschönt, schonungslos. Aufgelöst in Facetten, in Fragmente zersplittert, in Stücke gebrochen. In Teile, die so viel mehr waren als das Ganze.

Ihren Körper so zu betrachten, war eine furchtbare Qual, der sie sich trotzdem immer wieder aussetzte. Weil das nötig war. Weil sie es einfach tun musste. Weil sie sich immer wieder darin bestärken wollte, unbarmherzig zu sein gegenüber ihrer eigenen Unvollkommenheit. Das Unerträgliche musste immer aufs Neue ertragen werden, damit man es nicht ewig ertragen musste.

Natürlich kannte sie ihre Schwachstellen gut. Die schwabbeligen Hüften, den fetten Po, diese viel zu dicken Oberschenkel, diese monströsen Titten. Niemandem sonst war dieser Anblick zuzumuten. Deshalb trug sie auch immer Kleidung, die diese Katastrophe kaschierte, so gut es eben ging. Weite, fließende, locker fallende Klamotten, die nichts zeigten, nichts betonten oder hervorhoben, sondern alles verhüllten, was zu verhüllen war.

Sie wusste selbstverständlich genau, dass das nicht wirklich funktionierte. Dass alle anderen Menschen sie trotzdem als das wahrnahmen, was sie war: ein fetter, klopsiger Trampel, ein Monstrum, das es eigentlich nicht verdient hatte, in der Gegenwart anderer, wirklicher Menschen geduldet zu werden. Jeder sah das, jeder wusste das. Aber man schien ihren Versuch, die Belästigung der Umgebung durch ihre widerwärtige Erscheinung so gut es ging zu mindern, doch anzuerkennen. Jedenfalls insoweit, als niemand mit dem Finger auf sie zeigte, dass sie nicht öffentlich verlacht, geschmäht und davongejagt wurde. Man benahm sich ihr gegenüber rücksichtsvoll. Aber die vielen versteckten Blicke, die sie registrierte, ohne dass jemand das bemerkte, zeigten ihr doch immer wieder, was Sache war. Rücksicht war eben nur eine milde Form der Verachtung.

Und sie selbst hatte für sich, für ihren Körper, nicht einmal Rücksicht übrig.

Sie stöhnte. Das Feuer in ihr brannte heiß, so heiß, dass sie keuchen musste, um ihm genügend Atemluft zuzuführen. Sauerstoff, den es brauchte, um sein gnädiges Zerstörungswerk gründlich zu verrichten.

Heiß brannte es, aber nicht heiß genug. Sie kannte die Vorschriften, aber diejenigen, die diese Vorschriften verfasst hatten, kannten ganz bestimmt nicht sie. Konnten nicht wissen, welch herkulische Aufgabe es hier zu verrichten und zu vollenden galt. Also weg mit den Vorschriften. Das Feuer musste heißer brennen, musste immer wieder aufs Neue angefacht und genährt werden. Nachschub an Brandbeschleunigern sollte ja ohnehin heute noch kommen. Wozu also sparen?

O loderndes Feuer. O göttliche Macht.

Sie griff nach den Tabletten.

2.

»Mehr Drama, Baby!«

Der Kerl grinste so breit, dass es Stephanie die Sprache verschlug. Was bildete sich dieser Provinzkasper denn bloß ein? Hielt er sich etwa für eine bleichgesichtige Ausgabe von Model-Coach Bruce Darnell? Von wegen. Eine Lachnummer! Eine Billigkopie! Bestimmt war er noch nicht einmal schwul.

Sie drehte ihm den Rücken zu.

Aber eigentlich passte dieser affektierte Stenz ganz gut zu dieser ganzen Veranstaltung, dachte Stephanie, während sie krampfhaft versuchte, in den schmalen, etwas zu groß ausgefallenen High-Heels, aus denen ihre Füße bei jeder unbedachten Bewegung herauszuschlüpfen drohten, einen vernünftigen Performance-Schritt hinzubekommen. Scharf hingestochen und doch elegant, selbstbewusst und doch fraulich. So hatte sie es gelernt. Die Kurse waren teuer genug gewesen. Daddy sollte sein Geld nicht umsonst ausgegeben haben.

Selbstbewusst und doch fraulich. Als ob das ein Gegensatz wäre!

»Steffi, bist du endlich so weit? Du musst da raus!«

Wieder dieser teiggesichtige Conférencier, dieser Mode-Maestro von eigenen Gnaden. Dabei hing doch auch er an Daddys Kohle-Tropf. Verdammt, wenn sie das alles vorher gewusst hätte! Aber jetzt war es zu spät, jetzt musste sie da durch. Und das hieß erst einmal: da raus.

Hinaus auf den Laufsteg. Zur Premiere als Model. Himmel, wie lange hatte sie davon geträumt!

Daddy hatte so geheimnisvoll geguckt, als er ihr den Termin verraten hatte. Vorgestern erst: »Lampenfieber muss kurz und heftig sein.« Jubelnd war sie ihm um den Hals gefallen, hatte einen Freudentanz um ihn herum aufgeführt und weitere Details aus ihm herauszuquetschen versucht. Aber Daddy war diesmal hart geblieben, hatte nur den Kopf geschüttelt und gelächelt: »Musst du alles noch gar nicht wissen. Erfährst du alles noch früh genug.« Und dabei war es geblieben. Alles geschah immer so, wie Daddy es wollte.

Nur einen Zusatz hatte er noch gemacht: »Sieh zu, dass du deine Kleidergröße bis dahin hältst. Nicht noch dünner werden, hörst du, Engel?«

Was Daddy nur immer redete! So clever wie er war, von einigen Dingen hatte er absolut keine Ahnung.

Offenbar auch nicht davon, was eine richtige Modenschau war. Sonst hätte er ihr bestimmt nicht zugemutet, ihr Debüt ausgerechnet in einer Turnhalle zu geben! Sich in einer miefigen Umkleide zu stylen und auf ihren Auftritt vorzubereiten! Was für eine Demütigung. Das würde sie ihm nie vergessen. Natürlich hatte er recht damit, dass es in ihrer kleinen Heimatstadt Leer keine wirklich passende Location gab. Das sogenannte Theater, in Wahrheit nur eine größere Aula mit dem Charme der 60er Jahre, eignete sich nicht. Alle anderen Säle waren zu klein oder falsch geschnitten. Und als Daddy ihr mit der Viehhalle gekommen war – »Den Geruch kriegen wir schon raus, und da gibt es gut zweitausend Sitzplätze!« –, hatte sie sich nur noch die Ohren zugehalten. Fleischbeschau in der Viehhalle! Am Ende gab es dort auch noch Brandzeichen.

Trotzdem, viel besser war eine Sporthalle auch nicht. Obwohl es die größte weit und breit war. Zudem die einzige mit Hochtribüne.

»Wird’s bald?«

Stephanie wirbelte herum, einen saftigen Fluch auf den Lippen. Fast wäre sie dabei umgeknickt. Um ihr Gleichgewicht kämpfend, stieß sie sich ihre linke Hand an einem eisernen Kleiderhaken. Mit Mühe unterdrückte sie einen Schmerzensschrei. Teiggesicht kam mit einem bösen Blick davon.

»Also dann, los jetzt.«

Sie stöckelte schlingernd um ein paar Holzbänke herum, zwischen mobilen Kleiderständern hindurch, an improvisierten Schminktischen vorbei. Zugegeben, der Aufwand, der hier getrieben wurde, war ziemlich groß. Die Deko alleine musste Zigtausende gekostet haben. Und den Namen des Modeschöpfers, dessen Kreationen hier präsentiert wurden, hatte sie auch schon einmal gehört. So gesehen, konnte sie Daddy vielleicht doch keinen Vorwurf machen. Mühe gegeben hatte er sich, auch seine Beziehungen spielen lassen. Vom Geld ganz zu schweigen. Daddys Geld war wie ein Universalschlüssel, und er scheute sich nicht, diesen Schlüssel zu benutzen.

