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Das Mindset eines Gewinners - Carlo Ancelotti über sein Erfolgsgeheimnis
Carlo Ancelotti ist der erfolgreichste Vereinstrainer der Welt. Er hat einige der prestigeträchtigsten europäischen Mannschaften geleitet: AC Mailand, Juventus Turin, Paris St. Germain, Bayern München, Chelsea London und Real Madrid. In allen fünf europäischen Top-Ligen (Premier League, La Liga, La Ligue, Serie A und Bundesliga) wurden seine Teams Landesmeister, doch am beeindruckendsten ist seine Bilanz in der Champions League: fünf Triumphe als Trainer, zwei als Spieler.
Nach seinem Bestsellererfolg »Quiet leadership« (2017), in dem er seine Führungsphilosophie als Fußballmanager anekdotenreich schilderte, erzählt Carlo Ancelotti in seinem neuen Buch fesselnd davon, wie jeder einzelne dieser sieben Champions-League-Siege zustande kam, und lässt dabei immer wieder Geschichten und Anekdoten aus seiner einzigartigen Sportlerkarriere einfließen: wie er schon als Kind davon träumte, eines Tages die Trophäe in die Höhe zu stemmen, was an jedem Triumph das Besondere und emotional Anrührende war und welche Lehren er gerade aus seinen verheerenden Niederlagen ziehen konnte.
Mit 8-seitiger Farbtafel
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Seitenzahl: 405
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nach seinem Bestsellererfolg »Quiet Leadership« (2017), in dem er seine Führungsphilosophie als Fußballmanager anekdotenreich schilderte, erzählt Carlo Ancelotti in seinem neuen Buch fesselnd davon, wie jeder einzelne seiner sieben Champions-League-Siege zustande kam, und lässt dabei immer wieder Geschichten und Anekdoten aus seiner einzigartigen Sportlerkarriere einfließen: wie er schon als Kind davon träumte, eines Tages die Trophäe in die Höhe zu stemmen, was an jedem Triumph das Besondere und emotional Anrührende war und welche Lehren er gerade aus seinen verheerenden Niederlagen ziehen konnte.
Carlo Ancelotti ist der erfolgreichste Vereinstrainer der Welt. Er hat einige der prestigeträchtigsten europäischen Mannschaften geleitet: AC Mailand, Juventus Turin, Paris Saint-Germain, Bayern München, Chelsea London und Real Madrid. In allen fünf europäischen Top-Ligen (Premier League, La Liga, La Ligue, Serie A und Bundesliga) wurden seine Teams Landesmeister, doch am beeindruckendsten ist seine Bilanz in der Champions League: fünf Triumphe als Trainer, zwei als Spieler.
Carlo Ancelotti
mit Chris Brady
Wie man die Champions League gewinnt
Aus dem Englischen übersetzt von Ursula Held, Hans-Peter Remmler und Andreas Thomsen
Die Originalausgabe dieses Buches erschien 2025 unter dem Titel Breaking Champions League Records bei Ebury Spotlight, einem Imprint von Penguin Random House UK, London.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Copyright © 2025 Carlo Ancelotti und Chris Brady
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe C.Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagabbildung: © Maxima S.p.A. archive/Attilio Capra
Satz: KCFG – Medienagentur
ISBN 9783641336752
www.cbertelsmann.de
Für Mariann
Einführung: Träume
Teil eins: Der Traum beginnt
Kapitel 1: Bei der Roma, 1983/84
Kapitel 2: Nur ein Scudetto, 1987/88
Kapitel 3: Das erste Mal, 1988/89
Kapitel 4: Das zweite Mal, 1989/90
Teil zwei: Magere Jahre
Kapitel 5: Herr Jemand, 1990 – 1995
Kapitel 6: Eine Liga für sich, 1995 – 2001
Teil drei: Milan – die Jahre als Coach
Kapitel 7: Vorgezogene Weihnachten, 2001/02
Kapitel 8: Das dritte Mal, 2002/03
Kapitel 9: Von La Coruña nach Istanbul, 2003 – 2005
Kapitel 10: Das vierte Mal, 2005 – 2007
Kapitel 11: Blau ist die Farbe, 2007 – 2011
Kapitel 12: Je ne regrette rien, 2011 – 2013
Teil vier: Madrid
Kapitel 13: Das fünfte Mal, 2013/14
Kapitel 14: Auf Wanderschaft, 2014 – 2019
Kapitel 15: Das sechste Mal, 2019 – 2022
Kapitel 16: Das siebte Mal, 2022 – 2024
Epilog: Die Saison 2024/25
Anhang
Dank
Namensregister
Bildteil
Bildnachweis
Träume
Beginnen möchte ich diese Geschichte mit einer unerwarteten Episode: mit einem Fußballspiel, ja, aber zwischen zwei ungewöhnlichen Mannschaften. Sie wurden von den großen italienischen Filmregisseuren Bernardo Bertolucci und Pier Paolo Pasolini angeführt, die zufällig beide in der Nähe meines Zuhauses drehten. Sie waren befreundet gewesen, hatten sich aber zerstritten, und um ihre Freundschaft zu kitten, schlug jemand ein Fußballspiel zwischen den beiden Filmteams vor. Bertolucci hatte jedoch nicht genügend Leute zur Verfügung und brauchte ein paar zusätzliche Spieler. Es war März 1975 und ich erst fünfzehn Jahre alt. Ich spielte damals noch als Mittelstürmer in der Jugendmannschaft von Parma. Nachdem wir unser Punktspiel am Samstag beendet hatten, lud man uns für den nächsten Tag zu einem Übungsspiel ein. Pasolini wurde gesagt, wir seien frisch angeworbene Werkzeugmacher, die am Set arbeiten sollten. Ich denke nicht, dass irgendjemand diese Behauptung geglaubt hat, aber der Plan ging auf. Der Fußball brachte sie wieder zusammen. Wir haben übrigens gewonnen, und Bertolucci bedankte sich bei uns allen für den entscheidenden Beitrag, den wir dazu geleistet hatten.
