Der Tote im Maisfeld - Theodor J. Reisdorf - E-Book

Der Tote im Maisfeld E-Book

Theodor J. Reisdorf

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Beschreibung

In der Schule wurde Enno Athing nur das 'Ekel' genannt. Mit Gehässigkeiten und Beleidigungen setzte er sich zur Wehr. Vergeblich versuchten ihn seine Eltern auf den richtigen Weg zu bringen. Als ihn dann noch seine Freundin verlässt, geht es mit Enno steil bergab. Er gerät in dunkle Kreise, und als die Polizei durch Zufall auf die Leiche eines Mannes stößt, vergraben in einem Maisfeld, findet Enno sich plötzlich im Kreis der Verdächtigen wieder. Doch die Kommissare Rodenkamp und Drinkler können ihn nicht mehr vernehmen. Von einem Tag zum anderen verschwindet Enno Athing wie vom Erdboden verschluckt ...

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Inhalt

CoverInhaltÜber den AutorTitelImpressumDer Tote im MaisfeldNachtrag

Über den Autor

Theodor J. Reisdorf, geboren 1935 in Neuss, reiste quer durch Europa und Nordafrika, arbeitete in vielen Berufen, machte in Wilhelmshaven das Abitur und studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Hamburg, Köln und Mannheim. Nach dem Abschluss zum Dipl.-Handelslehrer folgte die Lehrtätigkeit in Aachen, Norden und Emden. 1997 wurde er als Oberstudienrat pensioniert. Er wohnt in Ostfriesland und schreibt als »Meister des Friesenkrimis« spannende Romane über Land, Leute und Leichen.

Theodor J. Reisdorf

Der Toteim Maisfeld

Kriminalroman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2005/2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelbild: Mauritius Images

Umschlaggestaltung: Bianca Sebastian

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-8387-4652-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Am späten Nachmittag des 7. Dezember war es früh dunkel. Schon seit Tagen regnete es. Der aufgebriste Nordwestwind heulte um die Stallungen. Im Licht der Außenlampe fiel der dampfende Mist vom Transportband klatschend, nass und patschig auf den hoch geschichteten Haufen.

Alrich Athing, der zweiundfünfzigjährige Landwirt, Inhaber und Eigentümer des Sielhofes, sprach mit seinen Kühen, lehnte seinen breiten Rücken gegen ihre Leiber und mistete die engen Stallgänge aus.

Er trug eine fleckige Drillichhose, einen abgetragenen Jagdpullover, Gummistiefel und eine Steppweste, die ihn vor der feuchten Zugluft schützte. Sein graues, volles Haar bedeckte eine abgegriffene Prinz-Heinrich-Mütze.

Alrich Athing war eine stattliche Erscheinung. Er war hoch gewachsen und hatte eine kräftige Figur. Er galt für alle, mit denen er es zu tun hatte, als ein verlässlicher Partner, erst recht für seine Frau Gesine, die ihm unermüdlich zur Seite stand, den alteingesessenen Sielhof bei schrumpfenden Erträgen, bei bse-Seuche, Futterskandal, gesunkenen Erzeugerpreisen, verregneten Sommern und ohne Personal um die Klippen zu steuern.

Dabei mussten die Athings nicht um ihre Zukunft bangen. Ihre Äcker grenzten an die Bebauungsgebiete von Greetsiel. Sie hatten keine Schulden. Ihre Einzahlungen in die Rentenversicherung boten eine weitere Alterssicherung. Sie hatten am Boom des Aktienmarktes regen Anteil genommen und waren früh genug ausgestiegen, als die Kurse auf ein Rekordtief zu sinken begannen.

Sorgen bereitete ihnen ihr Sohn Enno. Bereits bei seiner Geburt hatte es Komplikationen gegeben, die dazu geführt hatten, dass er ohne Geschwister aufgewachsen war. Sie hatten ihn liebevoll umsorgt, ihn verhätschelt – was mehr auf Gesine als auf Alrich Athing zutraf – und ihm all das zukommen lassen, was für Stadtkinder eine Selbstverständlichkeit war.

Seit 1745, als in Greetsiel die Schleuse erbaut wurde, die das Fischerdorf vor großen Sturmfluten schützte, bewirtschafteten die Athings den Sielhof. Auf dem Warfenfriedhof vor der Kirche konnten Interessierte die Erbfolge von den Grabsteinen ablesen. Ihr Sohn Enno galt als Garant für die Fortsetzung der Tradition in das neue Jahrtausend.

Enno schaffte als »Landkind« die ersten Hürden. Er wechselte zum Henry-Nannen-Gymnasium in Emden über.

Zu seinem sechzehnten Geburtstag ließen die Athings in der unbenutzten ersten Etage des respektablen »Herrenhauses« für Enno die alten Zimmer zu einem modernen Apartment mit Bad, Duschecke, Wohn-, Schlaf- und Studierzimmer herrichten. Sie bezahlten großzügig das Inventar, das der Sohn nach vielen Besuchen in den Möbelhäusern, ja selbst bei ikea in Delmenhorst, zusammenkaufte. Dabei entsprach die Lebensweise des Sohnes nicht immer den Vorstellungen der Eltern.

Enno war unsportlich. Er liebte die Bequemlichkeit, aß gerne und viel, was dazu führte, dass er mächtig ansetzte. Er empfand dabei die Kritteleien seines Vaters unangebracht und reagierte trotzig, wenn Alrich ihm seine »Fresslust« vorwarf und seine Tapsigkeit bedauerte. Seine Mutter Gesine fand zartere Töne. Sie liebte ihren Sohn über alles, erzog ihn großzügig und grollte oft mit ihrem Mann wegen seiner rauen Art.

Gesine Athing war achtundvierzig Jahre alt und eine angesehene Bäuerin. Sie hatte eine gesetzte Figur, ein volles, rosiges Gesicht und trug ihr angegrautes Haar im Pagenschnitt. Sie wirkte klein an der Seite ihres Mannes und zierlich an der Seite ihres Sohnes Enno.

Alrich Athing fuhr aus seinen Gedanken, stellte das Transportband ab, kletterte auf den Boden und warf Stroh in die Stallung.

Die Kühe rasselten an ihren Ketten, ihren Mäulern entströmte der dampfende Atem.

Athing beendete seine Stallarbeit, schloss das große grüne Tor, löschte die Lichter, betrat die Milchküche und zog seine Stiefel aus. Seine Frau hatte die Kannen bereits gespült, die Siebe ausgewaschen. Die Kühlanlage rauschte.

»Feierabend«, sprach er vor sich hin. Er dachte an Enno, der nach dem Tee mit Freunden nach Emden gefahren war, um dort in der Nordseehalle an einem Pop-Spektakel teilzunehmen. Alrich Athing passte die Richtung nicht. Enno wirkte in seinen »affigen« Klamotten und mit dem Lagerfeld-Schwänzchen abstoßend auf ihn.

Enno Athing hatte ein weiches Gesicht mit aufgeworfenen Lippen und einer Stupsnase. Seine Stirn war breit, seine Augenbrauen schmal. Der Blick aus seinen grüngrauen Augen wirkte abweisend und skeptisch. Er trug sein blondes Haar zu einem Lagerfeld-Schwanz abgebunden, was seine Sensibilität unterstrich.

Ihm fehlte es an Vitalität, an Mumm, wie sein Vater bitter feststellte. Enno hatte breite Schultern und wirkte mit dem kurzen Hals bullig. Er war mittelgroß und gehörte zu der Kategorie von Menschen, die mit Bauch, stämmigen Armen, muskulösen Beinen und breitem Hinterteil, galant ausgedrückt, »Dickerchen« genannt wurden und den Eindruck erweckten, mit strotzender Kraft ausgerüstet zu sein. Doch der Schein trog. Enno Athing war zart besaitet und mimosenhaft empfindlich. Er reagierte feinfühlig und brachte mit Witz und bissigem Humor seine Mitschüler, die ihn wegen seiner Körperfülle und seines unvorteilhaften Aussehens hänselten, aus der Fassung.

Das trug allerdings nicht zu seiner Sympathie bei. Mit seiner gereizten Wachsamkeit verunsicherte er zusätzlich seine Lehrer.

Enno Athing igelte sich ein, zeigte Stacheln, wenn es galt, Spott und Geringschätzigkeit hinzunehmen. Er war kein »Adonis«, das hatte ihm schon früh der Blick in den Spiegel bestätigt. Er fühlte sich deswegen häufig zurückgesetzt und übersehen, wenn die Lehrer den Unterricht mit den »Schönen« und »Schlanken« durchzogen und ihn mit gekünsteltem Lächeln aus seiner Reserviertheit lockten.