Was aber alles nichts daran änderte, dass dies hier eine Turnhalle war. Wenn auch eine große. Es war doch ein neuer Festsaal in Leer geplant, warum war der denn noch nicht fertig? Stephanie stampfte mit dem Fuß auf. Fast wäre sie dabei lang hingeschlagen, aber zum Glück war ein Türrahmen in Reichweite.

In dem Gang von den Umkleidekabinen zur Halle herrschte hektisches Getriebe. Andere Mädchen und junge Frauen in teils abenteuerlich anmutenden Roben eilten hierhin und dorthin, einige stöckelnd und stolpernd, andere barfuß, hochhackige Folterinstrumente in der Hand. Rufe übertönten die Musik, die aus der Halle drang. Applaus rauschte herüber, an- und abschwellend wie Brandungswogen. Plötzlich spürte Stephanie ihren Herzschlag bis in die Mundschleimhäute hinein. Turnhalle oder nicht, es war so weit. Ihr erster Auftritt als Model stand unmittelbar bevor.

Jemand packte sie von hinten am Arm, riss sie halb herum. Die kleine, faltige Frau mit dem Maßband um den Hals und dem Nadelkissen am Handgelenk. »Kind, so kannst du doch nicht hinaus. Los, Füße zusammen! Steh gerade!«

Stephanie spürte, wie sich die Frau hinten an dem Kleid zu schaffen machte, das sie trug, einer Orgie aus blauer Seide und Flitter, schulterfrei und eng anliegend wie ein Schlauch. Größe 34 natürlich. Sie war hineingeschlüpft, ohne einen Gedanken an die Passform zu verschwenden. Größe 34 passte ihr immer, sofern die Länge stimmte.

Die Frau zupfte und zerrte, raffte mit geschickten Fingern Stoff zu verdeckten Falten zusammen, steckte Nadeln so präzise, dass Stephanie das kalte Metall fühlte, ohne gestochen zu werden. Die Seide schmiegte sich an wie eine zweite Haut, formte den Schwung von Taille und Hüfte nach.

»So, jetzt ist es nicht mehr zu weit. Aber bleib gerade!« Die Schneiderin gab ihr einen Klaps auf den Po, als gelte es, ein Zirkuspferd in die Manege zu schicken. »Viel Glück. Los!«

Zu weit? Größe 34 zu weit?

Jemand riss eine große Tür auf, und sie trat hindurch, plötzlich ganz sicher auf den Füßen, präzise und doch elegant, wie sie es gelernt hatte. Adrenalin war eben doch ein Teufelszeug.

Sie durchquerte einen dämmerigen Vorraum, der durch schwarze Tuchbahnen von der übrigen Halle abgetrennt war, erklomm eine kleine Treppe, umrundete die versetzt aufgehängten Hälften eines schweren Vorhangs. Gleißende Helligkeit und tosender Beifall empfingen sie. Ja. Das, genau das war der Moment.

Sehen konnte sie nicht viel; das Scheinwerferlicht errichtete Mauern aus tiefer Schwärze rund um den grell erleuchteten Catwalk. Nur die ersten Reihen kleiner, runder Tische direkt unterhalb des Laufstegs waren schemenhaft zu erkennen, aber sie spürte, dass die ganze große Halle voller Menschen war. Hinter den Tischchen für die VIPs mussten Stuhlreihen dicht an dicht stehen, das hörte sie an der Intensität des Applauses, der ihr entgegenbrandete. Auch von oben. Richtig, die hoch gelegene Seitentribüne. Hatte sie in dieser Halle nicht früher einmal Handball gespielt? Das musste in einem anderen Leben gewesen sein.

Haltung. Arme. Schritte. Lächeln. Kopf wenden. Alles kam automatisch. Vergessen alle Unsicherheit, das Schlingern und Straucheln. Dies war der Laufsteg, und sie mitten darauf. Sie hörte ihren Namen aus den Lautsprechern, hörte die Vorstellung des Kleides, das sie trug, ohne auf den Wortlaut zu achten. Sie war ganz Körper, Bewegung, Anmut, Ausstrahlung. Erneut wurde der Beifall stärker. Ringsherum flammten Blitzlichter auf, und sie badete darin, fühlte ihren Körper in diesen Strahlen noch elastischer, noch biegsamer werden. An die Turnhalle dachte sie nicht mehr. Das hier, das war es, was Daddy für sie gewollt hatte. Und was sie selbst wollte. Jetzt war sie sich sicher.

Und da war Daddy! Er saß ganz weit vorn, an einem der runden Tischchen, die vom Rampenlicht des Laufstegs noch gestreift wurden. Er strahlte und winkte ihr zu. Was sollte das sein, ein Test? Natürlich winkte sie nicht zurück. Sie war doch kein kleines Mädchen auf einer Schulbühne. Sie war jetzt ein professionelles Model.

Drehung, jetzt verharren, Arme ausschwingend, Beine leicht gespreizt. Lächeln nicht vergessen. Dann weiter, bis zum Ende des Catwalks. Wieder eine Drehung, langsamer diesmal, kurz verharren, Kopf herumschwenken. Das Lächeln kam jetzt schon automatisch. Erneutes Blitzlichtgewitter. Einzelne Rufe durchdrangen den Beifall. Sie klangen begeistert. Es durchrieselt sie heiß. Davon hatte sie geträumt.

Zurück. Und die dritte Drehung auf halber Strecke nicht vergessen.

Da war Daddy wieder. Er war aufgestanden, hantierte mit irgendetwas Glänzendem herum. Wollte wohl ein Foto machen. Waren hier denn nicht schon genügend Fotografen an der Arbeit? Aber so war Daddy eben. Wenn du willst, dass etwas ordentlich gemacht wird, dann mach es selbst.

Jetzt rutschte ihm der Fotoapparat weg. Er bückte sich, erwischte das Ding gerade noch, ehe es aufs Hallenparkett knallte. Von wegen alles selber machen! Manchmal …

Plötzlich schwankte sie. O Gott, die High Heels, schoss es ihr durch den Kopf. Aber die Schuhe waren es nicht. Hatte jemand sie geschubst? Ihr war, als hätte sie einen Schlag gegen ihren Oberkörper gespürt. Aber hier oben auf dem Laufsteg war doch niemand außer ihr.

Brennend heiß wurde es jetzt, als hätte ihr jemand glühende Eisenstangen zwischen die Rippen und in den Oberarm gerammt. Dort begann es feucht zu werden.

Ihr Körper vollendete die eingeleitete Drehung ohne ihr Zutun. Der Rand des Laufstegs näherte sich, passierte ihr Gesichtsfeld, entfernte sich wieder. Eins der runden Tischchen fiel krachend um, und sie begriff nicht, warum sie plötzlich darunter lag. Roter Wein aus berstenden Gläsern und Karaffen durchnässte sie. Köpfe mit runden, stummen Mündern drängten sich vor die gleißenden Scheinwerfer. Das Licht erlosch.

3.

Sonnenschein, eine leichte Brise, gedämpftes Brandungsrauschen, Möwengeschrei, lebhaft plappernde Menschen um ihn herum, ein bunter Strandkorb direkt vor seiner Nase – und das, obwohl er sich nicht etwa am Strand befand, sondern mitten im Ortszentrum: Lüppo Buss war mit seiner Entscheidung, Polizist auf der Insel Langeoog zu werden und zu bleiben, wieder einmal vollkommen zufrieden. Um nicht zu sagen glücklich. Ja, doch. Seit er vor einigen Wochen aus dem Dienstgebäude an der Kaapdüne aus- und zusammen mit Nicole in die schöne Etagenwohnung am Hasenpad eingezogen war, konnte er sich mit diesem Begriff, den er eigentlich hoffnungslos kitschig fand, durchaus anfreunden.

Außerdem, was hieß schon kitschig. Waren das Strandkörbe mitten in der Fußgängerzone etwa nicht?

