5,99 €
In Norddeich erlebt Klaus Udendorf den Albtraum eines jeden Vaters: Seine Tochter Inga verschwindet spurlos. Bald findet er heraus, dass Inga von skrupellosen Drogenhändlern entführt wurde. Wird es ihm gelingen, das Mädchen aus den Klauen der Verbrecher zu befreien?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 392
Theodor J. Reisdorf
Enttäuscht legte ich den Hörer auf die Gabel zurück. Auf meiner Stirn hatte sich Schweiß gebildet. Für Sekunden war ich ratlos.
Die Auskunft, die ich soeben von Landwirt Jannssen erhalten hatte, steigerte meine Ängste, die dem Verbleib meiner Tochter galten. Sie studierte in Berlin Zeitungswissenschaften und hatte mit ihrer Schulfreundin Elisabeth Jannssen gemeinsam eine kleine Wohnung bezogen.
Seit Wochen waren die Briefe ausgeblieben, und auch der wöchentliche Telefonkontakt war von ihr unterbrochen worden - für mich unerklärlich. Meine Tochter Inga hatte mich völlig ohne Nachrichten gelassen. Und nun hatte ich erfahren, dass sie ausgezogen war, ohne Elisabeth ihre Adresse zu hinterlassen.
Meine Sorgen plagten mich schon seit Wochen und auch heute blieb das Telefon stumm. Inga war es, die mir nach dem Tod meiner Frau den Lebenssinn erhalten hatte, ihr galt meine ganze Liebe und Fürsorge.
Ich blickte in das gepflegte Wohnzimmer. Die geschmackvolle und teure Einrichtung trug die Handschrift meiner geliebten verstorbenen Frau. Bitter fühlte ich den Schmerz der Einsamkeit.
Für Sekunden ließ ich mich in ihren Lieblingssessel fallen, schloss die Augen und raffte mich auf zu einem Gebet, das ich aus Kindertagen noch vor mir hersprechen konnte. Aber selbst meine inbrünstige Hingabe half nicht, die anwachsende Unruhe loszuwerden.
Immer kreisten meine Gedanken um meine verstorbene Frau, die ich mehr denn je vermisste.
Plötzlich hielt ich es in meinem Haus nicht mehr aus. Ich verließ die Wohnung, verschloss die Haustür und holte mein Fahrrad aus der Garage.
Ohne zu überlegen radelte ich zum Friedhof.
Für nichts hatte ich einen Blick. Der graue Himmel über mir und die Vögel, die davonflogen und hinter mir zu lachen schienen, als ich schwer atmend in die Pedale trat, notierte nur mein Unterbewusstsein.
Magisch zog mich der Friedhof an, der unsichtbar von krüppeligen Ahornbäumen, breitkronigen Buchen und selten gewordenen Ulmen umrandet wurde. Ich fuhr durch die Pforte an den brüchigen Pfeilern vorbei und stieg erst vor dem Grab meiner Frau ab.
Das Rad legte ich auf den schmalen Weg, zupfte das Unkraut aus, während ich vom Grabstein Geburtstag und Sterbetag ablas.
Meine Tochter Inga war zweiundzwanzig Jahre alt.
Als ich mich aufrichtete und schweigend vor der kleinen Parzelle stand, blickte ich auf die zwerghaften Lebensbäume, deren Grün mir Hoffnung schenkte. Die Welt um mich herum verschwand, ich weinte und erlebte noch einmal in einer Bilderfolge Ankes mutigen Kampf gegen den todbringenden Krebs.
Alle hatten sie stets um ihre Schönheit beneidet, die unbarmherzig von der Krankheit zerfressen worden war. Unsere Gebete hatten ihr keine Linderung gebracht, doch ihre Zuversicht gestärkt, dass auch der Tod einen Sinn haben musste. Auf dem Sterbebett hatte sie mir ihre knochige Hand hingehalten und mir ihr bleiches Gesicht zugewandt.
»Pass auf Inga auf«, hatte sie geflüstert, während ich ihren leichten Händedruck gefühlt und durch die Tränen zugesehen hatte, wie in ihre Augen ein mir unverständliches Glück gestiegen war, bevor sie sie für immer schloss.
