Tödlicher Vierer - Peter Gerdes - E-Book

Tödlicher Vierer E-Book

Peter Gerdes

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Beschreibung

Hauptkommissar Stahnke leistet in Oldenburg Amtshilfe bei den Ermittlungen zu einem Mord auf einem ostfriesischen Mittelaltermarkt - und trifft dabei auf einen Rivalen aus alten Ruderer-Zeiten. Wenig später wird seine Kollegin bei einem Mordanschlag verletzt, er selbst läuft in eine Falle und wird vom Dienst suspendiert. Plötzlich wendet sich der Polizeiapparat gegen ihn, Stahnke muss untertauchen, wird steckbrieflich gesucht. Kurz vor seiner Pensionierung liegt seine Welt in Scherben. Hilfe kommt von unerwarteter Seite. Aber wird die reichen?

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Seitenzahl: 383

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Peter Gerdes

Tödlicher Vierer

Kriminalroman

Zum Buch

Alte Feinde Auf dem Mittelaltermarkt im ostfriesischen Timmel wird ein Mann ermordet, der in Schwarzgeldschmuggel verstrickt war. Die Leeraner Kripo bittet Hauptkommissar Stahnke in Oldenburg um Amtshilfe. Bei seinen Ermittlungen trifft Stahnke auf einen Rivalen aus alten Zeiten, mit dem er in einem ambitionierten Vierer ruderte. Kurz darauf wird Stahnkes Kollegin bei einem Mordanschlag angeschossen, er selbst läuft in eine Falle und wird vom Dienst suspendiert. Als er dennoch auf eigene Faust weiter ermittelt, wendet sich der Polizeiapparat endgültig gegen ihn: Stahnke muss untertauchen, wird steckbrieflich gesucht. Wer hat so viel Macht, um staatliche Institutionen zu manipulieren und für eigene Ziele zu missbrauchen? Und welche Ziele sind das? Kurz vor seiner Pensionierung muss Stahnke erleben, wie seine scheinbar festgefügte Welt zerbricht. Als Ausgestoßener bekommt er Hilfe von unerwarteter Seite. Aber der Gegner ist mächtig. Kann Stahnke das Ruder noch herumreißen?

Peter Gerdes, 1955 geboren, lebt in Leer (Ostfriesland). Er studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Seit 1995 schreibt er Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Von 1999 bis 2024 leitete Gerdes das von ihm gegründete Festival »Ostfriesische Krimitage«. Seine Krimis »Der Etappenmörder«, »Fürchte die Dunkelheit« und »Der siebte Schlüssel« wurden für den Literaturpreis »Das neue Buch« nominiert. Für das SYNDIKAT e. V. organisierte er von 2018 bis 2023 das jährliche Krimifest CRIMINALE. Er ist außerdem Mitglied im PEN Berlin. 2024 wurde Gerdes Senioren-Landesmeister im Bogenschießen.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © rphfoto / stock.adobe.com und HiltonKi / Shutterstock.com

ISBN 978-3-7349-3398-1

1.

Joke Reents drückte die Klingel. Lauschte dem Nachhall des Gongs, spürte den beschleunigten Schlag seines Herzens. Ein Wochenendbesuch unter Freunden, klar, aber er hoffte auf mehr.

Die Tür wurde geöffnet, nur einen Spalt. Gundi Lücht grinste ihn an, die blonden Haare neckisch verstrubbelt, die Schultern unbedeckt. »Komm rein!«, rief sie ihm zu. »Komm, ich zeig dir mein Kabinett!« Sie trat zurück, hielt ihm die Tür auf. Sein Herz machte einen Satz. Gundi trug nur Unterwäsche! War heute etwa der Tag?

Er folgte ihr durch den engen Flur, sah sie durch eine Tür huschen. Es raschelte. Joke Reents ließ seine Tasche fallen. Kurze Statusprüfung: War er auch nicht zu verschwitzt von der Reise mit der Borkumfähre und der Bahn? Hatte er eine von den neueren Unterbüxen an? Waren die Socken frisch? Check. Er atmete tief durch und betrat das Zimmer.

Drinnen stand kein Bett, dafür war der Raum auch viel zu voll. Kabinett sollte wohl Kleiderkammer heißen. An der Wand hingen lange Gürtel, Riemen, Schnüre und Lederklamotten mit Nieten. Um Himmels willen, wo war er denn hingeraten! War Gundi Lücht etwa so eine wie in Fifty Shades of Grey? Vielleicht sogar anders herum – wollte sie ihn auspeitschen? Er war doll verknallt in diese Frau, würde alles dafür tun, um ihr näherzukommen, so nah, wie es ging. Aber das?

Gundis Gesicht tauchte aus einer Woge raschelnder Seide auf. Das Kleid, das sie sich über den Kopf gezogen hatte, war smaragdgrün und sah entzückend aus zu ihren geröteten Wangen. »Was meinst du?«, fragte sie und strahlte ihn an. »Soll ich als Edeldame gehen? Oder lieber in Musketier-Uniform? Von der Gewandung habe ich zwei, die eine müsste dir passen, dann könnten wir im Partnerlook auftreten.« Sie hob ihre Augenbrauen: »Das heißt, wenn dir das recht ist.«

Partner, dachte Joke Reents. Partner klang gut, viel besser als peitschen. Peitschen hingen hier auch keine in diesem Kabinett, dafür allerhand andere fragwürdige Sachen. Messer zum Beispiel. Schwerter. Äxte und Morgensterne. Und sogar ein Langbogen. »Gehen? Wohin gehen?«, fragte er vorsichtig. »Zum Karneval? Der war doch schon. Oder kommt erst noch.«

»Karneval, von wegen.« Gundi lachte laut. »Das hier sind doch keine Kostüme, das sind Gewandungen! Damit gehen wir aufs Mittelalterfest in Timmel. Hatte ich dir doch erzählt, das weiß ich genau. Und du hast Ja gesagt!«

Natürlich hatte er Ja gesagt! Er hätte allem zugestimmt, was Gundi vorschlug, Hauptsache, sie unternahmen etwas zusammen. Bloß richtig zugehört hatte er nicht. »Fest«, das hatte er verstanden. »Mittelalter« hatte er nur am Rande registriert. Es gab fetzige Bands, die tanzbare Musik in historischem Stil machten, also warum nicht? »Aber von Verkleidung hast du nichts gesagt«, maulte er.

Gundi Lücht packte ihn rechts und links an den Schultern. Damit hatte sie seine volle Aufmerksamkeit, denn sie war fast so groß wie der lange Borkumer und ihr Griff ebenso fest. Zwar arbeitete sie bei der Leeraner Kripo in der Kriminaltechnik und nicht im Streifendienst, trotzdem hatte sie gelernt, wie man Kerle zur Räson brachte. »Es heißt nicht Verkleidung, klar?«, belehrte sie ihn. »Es heißt Gewandung! Und wenn man auf ein Mittelalterfest geht, dann wird das durch die Gewandung erst interessant. Weil man dann nämlich nicht mehr Zuschauer ist, sondern automatisch Teil des Events. Verstehst du?«

»Verstehe«, sagte Oberkommissar Joke Reents gehorsam. Dort, wo Gundis Hände auf seinen Schultern lagen, wurde seine Haut unterm Hemd ganz heiß. »Aber muss es unbedingt eine Uniform sein? Im Dienst renne ich sowieso schon die ganze Woche uniformiert rum.«

Gundi Lücht grinste. »Und alle gucken dich an und denken sich, was für ein schneidiger Typ, und so schick angezogen! Dann weißt du doch, wie das ist. Aber bitte, wenn es etwas anderes sein soll.« Sie machte eine einladende Geste, die den ganzen kleinen Raum umfasste. »Ist ja nicht so, dass ich keine Auswahl hätte.«

Absolut richtig, dachte Joke Reents. Gundis Kabinett enthielt genügend Requisiten für eine mittlere Theatertruppe. Allein an einer Kleiderstange auf Rollen hingen Dutzende von Kostümen, vielmehr Gewandungen. Viele weitere baumelten an Kleiderhaken, darunter standen Stulpenstiefel, Bundschuhe und Sandalen, auf einem Regalbrett waren Hüte und Mützen aufgereiht, und was an Wandfläche noch übrig war, war von Waffen aller Art bedeckt. Während seine Kollegin in den Klamotten wühlte, betastete der Inselpolizist vorsichtig einige der Mordinstrumente. Die Stacheln des Morgensterns waren abgerundet, stellte er fest, und das Messer mit dem Elfenbeingriff, das in einer längs aufgehängten Gürtelscheide steckte, war stumpf – reine Deko also, Gott sei Dank. Die Schneiden der Streitäxte aber waren scharf, und auch die Bögen waren echt.