Um ehrlich zu sein, sagten mir die Namen Bertolucci und Pasolini zu dieser Zeit nicht viel. Aber das war mir gleichgültig, denn es war ein Fußballspiel, und ich wollte einfach nur spielen. Fußball war bereits mein Leben. Wie viele Jungen in diesem Alter träumte ich davon, Fußballer zu werden – und ich gehörte zu den Glücklichen, deren Traum wahr wurde. Vor fast genau fünfzig Jahren stand ich auf dem Spielfeld von Cittadella und bin von dort um die Welt gereist, um einem Ball hinterherzulaufen und meinen Fußballträumen nachzujagen.
So lange ich zurückdenken kann, war das mein Traum: Fußballer zu sein. Als Profi in Italien Fußball zu spielen. Ich bin auf einem Bauernhof in der Emilia-Romagna aufgewachsen, nördlich des Apennin und südlich der Alpen. Es gab nie viel Geld, und das wenige, das wir hatten, stammte aus dem Verkauf von Parmigiano – dem weltberühmten Käse aus der Region.
Ich habe nicht daran gedacht, weltberühmt zu werden. Ich wollte einfach nur Fußball spielen.
Nachdem dieser Traum Wirklichkeit geworden war, kam ein weiterer hinzu: Ich wollte für die beste Mannschaft Europas spielen.
Die Chancen, Profifußballer zu werden, sind ohnehin schon verschwindend gering. Aber auch noch einer Mannschaft anzugehören, die sich anschickt, die Stadien eines ganzen Kontinents zu erobern? Das gelingt nur sehr wenigen. Aber irgendwie habe ich auch das geschafft. Zuerst als Spieler und dann als Trainer. Mit dem AC Mailand habe ich zweimal hintereinander den Europapokal der Landesmeister gewonnen (1989 und 1990). Ein paar Jahre später bekam der Wettbewerb eine neue Form und einen anderen Namen. Zuvor ein reiner K.-o.-Pokal mit Hin- und Rückspiel, wurde nun eine Gruppenphase eingeführt und der Name in Champions League geändert, die viel schwieriger zu gewinnen war, weil man mehr Spiele bestreiten musste.
In jenem Sommer beendete ich meine aktive Laufbahn, sodass ich den neuen Modus als Spieler nicht mehr miterlebte. Aber als Trainer sollte es der wichtigste Wettbewerb in meinem Leben werden. Jahr für Jahr, Saison für Saison, war und ist er das ultimative Ziel, der Schatz am Ende des Regenbogens. Der Traum. Im Spitzenfußball ist die Champions League in jeder Saison etwas völlig anderes als das Rennen um den Meistertitel. Sie hat etwas von einem militärischen Feldzug. Eine Saison wird danach beurteilt, wie gut oder schlecht man in der Champions League abgeschnitten hat. Und irgendwie habe ich es geschafft, sie als Trainer fünfmal zu gewinnen. Ich kann kaum fassen, dass kein anderer Spieler oder Trainer häufiger im wichtigsten europäischen Vereinswettbewerb triumphiert hat. Ich habe zwei Europapokale der Landesmeister an der Seite fantastischer Teamkollegen errungen und hatte anschließend das Privileg, einige der besten Spieler der Welt zu trainieren, mit denen ich fünf Champions-League-Trophäen in die Höhe stemmen konnte. Die Liste der Stars, mit denen zusammenzuarbeiten ich die Ehre hatte, liest sich wie das Who’s Who des internationalen Fußballs der letzten vierzig Jahre. Bitten Sie mich nicht, aus dieser Galaxie meine beste Elf zusammenzustellen. Das könnte ich unmöglich tun!