Es war seltsam, wie nahe ich ihr jetzt war, hier an ihrem Grab. Wohltuend durchzog mich eine Wärme. Vor meinen geschlossenen Augen stieg plötzlich ein weiches gelbes Licht auf, gewann an Intensität, färbte sich golden ein, als blickte ich in einen Sonnenaufgang. Im Vordergrund erschien Anke, meine Frau. Schön wie zu ihren Lebzeiten, schwebte sie mir mit einem friedlichen und überglücklichen Lächeln entgegen. Starr, die Umwelt nicht mehr wahrnehmend, schien auch ich mich ihr ohne Erdberührung zu nähern. Anke trug das weiße, lange Kleid, in dem ich sie in der Ludgerikirche in Norden zum Traualtar geführt hatte.
Ich wollte Fragen stellen, doch es gelang mir nicht. Tränen rannen mir übers Gesicht, und ich sah, dass sie ein Bild in den Händen hielt, das Inga zeigte, als sich ihre Gestalt im Licht aufzulösen begann und auch der Hintergrund sich eindunkelte.
Ich war nie ein Glaubensfanatiker gewesen, auch kein Kirchgänger. Meine Kinderjahre hatte ich ohne Überfütterung mit Bibeltexten verlebt. Als mich die wohlige Wärme verließ, stand ich erschüttert und zitternd vor dem kalten Grabstein. Für mich gab es keinen Zweifel, meine verstorbene Frau lebte in einer anderen Welt, zu der ich keinen Zutritt hatte.
Fast wäre ich das Opfer eines Herzschlags geworden, als ich eine knochige Hand auf meiner Schulter fühlte. Ich fuhr herum und fand zurück in die Wirklichkeit. Eine alte, gebeugte Frau schleppte einen gefüllten Wassereimer und bat mich mit frecher Altweiberstimme, ihr das Fahrrad aus dem Wege zu räumen.
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, beseitigte das Hindernis und schaute der Alten nach, die im abgetragenen langen Rock an den Gräbern vorbeischlich, als gäbe es irgendwo am Ende des Friedhofes etwas, was irdisches Leid erklärbar machte.
Mein Mund war trocken, mein Inneres aufgewühlt und meine Gedankenwelt verwirrt.
Zwischen Traum und Wirklichkeit bestieg ich mein Fahrrad.
Den Pfarrer aufzusuchen wäre das Letzte für mich gewesen. Niemand würde mir glauben, dass ich Anke gesehen hatte! Ich selbst sträubte mich gegen die Wahrheit und konnte mein Erlebnis nur als eine Aufforderung verstehen, mich um Inga, meine Tochter zu kümmern.
Die Dämmerung nahm mich auf und schützte mich vor Neugierigen. Aufgeregt radelte ich meinem Bungalow entgegen. Ich stellte das Fahrrad ab, hastete in die Wohnung und packte eilig einige Wäschestücke in eine Reisetasche. Ich holte den Rasierapparat aus dem Bad, entschied mich im Schlafzimmer für Lederjacke und Cordhose und entschloss mich, nicht die Bahn zu nehmen, sondern mit dem Wagen zu fahren, weil ich in einer Großstadt wie Berlin beweglich sein musste.
Ich lud das Gepäck in meinen Golf, durchschritt noch einmal wachsam das Haus und zog die Stecker aus den Steckdosen, falls sich in meiner Abwesenheit Gewitter über meinem Anwesen entladen sollten.
Ich dachte an meine Schule und meine Pflichten als Beamter, verschloss die Haustür und fuhr los. Mein Direktor wohnte in einem ererbten Stadthaus in der Nähe des Marktes. Neben der herrschaftlichen Treppe vertrockneten die letzten lila Blüten übermannshoher Rhododendronsträucher.
Sein Blick und damit seine todsichere Kritik an meinem Vorhaben blieben mir erspart. Seine Frau war es, die mich wie einen Fremden betrachtete, mich die hierarchische Trennung der Gehaltsstufen spüren ließ und mir hannoverisch lispelnd kundtat, dass ihr Mann an einer Sitzung des Heimatvereines teilnehmen musste. Mit ernstem, verknöchertem Gesicht wiederholte sie den Inhalt meines Anliegens.