»Hier, was hältst du davon?« Gundi Lücht hatte ein himmelblaues Ding aus dem Kleiderwust gezogen und hielt es sich vor den Körper. Es sah aus wie eine lange kurzärmelige Robe. »Das müsste dir passen. Weit genug ist es allemal.«

»Ein Kleid?« Joke Reents verzog sein Gesicht. »Für mich? Was soll das werden in Timmel, der CSD des Mittelalters?«

»Hast du etwa Angst vor der Inquisition?« Gundi Lücht schüttelte nachsichtig den Kopf. »Dies ist eine Tunika, das Standardgewand des Mittelalters für alle Zwecke! Gürtel drum, Sandalen an, Barett auf den Kopf – schon bist du top gestylt! Vom gesellschaftlichen Stand her bist du dann allerdings mein Knecht. Oder mein Leibeigener! Also benimm dich entsprechend, wenn du nicht die Peitsche schmecken willst.«

Joke Reents hatte sich längst vergewissert, dass nirgendwo in diesem Kabinett eine Peitsche hing, trotzdem überlief es ihn heiß. The Things we do for Love, dachte er und zögerte kurz. Dann fragte er: »Gilt das Angebot mit der Musketier-Uniform noch? Von wegen Partner-Look?«

Gundi lachte und warf ihm einen ausladenden Federhut zu. »Na also, geht doch!«

Sie fuhren über Neermoor nach Timmel, umgingen so das ewige Nadelöhr Hesel. Gundi Lücht fuhr einen heißen Reifen, stellte der Inselpolizist fest. Das gefiel ihm, wie praktisch alles an ihr. Hier war er nicht für die Einhaltung der Verkehrsregeln zuständig, da mochte sie die Geschwindigkeitsbegrenzungen ignorieren, wie es ihr beliebte. Der goldfarbene Mitsubishi war altmodisch eng, lächerlich eng sogar für zwei Menschen ihrer Körperlänge. Joke Reents hatte den Beifahrersitz ganz nach hinten gestellt, trotzdem war es ihm unmöglich, seine langen Gräten auszustrecken. Auch seine Zehen hatten bitter wenig Platz in den Stiefeln aus Gundis Fundus. Zum Glück war das Oberleder dünn und weich.

Gundi Lücht parkte halb legal an einem Wirtschaftsweg, so hatten sie es nicht weit bis zum Festplatzgelände. »Woher hast du eigentlich diese Stiefel?«, fragte er, während er tapfer neben ihr herhumpelte. »Dir sind die doch viel zu groß.« Er biss sich auf die Lippen. Bestimmt von einem Ex-Freund, dachte er mit Verspätung, verdammt, kein gutes Gesprächsthema.

»Danke für die Blumen.« Sie knuffte ihn in die Seite. »Ich trage Größe 41, das sieht man bloß nicht bei meiner Länge. Natürlich habe ich nicht solche Flurschadenbretter wie du! Die Stiefel waren in einem größeren Gewandungspaket. Sonderangebot wegen Aufgabe des Hobbys. War ein Schnäppchen, da habe ich sofort zugeschlagen.«

»Aufgabe des Hobbys, wie kann das denn sein«, murmelte Joke Reents, während er über den unebenen Schotterweg stolperte. Jedes einzelne Steinchen schien sich durch die dünnen Sohlen zu drücken. Die Leute, die ihnen entgegenkamen, trugen Alltagsklamotten und starrten sie unverhohlen an. Der Inselpolizist kam sich vor wie ein Clown. Worauf hatte er sich bloß eingelassen!

Andererseits – war es nicht immer sein größtes Ziel im Leben gewesen, an einem 5. Dezember als Großer Klaasohm verkleidet durch die Borkumer Straßen zu laufen und mit einem Kuhhorn herumzufuchteln? Auch wenn das in letzter Zeit in Verruf gekommen war, weil das Verprügeln von Frauen nicht als Traditionspflege anerkannt wurde. Hatte er sich nicht maßlos geärgert, als der Vorsitzende des Borkumer Jungsvereins ihm neulich eröffnet hatte, dass daraus nichts werden würde? Schon zu alt, zu lange weg gewesen von der Insel, zu viele Mitbewerber mit besseren Beziehungen – was waren denn das für Argumente! Tja, so war das im Leben: Dort durfte er nicht in Verkleidung herumlaufen, hier musste er. In Gewandung natürlich. Als Musketier, was durchaus schicker aussah als die ungeschlachte Klaasohm-Kluft. Ohne die namensgebende Muskete zwar, dafür mit Federhut, buntem Wams, gestreifter Hose und Zierdegen. Und mit engen Stulpenstiefeln.

Je näher sie dem mittelalterlichen Treiben kamen, desto mehr fügten sich seine Zehen in ihr Schicksal. Kaum hatten sie die ersten bunt geschmückten Zelte und Marktstände erreicht, wurde die Menge der Schaulustigen dichter und der Anteil der Gewandeten größer. Wüste Gestalten waren darunter. Einer trug den schwarzen Umhang der Nachtwache aus Game of Thrones, sein kleinerer Begleiter war als Ork aus Herr der Ringe maskiert.

»Das ist aber nicht original Mittelalter«, monierte Joke Reents.

»Genauso wenig wie Musketiere«, gab Gundi Lücht zurück. »Wenn wir es ganz genau nehmen würden, dürften wir nicht einmal Unterwäsche tragen. Auf den meisten Märkten und Festen sieht man das aber nicht so eng.«

Der Inselpolizist nickte verstehend. Keine Unterwäsche, dachte er. Was für Zeiten.

Während sie Seite an Seite durch das Gewimmel schlenderten, musterte er die Stände rechts und links. Töpferwaren und selbst gezogene Kerzen, Honig und Kräuter, Deko-Waffen, Lederzeug und Klamotten. Dazwischen Fressalienstände mit Niesschutz und Festzeltgarnituren, die als Schänken, Tavernen oder Furage-Zelte firmierten, aber im Wesentlichen Bratwurst und Pommes, Schwenkbraten oder Reibekuchen anboten. »Allerhand Kartoffeln«, stellte Joke Reents fest. »Dabei gab es die vor 1492 in Europa gar nicht.«

»Na und?« Gundi hakte ihn unter. »Guck mal, da drüben heißen die Pommes Torfstreifen! Problem gelöst, würde ich sagen. Magst du welche?«

Joke Reents schüttelte den Kopf. Er hatte weder Hunger noch Lust auf Met oder Kirschbier. »Lass uns weiter gucken«, schlug er vor. Gundi Lücht lächelte glücklich.