Andererseits, was hieß auf Langeoog schon Fußgängerzone. Die war hier genau genommen überall, denn Autos waren streng verboten. Nicht einmal Busse oder Taxis gab es, stattdessen Fahrräder, Elektrokarren und Pferdefuhrwerke. Na gut, für die Erhaltungsarbeiten an der sturmflutgefährdeten Seeseite gab es ein paar Traktoren und andere Motorfahrzeuge, und für Notfälle stand auch ein motorisierter Krankenwagen bereit. Ansonsten aber herrschte Autofreiheit – Freiheit nicht etwa für das Auto, sondern Freiheit davon. Was für die Menschen hier ein Stück wirklicher Freiheit war. Davon war Lüppo Buss überzeugt.

Dabei hatte er heute überhaupt nicht frei. Sondern Dienst. Ob sich die Kollegen auf dem Festland während ihrer Dienstzeit auch so fühlten? Lüppo Buss verschränkte seine Hände hinter dem Rücken, reckte die muskulösen Schultern und grinste. Sein Mittagessen in der Kupferpfanne zählte er natürlich zu seinen dienstlichen Obliegenheiten. Kontaktpflege war wichtig, wer wollte das bestreiten? Tja, in der Tat, wer? Hier war er sein eigener Chef.

Und die Matjesfilets mit Bratkartoffeln waren wieder einmal hervorragend gewesen.

Allzu lange war es nicht her, da hatte Lüppo Buss die Dinge noch etwas anders gesehen. Hatte sich hier auf Langeoog wie auf dem Abstellgleis gefühlt, abgenabelt von wirklich interessanten Fällen und verantwortungsvollen Aufgaben, gegängelt von arroganten Vorgesetzten, die glaubten, vom Festland aus die Dinge besser beurteilen zu können als er. Er war drauf und dran gewesen, das Inseldasein aufzugeben und sich anderswo hin zu bewerben, »nach Deutschland«, wie die Insulaner sagten. Zur richtigen Polizei, wie er es im Stillen nannte.

Ein Glück, dass es dazu nicht gekommen war.

Bester Laune spazierte der Oberkommissar die Barkhausenstraße entlang, Dienstmützenbezug und Uniformhemd faltenfrei, Mützenschirm und Sonnenbrille blitzblank poliert, die Hose messerscharf gebügelt, die schwarzen Schuhe glänzend. Hier zwischen Wasserturm und Haus der Insel brodelte, gerade jetzt zu Beginn der Hochsaison und kurz nach der Mittagessenszeit, das Leben – jedenfalls in einer insular gedämpften Form von brodeln. Von rechts und links grüßten ihn die Leute, teils weil sie ihn kannten, teils, weil sie in ihm eine ebenso inseltypische Erscheinung sahen wie in den innerorts aufgestellten Strandkörben.

Inselpolizist Lüppo Buss, ein skurriles Stückchen Touristenkitsch?

Er räusperte sich und prüfte den korrekten Sitz seiner Mütze mit der Handkante. Nein, das war er nun doch nicht. Sondern ein gewichtiges Stück staatlicher Autorität. Das sollte mal besser keiner vergessen. Auch er selber nicht.

»Mensch, Lüppo, gut, dass ich dich sehe.« Eine pfannengroße Hand landete krachend auf seiner gestärkten Hemdschulter. Der Oberkommissar zuckte leicht zusammen. Stimmlage und Schlagstärke erlaubten keinen Zweifel daran, wer da gerade seinen staatsautoritären Patrouillengang in der Mittagssonne so respektlos unterbrach. Zumal sich ihm der Betreffende kurzerhand mitten in den Weg gestellt hatte.

Seufzend nahm er die dunkle Brille ab. Jetzt, da dieser Trumm zwischen ihm und der Sonne stand, benötigte er sie sowieso nicht mehr.

»Moin, Backe. Was gibt’s?«

Der fleischige Riese verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen und entblößte ein gelbliches, sehr lückenhaftes Gebiss. Ein erschütternder Anblick, der jedoch durch den Ausdruck ehrlicher Freundlichkeit auf dem braunen, wettergegerbten Gesicht gemildert wurde.

»Müll«, sagte der Riese.

»Müll.« Lüppo Buss verzog das Gesicht, als läge der Unrat leibhaftig vor ihm. Gab es ein Thema, das weniger zur sonnenwarmen Sommerstimmung auf der Langeooger Flaniermeile passte als dieses? Und zu den Gedanken, in denen der Inselpolizist eben noch geschwelgt hatte?

Lüppo Buss musterte sein Gegenüber, als handele es sich um einen überquellenden Müllbehälter. Natürlich war es nicht korrekt, solche Vergleiche zu ziehen, trotz der Trümmer in Backes Mund, seiner containerhaften Ausmaße und der fleckigen, kaum noch als weiß anzusprechenden Schürze, die er sich um die massive Leibesmitte geknotet hatte. In seinem übergroßen Fischerhemd sah Beene Pot­tebakker, genannt Backe, wie ein eingeborener Insulaner aus, noch weitaus mehr Kitsch-Klischee als Lüppo Buss und sämtliche Strandkörbe zusammen. Tatsächlich aber war Backe ein Zugereister und arbeitete erst seit wenigen Monaten auf Langeoog. Lüppo Buss erinnerte sich noch gut an seine beiläufige Routineüberprüfung Beene Pot­tebakkers, nach der ihm die Haare zu Berge gestanden hatten. Mittlere und schwere Körperverletzung, Rauschmittel- und Eigentumsdelikte in großer Zahl und bunter Folge fanden sich in Backes Akte; ein Wunder, dass dieser Riese immer mal wieder aus dem Strafvollzug entlassen worden war. Aktuell allerdings war kein Strafverfahren anhängig. Kein Grund also, einzuschreiten – Gründe genug aber, diesen Mann im Auge zu behalten.

Was momentan weiter kein Problem war.

»Ja, Müll.« Backe nickte eifrig, als sei er froh, verstanden worden zu sein. »Unser Container. Da hat sich schon wieder einer dran zu schaffen gemacht. Drum herum ist alles siffig, trotzdem ist der Kübel voll. Da entsorgt doch jemand seinen Dreck illegal. Auf unsere Kosten. Sauerei, nicht?«

Der Inselpolizist nickte bedächtig. Auf Langeoog gab es keine Mülldeponie – und natürlich auch keine Verbrennungsanlage. Der Tourismus war die Haupteinnahmequelle, mit weitem Abstand; da musste man mit Wasser, Luft und Landschaft natürlich vorsichtig umgehen. Ebenso wie praktisch alles, was auf der Insel konsumiert wurde, mit Schiffen herangeschafft werden musste, so musste sämtlicher dabei entstehender Müll zurück aufs Festland transportiert und dort entsorgt werden. Das gab es nicht umsonst. Und natürlich achtete jeder Insulaner peinlich darauf, dass er von diesen Kosten nicht mehr zu tragen hatte als unbedingt nötig.

»Und?«, fragte Lüppo Buss. »Wer ist der böse Bube? Hast du schon eine Idee?«

In einer Geste vollkommener Ahnungslosigkeit breitete Backe seine überlangen Arme aus. »Was weiß denn ich? Auf frischer Tat ertappt habe ich noch keinen, und einfach so jemanden beschuldigen, das gehört sich ja nicht, oder?« Seine zwinkernden Augen aber straften Backes Gestik Lügen, als er hinzufügte: »Vor allem nicht die lieben Mitbewerber.«

Der Oberkommissar verzog sein Gesicht. Bloß das nicht! Der Smutje, der Laden, in dem Backe an der Fritteuse stand, war mehr als einem Langeooger Wirt ein Dorn im Auge. Dort speiste man zwar nicht eben edel – »Paniert, frittiert, serviert«, wie Backe es ausdrückte – dafür aber konkurrenzlos billig. Jedenfalls für Inselverhältnisse. Viele Familien waren hier unter den Touristen, und in Zeiten wie diesen wurde mit dem Cent gerechnet. Jeder Panadefisch mit Pommes oder Kartoffelsalat aus dem Plastikeimer entlastete die Reisekasse. Und brachte den umliegenden Restaurants Umsatzeinbußen. Ob tatsächlich oder nur gefühlt, das machte da keinen Unterschied.