»O ja, Sie müssen dringend nach Berlin, ich werde es meinem Mann ausrichten.«
Die herrschaftliche Tür klappte zu, und ich wusste, dass ich jetzt einen Richter für mein Tun gefunden hatte.
Ich versuchte erst gar nicht, meine Gedanken zu ordnen, um abzuwägen zwischen innerlicher Pflicht und beamtenrechtlichen Ansprüchen.
Ich kannte nur das eine Ziel: Berlin!
Dort musste ich meine Tochter Inga suchen und finden, koste es, was es wolle!
Über Berlin spannte sich ein blauer Frühsommerhimmel. Ich musste meine gesamte Konzentration dem Verkehr widmen, denn als Landmensch fühlte ich mich unwohl auf den breiten Zubringerstraßen.
Das kolossale Kongresszentrum drückte auf meine Stimmung, und der immer wieder auftauchende Gedanke, dass meine Schüler in Kürze vergeblich vor ihrem Klassenzimmer auf mich warten mussten, während ich vielleicht einer riesigen Einbildung zum Opfer fiel, bedrückte mich.
Ich lenkte den Golf den Hinweisschildern nach in die City. Mein Ziel war der Kurfürstendamm, das Herzstück Berlins.
Als ich schließlich erschöpft unter einem schattigen Kastanienbaum meinen Wagen in eine Parknische rollen ließ, blieb ich lange mit geschlossenen Augen, den Kopf auf das Steuer gelehnt, sitzen und wartete auf irgendein Zeichen.
Ich fiel in einen langen Schlaf, aus dem ich ohne Traumerinnerungen oder Hinweise meiner verstorbenen Frau wieder aufwachte.
Durch die Scheiben meines Golfes beobachtete ich, dass Menschen Koffer aus dem Haus trugen, vor dem ich zufällig geparkt hatte.
Ich blickte auf die schlanke Fassade und las Hotel Michels.
Zufall, dachte ich. Entschlossen verließ ich meinen Wagen, fand eine dicke, watschelnde Frau, die aus einem Büro kam. Es war die Chefin, Frau Michels, bei der ich ein Zimmer für zwei Nächte buchte.
Nachdem mein Geld auf dem schwarzen Mahagonitisch vor der Madam lag, weil ich unüblicherweise auf Vorauszahlung bestanden hatte, zählte ich erschrocken den Rest. Mir blieb nur noch Wechselgeld.
Das Zimmer wurde gerade hergerichtet und das Bett frisch überzogen.
Ich holte das Gepäck, brachte es auf mein Zimmer. Mein Golf stand gut und fürs Erste wollte ich mich der öffentlichen Verkehrsmittel bedienen.
Meine unüberlegte Geldknappheit trieb mich zurück zu Frau Michels. Sie sah mich seltsam an, als ich ihren Bürofrieden störte und sie nach der Adresse der Berliner Industrie- und Handelsbank fragte, von der ich nur die Kontonummer meiner Tochter wusste.
Frau Michels hatte ihr dichtes Haar blond gefärbt und ihre breiten, geschwungenen Lippen dick mit rotem Lippenstift belegt.
»Vertreter?«, fragte sie.
»Nein, Lehrer«, antwortete ich.
»Ach so«, sagte sie und schaute mich musternd an. Sie nahm einen Stadtplan, um den Werbefelder rund um ein Gewirr von Linien und Zahlen gedruckt waren, und legte ihn aus. Dann langte sie zum Telefon und wählte die Nummer, auf der ihr fetter Daumen saß.
»Hotel Michels, können Sie mir aufgrund einer Kontonummer die entsprechende Filiale nennen?«, fragte sie mit rauchiger Stimme. Es dauerte nicht lange, bis sie den Hörer auf die Gabel legte.
»Hier im Philosophenviertel, Ecke Leibniz- und Kantstraße, Herr Udendorf«, sagte sie und malte ein X in den Stadtplan. Sie reichte ihn mir und schaute nachdenklich hinter mir her.
Ich entschied mich für die U-Bahn, gewöhnte mich an die Menschenfülle und vergaß meine Müdigkeit.
In der Bankfiliale hörte sich ein hübsches Mädchen meine Geschichte an, hielt mich für einen dummen Bauer aus der ostfriesischen Provinz und führte mich höflich zum Filialleiter.