Erst recht war ihm der Sportunterricht ein Gräuel. Das Gekicher der Mädchen ging ihm unter die Haut, wenn er ungelenk, schwergewichtig und tapsig nach dem Ball griff. Nur beim Diskuswerfen und Kugelstoßen fand er Gelegenheit, über seine Mitschüler zu triumphieren. Er stieß die Kugel in eine Weite, die nie vor ihm ein Schüler des Henry-Nannen-Gymnasiums erreicht hatte.

Weil Enno viel und oft schwitzte, seiner Kleidung zusätzlich an nassen Tagen der Dunggeruch entströmte, wollte sich niemand neben ihn setzen, was ihn dazu verleitete, seine Bewegungsfreiheit in lascher Körperhaltung zu demonstrieren.

Enno Athing, oft in die Enge gedrängt, trug mit seinem Verhalten selbst dazu bei, dass er sich zu dem entwickelte, was seine Lehrer und Mitschüler von ihm hielten, nämlich zu einem »Ekel«.

Auch mit seinem Papa, der sich bemühte, ihn als letzten Spross der angesehenen Familie auf seine Rolle als Erbe vorzubereiten, sich dabei auf die Ahnen und die Tradition des »Sielhofes« berief, kam es häufig zu Reibereien. Erst recht im November, wenn die Jagd eröffnet wurde und Enno sich außer Stande fühlte, stundenlang mit dem Gewehr im Anschlag über Weiden, Felder und Äcker zu stolpern, um Hasen zu erwischen. Hinzu kam, dass Enno seinem Papa – er war Vorsitzender des Boßelvereins »He löppt« – offen seine Abneigung für den ostfriesischen Volkssport zeigte. Die Kugel von sich in die Weite der Straße zu werfen, sie mit einem Kurvendrall zu versehen, das gelang ihm bewiesenermaßen, doch die hämischen Blicke der durchtrainierten Vereinskameraden, wenn sein Bauch wabbelte, waren für ihn unerträglich gewesen. Enno entsprach nicht den Vorstellungen seines Papas. Sein Trotz förderte seine Esslust.

Dann die Geburtstage von Mama und Papa. Wenn Tanten und Onkel, seine Kusinen und seine Vettern anreisten, um den großen Tisch im Wohnzimmer saßen und ihn liebevoll mit durchdringenden Blicken musterten, als sei er ein Ungeheuer, sich bei Tee und Butterkuchen nach seinen schulischen Leistungen und Berufswünschen erkundigten, fühlte er sich unwohl inmitten seiner gut aussehenden Verwandten. Dann wurde ihm zum Kotzen übel.

Enno Athing, so allein gelassen auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft, zog bereits früh das Fazit. Nicht nur die Lehrer und Mitschüler, sondern auch seine Familie lehnten ihn wegen seiner Dickleibigkeit ab. Er entsprach weder seinen hochverdienten Ahnen noch den im Fernsehen und in Illustrierten gehuldigten sportlichen, erfolgreichen Werbetypen, sondern erntete höchstens abfällige Blicke, die oft wehtaten.

Er suchte die Schuld nicht bei seinen Eltern. Seine Selbstanalyse trieb ihn in die Buchhandlungen. Er vertiefte sich in die Inhalte einschlägiger esoterischer Werke, in denen von Wiedergeburt und Karma die Rede war, wo das Prinzip von Ursache und Wirkung vorherrschte und der Zufall ausgeschlossen wurde. Enno begriff seine jetzige Existenz als konsequente Folge bisher gelebter Leben, um Fehlleistungen zu korrigieren. Böses, das man anderen zugefügt hatte, widerfuhr einem selbst. Uneingeschränkt dienten ihm diese Aussagen zur Erklärung seiner Misere. Diese Erkenntnisse blieben nicht ohne Folgen. Seine Philosophie trug erst recht nicht dazu bei, das Verhältnis zu seinen Eltern zu fördern. Im Gegenteil, Alrich Athing bezeichnete seinen Sohn als Spinner.

Enno besaß nur wenige Freunde, die ihn so akzeptierten, wie er nun mal war. Mehr aus Mitleid als aus Zuneigung luden sie ihn gelegentlich zum gemeinsamen Diskobesuch ein. Doch auch an diesen späten Abenden, wenn sich die Freunde auf der Tanzfläche mit den Mädchen vergnügten, saß er wie ein Koloss vereinsamt am Tisch, nippte am Bierglas und sehnte sich nach einer Freundin, die bereit war, seine Anwesenheit zu dulden und ihm zuzuhören.

An einem Samstag geschah im »Madison« das Wunder. Hetta Vestera, sie besuchte mit ihm einen Englisch-Kurs, trat an seinen Tisch. Sie war gut drauf.

»He, Enno, komm mit zum Tresen, trinken wir einen ›Charly‹ auf gute Kursergebnisse! Scheiß Mrs Beastly«, sagte sie flapsig.

»Adele Bartling ist immerhin die Kollegin deines Vaters«, antwortete Enno. Er erhob sich schwerfällig und verließ den Tisch, zu dem die Freunde noch nicht zurückgefunden hatten.

Hetta nahm ihn an die Hand und führte ihn zum Tresen.

»Zwei Charly«, bestellte sie bei der Bedienung.

Sie setzten sich auf die Hocker.

»Elf Meter dreißig beim Kugelstoßen! Alle Achtung, Enno«, sagte sie geschwätzig.

»Ach, das weißt du?«, fragte Enno überrascht.

Hetta nickte.

»Und fünfzehn Minuten beim Hundert-Meter-Lauf«, scherzte Enno.

»Lass den Scheiß! Warum immer so reserviert? Dein Referat in ›Werte und Normen‹ fand ich Klasse«, sagte sie.

Die Serviererin reichte ihnen die Gläser an.

Enno griff zum Portmonee.

»Ich zahle«, sagte Hetta forsch.

Sie nahmen die Gläser und prosteten sich zu.

Hetta Vestera war schön. Nie und nimmer hätte er es für möglich gehalten, dass sie an seiner Seite saß und ihn anlächelte.

»Enno, dein Referat über das ›Karma‹ – ob gesponnen oder wahr, das sei dahingestellt – hat mich tief berührt«, sagte Hetta. »Selbst Dr. Hersen war beeindruckt, wie ich zu Hause erfuhr.« Sie nahm einen Schluck zu sich.

»Ein leidiges Thema«, antwortete er. »Schau mich an! Die Leute blicken hinter mir her, wenn ich spazieren gehe oder mit dem Fahrrad an ihnen vorbeifahre! Karma!«

»Bitte genauer«, meinte Hetta.

Enno wusste zu berichten. Er führte Beispiele an, die den Rahmen seines Referates gesprengt und die unbedarften Mitschüler weit überfordert hätten.

Hetta Vestera war fasziniert. Auch sie glaubte an ein Leben nach dem Tod und an schicksalhafte Fügungen. Für sie gab es keine Zufälle, und so betrachtete sie das Zusammentreffen mit dem stillen, abgelehnten Enno Athing als einen weiteren Hinweis ihres philosophischen Ansatzes.

An diesem späten Abend fühlten sie eine aufkeimende Sympathie füreinander. Sie entschlossen sich, das Gespräch über das Thema, das weder ihre Eltern noch ihre Mitschüler vom Hocker riss – mehr noch, sie als Spinner in das Abseits drängte –, später fortzusetzen.

Nicht nur die Mitschüler und Mitschülerinnen, sondern auch die Lehrer fanden keine Antwort auf die Frage, was die »schöne Hetta« an diesem Ekel fand, die mit ihm Händchen hielt, ihn umarmte, ihn hin und wieder küsste und sich während der Unterrichtspausen mit ihm auf dem Schulhof den neugierigen Blicken aussetzte.

Das ungleiche Pärchen erregte die Aufmerksamkeit der Passanten, wenn es zwischen den Sielen oder über die Brückstraße herausfordernd ihren neugierigen Blicken standhielt.

Oft sah man sie im »Grand Café« am Stadtgarten, beim Tee, den Tisch voller Bücher.

Die Lehrer des Henry-Nannen-Gymnasiums empfanden, je nach dem Verhältnis zu ihrem Kollegen Dr. Vestera, Schadenfreude oder eine Art von Mitleid.