Sie versuchten sich im Bogenschießen, worin Gundi sich als echte Könnerin entpuppte, und im Axtwerfen, wobei Joke es im vierten Anlauf schaffte, dass alle drei Mini-Äxte dicht nebeneinander in einer Baumscheibe stecken blieben. Der Standbetreiber, ein sonnenverbrannter Typ mit unglaublich langem Bart und einer noch unglaublicheren Wampe, pries seine Künste in den höchsten Tönen, um weitere Kunden anzulocken.

»Der Trick ist ganz einfach«, sagte Joke Reents. »Immer gleiche Armhaltung und gleichbleibender Abstand zur Scheibe. Dann kann das jeder.«

»Pscht!« Gundi legte ihm ihre Hand auf den Mund. »Nichts verraten! Lass uns doch die Illusion. Und dir selbst auch, du großer Axtwurfmeister!«

Illusionen, dachte Joke. Nichts anderes wird hier verkauft. Und das spottbillig! Ein Euro für dreimal Werfen, das ergab nur dann Sinn, wenn der Anbieter ebenso viel Spaß daran hatte wie der Kunde. In den Tavernen war das anders, da wurden zeitgemäße Preise verlangt.

»Was ist eigentlich so faszinierend am Mittelalter?«, platzte Joke heraus. »Antike, okay, das kann ich verstehen. Da fing alles irgendwie an, Wissenschaft, Philosophie und Demokratie, dazu menschliche Götter und gottgleiche Helden. Aber das Mittelalter? Das war doch vor allem Dreck und bittere Armut, Unterdrückung und Pest. Wo ist da der Reiz?«

»Die Antike, das waren Athen, Rom und Karthago«, erwiderte Gundi. »Damals hausten unsere norddeutschen Vorfahren noch im Wald und machten Bären-Wrestling. Als die Antike später auch zu uns kam, haben wir sie bekämpft und besiegt, du weißt doch, in der Varus-Schlacht, kurz nach der Zeitenwende. Wir haben uns der antiken Kultur erfolgreich verweigert.« Sie lachte, weil Joke so verständnislos guckte. »Auch gegen die Christianisierung haben die Friesen sich lange gewehrt, aber irgendwann war es dann doch so weit. Damit wurden wir Teil des Mittelalters. Das, was wir hier feiern, ist also unsere eigene Kultur.«

»Mit Orks, Hobbits und Drachen?«

»Na und, warum denn nicht! Kulturelle Vielfalt ist keine Erfindung der Neuzeit. Außerdem, Fantasie hatten die Leute immer schon.«

»Da hätten die dort aber etwas dagegen gehabt.« Joke deutete auf zwei beleibte Mönche, die neben einer Feldschmiede standen und plauderten. Der eine futterte Pommes aus einer Plastikschale, der andere leckte an einer Eiswaffel. »Die und ihr Verein haben doch immer nur eine Art von Aberglauben zugelassen. Sonst gab’s Höllenfeuer statt Drachen.«

»Joke, sei nicht so eine Spaßbremse.« Gundi Lücht klang verstimmt. »Das alles hier ist doch bloß ein Spiel! Lass dich einfach darauf ein.«

Themenwechsel, und zwar flott, dachte der Inselpolizist. »Schau mal, da vorne gibt es Schmuck. Und schöne Steine! Wollen wir?«

»Das sind Heilsteine. Esoterisches Zeug. Aberglaube. Bist du sicher?«

Überall Fettnäpfe, dachte Joke Reents. Dann war es auch egal. Er deutete auf ein kleines dunkelblaues Pagodenzelt, das mit Sternzeichen und anderen Symbolen bemalt war. ›Madame Nirmala‹ stand in verschnörkelten goldenen Buchstaben über dem Eingang. »Lass uns dahin gehen«, schlug er vor. »Vielleicht bringt die uns weiter.«

Verblüffung, Irritation und Erheiterung flogen über Gundis Gesicht wie Wolken über einen Aprilhimmel. »Einverstanden«, sagte sie. »Wenn schon, denn schon!« Langes Übelnehmen war eindeutig nicht ihr Ding.

Neben dem schwarzen Zeltvorhang lag ein Pestkranker mit schmutzigen bloßen Füßen und bleich geschminktem, von Beulen entstelltem Gesicht; die beiden Musketiere achteten darauf, ihm nicht auf die schorfverkrusteten Finger zu treten. Vorsichtig spähte Gundi Lücht durch den Vorhangspalt. Drinnen verbreiteten Kerzen dämmriges Licht, von glimmenden Räucherstäbchen geheimnisvoll vernebelt. Hinter einem winzigen Tischchen saß eine kleine Frau in einem roten Kleid, auf dem Kopf einen federgeschmückten Turban, vor sich die unvermeidliche Glaskugel. Sie deutete auf zwei leere Stühle. »Ich habe euch schon erwartet«, raunte sie mit dunkler Stimme.

Wenn ich jetzt lache, bin ich bei Gundi für alle Zeiten unten durch, dachte Joke Reents. Also beherrschte er sich, folgte dem auffordernden Wink von Madame Nirmala und faltete sich auf dem linken Stuhl zusammen. Gundi Lücht nahm neben ihm Platz. Erwartungsvoll starrte er die Wahrsagerin an. Wie alt mochte sie sein? Unmöglich zu schätzen. Ihre Augen waren braun, mit einem Stich ins Goldene. Sie leckte sich ihre schmalen Lippen, und Joke Reents ertappte sich dabei, dass er zu erkennen versuchte, ob ihre Zunge gespalten war.

»Du trägst Uniform«, sagte die Frau. »Du fragst dich nach dem Sinn. Aber diese Frage darfst du mir nicht stellen.«

»Welche denn dann?«, platzte er heraus.

Aber Madame Nirmala hatte sich bereits seiner Begleiterin zugewandt. »Er will dir etwas schenken«, teilte sie Gundi Lücht mit, als säßen sie beide allein in diesem Zelt. »Er ist altmodisch, also überleg es dir gut.«

»Altmodisch? Ausgerechnet ich?«, brauste Joke Reents auf.

Gundi Lücht ignorierte ihn. »Was soll ich mir gut überlegen?«, fragte sie zurück. »Was bedeutet das?«

»Ganz genau.« Die Wahrsagerin nickte bestätigend. »Überleg dir gut, was das bedeutet. Und dann überleg noch einmal.«

»Können Sie nicht deutlicher werden?«, murrte der Inselpolizist. »Das ergibt doch gar keinen Sinn.«

»Du sollst mich doch nicht nach dem Sinn fragen«, erwiderte Madame Nirmala tadelnd. »Sonst fragst du doch auch nicht nach dem Sinn. Du fragst nur nach den Regeln.«

»Na klar, das ist schließlich …« Stopp, dachte Joke Reents, nicht zu viel verraten! Aber hatte sie seinen Beruf nicht schon erkannt? »Ganz normal«, schob er schwach hinterher.

Madame Nirmala nickte. »Regeln gibt es für alles, das stimmt. Manche sind von Menschen gemacht, andere gibt es schon länger als uns. Oder schon immer.« Sie senkte ihre Lider. »Viele von uns halten sich an all diese Regeln, wenn sie nur können. Andere nur an die bequemen und die, die ihnen nützen.« Jetzt ließ sie ihren Blick zwischen ihren beiden Besuchern und der gläsernen Kugel kreisen. »Es gibt aber auch welche, die folgen nur ihren eigenen Regeln. Die müssen wir erkennen. Die müsst ihr erkennen.«

»Die Regeln? Oder diese Menschen?«, fragte Gundi Lücht atemlos.

»Du hast mich verstanden«, sagte die Wahrsagerin und überkreuzte ihre Arme. »Du auch, Regel-Mann?«

»So weit ja«, log der Inselpolizist. »Und sonst? Was sehen Sie sonst noch von uns? Lottogewinn, Hochzeit, Weltreise?« Er versuchte ein spöttisches Grinsen, aber seine Gesichtszüge spielten nicht mit.