Der Mann war nicht viel älter als ich. Er trug einen eleganten Anzug, Krawatte und Hemd farblich abgestimmt, und selbst sein faltenloses Gesicht hatte er seinem Beruf angepasst.
»Nehmen Sie Platz. Ich bin Doktor Knieper und möchte Ihnen weiterhelfen, soweit meine Befugnisse das erlauben«, sagte er.
Ich kam mir klein vor, als ich in den Ledersessel sank. Würde ich ihm erzählen, was mich nach Berlin geführt hatte, dieser Bankmensch würde einen Knopf drücken, und innerhalb von zehn Minuten stünden Uniformierte im Büro, um mich in eine Irrenanstalt zu überführen.
»Mein Name ist Doktor Udendorf, Klaus Udendorf. Ich bin Oberstudienrat am Gymnasium in Norden, wohne in Norddeich in Ostfriesland und besuche eine Tagung in Berlin.«
»Schön«, sagte Doktor Knieper überflüssigerweise und musterte mich.
O Gott, ich hätte mich rasieren müssen, fiel mir ein, deshalb antwortete ich: »Ich bin die Nacht über durchgefahren und stellte im Hotel fest, dass ich die Euroschecks und auch die Scheckkarte zu Hause liegen gelassen habe.«
»Und nun benötigen Sie Bares?«, fragte er.
»Meine Tochter studiert hier in Berlin. Sie unterhält bei Ihnen ein Konto, auf das ich von zu Hause per Dauerauftrag Geld überweise«, brachte ich vor.
»Wollen Sie etwa an ihr Konto?«, fragte Doktor Knieper misstrauisch.
»Nein, ich dachte, da sie kurzfristig umgezogen ist, ich könnte von Ihnen ihre Anschrift erfahren«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Er ließ sich meine Kontonummer nennen und telefonierte durch. Kurz danach erschien eine junge Frau und legte ihm eine Kontokarte vor.
»Wir dürfen das Bankgeheimnis leider nicht verletzen, Herr Doktor Udendorf. Ansonsten werden die Einzahlungen regelmäßig abgehoben«, sagte er.
»Und ihre Anschrift?«, fragte ich.
»Die fällt in unsere Schweigepflicht«, antwortete er.
Ich legte ihm meinen Reisepass auf den Schreibtisch.
»Dreitausend Euro würden mir Spielraum geben«, sagte ich. »Hier ist meine Bankverbindung. Wenden Sie sich an Herrn Feermoor. Er wird das Geld überweisen.«
Er verließ das Zimmer. Verrückt, dachte ich. Vielleicht wohnt Inga hier irgendwo um die Ecke, studiert brav, während ich alter Esel mich hier lächerlich mache. Was ist nur in mich gefahren? Nirgendwo erblickte ich ein Zeichen von Anke im Zimmer.
Doktor Knieper betrat das Büro. Ich sah ihn gespannt an.
»Sie können sich sogleich am Schalter das Geld auszahlen lassen«, sagte er und reichte mir ein Formular. Ich unterschrieb, bekam die Durchschrift.
Vor dem Kassenschalter verteilte ich das Geld auf Jacken- und Hosentaschen und verließ die Bank.
Als ich in die grelle Sonne schritt, kam ich mir selbst fremd vor. Menschen strömten in beide Richtungen der Bürgersteige, und über die Straße rollte der Verkehr.
»O mein Gott, meine Schule«, stöhnte ich, als mir ein Schwarm Schüler ausgelassen entgegenkam.
Ich war Beamter auf Lebenszeit. Aber wie ich meinen Direktor kannte, hielt er jetzt bereits den Telefonhörer in der Hand, um die Bezirksregierung über mein seltsames Verschwinden zu informieren. Der leitende Oberschulrat wird sofort reagieren, meine Daten irgendwo einem Computer anvertrauen, um Schlimmes zu verhüten und um mich, dem all seine Sorgen galten, zu schützen.
Ich lachte und blickte wie ein Irrer in die fragenden Gesichter der Passanten.
Gerade das war nicht sein Anliegen, denn Dezernenten suchten zuerst einmal nach Schuld und Anklage. Sie sannen nach Strafen mithilfe der Juristen, denn von der höheren Warte ihrer Karrierestufen blickten sie mit erhobenem Zeigefinger auf ihre Lehrerschaft herab.