Erst recht zu Haus im Einfamilienhaus an der Kolwalder Straße, mit hoher Wohnkultur, musizierender Mama und ihrem Papa, dem Verfechter alter, traditioneller Werte, gab es eine Menge Ärger. Während der heftigen Auseinandersetzungen setzte sich Hetta fanatisch mit den Begriffen wie »Reinkarnation«, »Seelenverwandtschaft« und »Karma« zur Wehr, mit denen sie ihre Eltern noch mehr aufbrachte. Es folgte das verständnislose Bedauern, die Versuche, die Tochter nicht ins Sektiererische abgleiten zu lassen. Dabei stießen Tomma und Tebbo Vestera auf Granit. Schmollend nahm die Tochter hin, was nicht zu ändern war. Sie beharrte auf ihrer neuen Glaubensbasis und sah in Enno den Garanten ihres Glücks.

Da Hetta dabei ihr Schulpensum nicht aus den Augen verlor und ihre Leistungen mehr als zufrieden stellend waren, stellte Tomma Vestera ihrem Mann, nachdem der erste Ärger verflogen war, am Nachmittag mit ernstem Gesicht die Frage, während sie den Tee einschenkte: »Was ist eigentlich so verwerflich an Hettas Beziehung zu dem Jungen?«

Sie tranken den Tee und suchten nach Wegen, ihre vergrellte Tochter zurückzugewinnen.

Tebbo Vestera stieg das Blut in den Kopf.

»Der Gedanke, dass sie in der Tat mit diesem wabbeligen, dickarschigen Ekel schläft und er sich anmaßt, uns als Schwiegersohn zu beglücken, lässt mir keine Ruhe«, antwortete Tebbo Vestera mit sorgenvollem Blick und griff zur Teetasse. Er nahm einen Schluck zu sich, stand auf, holte aus seinem Arbeitszimmer sein Rauchertäschchen, stopfte eine Pfeife, zündete den Tabak an und paffte nervös.

Tomma steckte sich eine Zigarette an. »Deine Ablehnung fußt auf ästhetischen Vorstellungen«, sagte sie. »Hetta zeigte mir ein Foto. Enno Athing ist weder ein gut aussehender junger Mann noch ein Beau, nach dem sich die Mädchen die Hälse verrenken. Er ist kein Habenichts, der es auf unseren kleinen Wohlstand abgesehen hat, sondern der Sohn einer alteingesessenen Familie aus Greetsiel und damit der spätere Erbe eines landwirtschaftlichen Anwesens mit Tradition. Wie ich in Erfahrung brachte, zählen die Äcker und Weiden des Sielhofes zum Bauerwartungsland. Ein beruhigender Gedanke bei der Sorge um die Deern. Wir müssen den jungen Mann nicht mögen.« Sie blies den Rauch von sich und schenkte Tee nach.

»Den Scheißer mag außer Hetta niemand«, antwortete Tebbo. Zornig bearbeitete er mit dem Stopfer die Glut seiner Pfeife.

Dr. Tebbo Vestera hatte schlichtes, angegrautes Haar, das er gescheitelt trug. Er war schlank und mittelgroß. Sein Gesicht wirkte streng mit den Falten um seine spitze Nase. Seine Lippen waren schmal, sein Kinn eckig. Es strahlte das aus, was ihn Zeit seines Lebens geprägt hatte: Er galt als pingeliger Beamter. Stand ein für Recht und Ordnung. Liebte die alten preußischen Tugenden und hatte den Laschheiten der Schüler den Kampf angesagt.

Doch dabei fühlte er sich verlassen und einsam an der Front. Das Ersitzen von Noten nur wegen der Anwesenheit hasste er wie die Pest und geriet bei den Zeugniskonferenzen oft ins Kreuzfeuer der Kritik seiner jungen Kollegen. Umso mehr schämte er sich wegen des Geredes um seine Tochter, die sie mit allen herkömmlichen, überlieferten Werten erzogen hatten.

Tomma Vestera trug ihr Haar schulterlang. Sie hatte ein breites Gesicht mit einer steilen Nase und vollen Lippen. Ihre Augen waren grünlich grau. Sie wirkte ein wenig pummelig, bevorzugte Röcke und ausgefallene, herb wirkende, lang fallende Blusenhemden. Sie hatte Musik studiert und unterrichtete am »Althusius-Gymnasium«. Ihre ruhige, phlegmatische Ausstrahlung stand im Gegensatz zu den hektischen Eigenschaften ihres Mannes.

»Vielleicht ist etwas dran an dem Gerede um die Wiedergeburt und karmatische Verflechtungen«, warf sie einlenkend ein und drückte die Kippe in den Ascher.

»Dann wird es höchste Zeit, die Notbremse zu ziehen und Hetta vor dem Schwachsinn zu schützen«, antwortete Tebbo Vestera, griff zum Aschenbecher und klopfte seine Pfeife aus.

Seine Frau lächelte ironisch. »Noch brechen die Dämme nicht. Ich gebe Hetta unsere Konzertkarten. Die Prager Symphoniker spielen ›Mahler‹ im Neuen Theater. Grund genug für Hetta und ihren Freund, sich davonzuträumen«, sagte sie einlenkend.

Tebbo nickte nachdenklich. »Mit Musik geht alles besser«, antwortete er ironisch.

In die gemütliche Bauernstube mit der alten Eckbank und dem wuchtigen Esstisch fiel das Licht der tief hängenden ostfriesischen Steingutlampe.

Gesine Athing hatte das Teegeschirr mit der ostfriesischen Rose aufgetragen. Seitlich an der Wand stand der hohe Eichenschrank. Er hatte breite Türen und wuchtige Schubladen. Im oberen Teil der im »Goldenen Schnitt« gehaltenen Abschlusskante prangte tief eingekerbt »Anno 1748«, umrankt von einem stilisierten Eichenkranz. Vor dem Fenster stand der antike Schreibtisch, von dem aus Alrich Athing wie sein Großvater und Vater seinen Betrieb leitete. Eine Vitrine mit Glasaufsatz enthielt kostbares Delfter und Meißner Porzellan, das die Athings nie benutzten. Den Kamin zierten Delfter Kacheln mit Seemotiven. Die Zimmerdecke durchzogen verräucherte Balken.

Abgesehen von den Sesseln und dem Kamintisch, die sie vor mehr als zwanzig Jahren zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit angeschafft hatten, war die Erneuerung der Heizung die letzte Investition gewesen. Die Wände zierten Gemälde, die Alrichs Vorfahren mit lächelnden Gesichtern in den alten Roben zeigten. Abgesehen vom Fernseher, der auf einer alten Truhe stand, war hier die Zeit stehen geblieben.

In diesem muffigen Wohnzimmer hatte Enno im Ställchen mit Krabbelnetz gelegen, von der Zugehfrau umsorgt. Danach hatte er mit kleinen Schritten den Gehwagen über die Bohlen gelenkt. Später hatte ihm das alte Mobiliar Halt geboten, wenn er zur Freude seiner Eltern ihren geöffneten Armen entgegengestapft war.

Am späten Nachmittag nahmen Alrich und seine Frau Gesine mit dem Sohn den Tee ein. Gesine hatte »Friesische Leidenschaften«, ein Blätterteiggebäck, eine Spezialität aus Jever, in einer Schale bereitgestellt.

Enno langte zu, knabberte die Plätzchen und übersah den vorwurfsvollen Blick des Papas. Enno, der oft muffelig am Tisch saß, wenn er an der Teestunde teilnahm, wirkte an diesem Spätnachmittag aufgeräumt. In seinem feisten Gesicht lag ein hinterlistiges Lächeln.

Weder Alrich noch Gesine Athing war entgangen, dass ihr Sohn sich zu ihrer Freude ernsthafter als je zuvor seinen schulischen Verpflichtungen hingab, ihren Zweitwagen benutzte, um sich nach Büchern in der Bibliothek der Fachhochschule umzuschauen.

»Ich denke, ihr habt nichts dagegen, wenn ich euch meine Freundin vorstelle?«, fragte er, griff zur Teetasse und nahm einen Schluck zu sich.

»Ach!«, entfuhr es Athing überrascht, und er bemerkte den kurzen glücklichen Blick, den Gesine ihm zuwarf.

»Mama, sie wird dir gefallen. Sie ist hübsch und kommt aus einem guten Haus«, sagte Enno, setzte die Tasse ab und knabberte ein Plätzchen.