»So was mache ich nicht«, erwiderte Madame Nirmala entschieden. »Dafür gibt es Horoskope. Und das Internet. Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe.«

Das klang nach Rauswurf. Joke und Gundi erhoben sich gehorsam. »Was sind wir schuldig?«, fragte der Inselpolizist und kramte in der Tasche seiner Leihhose, ehe ihm einfiel, dass sein Portemonnaie in der Geldkatze außen am Gürtel steckte.

»Gebt, was es euch wert ist«, sagte Madame Nirmala und wies auf eine Schatulle neben dem Ausgang, ohne hinzuschauen. »Draußen warten schon die nächsten. Schickt sie gleich rein.«

Vor dem Zelt kicherten zwei Teenager, die es wohl kaum erwarten konnten. »Woher wusste die Frau das?«, flüsterte Joke Reents alarmiert. »Hängt hier ’ne Überwachungskamera? Oder kann die durch Zeltwände sehen?«

»Ist gerade ziemlich voll hier, überall ist Andrang«, antwortete Gundi Lücht. »Vermutlich hört man drinnen das Gebrabbel, wir haben nur nicht darauf geachtet. Vielleicht hat sie einfach ihre Erfahrungswerte. Oder sie verfügt wirklich über hellseherische Fähigkeiten.«

»Glaubst du echt?« Der Inselpolizist wusste nicht, was ihn mehr entsetzte: dass Gundi an so was glaubte oder dass sie damit recht haben könnte.

»Reingefallen! Ich glaube nur an Dinge, die ich sehen und anfassen kann.« Sie betastete ihren flachen Bauch: »Zum Beispiel glaube ich an meinen leeren Magen. Los, lass uns was essen, ehe überall Schlangen stehen!«

»Kleinen Moment noch.« Gleich neben dem Nirmala-Zelt stand ein weiterer Schmuckstand, und Joke wollte unbedingt ein kleines Gastgeschenk für seine Leeraner Kollegin kaufen. Das gehörte sich so. Immerhin beherbergte sie ihn, dafür verdiente sie eine kleine Anerkennung, auch wenn es beim Beherbergen bleiben sollte. Wer konnte das wissen? Madame Nirmala vielleicht.

In der Auslage dominierten silberne Ringe. Problematisch, nicht nur wegen der Größe, sondern auch wegen des Symbolgehalts. Nee, lieber nicht mit einem unpassenden Ring abblitzen! Ohrstecker waren auch schwierig. Trug Gundi überhaupt welche? Er drehte sich nach ihr um, aber sie hatte sich abgewandt und den Musketier-Kragen hochgeschlagen. Ungeduldig tappte sie mit der Fußspitze, anscheinend hatte sie wirklich Hunger. Bloß nicht länger warten lassen! Joke Reents entschied sich für einen Halsschmuck aus geschnitztem Bernstein und gelochten Glasperlen, das Ganze an einem verstellbaren Lederband. Das sah hübsch aus, gefiel ihm selbst auch. Warum nicht gleich zwei, sie stand doch auf Partnerlook! Der Preis war angemessen, also schnell Geld raus und bezahlen. Wo war der Verkäufer?

Keiner da. Der Stand war verwaist, kein Standbetreiber in Sicht. Diese Leute hatten Nerven! Oder Gottvertrauen. Und Gundi wurde immer ungeduldiger.

Joke Reents schaute sich um. Gleich nebenan war ein Stand mit Taschen aller Größen. Ein riesenhafter Mann, der selbst ihn deutlich überragte, hatte gerade eine Kundin abkassiert und schaute zu ihm herüber. »Sind Sie hier auch zuständig?«, fragte der Inselpolizist und hob seine Hand mit der begehrten Ware.

Der Riese, dessen Gesichtshaut zerfurcht und durch geplatzte Äderchen marmoriert war, schüttelte den Kopf. »Nee, das ist der Stand von Jörg«, tönte es aus seinem lückenhaften Gebiss. »Guck doch mal in seinem Zelt nach, das steht zwei Reihen hinter uns.« Er wies mit dem Daumen über seine Schulter, zupfte sein angeschmuddeltes Wams zurecht und wandte sich dem nächsten Taschenkunden zu.

Hinter den Ständen begann der Wohnbereich der Fest- und Markt-Akteure, der durch eine Leine vom öffentlichen Bereich abgegrenzt war. Hier sollten die Händler und Aussteller eigentlich von den Besuchern in Ruhe gelassen werden, sollten beim Kochen und beim Plausch am Lagerfeuer nicht ständig Anschauungsobjekte sein. Die Grenze aber schien fließend zu sein. So hatten vor allem die Schaukampftruppen in den Pausen ihre Rüstungen, Schwerter und Schilde entlang der Trennleine aufgestellt. Einige Wohnzelte waren so aufgebaut, dass man hineinschauen und die mittelalterliche Einrichtung bewundern konnte. Für Joke Reents schien es also ganz in Ordnung zu sein, die langen Beine über die Abgrenzung zu schwingen und den Schmuckstandbetreiber in seinem Zelt aufzusuchen. Schließlich wollte er dem nichts klauen, ganz im Gegenteil. Der verwitterte Riese vom Taschenstand hatte Joke quasi einen Passierschein ausgestellt, mit dem Daumen. Und angemessen gewandet war er auch.

Dieser Jörg schien sich allerdings als Wikinger zu verstehen, Jokes Kluft lag ein paar Jahrhunderte daneben. Egal. »Hallo?« Der Inselpolizist schob den Türvorhang beiseite und seinen Kopf durch den Spalt. »Herr, äh … Jörg, bist du da? Ich möchte etwas kaufen.«

Keine Antwort, niemand zu sehen. Die Zeltleinwand ließ genügend Licht durch, um das Innere zu mustern. Es gab ein breites Bett, dessen Matratze eher nach Ikea als nach Strohsack aussah, einen niedrigen Tisch mit Holzklötzen anstatt Stühlen, einen Haufen unordentlich übereinandergeworfener Klamotten und eine große Truhe. Dahinter ragte ein reich verzierter Speer in die Höhe. Und es gab ein Paar Stulpenstiefel, die genauso aussahen wie seine eigenen. Sie lagen hinter der Truhe auf dem Boden und schienen ziemlich groß zu sein, größer als die drückenden Dinger, die Gundi ihm geliehen hatte. Womöglich konnte er mit dem Zeltbesitzer noch ein weiteres Geschäft machen. »Jörg?«, rief er noch einmal und betrat das Zelt, seinen Blick auf die Stulpenstiefel gerichtet.

Deren Spitzen zeigten nach oben, und die Schäfte waren prall und rund. Kein Wunder, denn die Füße und Waden ihres Besitzers steckten noch drin. Der prächtige Speer wiederum steckte in seiner Brust, inmitten eines großen roten Flecks. Obwohl die Klinge des Speers die Wunde, in der sie steckte, gleich wieder geschlossen hatte, schien sehr viel Blut ausgetreten zu sein. Der Träger der Stiefel war eindeutig tot. Seine Augen standen offen, sein Blick war glasig und starr.

»Joke?«, ertönte Gundi Lüchts Stimme von draußen. Sie klang ungehalten. »Was ist denn nun? Wo steckst du?«

»Hier«, antwortete Joke Reents und kam sich postwendend sehr dämlich vor. Weil er unbedingt etwas hinzufügen wollte, sagte er noch: »Bei der Arbeit.«

2.

Nidal Ekinci betrat vorsichtig den Tatort und schaute sich um. Eine hochgewachsene Frau kam auf ihn zu und überreichte ihm einen hellgrünen Geldschein. 100 Euro.