Kleinere Sabotageakte, und seien es nur ein paar illegal entsorgte Müllsäcke, um den billigeren Konkurrenten in Verlegenheit zu bringen, der natürlich nicht mehr Containerraum vorhielt als unbedingt nötig, waren als Reaktion durchaus vorstellbar. Ein bevorstehender Gastronomen-Krieg auch. Hier ging es ums Geld, und das war den Inselwirten heilig.

»Also dann, wir gehen mal gucken«, entschied Lüppo Buss. Kein leichter Entschluss, zumal mit einer guten Portion Matjes mit Bratkartoffeln im wohltrainierten Bauch, dessen Muskeln schon beim bloßen Gedanken an den Geruch von Fischabfällen zu zucken begannen. Aber wo, wenn nicht im Container selbst, waren Hinweise auf den möglichen Täter zu erwarten?

»Spitze.« Backe rieb sich die Bratpfannenhände. »Ich wette, wir finden Innereien. Von Fischen. Dann ist nämlich klar, wer’s war. Von uns können die auf keinen Fall sein, wir nehmen die Fische ja nicht selber aus.«

»Logisch«, sagte Lüppo Buss. »Den möchte ich auch mal sehen, der tiefgefrorene Panade-Filets noch ausnehmen kann.«

Interessant, dass Backe so selbstverständlich wir sagt, dachte der Inselpolizist, während er sich bemühte, mit dem Riesen Schritt zu halten, der erwartungsvoll in Richtung Smutje eilte. Er scheint sich richtig mit dem Laden zu identifizieren. Dabei gehört ihm der natürlich gar nicht. Und sein Job dort ist alles andere als ein Hauptgewinn. Jeden Tag Überstunden in Hitze, Fisch- und Fettgestank, und das Gehalt ist mit Sicherheit mehr als mau. Sonst hätte der alte Stapelgeld bestimmt jemand anderen dafür gefunden als ausgerechnet einen gewohnheitsmäßigen Knastrologen.

Natürlich hieß der Eigner des Smutje nicht Stapelgeld, sondern Stapelfeld. Thees Stapelfeld. Sein Spitzname, den er seinem einst legendären Geiz verdankte, drückte durchaus nicht nur Spott, sondern auch Anerkennung aus. Stapelfeld war einer, der sich nicht mit dem zufrieden gab, was er geerbt, erworben und erheiratet hatte. Er wollte höher hinaus, er wollte mehr, und mehr bekam man eben nicht durch großzügig gezahlte Löhne. Jahr für Jahr erweiterte Stapelfeld das, was er nicht nur bei sich, sondern auch abends an der Theke »mein Imperium« nannte. Ein Spruch, über den auf Langeoog schon länger keiner mehr lachte.

Backe streckte den Arm aus: »Da hinten steht er.«

In einer schmalen Lohne zwischen dem Smutje und dem Nachbarhaus stand der Abfallcontainer der billigen Fischbraterei. Offenbar nicht genau auf seinem üblichen Platz, wo die Rollen deutliche Spuren auf den Pflastersteinen hinterlassen hatten. Das musste nichts heißen, konnte aber tatsächlich ein Hinweis darauf sein, dass jemand etwas Voluminöses oder Schweres hineingestopft und sich dann eilig entfernt hatte. Dreck und aufgeplatzte Tüten, aus denen Küchenabfall quoll, lagen um den großen Behälter herum, ganz wie von Backe beschrieben. Über allem hing ein Geruch, der den Matjes in Lüppos Bauch zu neuem Leben zu erwecken schien.

»Mach mal auf«, wies er Backe an.

Die Riese packte zu. Die große Metallklappe knarrte nur leise, als er sie ohne Mühe anhob.

Der Container war fast voll. Obenauf lag, teilweise von Müll bedeckt, die Leiche einer jungen, unbekleideten Frau mit weit aufgerissenen Augen, deren narbenbedeckter Körper aussah wie ein mit Haut bespanntes Skelett.

Lüppo Buss spürte, wie eine unsichtbare Müllpresse seinen Magen zusammenquetschte. Er drehte sich weg und krümmte sich zusammen.

4.

»Von wo kam der Schuss?«, fragte Hauptkommissar Stahnke.

»Von dort oben«, antwortete Kramer und wies auf die Seitentribüne. »Vermutlich aus der näheren Umgebung des Eingangsbereichs. Ganz exakt lässt sich das aber nicht feststellen, weil sich das Opfer zum genauen Tatzeitpunkt nach übereinstimmenden Aussagen gerade in einer Drehung um die eigene Achse befand. Außerdem ist ein Schusskanal …«

Ungeduldig winkte Stahnke ab. Oberkommissar Kramers Hang zum Perfektionismus war eine wunderbare Sache, wenn es um die minutiöse Aktenführung ging. Im wirklichen Leben aber konnte einem das ganz schön auf die Nerven gehen.

»Patronenhülse?«, fragte er weiter.

»Negativ«, sagte Kramer. »Vermutlich hat er einen Revolver benutzt. Würde auch zum Kaliber passen. Neun Millimeter.«

Stahnke nickte. Während eine Automatikpistole die Patronenhülse nach dem Schuss auswarf, blieb sie bei einem Revolver in der Trommel stecken, und der Schütze nahm sie einfach mit. Eine Spur weniger.

»Neun Millimeter«, wiederholte der Hauptkommissar. »Da meinte es aber jemand richtig ernst.« Er taxierte die Entfernung zwischen der nächstgelegenen Ecke der Tribüne, dort, wo sich die Tür zum Treppenhaus befand, und den Blutflecken auf dem Laufsteg. »Achtzehn, vielleicht zwanzig Meter«, sagte er. »Man muss schon ein sicherer Schütze sein, um mit einer kurzläufigen Faustfeuerwaffe auf diese Distanz zuverlässig zu treffen.«

Kramer zuckte die Achseln. Klar, das bedurfte eigentlich keiner Erwähnung. Zumal nur ein einziger Schuss gefallen war.

»Vermutlich hat der Täter einen Schalldämpfer benutzt«, erläuterte Kramer. »Sonst hätten die in unmittelbarer Nähe Sitzenden wohl schneller reagiert. So aber haben sich nur wenige umgeschaut – das auch erst mit Verzögerung – und nur einen grauen Rücken durch die Glastür verschwinden sehen. Beschreibung unspezifisch. Etwas über mittelgroß und mittelschlank, keine Angaben zum Alter möglich, nicht einmal das Geschlecht steht eindeutig fest.«

»Schalldämpfer? Ich dachte, Revolver lassen sich nicht dämpfen.« Stahnke bedauerte seine Äußerung, noch ehe er den Satz zu Ende gesprochen hatte. Vor Kramer gab er sich ungern eine Wissensblöße. Auch wenn das Verhältnis zu seinem Kollegen in letzter Zeit stetig enger und vertrauter geworden war. Seit ihrer gemeinsamen Recherche im Rocker-Milieu duzten sie sich sogar. Für Stahnke hieß das schon etwas.

»Sie sind selten, aber es gibt sie.« Kramer war natürlich wieder perfekt informiert. »Man muss der betreffenden Waffe nachträglich ein Laufgewinde schneiden oder schneiden lassen, um einen Dämpfer benutzen zu können. Geht nur mit Spezialwerkzeug und ist nicht billig.«

Stahnke nickte. Wenn dem so war, konnte das ein Anhaltspunkt sein. Solche Spezialisten und ihre Werkzeuge mussten sich finden lassen.

»Die Dämpfungsleistung ist allerdings umstritten«, fuhr Kramer fort. »Gedämpft werden kann ja nur der Mündungsknall, also die Explosion der Geschossladung. Die anschließende Luftverdrängung durch das Geschoss aber findet selbstverständlich trotzdem statt, und deren Geräuschentwicklung hat es in sich. Eben ein Überschallknall. Von wegen ein leises ›Plop‹ wie bei James Bond!«

»Und wie ist es bei Unterschallmunition?«, fragte Stahnke leise.