Diese Geschichte handelt davon, wie sich mein Traum siebenmal erfüllte. Es ist aber auch die Geschichte all der vielen weiteren Gelegenheiten, bei denen sich dieses Ziel als unerreichbar erwies. So gesehen unterscheidet sich der Fußball gar nicht so sehr vom Rest des Lebens. Denn die Wahrheit ist, dass man die Champions League zumeist nicht gewinnt. Und ich hoffe, bescheiden genug zu sein, um meine Niederlagen als eine gute Lehre zu betrachten.
Aber das Gefühl der Befriedigung, wenn man am Ende alle anderen geschlagen hat, ist einfach unbeschreiblich. Dennoch will ich versuchen, es in Worte zu fassen.
Der Traum beginnt
Bei der Roma, 1983/84
Für manche Spieler wird gleich ihre erste Begegnung mit dem wichtigsten europäischen Vereinswettbewerb zu einem unvergesslichen Erlebnis, das ihnen fantastische Erinnerungen beschert. Sie schaffen es mit ihrer Mannschaft bis ins Endspiel und gewinnen es vor den Augen des gesamten Kontinents. Ja, vielleicht schießen sie sogar ein Tor. Und diese Erfahrung gibt ihnen etwas, wovon sie ihr Leben lang zehren können.
So viel Glück hatte ich leider nicht.
Mein erstes Europapokalfinale erlebte ich als frustrierter Zuschauer. Ich war ein junger Spieler bei der AS Rom, als wir uns durch das Turnier spielten. Zu meiner großen Enttäuschung verletzte ich mich jedoch, sodass ich erst das Halbfinale und dann auch noch das Finale verpasste. Vielleicht hätte es mich weniger gestört, wenn es kein Heimspiel für uns gewesen wäre. Denn das Endspiel wurde im Stadio Olimpico ausgetragen, was der Sache eine zusätzliche Dimension verlieh. Die Giallorossi, die gelb-rote Hälfte der Stadt, waren schier aus dem Häuschen angesichts dieser einmaligen Gelegenheit für ihren Club, den größten europäischen Vereinswettbewerb zu Hause, im eigenen Stadion, zu gewinnen.
Zur Wahrheit gehört, dass die europäischen Pokalwettbewerbe in den 1980er-Jahren zwar immer mehr an Bedeutung gewannen, aber – zumindest in Italien – längst nicht so wichtig waren wie die Serie A. Der Gewinn der Meisterschaft – lo scudetto, wie wir den Titel in Italien nennen – war immer die bedeutendere Prüfung und der wertvollere Preis. Um das Finale des Europapokals der Landesmeister zu erreichen, musste man nur acht Partien bestreiten – vier Heim- und ebenso viele Auswärtsspiele. Außerdem hatte man es in den ersten beiden Runden zumeist mit Gegnern aus weniger prestigeträchtigen Ligen zu tun. Mit der Roma haben wir nacheinander die Meister Schwedens, Bulgariens und Ostdeutschlands ausgeschaltet, alle mit einem Gesamtergebnis von zwei Toren Unterschied. Unser Halbfinalgegner zeigt jedoch, wie anders die Dinge damals noch liefen. Wir trafen auf die schottische Mannschaft Dundee United. Der schottische Meistertitel ging fast immer an Celtic Glasgow oder die Glasgow Rangers – abgesehen von einer kurzen Unterbrechung, als Alex Ferguson ihn mit Aberdeen dreimal gewann, bevor er zu Manchester United wechselte. Wie wir nahm auch Dundee United zum ersten Mal am Europapokal der Landesmeister teil. Wir verloren das Auswärtsspiel in Schottland mit 0:2, konnten zu Hause aber mit 3:0 gewinnen und kamen auf diese Weise doch noch ins Endspiel.
Die Roma wurde von Nils Liedholm trainiert, der einen großen Einfluss auf meine Karriere hatte. Ich war unter behüteten Umständen in der Poebene aufgewachsen und hatte noch nie zuvor so viel Zeit mit einem Ausländer verbracht. Er war Schwede, hatte als junger Mann aber für den AC Mailand gespielt, wo er den Spitznamen il Barone erhielt. Man erzählt sich, er sei ein so präziser und zuverlässiger Passgeber gewesen, dass die Zuschauer im San Siro ihn mit stehenden Ovationen bedachten, als er nach mehreren Spielzeiten schließlich einen Fehlpass produzierte.