»Danke, das ist sehr freundlich«, sagte der Oberkommissar und hob abwehrend die Hand. »Aber ich bin dienstlich hier.«

»Willst du mich verarschen?« Die Stimme der Frau war durch eine Atemschutzmaske gedämpft, kam ihm aber trotzdem vertraut vor. »Das soll kein Bakschisch sein, das ist ein Beweismittel! Los, Nidal, nimm schon.«

Jetzt erst bemerkte Ekinci, dass der Geldschein in einer durchsichtigen Tüte steckte und die Hand der hochgewachsenen Frau in einem Latexhandschuh. »Moin, Gundi«, grüßte er eilig. »Wusste gar nicht, dass du Wochenenddienst hast.« Er musterte seine Kollegin von der Kriminaltechnik von oben bis unten. »Schickes Outfit! Trägt man das jetzt bei euch?«

»Nein und nein.« Gundi Lüchts Maske blähte sich beim Schnaufen. »Ich habe eigentlich frei und war privat hier. Bis mein … Kollege unbedingt über eine Leiche stolpern musste.« Sie deutete auf eine große Truhe, hinter der ein Paar Stiefel hervorragten. Daneben stand ein langer Kerl in karnevalsmäßiger Aufmachung, den Ekinci von einem Einsatz auf Borkum her kannte.

»Moin, Joke, alles im Lot? Warum hast du dich denn so verkleidet – bist du jetzt auch bei der Spurensicherung?« Ein kleiner Scherz sorgt für eine lockere Arbeitsatmosphäre, dachte der Oberkommissar und lachte. Als Einziger, wie er feststellen musste.

Joke nickte mürrisch. »Tatort ist provisorisch gesichert«, knurrte er Ekinci an. »Zwischen Auffindung des Toten und deinem Eintreffen hat hier keiner die Szene kontaminiert. Hat übrigens ganz schön gedauert! In der Zeit habe ich die Identität des Opfers geklärt. Es handelt sich um Jörg Visser, 48 Jahre, IT-Techniker aus Oldenburg. Todesursächlich war mit größter Wahrscheinlichkeit diese Stichwunde.« Er deutete auf den zwei Meter langen Speer, der immer noch aus der Brust des Toten ragte.

»Respekt«, sagte Nidal Ekinci und deutete eine Verbeugung an. »Ich meine, für die Identitätsfeststellung. Wie hast du ihn identifiziert – anhand seiner Tattoos?« Er deutete auf die Unterarme des Toten, die aus den kurzen Ärmeln einer dunkelblauen Tunika ragten.

Joke Reents schüttelte den Kopf und zeigte auf einen Haufen Kleidungsstücke, der zwischen Truhe und Tisch auf dem Zeltboden lag. »Unter den Klamotten dort war auch Vissers Zivilkleidung«, sagte er. »Also seine Alltagsklamotten, T-Shirt, Hoodie und Jeans. In der Hose steckte sein Portemonnaie mit Ausweis und Führerschein. Und dem Kartenschlüssel für seinen Arbeitsplatz.«

»Gute Arbeit«, lobte Ekinci. Loben war immer gut, auch das hatte er kürzlich während eines Lehrgangs an der Hochschule für Öffentliche Verwaltung in Bremen gelernt. Loben und ein lockeres Arbeitsklima, Rüstzeug für angehende Führungskräfte. »Hat sich die medizinische Abteilung schon gemeldet? Und die diensthabende Kriminaltechnik? Die liebe Gundi opfert hier ihre Freizeit.«

»Was glaubst du, was ich tue!«, schnauzte Joke Reents. »Nee, noch hat sich keiner blicken lassen. Außer dir. Und du bist anscheinend keine große Hilfe.«

Das überhöre ich mal, dachte Nidal Ekinci. Der gute Joke hat anscheinend Stress, da kippe ich lieber kein Öl ins Feuer. Liegt’s an der Leiche, die ihm ins freie Wochenende gepurzelt ist? Oder steckt etwas anderes dahinter? Der Oberkommissar beschloss, seine Antennen in mehr als eine Richtung auszufahren.

Er entsann sich des eingetüteten Geldscheins in seiner Hand. Eine ganz normale 100-Euro-Banknote, offensichtlich gebraucht, angeraut und mit umgeknickten Ecken. »Wo lag denn der Schein?«, fragte er Gundi Lücht. »Inwiefern ist er ein Beweisstück?«

Die Kriminaltechnikerin winkte ihm, ihr zu folgen, und führte ihn entlang der Zeltwand um die Leiche herum. Ganz hinten lag ein großer Tornister aus dickem hellem Leder, auffällig dekoriert mit farbigen Symbolen. Ekinci erkannte Thors Hammer und Yggdrasil, den Weltenbaum, außerdem zwei Raben, die vermutlich Hugin und Munin, Odins Begleiter, darstellen sollten. Andere Zeichen waren ihm unbekannt. »Krasses Ding«, sagte er und schaute Gundi Lücht fragend an. »Was ist damit?«

Die öffnete wortlos die breite Tornisterklappe, deren Riemen lose über den Schnallen hingen. Das dicke Leder war steif und formstabil, sodass das Behältnis von außen aussah, als sei es prall gefüllt. Tatsächlich aber war es leer. Ekinci beugte sich vor, spähte hinein und korrigierte sich: fast leer. Unten auf dem Boden lag etwas. Ein Rest, ein Bodensatz.

»Weitere sechs 100-Euro-Scheine«, bestätigte Gundi Lücht. »Der in der Tüte, der siebte, lag daneben auf dem Boden.«

»Dann waren also 700 Euro in diesem Wikingerrucksack?«, staunte Nidal Ekinci.

»Mindestens«, sagte Gundi Lücht. »Vielleicht auch sehr viel mehr.«

»Mehr? Du meinst …« Der Oberkommissar schnappte nach Luft. Die Ledertasche war groß, ihr nicht unterteilter Innenraum sehr aufnahmefähig. Nidal Ekinci stellte ihn sich vollgestopft mit Geldscheinen vor. Mit Hundertern. Wie viele passten dort hinein? Welchen Wert stellten sie dar? Das musste in die Millionen gehen. Was für eine Summe! Was für ein Motiv für einen Mord, einen Raubmord!

Er schüttelte den Kopf. »Reine Vermutung«, stellte er fest. »Klar, möglich wäre es, aber es fehlt jeder Beweis.«

»Findest du?«, fragte Gundi Lücht kühl. »Dann guckstu mal hier.« Sie deutete auf einen zweite, kleinere Lederklappe, die weiter unten auf der Vorderseite des Tornisters angebracht war. Ein Sonderfach für kleine Dinge, die nicht im großen Stauraum untergehen sollten. Das kleine Fach sah von außen genauso prall aus wie das große.

Nidal Ekinci hockte sich hin und öffnete den Riemenverschluss. Das kleine Fach war voll, randvoll gestopft mit Geldscheinen. Bunt gemischt vom Fünfziger bis zum Zweihunderter. Die kleinen Scheine fehlten. Die ganz großen auch, dachte Ekinci, bis ihm einfiel, dass es keine 500-Euro-Scheine mehr gab, die waren 2016 abgeschafft worden. Und Eintausender hatte es seit Euro-Einführung nie gegeben.

»Was denkst du?«, fragte er seine Kollegin.