»So kurz vor dem Abitur«, bemerkte Athing misstrauisch.

Enno lachte selbstgefällig. »Bis dahin ist noch eine Weile«, antwortete er. »Ihr Vater ist übrigens Pauker am Henry-Nannen-Gymnasium. Er gibt Mathe. Ihre Mutter unterrichtet Musik am Althusius-Gymnasium. Hetta macht mit mir das Abi.«

Er wunderte sich über die Reaktion seiner Eltern, die ihn mit ernsten Gesichtern anschauten, ohne seine Freude zu erwidern.

»Ich bin erwachsen und darf bei der nächsten Bundestagswahl schon meine Stimme abgeben«, frotzelte er belustigt.

Athing nickte. »Deinen Rechten stehen Pflichten gegenüber. Soweit du Maß hältst, gibt es für mich keinen Grund, mich da einzumischen. Nicht wahr, Mutter?« Er blickte seine Frau an.

»Junge, sie muss dir gefallen«, antwortete Gesine. »Deine erste große Liebe!« Sie strich Enno mit der Hand über das Haar, ohne den Lagerfeld-Schwanz zu berühren, den sie an Enno nicht leiden mochte.

Alrich Athing schwieg.

»Wir werden nett zu ihr sein«, sagte die Mama mit einem freundlichen Lächeln.

»Liebe macht blind«, zitierte Tebbo Vestera eine alte Spruchweisheit, als seine Frau den Kamintisch mit dem Geschirr der ostfriesischen Rose eindeckte.

»Bitte unterlass deine Sprüche!«, antwortete Tomma Vestera ernst. »Willst du unser Kind aus dem Haus vertreiben? Hetta liebt den jungen Mann! Sie fühlt sich zu ihm hingezogen, bewundert sein Wissen.«

»Seelenverwandtschaft! Reicher Knabe vom Sielhof!«, warf Tebbo ironisch ein, legte auf das trockene Anmachholz Birkenscheite, schob unter den gerichteten Stapel einen Anthrazitwürfel, zündete ihn an und fuhr lästernd fort: »Heizen wir unserem zukünftigen Schwiegersohn bereits bei seinem ersten Besuch tüchtig ein.«

Tomma trug den Butterkuchen an den Tisch.

»Bitte Tebbo, halte dich an die Tatsachen, die wir hinnehmen müssen«, antwortete Tomma gereizt. »Auf dem Sielhof gab es bereits einen Kamin, bevor wir bauten und uns diesen Luxus leisten konnten.«

»Du wirst dich wundern! Der Junge bringt gute hundert Kilo auf die Waage. Ein Athlet im Stoßen«, antwortete er anzüglich, grinste, nahm die Zange, rückte die Scheite zurecht und entfachte das Feuer. »Schulrekord im Diskuswerfen und Kugelstoßen«, fügte er ironisch hinzu.

»Das spricht für ihn. Er trinkt nicht und ist solide«, warf seine Frau ein.

»Richtig, er schleckt Eis und nascht«, konterte Dr. Tebbo Vestera belustigt.

»Bitte, du hast ihn persönlich noch nicht kennen gelernt. Du gehst nur deinen gehässigen Kollegen auf den Leim«, antwortete Tomma und blickte sich um. Sie verließ das Zimmer, ging zur Küche und bereitete mit dem Blick auf die Uhr den Tee zu. Sie war mächtig aufgeregt. Sie schaute durch das Küchenfenster in den dunklen Frühabendhimmel. Es hatte aufgehört zu regnen. Über den zunehmenden Mond huschten wattige Wolken. Es war kalt an diesem Märzabend. Der Wind heulte um das Haus, fuhr durch die hochgeschossenen Tannen.

Tomma dachte an die Jahre zurück, als sie sich im Alter ihrer Tochter in Heiko Bolsen, den Sohn des Zahnarztes, verliebt hatte. Und dann das Fiasko ihrer Trennung. Heiko studierte Maschinenbau in Aachen, und sie hatte es nach Göttingen verschlagen, um dort Musik zu studieren.

Tomma Vestera stieg aus ihren Gedanken, als sie den Dieselmotor eines Autos vernahm.

»Die Kinder«, sprach sie erwartungsvoll vor sich hin. Sie trug die Teekanne an den gedeckten Tisch und zündete das Teelicht im Stövchen an.

Tebbo erhob sich aus dem Sessel. »Auf die Plätze, fertig ...«, sagte er ironisch. Sie vernahmen das Läuten der Haustür. »Und los ...«, fügte er hinzu.

Er trug wie zum Unterricht seine Kordhose und über einem weißen Oberhemd einen V-Ausschnitt-Pullover, darunter eine Krawatte. Tomma hatte sich für ihre Jeans und ein navyblauen Rollkragenpullover entschieden. Sie sah fesch und jugendlich aus.

Tebbo Vestera ging zum Korridor, drückte den Lichtschalter, öffnete die Haustür. Sein Gesicht trug den pastoralen Ausdruck, den seine Schüler zur Genüge kannten, wenn er sich über ihre mäßigen Leistungen beschwerte und von »früher« sprach.

»Papa, mein Freund Enno Athing«, sagte die Tochter. Der schwergewichtige junge Mann reichte ihm die Hand zum Gruß. Das Licht der Außenleuchte fiel in sein rundes Gesicht.

»Angenehm, treten Sie ein, meine Frau erwartet euch«, sagte er freundlich.

Hetta gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Sie nahm den Freund an die Hand, der an ihrer Seite dem Wohnzimmer entgegenwatschelte.

Vestera verschloss die Haustür. Der Junge trug ein Jackett, dessen Schöße über seinen breiten Hintern fielen. Vestera blickte angewidert auf den Haarstrang, den ein Gummiband zusammenhielt. Der junge Mann hielt eine Plastiktüte hinter seinem breiten Rücken in seiner fleischigen linken Hand. Das Gastgeschenk für die Mama, dachte er und folgte dem Paar in das Wohnzimmer.

Im abgedunkelten Wohnzimmer – nur die Stehlampe vor dem Flügel war eingeschaltet – warfen die Flammen des Kaminfeuers zuckendes Licht.

Tomma kam den Kindern entgegen. Sie reichte dem Gast die Hand und bemühte sich um Haltung, wie Tebbo bemerkte. Er hörte, wie abgedroschen ihr das »Herzlich willkommen« über die Lippen ging.

»Mama, mein Freund«, flötete Hetta in die peinliche Szene.

»Ich bin Enno Athing«, sagte Enno, entnahm der Plastiktüte ein Glas und reichte es Tomma Vestera. »Ich bedanke mich für die Einladung. Statt Blumen, die schnell verwelken, eine Spezialität vom Sielhof. Mamas Meisterwerk. Ein Stachelbeergelee ohne Kerne, angereichert mit Sanddorn von der Insel Spiekeroog.«

»Oh, danke, wir Städter kaufen bei Aldi und freuen uns über eine herzhafte Abwechslung«, sagte sie und fügte hinzu: »Bitte, nehmen Sie Platz. Die Pünktlichkeit Ihres Besuches spricht für Sie.«

Tebbo Vestera war verwirrt, nahm von seiner Frau das Geleeglas entgegen und stellte es auf den Kaminsims.

»Sie sind Ostfriese wie mein Mann«, sagte sie. »Ich komme aus Bad Zwischenahn. Sie kennen die Tradition. Der Butterkuchen gehört zum Tee dazu.« Sie sah zu, wie sich der dickleibige Freund der Tochter in den engen Sessel zwängte und seine breiten Beine ausstreckte.

»Danke, den gibt es auch auf dem Sielhof, wenn Sie uns in Greetsiel besuchen werden«, antwortete Enno kess.

Hetta nahm neben ihrem Freund Platz. Sie hielt seine Hand.

Tomma schenkte den Tee ein. »Bitte, nehmen Sie vom Kuchen«, sagte sie.

Sie bedienten sich. Auch Tomma und Tebbo schoben zwei Stücke auf ihre Teller und aßen vom frischen Kuchen.

»Mein Kollege Dr. Hersen war von Ihrem Referat sehr angetan«, sprach Vestera in die Stille und sah, wie es seiner Frau schwer fiel, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie lächelte gekünstelt und grub ihre Gabel in das Gebäck.