Kramer schwieg zwei Sekunden lang. Dann pfiff er durch die Zähne. »Natürlich. Die gibt’s ja auch. Ist weniger effizient als die mit Überschallgeschwindigkeit, aber mit entsprechend größerer, langsam brennender Treibladung und erhöhtem Geschossgewicht …«

»Und mit Kaliber neun Millimeter«, sagte Stahnke und nickte. »Das reicht auch bei Unterschall. Wurde das Geschoss schon untersucht?«

»Ist im Labor«, antwortete Kramer. Es klang ein wenig kleinlaut.

Stahnke bemühte sich, seinen kleinen Triumph nicht zu sehr zu genießen. In der Regel machte ihm Kramers überlegenes Recherchewissen ja auch nichts aus. Aber es konnte gewiss nicht schaden, gelegentlich mal selber einen Punkt zu verbuchen.

Zumal ihm Kramer allein schon durch die Tatsache um Längen voraus war, dass er gestern Abend telefonisch erreichbar gewesen war und Stahnke nicht. Ganz bewusst nicht; er hatte seine erwachsene Tochter in Südniedersachsen besucht, was selten genug vorkam, und sein Handy mit voller Absicht zu Hause gelassen. Wenn er schon zu weit vom Schuss war, um etwas tun zu können, dann wollte er auch nicht mit Anrufen belästigt werden. Außerdem wusste Kramer ja Bescheid.

Trotzdem ärgerlich, dass solch eine Sache ausgerechnet an so einem Tag passieren musste!

Stahnke schob seine Hände zurück in die Hosentaschen, wo er sie bei Tatortbesichtigungen mit Vorliebe aufbewahrte, um nicht unbedacht Spuren zu vernichten, und drehte sich langsam um die eigene Achse. Die BBS-Sporthalle kannte er gut. Ein großes Ding. Hallenfußball-Kreismeisterschaften, Basketball-Regionalliga, Turngala, sogar nationale Titelkämpfe im Taekwon-Do hatten hier schon stattgefunden. Aber eine Modenschau? Wer war bloß auf diese Idee gekommen? Haute Couture und Mattenmief, das passte doch nicht zusammen!

Andererseits hatte solch eine Riesenhalle aber auch Vorteile. Lage und Infrastruktur stimmten, Parkplätze waren in Hülle und Fülle vorhanden, und vor allem bot die Dreifachsporthalle Platz im Überfluss. Man musste nur die entsprechenden Mittel und die richtigen Leute haben, um Funktionalität und Atmosphäre des weitläufigen Innenraums durch Einbauten und Dekoration entsprechend zu verändern.

Stahnke nickte anerkennend. Ganz offensichtlich waren die richtigen Leute zum Einsatz gekommen, denn das Resultat war überzeugend. Nicht unbedingt gerade jetzt, da alle Neon-Leuchtröhren strahlten und das Rampenlicht und die Punktstrahler ausgeschaltet waren. Aber bei geschickt ausgesteuerter Beleuchtung konnte die Sporthalle in derart gediegener Aufmachung bestimmt als Modetempel durchgehen.

An den nötigen Finanzmitteln, das sah man auf den ersten Blick, hatte es nicht gefehlt. Kay-Uwe Venema stand ja auch dahinter.

Venema war Reeder. Einer von denen, die der ostfriesischen Kleinstadt Leer zum Status des zweitgrößten Reedereistandorts Deutschlands gleich hinter Hamburg verholfen hatten. Einer von denen, die an der Globalisierung verdienten, daran, dass Rohstoffe, Halbfertig- und Fertigprodukte seit Jahren in immer größeren Mengen und immer schneller per Schiff um den Planeten strömten, ohne Rücksicht auf ökologische Erfordernisse. Preis und Profit waren die einzigen Maßstäbe. Ein Geschäft, auf das sich Kay-Uwe Venema hervorragend verstand. Er war reich geworden dabei. Schwerreich. Um nicht zu sagen stinkreich.

Stahnke musste grinsen, als er ihm die Herkunft dieses Adjektivs einfiel. Einer wie Venema gab sein Geld sicher nicht für das Privileg aus, eines Tages innerhalb einer Kirche oder gar eines Doms begraben zu werden, unter den steinernen Bodenplatten, um Mitmenschen und Nachkommen durch seinen Verwesungsgestank auch nach seinem Tod noch unter die Nasen zu reiben, um wie viel höher seine eigene soziale Stellung gewesen war als ihre. Nein, ein Kay-Uwe Venema wusste sein Geld so zu investieren, dass es schon zu Lebzeiten seines Besitzers reichen Ertrag brachte.

Venema kaufte und bereederte durchaus nicht nur Schiffe; ewig konnte der überhitzte Welthandel schließlich nicht so weiterlaufen, das zeigte die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich. Eine Weile noch, sicher, aber nicht ewig, dafür würde schon der zwangsläufig weiter steigende Ölpreis sorgen. Wenn dann die Transportbranche zusammenbrach, würde das Venema nicht mit in die Pleite reißen, denn er hatte seine multiplen Millionen breit angelegt. Zukunftstechnologie wie Solar- und Windenergie, Gezeitenkraftwerke, Chemie und Pharmazie, medizinische Institute, Technologie und Tourismus. Und das waren nur die Engagements, von denen etwas in der Zeitung stand. Irgendetwas davon würde auch in Zukunft dafür sorgen, dass Venema obenauf schwamm, ganz egal, was aus seinen Schiffen wurde und wen die zyklische und trotzdem so schwer berechenbare Weltwirtschaft demnächst im Abgrund des Bankrotts verschwinden ließ.

Einer wie Venema konnte sich jeden Wunsch erfüllen. Nicht nur sich, sondern auch seinem Töchterchen. Und wenn Töchterchen aus dem Pony-Alter heraus war und Model werden wollte, dann kaufte Papa ihm eben eine eigene Modenschau.

Damit, dass Töchterchen bei dieser Gelegenheit Opfer eines Mordanschlags werden würde, hatte Papa Venema wohl nicht gerechnet. Ob er sich das jemals verzeihen konnte?

Na ja – gut möglich. Schließlich war Stephanie Venema ja nicht tot.

»Wo genau wurde sie denn getroffen?«, fragte Stahnke.

»Das Geschoss ging zwischen Brustkorb und linkem Oberarm hindurch«, berichtete Kramer. »Da der Oberarm zu diesem Zeitpunkt angelegt war, gab es beiderseits Fleischwunden. Schmerzhaft, aber ungefährlich. Das Mädel hat unverschämtes Glück gehabt.«

Stahnke runzelte die Stirn; auf einer Bühne vor Hunderten von Zuschauern mit großkalibriger Munition beschossen zu werden, entsprach eher nicht seiner Vorstellung von Glück. Aber wie auch immer, natürlich hatte Kramer wieder einmal recht.

»Das Projektil haben wir aus dem Hallenboden geklaubt«, fuhr der Oberkommissar fort. »Das Opfer ist nach dem Beschuss vom Laufsteg auf einen der Tische gestürzt, unmittelbar neben dem Tisch, an dem ihr Vater saß. Ihn hat sie im Fallen ebenfalls umgerissen.« Kramers Stoiker-Maske bekam einen Augenblick lang Risse: »Als ob der Schock für den nicht schon groß genug gewesen wäre.«

Stahnke musste an seine eigene Tochter denken; das ließ sich einfach nicht verhindern. »Gib mal die Pressefotos her«, schnauzte er ungewollt barsch.

Stephanie Venema war wirklich wunderschön, das musste ihr der Neid lassen, dachte Stahnke. Auch wenn so hochgewachsene, dünne Blondinen überhaupt nicht sein Typ waren. Aber selbst wie sie so dalag, inmitten von Glasscherben und blutüberströmt, war ihre besondere Ausstrahlung spürbar. Dieses Mädchen schien wirklich das Zeug zu haben, in der Modewelt Karriere zu machen.