»Die hat der Mörder übersehen«, sagte die Kriminaltechnikerin. »Im großen Fach des Tornisters dürfte Geld genug gewesen sein. Gezählt hat er wohl nicht, bei der Menge! Dafür fehlte ihm die Ruhe, schon wegen der Leiche. Er wird es eilig gehabt haben.«

Ekinci nickte zustimmend. »Aber warum hat er dann überhaupt umgepackt?«, fragte er. »Hätte er nicht gleich den Tornister mitnehmen können? Dann wäre ihm kein einziger Schein durch die Lappen gegangen.«

»Das Ding ist sehr auffällig«, wandte Gundi Lücht ein. »Und Jörg Visser ist bei seinen Standnachbarn bekannt. Der Täter hätte sich womöglich verraten, wenn er mit Vissers Tornister über den Markt spaziert wäre. Also hat er die Scheine lieber in ein neutraleres Behältnis umgeräumt.«

»Das er dabeihatte? Weil der Raubmord geplant war?«

»Kann sein«, warf Joke Reents von jenseits der Truhe ein. »Aber vielleicht hat er auch das genommen, was er vorgefunden hat.« Er deutete auf den Haufen Kleidungsstücke. »Das sind Vissers Klamotten, überwiegend ganz normales Alltagszeug, was man eben so braucht für ein langes Wochenende.« Er stockte kurz, weil er an seine eigene Reisetasche dachte, und räusperte sich. »Die Sachen wird er in einer normalen Tasche mitgebracht haben. Oder in einem Koffer, einem Seesack, was weiß ich. Jedenfalls in einem Behältnis, das auf dem Markt nicht so bekannt war wie Vissers Wikinger-Tornister.«

»Durchaus möglich. Wäre natürlich schön, wenn das einer bestätigen könnte.« Nidal Ekinci erhob sich seufzend. »Wir werden eine Menge Leute befragen müssen. Da kommt viel Fußarbeit auf uns zu.« Er musterte die beiden Musketiere: »Seid ihr dabei?«

Joke Reents hob seine Hände und senkte die Mundwinkel. War ein freies Wochenende denn gar nichts mehr wert? Andererseits, Mord war Mord, da wäre er auf Borkum auch nicht ruhig am Strand liegen geblieben. Fragend schaute er zu Gundi Lücht.

Die nickte entschlossen. »Mordermittlung ist wie Mittelaltermarkt«, sagte sie. »Am meisten Spaß macht es, wenn man dabei mitmacht!«

Dazu fiel Ekinci partout nichts ein, daher war er froh, dass sein Handy in diesem Moment summte. »Textnachricht von den Kollegen«, verkündete er. »Sie haben geparkt und suchen den Tatort. Stehen vor der Taverne mit den vielen Tischen. Joke, bist du so nett und lotst sie her?«

Der lange Insulaner nickte und wandte sich dem Ausgang zu. Ehe er aber nach dem Vorhang greifen konnte, flog dieser auseinander, und eine bizarre Gestalt trat ein, die so unglaublich aussah, dass Madame Nirmala dagegen wie eine Supermarktkassiererin gewirkt hätte. Die Gestalt war männlich, mittelgroß und dermaßen ausgemergelt, dass sie wie ein mit Leder bespanntes Skelett aussah. Dazu passte auch die dunkel gedörrte Gesichtshaut. Den Schädel umwallte ein Bausch weißer Haare, die Augen lagen hinter flaschenbodendicken Brillengläsern verborgen. Die Gestalt war weiß gekleidet, und von ihren Schultern wehte ein ebenfalls weißer Umhang, der sich …

Falsch. Nidal Ekinci stellte fest, dass seine Erinnerung im Begriff war, ihm dummes Zeug vorzumachen. Gewöhnlich trug Gerichtsmediziner Doktor Mergner einen weißen Kittel, der sich hinter seiner minimalistischen Figur bauschte wie ein langes Cape. Heute aber trug er wirklich einen Umhang, und zwar einen dunkelblauen, annähernd bodenlangen, der mit goldenen Sternen übersät war. Dem Oberkommissar blieb der Mund offen stehen. Seinen Kollegen ging es nicht anders.

Doktor Mergner freute sich sichtlich über die ungläubigen Mienen zu seinem Empfang. »Gott zum Gruße, liebe Kolleginnen und Kollegen«, hauchte seine Grabesstimme, die wie immer so klang, als käme sie aus einer weit entfernten Galaxis. »Ich dachte mir, wenn ich schon am Wochenende auf einen Mittelaltermarkt gerufen werde, dann macht die Arbeit doch mehr Spaß, wenn ich angemessen gewandet erscheine und mitspiele, nicht wahr?«

Dann war es an ihm zu staunen, weil alle so lachten.

3.

Einen Moment lang fühlte er sich an diesem Ort so wie früher in der Schule, aber am späten Nachmittag, wenn außer ihm kein Schüler im Gebäude war. Wenn das Deckenlicht aus war und die Fenster sich im blanken Linoleum spiegelten, wenn es nach altem Schweiß und Schuhcreme roch, wenn es so still war, dass jedes Türangelknarren nachhallte, jeder Schritt raumfüllend klang und jedes Zufallen einer Automatiktür einen zusammenfahren ließ. Kam da der Lehrer, der einen einbestellt hatte, um die vergessenen Hausaufgaben nachzureichen? Bestimmt waren noch Fehler drin, bestimmt würde man gleich wieder dastehen, das Kinn auf der Brust, und einen weiteren Anschiss hinunterwürgen. Und es gab nichts, was man dagegen tun konnte!

Stahnke dachte nicht oft an die Schule zurück, und wenn, dann ungern. Seine Erinnerungen an diese Zeit waren düster, und auch die vielen Jahre, die seither vergangen waren, hatten es nicht vermocht, das Erlittene zu verklären. Auch nicht ansatzweise.

Der Vergleich der Polizeiinspektion Leer/Emden am Wochenende mit einer Schule im Ruhezustand passte natürlich hinten und vorne nicht, das musste Stahnke sich eingestehen. Verbrechen und Ordnungswidrigkeiten passierten auch außerhalb der Kernarbeitszeit, und natürlich waren viele seiner Kolleginnen und Kollegen auch am Sonnabend und Sonntag im Dienst. Unten an der Wache zum Beispiel hatte eine Menge Betrieb geherrscht, und die jungen Uniformierten, die dort Dienst taten, hatten seinen Gruß nur flüchtig erwidert. Einige von denen hatte der Erste Hauptkommissar bewusst noch nie zuvor gesehen. Konnte es sein, dass die auch ihn nicht kannten? Reingelassen hatten sie ihn immerhin, aber er hatte auch einen Dienstausweis und kannte den Türschlosscode.

Altes Eisen, dachte Stahnke, als er sich der Tür zu seinem Fachkommissariat näherte. Die Welt drehte sich ständig, andauernd kam Neues nach. Und Altes hatte seine Schuldigkeit getan, rückte an den Rand und wurde schließlich aussortiert. Pensionierung nannte man das hier. Ruhestand. Nicht mehr lange, dann drohte das auch ihm. Das machte ihn manchmal sehr unruhig.

Er öffnete die Bürotür und fuhr erschrocken zusammen, als ein lauter, heller Schrei ertönte. »Was ist das denn?«, rief er aus.