»Danke«, antwortete Enno Athing. »Er gehört zu dem geringen Prozentsatz der Erdenbürger, die – wenn auch oberflächlich – zumindest ahnen, dass unser irdisches Leben nach den Gesetzen des Karmas verläuft. Wir leben mehrmals. Unsere Seele ist unsterblich.« Er lud sich ein weiteres Kuchenstück auf den Teller.

»Ach«, antwortete Frau Vestera und schob ihren Teller von sich. »Das sagen Sie so dahin. Dass es etwas wie Gott gibt, will ich nicht anzweifeln«, fügte sie ohne großes Interesse an dem Gespräch hinzu.

»Der Körper ist das Vehikel. Er stirbt, die Seele steigt aus, um irgendwann einen neuen Körper anzunehmen«, dozierte Enno Athing mit vollem Mund begeistert. Er war in seinem Element.

Die Flammen umzüngelten die Birkenscheite. Der aufgebriste Nordost warf Regen gegen die Scheiben.

»Für mich endet das Leben mit dem Tod. Und damit basta«, äußerte sich Dr. Vestera spöttisch.

»Typisch! Der kalte Mathematiker«, warf Tochter Hetta ein.

»Das Leben folgt dem Gesetz von Ursache und Wirkung«, erwiderte der feiste Freund der Tochter missionarisch und verschlang den Butterkuchen, als würde er ihm in einem weiteren Leben vorenthalten werden. »Was man anderen an Leid zugefügt hat, fällt auf einen selbst zurück. Wer schlägt, wird geschlagen, wer liebt, der wird geliebt.«

»Ursache und Wirkung, da fehlt es an wissenschaftlicher Bestätigung«, sagte Tebbo Vestera, erhob sich, schürte das Feuer und warf frische Scheite auf die Glut.

»Papa, deine Einwände sind so alt wie das Leben. Raff dich auf und lies eines der Bücher, die in meinem Zimmer Regale füllen«, sagte Hetta, neigte sich vor und gab Enno einen Kuss auf die Wange.

Das tat weh, fast hätte Tomma vor Empörung aufgeschrien.

Sie schenkte Tee nach und sah überrascht zu, wie der junge Mann ein weiteres Stück des Gebäcks auf seinen Teller schob.

»Das Leben ist wie eine Schule. Wir müssen unsere Lektionen lernen. Das Ziel ist die ewige Liebe in Gott«, dozierte Enno Athing. Er grub die Kuchengabel, die in seiner fleischigen Hand winzig wirkte, in das Kuchenstück und blickte die Vesteras überzeugt an.

Tomma war über die Frechheit und Dreistigkeit verwirrt, mit der der junge Mann seine Vorstellungen vortrug.

Dr. Vestera grinste höflich. »Das mit der Schule bin ich bereit zu schlucken. Das hat für Sie und meine Tochter einen ernsten Hintergrund. Das Abitur – ohne das läuft nichts, soweit Sie und Hetta eine Selbstverwirklichung im oberen Drittel der gesellschaftlichen Hierarchie anstreben, was wir für wünschenswert halten – sollte schon drin sein«, sagte er, nahm vom Kaminsims seine Rauchertasche und stopfte eine Pfeife, während Enno Athing den Kuchen genüsslich verzehrte. »Die Sache mit der Liebe, scheint mir hingegen, hat ein bröckliges Fundament.«

»Papa, mich verbindet mit Enno eine karmatische Liebe«, sagte die Tochter und schaute ihn überzeugt an.

Tebbo Vestera paffte die Pfeife und sagte mit dem ihm eigenen pastoralen Gesichtsausdruck: »Das mag ja so sein. Ich wünsche euch viel Glück, verbunden mit der Bitte, die Realität nicht aus den Augen zu verlieren.«

»Und Mahler?«, fragte Tomma Vestera. »Seine Musik? Ich mag sie. Passt sie in eure Gedankenwelt?«

Enno Athing trank Tee und schaute überrascht auf.

»Meine Eltern haben es versäumt, mich an diese Art von Musik heranzuführen. Sterbende hören Musik, himmlische Musik. Ich denke, dass sie dazugehören könnte«, antwortete er geschwätzig.

»Die Prager Symphoniker waren Klasse. Mama, das war zum Davonträumen«, schwärmte Hetta.

»Wenn ich am Flügel Chopin spiele, dann gerate ich oft in glückliche Träume«, sagte die Mama.

»In denen ich keine Rolle spiele«, warf Tebbo Vestera zynisch ein.

»Papa, dir ist nicht zu helfen«, sagte die Tochter und blickte den Papa herausfordernd an. »Die exakte Mathematik mit Regeln und Gesetzen. Alles was man nicht fühlen, riechen, schmecken und sehen kann, existiert für dich nicht.«

»Höhenflüge sind mir fremd. Da bleibe ich bescheiden auf dem Boden der Tatsachen«, antwortete Tebbo Vestera, griff zum Pfeifenbesteck und schabte die Asche aus dem Pfeifenkopf in den Ascher. »Solltest du je abstürzen, dann kannst du mit mir rechnen.«

»Auch meine Eltern lassen sich nicht belehren. Der Hof, die Äcker, das Vieh und die Stallungen, das ist ihre Welt«, warf Enno kichernd ein.

Der hat es nötig, fuhr es Tebbo Vestera durch den Kopf, aber er verzichtete auf eine pädagogische Belehrung.

»Hetta, es ist an der Zeit, die teure Geige vom Speicher zu holen. Dein Talent verkümmert«, sagte die Mama vorwurfsvoll, denn ihre Tochter besaß eine beachtenswerte Musikalität.

Sie könnte es zu etwas bringen, statt ihre Zeit mit dem unsympathischen Großmaul zu verbringen, dachte sie nicht ohne Empörung und Enttäuschung.

»Vielleicht versuchst du es mit himmlischer Sphärenmusik«, meinte Tebbo Vestera mit seinem unschuldigen Gesichtsausdruck.

»Zu meinem Karma gehört auch, dass ich nicht ernst genommen werde. Das versteht keiner besser als Enno«, sagte Hetta mit erröteten Wangen. Sie erhob sich, griff nach den Händen ihres Freundes und zog ihn aus dem Sessel.

»Mein Kind, sagen wir lieber, wir werden uns auch in Zukunft bemühen, dich zu verstehen!«, antwortete Vestera und lächelte überlegen.

»Was dagegen, wenn ich mich mit Enno auf mein Zimmer zurückziehe?«, fragte sie schmollend.

»Keineswegs, Mama wird sich mit Chopin davonträumen, während ich mir den Tatort ›Mord hinterm Deich‹ im Fernseher anschaue. Da geht es auch um Schüler«, sagte er.

Enno griff zum Lagerfeld-Schwanz, ließ ihn durch seine fleischigen Hände gleiten und folgte Hetta schwitzend am Kamin entlang.

»Frau Vestera, Herr Dr. Vestera, ich bedanke mich für die freundliche Aufnahme, für den Tee und Kuchen und Ihre Bereitschaft, unseren Argumenten Ihre Aufmerksamkeit geschenkt zu haben«, sagte er.

»Nichts zu danken, Ihre Argumente stimmten mich neugierig«, antwortete Tomma Vestera.

Enno Athing verließ an der Seite der Tochter tapsend das Wohnzimmer.

»Bier, Sprudel, Limo und Cola befinden sich im Keller!«, rief Tebbo Vestera hinter ihnen her.

»Das darf doch nicht wahr sein«, stöhnte Tomma auf.

Dr. Tebbo Vestera, erfahren im Umgang mit jungen Menschen, hatte im Lauf seiner mehr als zwanzig Dienstjahre vielen Eltern mit Rat und Tat zur Seite gestanden, wenn sie mit ihren Sorgen zu ihm gekommen waren. Doch jetzt, wo es um seine Tochter ging, musste er hilflos zuschauen, wie sie an der Seite des spleenigen Bauernsohnes davondriftete.

Die Angst um ihre Zukunft belastete auch sein Verhältnis zu seiner Frau Tomma, die sich schonend bemühte, Hetta auf den »rechten« Weg zurückzuführen. Doch Hetta verwarf alle vernünftigen Argumente, hörte nicht hin, wenn Tomma sie bat, aus ihren Träumen zu erwachen. Es war unverständlich, aber in der Tat blühte Hetta richtig auf. Sie war das erste Mal verliebt.

Es gab keine sonstigen Gründe, die Anlass zum Einschreiten boten.

Die gequälten Gesichter ihrer Eltern beim Frühstück ließen Hetta kalt. Sie reagierte aufmüpfig, wenn sich das Gespräch in Richtung »Greetsiel« bewegte.