Dann stellte Stahnke fest, dass er Stephanie Venema kannte.

Natürlich, die Sache auf Langeoog. Die Chorsängerinnen vom Gymnasium, die um die Tickets für einen Amerika-Trip konkurriert hatten. Das verschwundene Mädchen, der Mann ohne Gedächtnis und all die anderen Verwicklungen. Fälle, die er als Badegast aufzuklären geholfen hatte, zusammen mit seinem Kollegen Lüppo Buss.* Seinerzeit war ihm auch Stephanie Venema begegnet. Wie lange war das jetzt her? Anderthalb Jahre? Etwas länger sogar.

»Dann müsste sie jetzt siebzehn sein«, murmelte Stahnke.

»Stimmt genau«, bestätigte Kramer und nickte anerkennend. Wieder ein unverdienter Punkt für Stahnke.

»Wo kommt eigentlich das viele Blut her?«, fragte der Hauptkommissar. »Doch nicht von zwei Streifschusswunden. Wurde eine Schlagader verletzt?«

»Das meiste ist überhaupt kein Blut«, antwortete Kramer. »Auf dem Tisch, der den Sturz des Mädchens abgebremst hat, standen mehrere Gläser und Karaffen mit Rotwein. Davon hat sie eine Menge abbekommen. Sieht schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist.«

»Kann man wohl sagen.« Stahnke rieb sich das Kinn. »Vielleicht hat es der Täter ja deshalb bei nur einem Schuss belassen. Weil er glaubte, sein Ziel erreicht zu haben.«

Kramer zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Stahnkes Spekulationen waren bisweilen genial, immer jedoch mit Vorsicht zu genießen.

Der Hauptkommissar hatte ein ähnliches Foto bereits in der Zeitung gesehen, die er sich am Bahnhof besorgt hatte. Natürlich war die Presse präsent gewesen – wer konnte sich schon einer Einladung von Kay-Uwe Venema verweigern? Und da der Schuss rechtzeitig vor dem Andruck gefallen war, hatte die Sensationsmeldung fett auf Seite eins gestanden. Mit Bild. Zwar war das Gesicht des Opfers verdeckt gewesen, aber der Rest reichte für die zweifellos beabsichtigte Schockwirkung. Für eine seriöse Tageszeitung ziemlich grenzwertig, fand Stahnke.

»Leeraner Reederstochter bei Mordanschlag lebensgefährlich verletzt«, tönte die Schlagzeile. Und im Text hieß es: »Ob die 17-Jährige eine Überlebenschance hat, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest.« Das war nun schon jenseits der Boulevard-Grenze. Der Überlebenskampf auf dem Zeitungsmarkt, nicht zuletzt wegen der Konkurrenz der privaten TV-Sender, schien immer härter zu werden, da fielen wohl alle Hemmungen.

Der Name Venema kam auf der Titelseite gleich zweimal vor. Leeraner Schiff am Horn von Afrika von Piraten geentert, hieß es weiter unten. Der Text verriet, dass es sich dabei um einen von Venemas Frachtern handelte. Unter anderen Umständen wäre das auch einen Aufmacher wert gewesen.

»Haben wir irgendein Mordmotiv?«, fragte der Hauptkommissar.

»Keins, das auf der Hand liegt«, musste Kramer zugeben. »Stephanie scheint ein richtig nettes Mädchen zu sein, nach allem, was wir bisher gehört haben. Und von tobsüchtigen Exliebhabern weiß auch keiner etwas. Bisher haben sich noch keine Anhaltspunkte ergeben.«

»Vielleicht müssen wir die Fragestellung erweitern«, sagt Stahnke.

»Inwiefern?«

Der Hauptkommissar tippte auf das oberste Foto des Stapels, den er immer noch in der Hand hielt. »Dieses Kleid, das sie trägt. Sieht erfolgversprechend aus. Von wem ist das? Möglicherweise galt der Anschlag nicht dem Model, sondern der Modenschau. Also dem Modeschöpfer.«

»Mordanschlag aus Konkurrenzneid?« Kramers Stimme klang ungläubig.

»Wenn alle wahrscheinlichen Thesen eliminiert sind, muss das, was übrig bleibt, die Lösung sein, so unwahrscheinlich es auch klingt«, sagte Stahnke. »Stimmt’s nicht, Watson?«

»Allright, Sherlock.« Kramer grinste pflichtschuldig, aber nur kurz. »Also ehrlich, ich weiß nicht. Würde ein neidischer Konkurrent nicht eher auf den Designer schießen als auf eins seiner Models?«

Stahnke zuckte die Schultern. »Anzunehmen. Aber sicher ist das nicht.«

Kramer blätterte in seinem Notizblock. »Der Modemensch heißt Florian Globeck. Sein Label führt den Namen Global Flow. Genau genommen ist es auch nicht wirklich seins, sondern …«

»Lass mich raten«, unterbrach Stahnke. »Der Eigentümer heißt Kay-Uwe Venema. Richtig?«

Kramer verzog den Mund: »Na, so schwer war das wirklich nicht.«

Das stimmte allerdings. Venemas finanzielle Aktivitäten waren eben wirklich breit, sehr breit gestreut. Und wenn Papa seinem Töchterchen eine Freude machen wollte, dann sprach eigentlich auch nichts dagegen, dabei gleichzeitig etwas für den eigenen Profit zu tun.

Der Hauptkommissar erinnerte sich an eine Donald-Duck-Geschichte, die er als Jugendlicher gelesen hatte. Da wusste der schwerreiche Onkel Dagobert nicht, wohin mit seinem Geld, da sein Geldspeicher überquoll und ein Erweiterungsbau nicht genehmigt wurde. In seiner Not musste Dagobert das überschüssige Geld tatsächlich ausgeben, was ihm unheimlich schwerfiel, aber Neffe Donald und die Großneffen Tick, Trick und Track halfen ihm dabei. Sie warfen mit Talern nur so um sich. Das Problem aber konnten sie nicht lösen – denn alle Geschäfte, in denen sie einkauften, gehörten Dagobert, und so floss das Geld immer wieder in den überfüllten Speicher zurück.

Tja, das waren Sorgen! Stahnke dachte an sein Beamtengehalt.

Dann schüttelte er den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. »Bleiben wir lieber beim Opfer selbst. Ganz klassisch. Wer hatte einen Grund, Stephanie Venema zu erschießen, und wer hatte dazu die Gelegenheit?«

»Und wer wird es wieder versuchen, wenn er erfährt, dass es beim ersten Mal nicht geklappt hat?«, ergänzte Kramer trocken.

Ein berechtigter Einwand, fand Stahnke.

Er warf einen erneuten Blick auf die Zeitungs-Titelseite, auf das Foto, das eine blutüberströmte, lebensgefährlich Verletzte zu zeigen schien. Die ebenso gut schon tot sein konnte.

»Der Täter muss es ja nicht erfahren«, sagte er.

* siehe: Solo für Sopran

5.

»Sie heißt Angela Adelmund«, sagte Doktor Fredermann.

»Eine Patientin von Ihnen?«, fragte Lüppo Buss.

»Wie man’s nimmt.« Der Inselarzt musterte den Körper der Toten ohne erkennbare Gemütsbewegung. »Früher ja, als sie noch klein war. Ist hier auf Langeoog aufgewachsen, da kam sie natürlich mit den üblichen Routinesachen zu mir. Oder vielmehr ihre Mutter kam mit ihr. So bis vor ein paar Jahren, etwa bis zum Einsetzen der Pubertät. Ab da kam sie nicht mehr.« Behutsam berührte er eine der zahlreichen wulstigen Narben am Oberarm der Toten. »So habe ich den Beginn der Anorexie nicht mehr mitbekommen.«

»Magersucht?«, fragte Lüppo Buss, ohne mit einer Antwort zu rechnen. Es war offenkundig.