Entschlossen löste ich mich vom Baum und schritt dem Maul der U-Bahn-Station entgegen.
»Fahren Sie bis Augsburger Straße, dort muss es sein«, sagte mir die Auskunft.
Und dort war es.
Das Haus war sauber, nicht besonders abgewohnt und voller Leben. Kinder fuhren zickzack mit ihren BMX-Rädern auf einem breiten Bürgersteig. Alte schleppten in eleganten Garderoben Einkaufstüten.
Ich stieg die Treppen hoch. Auf der dritten Etage las ich Elisabeth Jannssen und einen weiteren Namen. Die Holztür enthielt einen kleinen Spion, der mich wie ein schielendes Auge zu betrachten schien, als ich die Klingel bedient hatte. Der Name meiner Tochter fehlte, und ich machte noch den alten Klebstoff aus.
Die Tür öffnete sich, und Elisabeth starrte mich an.
»Onkel Klaus? Du?«, rief sie überrascht. Sie drückte mich an sich, wie es bei uns zu Hause üblich ist.
»Wer ist da?«, fragte eine Männerstimme.
Elisabeth hatte sich kaum verändert. Selbst hier in Berlin wirkte sie frisch und ländlich.
Ein junger Mann stellte sich vor. Er studierte, wie er angab, Ingenieurwissenschaften. Er wirkte auf mich sympathisch und passte zu ihr. Rücksichtsvoll zog er sich in die kleine Küche zurück und ließ mir damit die Gelegenheit, mit Elisabeth ein Gespräch zu führen.
Das Zimmer war einfach eingerichtet und entsprach den Schilderungen meiner Tochter. Mein Blick erfasste aber nichts, was mich an sie erinnerte. Elisabeth trug Jeans und ein flottes T-Shirt. Sie setzte sich auf die Couch und wies mir den Sessel an. Ihre Augen verrieten mir, dass sie mit sich rang und meine Fragen zu befürchten schien.
»Wo ist Inga?«, fragte ich sie, ohne ihr Zeit zu lassen, das Gespräch auf ablenkende Nebensächlichkeiten zu bringen.
»Onkel Klaus, Inga und ich - wir haben uns gut verstanden, und ich habe versucht sie zurückzuhalten«, antwortete sie.
»Wovor?«, fragte ich.
»Nun, sie hatte einen Freund, dessen Clique sie sich anschloss. Von da an ist Inga öfter nicht nach Hause gekommen und schließlich ausgezogen. Seitdem wohnt Harald bei mir«, antwortete Elisabeth verlegen.
»Hast du ihre Adresse?«, fragte ich sie.
»Nein, Inga wollte nicht, dass ich sie besuche, da ich zu hausbacken für ihre neue Umgebung sei«, sagte sie. »Sie versprach mir, mich gelegentlich aufzusuchen.«
Eigentlich hätten ihre Aussagen erreichen müssen, meinen Verdacht zu bestätigen, dass meine Tochter, wenn nicht in Gefahr, sich jedoch irgendwie ins Abseits manövriert hatte. Aber mein Wunschdenken, Inga so schnell wie möglich ausfindig zu machen, bestimmte mein Denken.
»Dann erfahre ich sicher an der Universität ihre Anschrift«, sagte ich hoffnungsvoll.
»Mache dir da nur keine falschen Hoffnungen, Onkel Klaus«, antwortete Elisabeth. »Ich selbst habe dort nachgefragt, weil ich eine Büchersendung per Nachnahme für Inga entgegengenommen hatte.« Sie bot mir eine Zigarette an.
Ich sah, dass ihre Hände zitterten, als ich ihr Feuer reichte.
»An der Uni habe ich sie seitdem nicht mehr gesehen. Aber das sagt nicht viel, Onkel Klaus, bei dem Trubel, der dort herrscht.«
Ich vernahm Geräusche, die aus der Küche kamen. Harald klapperte dort mit dem Geschirr.
Elisabeth sprang auf.
»Kann ich dir helfen?«, rief sie in die Richtung und wie mir schien, froh über diese Ablenkung.