Tomma hatte die Geige vom Speicher geholt, gestimmt und samt Notenständer auf ihr Zimmer gestellt. Hetta hatte sie nicht angerührt, nahm bockig das Mittagessen ein und drohte mit ihrem Auszug.

Tebbo Vestera schlich mit seinem gequälten Lehrergesicht durch das Haus und ging jedem Gespräch aus dem Weg. Im hübschen Einfamilienhaus in der Kolwalder Straße war nichts mehr wie früher. Der beliebte Klassiksender N3 blieb ungehört. Der Fernseher blieb ausgeschaltet. Jeder ging jedem aus dem Weg. Tomma unterließ es, die Mahlzeiten zuzubereiten.

Enno Athing war bei einem weiteren Besuch auf kalte, abweisende Blicke von Hettas Eltern gestoßen.

»Sie ist oben«, hatte die Mama mit einem abweisenden Blick gesagt.

Im Hause Vestera herrschte der »Kalte Krieg«, wie Hetta ironisch feststellte. Sie stand zu ihrem Freund, jetzt mehr noch als vorher, und zog daraus ihre Konsequenzen.

Hetta und Enno hatten es geschafft. Sowohl Tomma als auch Tebbo Vestera rückten um des lieben Friedens willen von ihrem Widerstand ab. Sie gestatteten es Enno Athing, das Haus – genauer gesagt Hettas mittlerweile zu einem Apartment umgebaute Wohnung – zu betreten, wann immer er es begehrte. Auch in Greetsiel ging Hetta auf dem Sielhof ein und aus.

Gesine Athing brachte es nicht über das Herz, ihrem Sohn einen Wunsch abzuschlagen. Er hatte es schwer genug während seiner Kindheit gehabt, und auch danach hatte sie um seine körperliche und geistige Entwicklung gebangt. Enno war später eingeschult worden. Umso mehr freute sie sich über seinen Gesundheitszustand, an dem es nichts auszusetzen gab. Hinzu kam, dass er in der Schule gute Noten erzielte.

Es wurde Ostern. Die Ferien boten Hetta und Enno genügend Gelegenheit, sich mit ihren Glaubenssachen zu beschäftigen.

Während die ländlich geprägten Athings es nicht gerne sahen, dass Enno Gesines Auto benutzte, um zum Deich zu fahren, während sie damit beschäftigt waren, das Heu trocken in die Scheune zu bekommen, gefiel es Dr. Vestera und seiner Frau überhaupt nicht, dass Hetta mit dem unsportlichen und schwergewichtigen »Klugscheißer« verliebt durch Emden und Greetsiel zog.

Alrich und Gesine Athing akzeptierten die niedliche, in jeder Weise höfliche und in ihren Augen aber unbescheidene Hetta Vestera als Preis für eine weitere Harmonie kurz vor dem Abitur ihres Sohnes. Dennoch schockierte es sie, als Hetta zu ihrer Überraschung mit zwei prall gefüllten Koffern an der Seite ihres Sohnes erschien und ohne vorherige Ankündigung zu Enno in das ausgebaute Apartment einzog.

Diese Überraschung empfanden sie mehr als nur störend. Da waren nicht nur ihre Bedenken, die von den »Zehn Geboten« ihrer prüden Erziehung herrührten, hinderlich. Die Athings fürchteten – unerfahren im Umgang mit der Pille – die Folgen ungestümer Beischläfe und bangten um den erfolgreichen Schulabschluss ihres Sohnes. Nicht zu Unrecht, wie sich später herausstellen sollte.

Dabei belasteten die jungen Leute sie zusätzlich bei ihrem eingespielten Rhythmus ihrer Gewohnheiten. Sie brutzelten ihr Essen, lebten wie Mann und Frau. Frühstückten oben, benutzten ihren Zweitwagen, besuchten die Schule, ohne die Eltern von ihren Abreisen und Heimkünften zu unterrichten.

Gelegentlich nahmen sie mit Alrich und Gesine den Tee ein, hielten sich an den Händen und bemühten sich, ihr strahlendes Glück in die traditionsreiche Bauernstube hineinzubringen.

Um des lieben Friedens willen verzichtete Alrich Athing auf seine Bedenken. Und auch seine Frau Gesine schwieg, wenn sie abends geschafft das Fernsehprogramm an sich vorbeiziehen ließ. Gesine Athing lag sehr an dem Glück ihres Sohnes Enno, der, daran hatte auch sie keine Zweifel, mit seiner klobigen Figur, seiner Esslust und Unsportlichkeit abstach von dem schönen Mädchen, das die Liebe ihres Sohnes zu erwidern schien. Gesine kümmerte sich um die Wäsche, füllte gelegentlich den Kühlschrank auf, legte Geldscheine unter den Brötchenkorb und war dennoch in steter Sorge.

Enno Athing und Hetta Vestera verlebten eine herrliche Zeit und verstanden nicht die Sorgen der Eltern. Selbst eine Spanienreise war drin. In Gesines neuem Polo fuhren sie während der Sommerferien nach Nerja an der Costa del Sol, um sich für das entscheidende Schuljahr zu erholen.

Enno Athing hatte mit seinem hervorragenden Referat »Der Tod hat viele Gesichter« nicht nur seinen Lehrer Dr. Hersen überzeugt, sondern auch das Interesse der »Fachschaft Religion« auf sich gelenkt. Hinter seinem Rücken diente den Lehrern das auch stilistisch ausgewogene fünfzehnseitige Manuskript als Grundlage spontan einsetzender Diskussionen. Sie erwogen eine Einbeziehung des Themas als Erweiterung des Unterrichtsangebotes im nächsten Schuljahr.

Bedauerlicherweise stärkte diese exzellente Arbeit Enno Athing nicht den Rücken. Er hatte sich mit einigen Lehrern angelegt, die ihn weiterhin für einen Spinner hielten, den sie wegen seiner unsympathischen und nörgelnden Haltung ablehnten.

Dr. Albert Hersen galt als strenger, anspruchsvoller Lehrer am Henry-Nannen-Gymnasium. Für ihn war der Kursteilnehmer Enno Athing einer der begabtesten Schüler der letzten Jahre überhaupt. Es fiel ihm schwer, als er am Abend an seinem Schreibtisch saß und die Eintragungen seines Notenheftes studierte, für die am Montagmorgen stattfindende »Punktevergabe« zu einem Urteil zu kommen. Er hob die Schultern und bedauerte es sehr, dass er für seinen besten Schüler nicht einen Funken an Sympathie aufzubringen in der Lage war. Kalt und gefühllos reagierte Enno im Unterricht. Dabei wirkte er anstößig mit seiner Fettleibigkeit und seiner Art, den reichen Sprössling der alteingesessenen Landwirtsfamilie hervorzukehren. Dieser wabbelige Fettkloß mit dem Lagerfeld-Schwanz, den geröteten Wangen und wässrigen Lippen wirkte auch auf ihn abstoßend.

Der Junge besitzt ein Scheißkarma, dachte Dr. Albert Hersen und fand zu einem Ergebnis. Für seine Leistungsbereitschaft gab er dreizehn Punkte, die das Referat mit beinhalteten, er zog einen Punkt für undiszipliniertes Verhalten ab. Immerhin insgesamt »Sehr gut«.

Die Notengestaltung der übrigen Kursteilnehmer lief reibungslos ab. Albert Hersen blickte auf die Uhr. Für ihn wurde es Zeit. Um zwanzig Uhr tagte der Stadtrat, dem er als Mitglied der fdp angehörte.

Das Telefon läutete. Er griff zum Hörer und meldete sich.

»Adele Bartling«, vernahm er. »Albert, ich benötige deinen Rat. Es geht um die Eintragung der Punkte in die Kurshefte. Der Chef sieht rot, wenn es am Montagmorgen zu Unstimmigkeiten kommt. Mein Anruf betrifft Enno Athing.«

Dr. Hersen atmete tief durch.

»Ich bin sein Hauptpunktelieferant«, antwortete er.

»Das liegt auf der Hand. Sein esoterischer Beitrag kann sich sehen lassen«, antwortete sie.

»Und wo brennt es?«, fragte Dr. Hersen.

»In ›conversation‹ kann ich ihm höchstens sechs Punkte geben. Im Diktat reicht es gerade für vier Punkte. Das macht zehn durch zwei gleich fünf. Kollege Huisgens hat sich in Mathe für zwei Punkte entschieden, also glatt mangelhaft«, sagte Adele.