Sie hatten die Tote in die kleine Leichenhalle neben der Inselkirche schaffen lassen. Mit der nächsten Fähre sollte sie nach Bensersiel und weiter nach Oldenburg gebracht werden, in die Gerichtsmedizin; Doktor Mergner hielt sich dort für eine Obduktion bereit. Die weiteren Ermittlungen auf Langeoog würde Hauptkommissar de Beer aus Wittmund übernehmen. Er hatte mit Lüppo Buss telefoniert und sich ins Bild setzen lassen, aber noch keinen konkreten Zeitpunkt für seine Ankunft genannt: »Wir haben hier auch eine Menge um die Ohren. Sichern Sie mal den Tatort ab, lassen Fotos machen und so weiter, leiten Sie alles Nötige in die Wege, Sie kennen sich doch aus, sind kein heuriger Hase mehr, was?« Und tschüss.

Faule Sau, dachte der Inselkommissar, aber ein bisschen geschmeichelt fühlte er sich auch. Damals, vor gut anderthalb Jahren, als erst dieser Mann ohne Gedächtnis auf der Insel herumgegeistert und dann eins der Mädchen aus dem Leeraner Schülerchor spurlos verschwunden war, hatte ihm de Beer noch überhaupt nichts zugetraut, hatte ihn wie einen Deppen behandelt und ihm die Ermittlungsarbeit so schnell wie möglich aus der Hand nehmen wollen. Als er dann auf der Insel eintraf, konnte Lüppo Buss ihm sämtliche Fälle als abgeschlossen melden. De Beers Gesichtsausdruck seinerzeit war ein Fest gewesen, das für die vorher erlittene Geringschätzung entschädigte. Seither sah de Beer ihn mit anderen Augen. Und, was vielleicht noch schöner war: Er hielt sich meistens auf Distanz.

Sicher, damals war Stahnke an Lüppo Buss’ Seite gewesen. Der Hauptkommissar aus Leer hatte natürlich wesentlichen Anteil an der Auflösung gehabt. Aber er hatte Lüppo Buss immer als Gleichberechtigten in die Arbeit mit einbezogen. Sie waren kein schlechtes Team gewesen, der Kriminalbeamte mit der einschlägigen Erfahrung und der Inselpolizist mit seiner Kenntnis von Eiland und Leuten.

Schade, dass er jetzt nicht hier ist, dachte der Oberkommissar. Aber er wischte den Gedanken gleich wieder fort. Immerhin hatte er damals einiges gelernt, das konnte er jetzt zur Anwendung bringen. Und so allein wie damals – ehe Stahnke überraschend auftauchte – war er diesmal nicht.

»Äußere Verletzungen, die zum Tode hätten führen können, kann ich vorläufig keine erkennen«, sagte Fredermann. »Die vernarbten Schnittverletzungen sind allesamt nicht letal und außerdem schon älter.«

»Was meinen Sie, Doktor, hat sie sich buchstäblich zu Tode gehungert?«, fragte Oberkommissarin Insa Ukena.

Lüppo Buss musterte seine neue Kollegin aus den Augenwinkeln. Sie war deutlich kleiner als er, mit kräftigen Schultern und Oberarmen und einer dunkelbraunen Kurzhaarfrisur. Nicht sein Typ, das hatte er auf den ersten Blick festgestellt – Gott sei Dank. Dafür tüchtig, viel zu tüchtig eigentlich, um mit Anfang vierzig immer noch in beigeordneter Position tätig zu sein. Das Zeug zur Leiterin hatte sie, das konnte Lüppo Buss nach den wenigen Tagen, die Insa Ukena den Posten an seiner Seite innehatte, bereits sagen.

Nicht, dass er das etwa schon getan hätte; der Inselpolizist neigte nicht zu übereilten Äußerungen.

»Durchaus möglich«, beantwortete Fredermann Insa Ukenas Frage. »Zehn Prozent aller Magersüchtigen sterben an dieser Krankheit, das heißt, sie verhungern tatsächlich. Teilweise zieht sich das über viele Jahre hin. Ob das aber auch auf Angela Adelmund zutrifft, muss erst die Obduktion erweisen.«

»Kaum zu glauben. Verhungern im Land des Nahrungsüberflusses«, murmelte Lüppo Buss. »Und dann finden wir sie in einem Container voller Essensreste. Was mir übrigens nicht gerade für eine natürliche Todesursache zu sprechen scheint.«

»Das habe ich auch nicht gesagt«, erwiderte Insa Ukena scharf. »Man kann einen Menschen auch verhungern lassen. Einsperren, misshandeln, missbrauchen, quälen bis zum Exitus. Und dann einfach wegwerfen. Da gibt es reichlich Präzedenzfälle, das werden Sie ja wohl wissen. Nicht nur in Belgien oder Österreich.«

Die hat Haare auf den Zähnen, dachte Lüppo Buss und schwieg.

»Die Schnittverletzungen scheinen mir außerdem nicht alle bereits lange zurückzuliegen«, fuhr die Oberkommissarin fort. »Schauen Sie hier, an der Innenseite des rechten Oberschenkels. Die sind gerade mal verschorft.« Sie sprach Fredermann direkt an, ignorierte ihren Kollegen; auch das registrierte Lüppo Buss kommentarlos.

Der Arzt nickte. Er untersuchte die Hände der Toten. »Rechtshänderin, unter Vorbehalt«, sagte er. »Lage und Laufrichtung der Narben, der alten wie der frischeren, lassen Selbstverletzung vermuten.«

»Vermuten«, schnaubte die Polizistin. »Das heißt noch gar nichts.«

»Natürlich äußere ich hier Vermutungen«, entgegnete Fredermann scharf. »Ich sag’s ja auch extra dazu. Dachte, es hilft Ihnen weiter, wenn ich Ihnen schon mal meine Meinung sage. Ich kann’s auch lassen. Dann können Sie auf den offiziellen Bericht von Doktor Mergner aus Oldenburg warten.« Er stemmte beide Hände in die Hüften.

Lüppo Buss legte ihm beruhigend seine Hand auf den Ellenbogen. »Schon klar«, sagte er sanft. »Aber wieso Selbstverletzung? Warum sollte sich so ein armes Mädchen, das körperlich sowieso schon übel dran ist, auch noch selber Schaden zufügen? Von den Schmerzen ganz zu schweigen.«

Fredermann warf noch einen bösen Blick zu Insa Ukena hinüber, dann wandte er sich Lüppo Buss zu. Dasselbe Spielchen, nur anders herum, dachte der. Albern. Aber so geht’s nun mal zu, wenn der Gruppendynamo surrt.

»Diese ganze Magersucht ist doch eigentlich der Krieg eines Menschen gegen sich selbst«, erläuterte der Arzt. »Und der Körper ist dabei das Schlachtfeld. Die Ursachen liegen in der Psyche, grob gesagt. Sie können ganz verschieden sein. Der Körper jedenfalls muss alles ausbaden. Er wird durch Essensentzug für vermeintliche Unzulänglichkeiten bestraft. Und wenn das mal nicht klappt, also diese Art der Bestrafung, dann wird eben zu anderen Mitteln gegriffen. Zum Beispiel zum Messer.«

»Wie, wenn das nicht klappt?« Lüppo Buss hatte zwar eine Vermutung, wollte aber sichergehen. »Warum sollte das Aushungern denn plötzlich nicht mehr klappen?«

»Weil zum Beispiel eine Instanz vorhanden ist, die dafür sorgt, dass das lebensnotwendige Minimum an Nahrung aufgenommen wird«, antwortete Fredermann. »Dann staut sich der Selbsthass an wie ein plötzlich zugeschütteter Fluss, und der Druck muss sich anderweitig entladen. So etwas passiert durchaus nicht selten …« Er schaute Lüppo Buss in die Augen. »Da sieht man mal wieder, wie wichtig gute Fragen sind. Ihre zum Beispiel führt uns mit einiger Sicherheit zu dem Ort, wo sich Angela Adelmund zuletzt aufgehalten hat.«

»Das wäre doch schon mal etwas«, sagte Lüppo Buss mit der gebotenen Bescheidenheit. »Weil sie doch ansonsten keinerlei Hinweise bei sich hat. Und, was glauben Sie, wo hat sie gewohnt?«

»Im Panoptikum der Arschlosen«, sagte Fredermann.