»Was wollen Sie denn hier?«, rief es zurück. »Wie kommen Sie hier rein?«

Die Stimme gehörte Sibylle Wiemken. Das erschrockene Gesicht auch. Was war mit der los? »Warum sollte ich hier nicht mehr reinkommen?«, fragte Stahnke ungehalten zurück. »Sibylle, was soll der Quatsch?«

»Stahnke?« Die Oberkommissarin schien aus allen Wolken zu fallen. »Bist du das? Wirklich?«

»Na hör mal! Ich hatte zwei Wochen Urlaub, das heißt doch nicht, dass ich durchs Zeitloch gefallen bin! Die zwei Wochen sind um, und dies ist immer noch mein Büro.« Er stutzte, kratzte sich an den weißblonden Stoppeln auf seinem Kopf. »Ist es doch noch, oder?«

»Aber natürlich.« Sibylle Wiemken lachte, teils erleichtert, teils beschämt. Und auch ein bisschen besorgt. »Es ist nur, dass du dich so verändert hast! Unglaublich. So ohne Deckenlicht habe ich dich zuerst echt nicht erkannt. Außerdem – dein erster Arbeitstag nach dem Urlaub ist Montag. Also morgen. Das weißt du doch, oder?«

»Ja, das weiß ich. Stell dir vor.« Er starrte seine Kollegin an. Oberkommissarin Sibylle Wiemken war ein mütterlicher Typ, obwohl sie gar keine Kinder hatte und deutlich jünger war als er. Klar, wer hier war das nicht? Sie war absolut loyal, gab alles für das Team, was in ihrer Kraft stand. Wie hätte er ihr ernsthaft böse sein können? Aber dieser Stachel piekste doch. Stahnke stemmte die Fäuste in die Seiten. »Sag mal, hast du mich gerade der möglichen Senilität bezichtigt? Von wegen, dass ich die Wochentage nicht mehr auseinanderhalten könnte?«

»Na hör mal, wenn du an einem Sonntagnachmittag ohne Not im Büro auftauchst, kann man schon auf Gedanken kommen.« Sie grinste schelmisch. »Und dann in diesem Aufzug! So kann dich doch keiner erkennen.«

»Wieso? Was für ein Aufzug?« Stahnke pflegte sich auch in seiner Freizeit korrekt anzuziehen. Okay, er trug keinen Schlips, aber das tat er sonst auch nur selten. Was also meinte die Frau?

»Na hör mal! Der Bart!« Jetzt lachte Sibylle schallend, so laut, dass es über den menschenleeren Korridor hallte. »Ich dachte schon, Markus Söder kommt zu Besuch! Was hast du dir denn dabei gedacht?«

»Gedacht? Ist doch nichts Besonderes. Kleine Typveränderung …« Schon wieder überlegte Stahnke, ob er wohl beleidigt sein müsste. Verglich ihn die Kollegin doch mit Söder, diesem großspurigen Food-Blogger aus Bayern, der ständig in sumpfig-braunen Gewässern fischte – Frechheit! Andererseits war dieser Söder rein körperlich eine stattliche Erscheinung, noch etwas größer und ein paar Jahre jünger als er. Im Karneval hatte der sich mal als Shrek verkleidet, das hatte Stahnke irgendwie gefallen.

»Kleine Typveränderung!« Stahnkes Kollegin konnte sich gar nicht beruhigen. »Jahrzehntelang läufst du herum wie das leibhaftige Klischee eines Tatortkommissars aus den 70ern, und plötzlich tauchst du auf mit Sauerkraut im Gesicht wie ein Frührentner bei der Gartenarbeit! Von wegen kleine Typveränderung. Das ist ein glasklarer Identitätsbruch!«

»Hast du getrunken? Bist du bei irgendeinem Straßenfest versackt und hast dich zum Ausnüchtern ins Büro geschlichen?« Stahnke war nun doch eingeschnappt. »Oder was treibst du an einem Sonntag an deinem Arbeitsplatz? Einen aktuellen Mordfall haben wir doch nicht laufen, oder? Das wüsste ich aus der Zeitung.«

»Wie man’s nimmt.« Sibylle Wiemken seufzte. »Es gibt einen Fall, der mir keine Ruhe lässt. Morgen soll entschieden werden, ob die Sache als Erweiterter Suizid eingestuft und abgelegt wird. Da will ich schnell noch die Akten auf Vordermann bringen, ehe sie morgen an die Staatsanwaltschaft gehen.«

Sibylle Wiemken war eine begnadete Aktenführerin. Stahnke wusste es sehr zu schätzen, dass sie mit ihrer peniblen Ordnungsliebe genau die Flankenlücke schloss, die bei ihm sonst weit offen gestanden hätte. Er hasste Papierkram, egal ob analog oder digital. Für einen findigen, gewissenlosen Rechtsanwalt wäre er damit ein gefundenes Fressen.

»Du meinst den Fall Renken?«, vergewisserte er sich.

Die Oberkommissarin nickte. »Bruno Renken, erfahrener Bauingenieur, als Straßenbauexperte und TÜV-Gutachter weltweit im Einsatz. Vater und mehrfacher Großvater. Dann werden auf seinem Dienst-PC Kinderporno-Dateien entdeckt, und als die Kollegen bei ihm zu Hause nachschauen, finden sie auf seinem Heimcomputer auch welche. Natürlich gibt es einen Riesenskandal, seine Auftraggeber kündigen alle Verträge, Rotary-Club und Kreisjägerschaft schmeißen ihn raus, seine Frau Elke droht, ihn zu verlassen. Dazu kommt es aber nicht, denn Elke Renken stirbt. Vergiftet mit Medikamenten. Bruno Renken, der ebenfalls eine Überdosis genommen hat, wird vom Notarzt gerettet, kommt gerade noch rechtzeitig ins Krankenhaus und überlebt.« Sibylle Renken lehnte sich zurück. »End of Story, sagt der Staatsanwalt. Erweiterter Suizid, er hatte Glück, sie nicht. Keine Mordabsicht nachweisbar.«

Stahnke zuckte mit den Schultern. »Ist nachvollziehbar. Bestimmt ist er größer und schwerer als seine Frau, richtig? Wenn dann beide dieselbe Dosis Gift bekommen, kann das für sie tödlich sein, für ihn aber nicht.«

»Siehst du!« Sibylle Wiemkens Stimme klang triumphierend. »Du weißt das! Bruno Renken doch bestimmt auch, wetten?«

»Hallo, ich bin Kriminalpolizist, ich muss so was wissen«, erwiderte Stahnke dünnhäutig. »Er ist Straßenbauer. Woher sollte er die Info haben?«

»Woher? Nennt sich Internet«, schoss die Oberkommissarin zurück. »Solche Informationen sind heutzutage frei verfügbar! Kannst du googeln, da kommt seitenweise Stoff.«

»Die genaue Dosierung etwa auch?«, schnappte Stahnke. »Was für ein Zeug hat der Mann überhaupt benutzt? Rattengift wohl nicht. Insulin vielleicht?«

»Nee, Insulin käme infrage, war aber nicht zur Hand.« Sibylle Wiemken wechselte in einen weniger aggressiven Ton. »Tatsächlich waren es Herztabletten. Die hatte Bruno Renken erst kurz zuvor im Krankenhaus verschrieben bekommen, wegen der großen Aufregung, die ihm auf die Pumpe geschlagen ist. Das E-Rezept hat beim ersten Versuch nicht funktioniert, dafür beim zweiten gleich doppelt. So hatte er genügend von dem Zeug zur Hand.«

»Herztabletten«, wiederholte Stahnke. »Sind die nicht sehr bitter? Wie kann man die in größerer Menge heimlich verabreichen, ohne dass die Betroffene das merkt?«

»Nicht alle sind bitter, das hängt vom Wirkstoff ab.« Die Oberkommissarin hatte sich offenkundig in die Materie eingearbeitet. »In diesem Fall waren die Dinger aber wirklich bitter. Bruno Renken hat die Tabletten gemörsert und seiner Frau in den Campari gemischt. Er sagte aus, sie hätten gerne abends zusammen einen Campari getrunken, seit dem Italien-Urlaub letztes Jahr. Ob seine Frau etwas geschmeckt hat, werden wir nie erfahren. Bruno Renken behauptet, sie hätte nichts gemerkt.«

»Du hast den Mann auf dem Kieker, stimmt’s?«, fragte Stahnke. Alles, was er in den letzten Minuten über Bruno Renken gehört hatte, nahm ihn gegen ihn ein, und zwar richtig. Aber genau darin lag für jeden Ermittler eine Gefahr. Voreingenommenheit war Gift, und wenn einem die nachgewiesen werden konnte, war man als Kriminalbeamter erledigt.