»Du magst den Bengel nicht?«, fragte er.

»Wer mag den Kotzbrocken überhaupt?«, fragte sie.

»Gib ihm das, was er verdient. Runde auf«, sagte Dr. Hersen.

»Dann wird er schwer zu krabbeln haben«, meinte die Kollegin.

»Das ist nicht dein Bier«, antwortete der Kollege.

»Danke, schönes Wochenende, bis Montag«, sagte Adele und legte auf.

Im weiträumigen Doppelklassenzimmer, Klausurensaal genannt, saßen die Fachlehrer und Kursleiter an den Arbeitstischen. Vor ihnen lagen ihre Notenbücher, die aufgeschlagenen Klassenbücher und Listen mit den erteilten Punkten. Sie warteten auf den Beginn der für die Schüler schicksalhaften Leistungsbeurteilungen. Sie bildeten die Grundlage der bevorstehenden Abiturprüfung.

Die Sonne schien durch die breiten Fenster. Ihre Strahlen brachen sich auf dem Plastikbelag der Tische.

Schulleiter Hero Boomfeld betrat den Klausurraum. Er trug angemessen ein Jackett, Oberhemd, eine Krawatte und eine dazu passende Cordjeans. Er stellte seine Tasche auf das Lehrerpult. Er begrüßte die Kollegen, entnahm der Tasche die alphabetisch geordneten Kurshefte.

»Ich erinnere an Ihre Verantwortung«, sagte er streng. Er trug sein gelichtetes blondes Haar mit Scheitel. »Wir können beginnen.«

Ein Kollege trat an die Tür, öffnete sie. Die Schüler kannten das Procedere und betraten in alphabetischer Reihenfolge das Klassenzimmer, nahmen diszipliniert aus der Hand des Schulleiters die Kurshefte in Empfang und suchten ihre Lehrer auf.

Oberstudiendirektor Boomfeld begegnete dem misstrauischen Blick des schwergewichtigen Schülers Enno Athing, der tapsig in Jeans und mit einem über seinen dicken Hintern reichenden »Baumfällerhemd« bekleidet aus seiner Hand das Kursheft entgegennahm, sich suchend umsah und an den Tischen entlang den Weg zu Dr. Hersen fand, den er, das lag in der Sache, mochte.

»Moin«, grüßte er, legte ihm das Kursheft vor und blickte ihn kalt und abschätzend an.

»Enno, all up Stee, dreizehn Punkte«, sagte Dr. Hersen, griff zum Kugelschreiber und versah seine Eintragung. Er blickte in das feiste Gesicht des Schülers.

»Korrekt«, sagte Enno, nahm das Heft entgegen und ging davon.

Dr. Hersen atmete auf. Der Klassenraum füllte sich. Es gab Warteschlangen vor einigen Tischen.

Hero Boomfeld waltete seines Amtes. Er schritt prüfend durch die Gänge, sparte nicht mit witzigen Bemerkungen.

Die Punktevergabe verlief reibungslos. Er hatte die Prüfungsvorschläge mit seinen Koordinatoren abgesegnet und sie an die Bezirksregierung weitergeleitet. Es hatte keine Beanstandungen gegeben.

Oberstudiendirektor Boomfeld blickte überrascht auf, als er Enno Athings volltönende Stimme vernahm. Der Schüler stand vor dem Tisch seiner Englischlehrerin Adele Bartling. Boomfeld horchte auf, näherte sich dem Tisch, hinter dem die Kollegin mit hochrotem Kopf saß. Sie blickte ihn Hilfe suchend an.

Enno Athing ließ seinen Pferdeschwanz durch seine Hände gleiten. Sein Blick wirkte arrogant. »Das ist doch der reinste Schwachsinn! Einen Punkt mehr«, forderte er. »Bei der Übersetzung von Shakespeare haben Sie mich gelobt.«

»Wegen der guten deutschen Formulierung«, antwortete sie.

»Kann ich behilflich sein?«, fragte Boomfeld den Schüler höflich.

»Herr Direktor, ich bitte Sie darum. Frau Bartling liegt auf dem falschen Sofa. Sie vermasselt mir die Tour. Mir stehen zwei Punkte mehr zu«, sagte er und blickte den Schulleiter kalt und herausfordernd an.

Der Englischlehrerin Adele Bartling war die Situation mehr als peinlich. Auf ihrer Stirn perlte der Schweiß. »Mehr ist nicht drin ...«, sagte sie aufgeregt.

»Herr Athing, hier wird nicht gefeilscht«, sagte der Schulleiter verärgert. »Meine Kollegin entschied sich kraft ihres Amtes für Ihre Beurteilung. Besorgen Sie sich die übrigen Testate ohne weitere hier nicht angebrachte Stänkereien. Nutzen Sie Ihre Chancen bei der Abfassung Ihrer schriftlichen Abiturklausuren.« Er wies Enno Athing den Weg.

»Danke«, sagte Adele Bartling und winkte einen wartenden Schüler an ihren Tisch.

Oberstudiendirektor Boomfeld schritt – wie ihm sein Amt aufgab – an den Tischen vorbei, an denen es zumeist herzlich zuging. Er sah die niedliche Tochter seines Kollegen Vestera, die es nicht nötig hatte, um Punkte zu feilschen.

Sie winkte ihm zu und errötete leicht, als Enno Athing ihr im Vorbeigehen einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab, ihr seinen Unmut kundtat und sich dem Tisch des jungen Mathelehrers Hannes Huisgens näherte. Boomfeld blieb es schleierhaft, was die schöne, intelligente Hetta an diesem Fiesling fand, mit dem sie zum Leidwesen ihrer Eltern zusammenlebte, wie ihr Vater ihm vertrauensvoll mitgeteilt hatte.

Studienrat Hannes Huisgens, Mathe- und Physiklehrer, war für seine Späßchen bekannt. Er gab einen guten Unterricht. Er war sportlich, spielte beim tus Pewsum in der ersten Mannschaft Fußball. Es lag ihm fern, sich bei der Beurteilung von Schülerleistungen von Sympathie oder Antipathie lenken zu lassen. Bei ihm zählten knochenhart nur die erbrachten Leistungen, für die er die Messlatte seit Jahren, den Umständen entsprechend, gesenkt hatte.

Hannes Huisgens blickte auf, als sich Enno Athing schwitzend und schwergewichtig mit hoch erhobenem Kopf seinem Tisch näherte. Seine Augen waren kalt. Sein Gesicht mit den aufgeworfenen Lippen wirkte abstoßend. Er hielt das Studienbuch in seinen breiten Händen und reichte es ihm. »Der Richter und sein Henker! Deutsch und Werte und Normen Spitze. Da fehlt nicht viel«, sagte der Schüler kalt.

Huisgens nahm das Studienbuch entgegen, trug die Punkte ein und reichte es ihm an.

»Richter schon, aber kein Henker«, sagte er freundlich.

»Und ein Punkt für meine stete Anwesenheit?«, fragte Enno verkniffen.

Huisgens bemerkte den Chef, der sich dem Tisch näherte.

»Herr Athing, Sie können es nicht lassen. Geben Sie mir Ihr Studienbuch«, sagte Boomfeld. Er warf einen Blick auf die Eintragungen. »Das war Ihre letzte Station. Bitte begleiten Sie mich zur Tür«, forderte er den Schüler auf.

Enno verließ den Klassenraum. Die Mitschüler grinsten schadenfroh und schauten sich nach Hetta Vestera um, die mit hervorragenden Beurteilungen dem Abitur entgegensah und hinter ihrem Freund herging.

Sie blickte überrascht auf, als Maike Sikken sie auf dem Weg zur Tür am Arm festhielt.

»Lass ihn ziehen!«, sagte Maike eindringlich. »Nichts gegen seine ›Heilslehre‹, aber das Jenseits kommt früh genug! Besinn dich!«

»Enno braucht mich«, sagte Hetta. Sie war den Tränen nahe.

»Wozu? Für seine Rundumschläge? Als Stütze? Begreif doch endlich! Er hinterlässt nur Scherben in Greetsiel und auch bei euch!«, erwiderte die Freundin erregt.

»Schickt dich mein Vater?«, fragte Hetta und blickte angewidert in ihr Gesicht.

»Nein! Nicht nur er sorgt sich um dich! Ich lade dich zu meinem Geburtstag ein. Ein paar Gleichgesinnte sähen dich gerne im alten Kreis«, antwortete Maike Sikken.