6.

»Die Presse wollen Sie belügen?« Kriminaldirektor Manningas dunkle Augen fixierten Stahnke unter hochgewölbten Brauen hervor.

»Warum nicht? Die belügen uns schließlich auch dauernd.« Der Hauptkommissar zuckte die Achseln und erwiderte den Blick ohne ein Zwinkern. Er lächelte nicht einmal. Echt cool, Alter, dachte er selbstzufrieden. Und dann grinste er doch.

Manninga lehnte sich zurück, so dass sein Chefsessel in allen Verbänden krachte. Der Leiter der Polizeiinspektion Leer/Emden war ein erfahrener Mann hart an der Pensionsgrenze, breit und massig gebaut, mit großväterlichem Gebaren. Rein äußerlich war er Stahnke nicht unähnlich. Bloß etwas älter, grauer und dicker, überlegte der Hauptkommissar, dessen eigene weißblonde Stoppelfrisur eine natürliche Tarnung für altersgraue Haare bot.

Nun, Manningas Altersvorsprung war Fakt, daran würde sich auch nichts mehr ändern. Figürlich aber, das musste Stahnke sich eingestehen, hatte in den letzten Monaten eine unwillkommene Angleichung stattgefunden. Auch er neigte zur körperlichen Fülle, die zwar von seinen breiten Schultern halbwegs kaschiert, von der Waage aber gnadenlos ausposaunt wurde. Vergangenes Jahr hatte Stahnke es geschafft, durch viel Bewegung und wenig Wein und Bier ein bisschen abzuspecken; auch der mit seinem Hausumbau verbundene Stress hatte das Seine dazu beigetragen. Über den Winter aber war er wieder bequemer geworden. Das Fahrrad hatte Staub angesetzt – etwas, wozu die Flaschen in seinem Weinvorrat gar nicht erst gekommen waren. Das Resultat trug er jetzt oberhalb des Gürtels vor sich her.

»Wo Sie recht haben, haben Sie recht«, antwortete Manninga augenzwinkernd. »Aber wir reden hier nicht von der Blöd-Zeitung, sondern von der seriösen Tagespresse. Und natürlich von der Öffentlichkeit. Was glauben Sie, was wir da zu hören bekommen, wenn die Sache rauskommt! Und rauskommen wird sie früher oder später, das ist Ihnen ja hoffentlich klar.«

Stahnke schob die Unterlippe vor. »Irgendwann sicher, aber nicht so bald, wenn wir es geschickt anfangen«, sagte er. »Und dann wird die Reaktion davon abhängen, wie erfolgreich wir waren.«

»Tja.« Manninga nickte. »Das ist es eben. Können Sie mir für den Erfolg Ihrer Aktion garantieren?«

»Garantien gibt es keine in unserem Geschäft«, sagte Stahnke.

Schweigend schauten sie sich an.

Es klopfte. Ehe Manninga antworten konnte, wurde die Tür geöffnet.

Stahnke kannte Kay-Uwe Venema natürlich von Pressefotos. In natura wirkte er kleiner und schmächtiger. Graues Sakko, legeres weißes Hemd mit offenem Kragen, graue Hose; der Reeder-Tycoon präsentierte sich in unaufdringlicher Allzweck-Eleganz. Seinen schwarzen Schuhen sah man erst auf den zweiten Blick an, wie teuer sie waren. Schweineteuer. Der Hauptkommissar kannte die Marke. Er hatte sich nicht einmal getraut, Schuhe dieses Labels anzuprobieren.

»Herr Venema.« Manninga hatte sich aus seinem Sessel gestemmt und trat mit ausgestreckter Hand hinter seinem Schreibtisch hervor. Auch Stahnke erhob sich zur Begrüßung. Venemas Händedruck war fest, sein Blick direkt. Die schmale, beinahe zart zu nennende Nase erinnerte stark an die seiner Tochter. Ein femininer Zug, der jedoch durch ein energisches Kinn mehr als ausgeglichen wurde. Auch gegenüber den beiden körperlich größeren Amtsträgern zeigte Venema keine Spur von Unsicherheit.

Sie nahmen in Manningas Besucherecke Platz.

»Kaffee? Oder lieber …«

Venema machte eine knappe, abwehrende Handbewegung. »Was gibt es Neues?«, fragte er.

»Nichts.« Auch Manninga kam gut ohne langes Herumgerede aus. »Das gefundene Projektil wurde untersucht, es passt zu keiner Waffe, die bei uns registriert ist. Nach Fingerabdrücken wurde zwar gesucht, aber das ist bei einem öffentlichen Gebäude wie diesem praktisch aussichtslos. Die Angaben zur Gestalt des flüchtigen mutmaßlichen Schützen sind zu allgemein für ein Phantombild. Im Eingangs- und Außenbereich der BBS-Halle ist die betreffende Person niemandem aufgefallen. Insgesamt wurden an die einhundert Personen befragt. Entweder hat sich der Täter enorm gut in der Gewalt gehabt und ist wie ein normaler Passant davonspaziert, oder er hat die Halle über den Notausgang verlassen und sich dann über das Schulgelände und die angrenzenden Wiesen entfernt.«

Venema nahm Manningas Bericht mit einem leichten Nicken entgegen. Typisch für jemanden in seiner Position, sich dazu nicht an die ermittelnden Kriminalbeamten, sondern an deren Chef zu wenden, überlegte Stahnke. Ob ihm überhaupt bewusst war, dass Stahnke, der ja mehr zufällig mit am Tisch saß, seit seiner Rückkehr de facto der Leiter dieser Ermittlungen war?

»Dann haben Sie also überhaupt nichts in der Hand«, stellte Venema fest. Kein Vorwurf klang aus seinen Worten, aber Stahnke stellte sich vor, er sei beruflich von diesem Mann abhängig, und erschauderte.

»Immerhin haben wir das Projektil«, widersprach Manninga. »Außerdem gibt es, äh … Erkenntnisse zur mutmaßlichen Tatwaffe.« Ein Nicken in Stahnkes Richtung sollte wohl bedeuten, dass damit seine Vermutungen in Bezug auf einen schallgedämpften Revolver gemeint waren.

»Und das nützt Ihnen … was?« Venemas Stimme blieb unverbindlich, sein Blick aber gewann mehr und mehr die Schärfe eines Seziermessers. Der Alpha-Rüde kommt zum Vorschein, dachte Stahnke. Ohne zu knurren, denn er ist sich seiner Rolle sicher. So sicher, dass er sie nicht eigens zu betonen braucht. Ein höflicher Leitwolf, dem jeder die Fangzähne glaubt, auch ohne sie zu sehen.

»Vorläufig nichts«, schaltete sich Stahnke ein. »Sehr viel aber in dem Moment, wenn uns im Zuge der Ermittlungen die Tatwaffe zum Täter führt. Oder aber wenn wir über einen Tatverdächtigen auf die richtige Waffe stoßen. Dann wird das Projektil zum entscheidenden Beweismittel.«

Der sezierende Blick bohrte sich in Stahnkes Augen. Seine sind auch wasserblau, nur einen Tick dunkler als meine eigenen, stellte der Hauptkommissar fest, während er den Blick lächelnd erwiderte.

»Und was, glauben Sie, könnte Sie in dieser Richtung voranbringen?«, fragte Venema. Auch mit größtem Bemühen war seinem Tonfall keine Spur Ironie zu entnehmen.

»Das Motiv«, antwortete Stahnke.

»Welches Motiv?«

»Das«, erwiderte der Hauptkommissar, »ist genau das Problem. Weder wissen wir, wer ein Motiv gehabt haben könnte, Ihre Tochter umzubringen, noch, welches Motiv das sein könnte. Aber vielleicht können Sie uns in diesem Punkt ja voranbringen.«

Das Blicke-Duell hielt an. Weder bei Stahnke noch bei Venema zuckte auch nur eine Wimper.