Sie deckte den Tisch, und Harald, ihr Freund, bediente mich höflich mit frischem Kaffee. Das Aroma stieg mir in die Nase. Dankbar trank ich einige Schlucke. Mir fiel ein, dass ich noch völlig nüchtern war, verspürte aber dennoch keinen Hunger.
Irgendwie hatte Elisabeth es verstanden, meine aufgewühlten Nerven zu beruhigen, und mir kam der Gedanke, dass Inga hier irgendwo in Berlin in einer der modernen Wohngemeinschaften leben konnte.
»Du hast also Inga seitdem nicht mehr gesehen?«, fragte ich Elisabeth.
»Gesehen schon, Onkel Klaus. Hier in Berlin studieren auch Söhne wohlhabender Eltern, und Inga sieht fabelhaft aus«, sagte sie neidlos, nahm die Tasse und blickte verlegen auf den Tisch.
Ihr Freund Harald hob den Kopf. Bisher hatte er nur da gesessen, als ginge ihn unser Gespräch und auch mein Besuch überhaupt nichts an.
»Ihre Tochter fuhr mit einem Porsche über den Kurfürstendamm, da gibt es keine Zweifel«, sagte er. »Elisabeth hat ihr zugewinkt, aber Inga hat überhaupt nicht reagiert.«
»Wann war das?«, fragte ich, bemüht, gelassen zu wirken.
»Anfang voriger Woche«, antwortete Elisabeth und beschäftigte sich mit ihrer Tasse.
Noch ist alles offen, dachte ich. Inga war hübsch. Dann hat sie sich einen reichen Kommilitonen geangelt.
»Habt ihr für mich einen Tipp, wo ich sie finden kann?«, fragte ich, hob die Kaffeetasse an und ließ sie mir von Elisabeth wieder füllen. Ich spürte die Nachwirkungen der Strapazen. Meine Kräfte waren verbraucht.
»Ich besuche für wenige Tage einen Lehrerfortbildungskurs«, log ich, um ihnen meine Anwesenheit zu erklären.
»An Ihrer Stelle würde ich mich abends im Dallas Pa ...«, sagte Harald trocken und sah mich seltsam an, während Elisabeth blitzschnell aufgesprungen war, um ihm die Hand auf den Mund zu legen.
»Lass das! Du hast keine Beweise!«, fauchte sie ihn an.
Elisabeths Worte trafen mich wie ein Messer. Ein Schmerz ging mir durch die Brust und endete im Magen. Entsetzt starrte ich beide an. Ich kannte keine Stätte in Berlin, kein Lokal, das den Namen Dallas Pa ... trug, doch meine Gedanken gingen in die gemeinte Richtung.
»Soll das heißen, Inga ginge ...«, mir gelang es nicht, den Satz zu beenden.
Elisabeth fing sich.
»Onkel Klaus, Inga liebt die große Welt, und hier in Berlin ist viel los.«
Ich erhob mich, kämpfte mit den Tränen, die meine Enttäuschung mir in die Augen trieben. Es entsprach nicht meiner Mentalität, das sympathische Pärchen schamlos weiter auszuhorchen. Meine Beine zitterten leicht.
»Eine Frage bewegt mich noch, Elisabeth. Habe ich Inga zu wenig Geld gegeben, um ein normales Studentendasein zu führen?«
Sie winkte ab.
»Sie bekommt dreihundert Euro mehr im Monat als ich, Onkel Klaus. Aber so musst du nicht denken. Harald hat nur ...«
Ich verließ grußlos das Zimmer. Auch die beiden hatten begriffen, und sie verzichteten auf das übliche Theater, mich mit dramatischem Getue zum Bleiben zu bewegen, um mit nichtssagenden Reden zu vertuschen, was sie für die Wahrheit hielten.
Die Sonne stand hoch und warf erbarmungslos die Hitze auf die Stadt. Mich interessierte keine Richtung. Ich ging, ohne zu wissen, wohin die Straßen führten.
Ich konnte mein Hotelzimmer aufsuchen, mich aufs Bett legen, um Schlaf nachzuholen, den ich allerdings nicht vermisste.
Die ungewohnten klotzigen Wohnbauten, der ameisenhafte Rhythmus der Menschen, zwischen denen ich mich befand, und die Straßen, die wie Fließbänder gefüllt mit Autos an meinen überreizten Augen vorbeiliefen, machten aus mir den einsamsten Menschen in Berlin. Zwei Millionen lebten hier, arbeiteten in dieser Stadt und rangen mit ihren Problemen. Eine Person von ihnen musste ich finden und sprechen, koste es, was es wolle.