»Seine Frau hat seinerzeit unsere IT-Kollegen ins Haus gelassen, obwohl es keinen Durchsuchungsbeschluss gab«, sagte Sibylle Wiemken. »Sowie sie von den Vorwürfen erfahren hatte, hat sie das Haus verlassen, ist ins Hotel gezogen und hat sofort die gemeinsamen Kinder informiert. Sie hat einen Beschluss erwirkt, dass sie ihre persönlichen Dinge aus dem Haus holen konnte, während ihr Gatte unter polizeilicher Aufsicht stand. Sie hat ihren Mann in keiner Weise unterstützt, hat keinerlei Loyalität gezeigt, wie man sie von Ehepartnern erwarten kann. So etwas wie Unschuldsvermutung hat sie nicht gelten lassen. Wohlgemerkt, angesichts der Schwere der Vorwürfe habe ich dafür großes Verständnis! Aber wenn man die Sache aus der Perspektive des Ehemanns betrachtet, ergibt sich daraus ein ernsthaftes Mordmotiv.«

Stahnke nickte. Das klang wohldurchdacht. Dabei hatte seine Kollegin einen möglichen Femizid noch gar nicht erwähnt. Die Frau plante, ihren Mann zu verlassen, was ihm womöglich gegen Ehre und Stolz ging. Und was er nicht mehr haben konnte, das sollte auch kein anderer Mann haben. Diese Sichtweise war keine orientalische Spezialität. Stahnke kannte genügend deutschstämmige Kerle, die genauso dachten.

Das Telefon klingelte. Sibylle Wiemken meldete sich und horchte kurz. Dann streckte sie Stahnke den Hörer hin: »Für dich.«

»Wer kann denn da durch Wände gucken«, knurrte der Erste Hauptkommissar und griff zu. »Ja?«

»Ich«, ertönte eine wohlbekannte Stimme. »Wie du weißt, sind wir Orientalen von Natur aus zauberkundig, mit oder ohne Wunderlampe. Daher wusste ich natürlich, dass dein Urlaub vorbei ist und du am heiligen Sonntag durch die Gänge deiner geliebten Polizeiinspektion wandelst. Denk bloß nicht, das hätte mir der Kollege von der Wache erzählt, den ich gerade eben am Telefon hatte!«

»Moin, Nidal, kleiner Spinner.« Stahnke hatte einen Ruf zu wahren. Ekinci wusste genau, dass sein früherer Chef große Stücke auf ihn hielt, also brauchte er immer mal eins zwischen die Hörner, damit er nicht übermütig wurde. »Was gibt es, was soll der Telefonterror?«

»Kleine Bitte um Amtshilfe. Erkundigungen einholen über ein Mordopfer. Wohnte und arbeitete in Oldenburg.«

»Das ist typisch! Kriegt ihr in Leer eure Sachen mal wieder nicht allein geregelt.« Solche Frotzeleien kamen ganz automatisch heraus, Stahnke hörte sich selbst überhaupt nicht zu. »Um wen geht es denn, kennen wir den?«

»Jörg Visser, 48 Jahre. War tatsächlich schon Kunde bei uns. Mehrere Verurteilungen wegen BTM, kam aber immer mit Bewährungsstrafen davon. Seit einigen Jahren nicht mehr straffällig geworden. Arbeitete vermutlich als Haustechniker in einem größeren Bürokomplex in Oldenburg. Dort ist er auch wohnhaft gemeldet. Ammerländer Heerstraße, sagt dir das was?«

»Na klar.« Die Ammerländer Heerstraße war eine der Magistralen, die die alte Residenzstadt Oldenburg strahlenförmig durchschnitten. »Bei wem dort war Visser beschäftigt?«

»Arbeitgeber ist eine Anwaltskanzlei namens Wolfram Hart.«

»Wolfram Hart?«, fragte Stahnke erstaunt. Er angelte nach der Lehne eines Schreibtischstuhls und setzte sich.

»Wolfram Hart?«, echote Sibylle Wiemken.

»Ihr kennt ihn?«, fragte Nidal Ekinci, der Ohren hatte wie ein Luchs.

»Lange her«, erwiderte Stahnke und schaute seine Kollegin fragend an. Die wich seinem Blick aus.

»Seid ihr so nett und erkundigt euch, was Visser bei Hart in letzter Zeit so getrieben hat?«, bat Ekinci. »Und ob irgendwas davon mit größeren Mengen Bargeld zu tun hatte.«

»Bargeld? Wie viel?«

»Schwer zu sagen.« Der Oberkommissar aus Leer berichtete in groben Zügen, was sie bei dem Toten gefunden hatten – und was nicht.

»Klingt eher nach einem Rückfall in alte Dealer-Zeiten als nach einer Auftragsarbeit für eine ehrbare Anwaltskanzlei«, knurrte Stahnke. »Wenn es denn eine ist. Aber in Ordnung, ich tu dir den Gefallen. Da ihr das offenbar ohne uns nicht hinkriegt.«

»Mann, Stahnke, das ist eine Art Rummelplatz hier!«, stöhnte Ekinci. »Tausende Menschen, Hunderte potenzielle Augenzeugen, Dutzende von Befragungen! Das schaffen wir heute gar nicht, damit haben wir bestimmt noch die nächsten beiden Tage zu tun. Keiner von uns hat die Zeit für einen Trip nach Oldenburg. Amtshilfe wäre echt nett! Oder steppt bei euch auch der Bär?«

Stahnke ließ seinen Blick über die verwaisten Arbeitsplätze im Großraumbüro wandern, bis er wieder bei Sibylle Wiemken landete. »Prinzipiell immer«, behauptete er. »Aber wir wollen mal nicht so sein. Ich melde mich morgen.«

Er legte auf und ließ seinen Stuhl hinüber zum Schreibtisch seiner Kollegin rollen. »Du kennst Wolfram Hart?«, fragte er.

Sibylle Wiemken nickte. »Er vertritt Bruno Renken. Nicht er persönlich, sondern einer seiner jüngeren Mitarbeiter.«

»Der Glückliche«, sagte Stahnke. »Sein Klient ist entweder unschuldig oder er hat das perfekte Verbrechen begangen. Entweder das Verfahren wird niedergeschlagen, was die Staatsanwaltschaft offenbar vorhat, oder es gibt Freispruch. Klare Kiste.«

»Überhaupt nicht«, zischte die Oberkommissarin. »Nur über meine …« Sie unterbrach sich.

»Karteileiche?«, schlug Stahnke vor.

Sibylle Wiemken lächelte matt. »Witzig«, log sie. »Und du? Woher kennst du Wolfram Hart?«

»Lange her«, murmelte Stahnke versonnen. »Sehr lange.«

4.

»Zu-gleich! Zu-gleich!« Leni brüllte in ihre Flüstertüte wie eine Wahnsinnige, ihre Stimme schnappte über. »Zu-gleich!« Direkt vor Stahnke türmte sich der gewaltige Rücken des Schlagmanns auf wie eine gewölbte Wand. Vor und zurück, vor und zurück. »Zu-gleich!« Weiß lackierte Blätter tauchten ins Hafenwasser, Riemenschäfte bogen sich unter dem Zug, der das lange, schlanke Boot unwiderstehlich voran katapultierte. Wellen wurden zerteilt, Gischt spritzte auf erhitzte Körper. Dicke Muskeln zuckten unter dünnen Trikots. Mit jedem Schlag schmerzten sie mehr. Es zwiebelte und brannte, Stahnke hielt es kaum noch aus. »Zu-gleich!« Wie lange noch? Um Himmels willen, wie lange noch?

»Riemen auf!«, brüllte der Trainer aus dem Begleitboot. »Dreieinhalb Sekunden über Richtzeit! Lahme Vorstellung, ihr Krücken! Hängt euch nächstens gefälligst mehr rein, sonst schafft ihr es niemals zur Deutschen.«