»Und Enno?«, fragte Hetta trotzig.

»Ein Abend ohne dieses Ekel! Oder habt ihr bereits die Ringe ausgetauscht?«, fragte Maike ironisch.

Sie standen in Türnähe. Im Klassenarbeitsraum herrschte eine friedliche Atmosphäre.

»Was habt ihr alle gegen Enno? Er ist ganz anders«, sagte sie verbissen mit schmalen Lippen und gerötetem Gesicht. Sie begegnete dem auffordernden Blick des Schulleiters.

»Ruf mich an«, sagte die Freundin und ging davon.

Hetta trat an das Lehrerpult und reichte Boomfeld das Studienbuch. Sie kämpfte mit den Tränen.

»Maike ist ein patentes Mädchen«, sagte der Schulleiter nur, nahm das Heft entgegen und näherte sich den Tischen.

Hetta Vestera verließ den Klassenraum, eilte durch den Korridor. Nur wenige Schüler begegneten ihr. Sie stieg die Treppe nach unten. Der Hausmeister stellte Milchtüten und Süßigkeiten auf den Tresen, denn in wenigen Minuten begann die zweite Pause. Er bemerkte nicht die Tränen im hübschen Gesicht der Abiturientin, die durch das offene Portal die Schule verließ.

Sie ging strammen Schrittes zum Parkplatz. Ihr Inneres war aufgewühlt. »Mrs Beastly« hatte Enno regelrecht auflaufen lassen, den Chef auf den Plan gerufen und Ennos Chancen zunichte gemacht.

Auch dieser scharfe Hannes Huisgens hatte wenig Fairness gezeigt und dazu beigetragen, dass Enno zur Schadenfreude der gehässigen Mitschüler zum Verlassen des Klassenraumes vom Schulleiter aufgefordert worden war. Und dann Maike Sikken! Mit katzenhafter Freundlichkeit hatte sie ihr nahe gelegt, sich von Enno zu trennen.

Sie entdeckte den Polo, atmete tief durch, blickte in den sonnigen Frühjahrshimmel. Der aufgebriste Wind spielte mit ihrem Haar und kühlte ihre Stirn.

Sie ging zum Polo. Enno öffnete die Seitentür.

Hetta stieg zu ihm in den Wagen, neigte sich vor und gab Enno einen flüchtigen Kuss.

Er lächelte gequält.

»Sie haben sich an mir versündigt«, sagte er. »Es wird ihnen heimgezahlt werden.«

»Warum hast du mich angelogen? In Englisch und Mathe ein Mangelhaft!«, fragte sie vorwurfsvoll.

»Dahinter steckt dein Vater«, antwortete er mit wässrigen Lippen. »Unser Karma«, fügte er hinzu und grinste überheblich.

Sein Bauch berührte das Steuerrad des Polo, der seiner Mutter gehörte. Seine angezogenen, mächtigen Beine saßen in den Jeans wie zu einem Zerreißtest. Seine fleischigen Hände umspannten das Steuerrad.

Hetta stiegen seine Ausdünstungen in die Nase. Sie dachte an Maike Sikken und erinnerte sich an die Blicke ihrer Mitschüler und erst recht an die Worte ihres Schulleiters.

»Enno, da stimmt etwas nicht mit dem Karma. Du kannst doch nicht Boomfeld, die Beastly und Huisgens dafür verantwortlich machen, dass du ihre Anforderungen nicht erfüllt hast! Mir hast du vorgegaukelt, du stündest in allen Fächern glatt!«

Enno Athing liebte Hetta mit jeder Faser seines Herzens. Sie war sein Ein und Alles im Wirrwarr seiner Gefühle. Er hasste die Konsumgesellschaft, die – kalt, egoistisch und materialistisch auf Schönheit, Schlankheit und Sportlichkeit ausgerichtet – ihn, den Fettkloß, draußen vor ließ.

»Da stimmt alles! Wir sind füreinander bestimmt. Wir lieben uns und müssen gemeinsam um unser Glück kämpfen«, antwortete er, nahm die Hand vom Lenker, strich ihr liebevoll durch das Haar.

Hetta zuckte leicht zusammen.

»Lehrertochter und Bauernsohn! Na und?«, fragte er und lachte hämisch.

»Hör auf damit! Deine Mutter und dein Vater schlucken den Frosch nicht!«, sagte Hetta aufgebracht.

»Hilf mir, sie zu überzeugen, wenn sie uns mit ihren Querelen quer kommen«, sagte Enno.

»Einen Moment noch! Hör zu! Mit diesen Noten schaffst du das Abi nie! Deine Mama und dein Papa werden nach einem Sündenbock suchen! Und der bin ich!«, sagte sie erregt.

Sie öffnete die Tür und stieg aus.

»Unsere Wege trennen sich! Ich komme nicht mit nach Greetsiel!«, schrie sie ihn an, weinte und rannte davon.

Enno stieg schwerfällig aus.

»Hetta!«, rief er hinter ihr her. Er sah, wie sie den Parkplatz verließ und schnellen Schrittes dem Weg am Stadttheater vorbei in die Grünanlagen des Walls folgte.

Enno schwitzte. Er stand im kalten Wind. Er hörte den Gong, der die Pause einläutete.

»Ein Komplott! Scheiß Pauker!«, entfuhr es ihm. Er zwängte sich hinter das Steuer. »Ich muss mit ihr reden!« Er ließ den Motor an und betätigte die Gänge, lenkte den Wagen auf den Steinweg und lachte laut auf. »Mädchen, so schnell wirst du mich nicht los!«, sprach er vor sich hin.

Hetta Vestera ging die Stufen der Grachtbrücke hoch, folgte dem breiten Wallweg in die Anlage, eilte über die Albringerwehrstraße und suchte das »Grand Café« auf. Sie setzte sich an einen Tisch, bestellte bei der Bedienung ein Kännchen Kaffee, rauchte und trank den Kaffee ohne Milch und Zucker und kämpfte mit ihren Gefühlen.

Passanten strömten am »Fürbringer-Denkmal« vorbei. Am Himmel huschten graue Wolken.

Bald werde ich in Göttingen sein und Musik studieren, dachte sie und begann sich zu beruhigen.

Hetta Vestera fühlte sich von einer großen Last befreit. Sie hatte Enno entlarvt. Er war ein Spinner!

Verblendet von seiner großen Begabung, die Gegenwart mit ihren Tatsachen in einem esoterischen, überirdischen Licht schicksalhaft erscheinen zu lassen, war sie ihm auf den Leim gegangen.

Sie war seine Beute gewesen. Er hatte sie genommen, um schamlos von seinen exzentrischen, verabscheuungswürdigen Charaktereigenschaften abzulenken. Dabei fühlte sie eine nicht wegzudiskutierende Mitschuld an der Situation, in der sie sich befand. Sie hatte sich blindlings in Enno verliebt, weil er anders war. Die Vorurteile ihrer Eltern und Mitschüler hatten geradezu ihren Trotz herausgefordert.

Hetta schüttelte sich vor Ekel. Ihre Einsicht verdankte sie Maike Sikken.

Zumindest habe ich Mama und Papa mit meinen Schulergebnissen nicht enttäuscht, stellte sie fest. Die Schule war gelaufen. Das Abitur nur noch eine Pflichtübung. Sie dachte an die alten Athings. Sie hatten sie geschnitten, ihr ihre Ablehnung gezeigt und sie für eine Erbschleicherin gehalten.

Sie nahm sich vor, den Hof in Greetsiel nie wieder zu betreten. In Ennos Apartment befand sich ihre Wäsche, hingen ihre Klamotten. Sie hatte ihr Sparkonto geplündert. In ihrem Portmonee befand sich gerade genügend Geld für den Kaffee.

Sie drückte die Kippe in den Aschenbecher, zahlte mit Kleingeld, suchte den Fernsprecher im Kellerbereich auf, wählte die Nummer und hielt den Hörer an das Ohr.

»Tomma Vestera«, vernahm sie beglückt.

»Mama, ich bin es«, sagte sie.

»Kind, endlich! Wo bist du?«, fragte die Mama mit schluchzender Stimme.

»Ich sitze im Grand Café am Stadtgarten. Ich bitte dich, mir zu verzeihen! Es ist aus mit Enno! Holst du mich ab?« Hetta kullerten ein paar Tränen übers Gesicht.

»Hetta, Liebes, ich fahre gleich los«, sagte die Mama.