Die Hitze machte mir zu schaffen. Mein Blick begann sich auf Mädchen zu konzentrieren, die jung und schön waren und Inga glichen. Ich betete mit trockenen Lippen zum heiligen Antonius, den mir meine Mutter zu Lebzeiten immer als Schutzpatron empfohlen hatte, wenn ich als Kind den Schlüssel oder sonst etwas Wichtiges verloren hatte.
Ich hoffte auf den Zufall, Inga zu begegnen.
Menschen schoben mich durch Kaufhäuser und Supermärkte. In Cafés suchte ich vergeblich die Tische nach Inga ab.
Müde und erschlagen landete ich gegen Abend in einer Bierpinte in der Nähe des Kurfürstendamms vor dem Rundtresen und trank gierig das Bier aus großen Krügen, kein Blick vom Fenster nehmend, an dem die Menschen vorbeiflanierten.
Der geschäftstüchtige große Wirt mit dem ledernen Brauerschurz reichte mir die fünf Frikadellen, die ich zu seiner Verwunderung nacheinander verschlang, während seine Witze an mir vorbeiflogen.
In nur wenigen Metern Entfernung saßen zwei junge Männer in Maßanzügen vor gefüllten Sektgläsern an einem kleinen Tisch. Mit affigen Bewegungen und beringten Händen schoben sie Karten, hoben sie auf und warfen sie ab, ein Spiel, hinter dessen Regeln ich nicht kommen konnte, weil mein Blick an ihnen vorbei auf das Fenster gerichtet war. Sie trugen ihre Haare künstlich gelockt und ein süßliches Parfüm stieg zu mir hoch.
Zu meiner Verwunderung betraten hübsche, hervorragend gewachsene junge Frauen das Lokal, setzten sich kurz zu ihnen, öffneten ihre Handtaschen und schoben ihnen bündelweise Geldscheine zu. Sie nippten nur an den Sektkelchen, dann stolzierten sie davon.
»O Gott«, dachte ich, »Inga wird doch wohl nicht ...« Sorgen und Ängste überfielen mich trotz meines großen Bierkonsums. Schweiß machte meine Wäsche klebrig. Ich zahlte und bekam auf einen Hunderter nur noch wenig Silbergeld heraus.
»Wo befindet sich der Dallas Pa ...?«, fragte ich den Mann am Tresen.
»Der Dallas Palace liegt hier nur einige Hundert Meter um die Ecke«, sagte er.
Das Theater und die Kinos spukten Besuchermassen aus. Taxis starteten und brausten davon.
Traurig schritt ich zwischen Menschen einher, die nur ein Ziel kannten, nämlich sich zu vergnügen.
Im Dallas Palace ging es hoch her. Mit nackten, hüpfenden Busen servierten die Mädchen und nahmen Trinkgelder fürs Anfassen. Stofffetzen bedeckten ihre magischen Dreiecke.
Ich fand einen Platz an einem kleinen runden Tisch, dem man die Sessel bis auf einen genommen hatte.
In der Nähe machte ich eine Gruppe aus, die sich hier wie zu Hause fühlte. Einige ihrer Gesichter kamen mir bekannt vor. Entweder gehörten sie zu denen, die mich daheim mit billigem Klamauk für meine Fernsehgebühren zu entschädigen suchten, oder zu denen, die aufopferungsvoll im Bundestag für meine Grundrechte streiten mussten.
Die Getränkekarte, abgesehen von den Sektmarken, ähnelte Reisekatalogen.
Zulangen konnte ich! Meine Taschen steckten voller Geld.
Ein Oben-ohne-Engel erschien. Ihre Augen verrieten mir, dass sie nur deshalb auf der Erde erschienen war, um mich, den Doktor Udendorf aus Norddeich, bedienen zu dürfen.
Ich betrachtete die wohlgeformten Brüste, die leicht wackelten, als sie den Bleistift zückte, und ließ meine Blicke über ihren Nabel abwärts gleiten bis zum bläulich-silbernen, glitzernden Warndreieck.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!