Er hatte eine wechselhafte Karriere im Trainerkarussell des italienischen Fußballs. Am Ende war er viermal Cheftrainer des AC Mailand und genauso oft der Roma, was eine Art Rekord sein dürfte. Für mich war er deshalb so wichtig, weil er 1979, während seiner zweiten Amtszeit als Trainer in Rom, auf dem Rückweg von einem Urlaub in Salsomaggiore, einem Kurort am Fuß des Apennin, in der Nähe von Parma Halt machte, um mich unter Vertrag zu nehmen. Ich war gerade zwanzig geworden und spielte zu dieser Zeit noch als Stürmer. Er hatte die Idee, einen Mittelfeldspieler aus mir zu machen, eine Rolle, in der ich mich gleich viel wohler fühlte. In diesen ersten Jahren nahm er mich unter seine Fittiche, gab mir zahllose taktische Ratschläge und vermittelte mir nicht nur fußballtechnische Fertigkeiten, sondern auch Lebenskompetenzen, die sich in der Welt da draußen als sehr nützlich erweisen sollten.
Er war mein erster bedeutender Trainer, und von ihm habe ich gelernt, dass ein Chef nicht ständig seine ganze Autorität in die Waagschale werfen und unnachgiebig auf die Einhaltung der Regeln pochen muss. Er behielt immer die Ruhe – ich habe ihn nie schreien hören, kein einziges Mal. Mit seiner Bescheidenheit und ruhigen Ausstrahlung erinnerte er mich ein wenig an meinen Vater, der auch dann nicht die Beherrschung verlor, wenn die Ernte schlecht ausfiel. Er war recht entspannt in Bezug auf Zeiteinteilung und Ernährung. Vor allem aber legte er in taktischen Fragen eine große Gelassenheit an den Tag, denn er vertraute auf die Spielintelligenz seiner Männer und darauf, dass sie auf dem Platz wenn nötig schon eigene Lösungen finden würden. Außerdem besaß er einen ausgeprägten Sinn für Humor, den er dazu nutzte, um Druck und Spannungen abzubauen. Ich erinnere mich, dass ich einmal mit zwei Mannschaftskameraden und zwei Frauen in einem Auto saß, als Liedholm aus unserem Hotel kam, um sich ein wenig die Füße zu vertreten. Misstrauisch kam er zu uns herüber. Andere Trainer hätten uns wahrscheinlich die Leviten gelesen und aufs Zimmer geschickt. Das Seitenfenster war heruntergekurbelt. Er schaute hinein und fragte: »Ist für mich auch noch Platz?«
Der zweite Nicht-Italiener, in dessen Bannkreis ich zu dieser Zeit geriet, war der großartige Mittelfeldspieler Paulo Roberto Falcão, der jüngste Einkauf der Roma. Es gab zwei Brasilianer in der Mannschaft: Toninho Cerezo war eher ein Kämpfer und Arbeitstier, Falcão dagegen ein brillanter Spielgestalter und Anführer auf dem Platz. Selbst beim Training brachte er sich mit neuen Ideen ein. Bei seiner Ankunft etwa konnte er nicht verstehen, warum wir so viel ohne Ball trainierten. Diese Art von Austausch mag es auch anderswo in Europa gegeben haben, als immer mehr südamerikanische Spieler in unseren Ligen unter Vertrag genommen wurden, aber bei der Roma kam ich unter den direkten Einfluss eines brasilianischen Genies und eines schwedischen Vordenkers.
Allerdings hat Liedholm unsere Vorbereitung auf das Endspiel wahrscheinlich falsch eingeschätzt. Da der Ligabetrieb beendet war, konnten wir Rom verlassen und uns für eine Woche in die Berge zurückziehen. Er wollte, dass wir uns voll und ganz auf das Spiel konzentrieren und gleichzeitig ein wenig entspannen konnten, denn in Erwartung des größten Vereinsspiels der Welt war Rom der reinste Hexenkessel geworden. Aber im Nachhinein betrachtet, hat die Unterbrechung unserer normalen Routinen wohl eher das Gegenteil bewirkt. Die Atmosphäre in den Bergen war völlig anders und leider auch das Wetter. Es war kalt und nass, während in der Stadt bei unserer Rückkehr große Hitze herrschte. Das erklärt vielleicht auch, warum viele meiner Mannschaftskameraden unter Krämpfen litten, als das Spiel in die Verlängerung ging.
Aber ich war verletzt und beim Spiel gegen Liverpool, das den Titel in den letzten Jahren bereits dreimal gewonnen hatte, zum Zusehen verurteilt. Nach 120 ausgeglichenen Minuten stand es 1:1, was Elfmeterschießen bedeutete. Damals hatten die Mannschaften noch nicht so viel Erfahrung mit dem Elfmeterschießen, und das merkte man.
Im Nachhinein weiß ich aus langjähriger Erfahrung, dass das Elfmeterschießen zu hundert Prozent ein psychologisches Problem ist. Man kann es den ganzen Tag üben, aber das ist Zeitverschwendung. Jeder Spieler, der gut genug ist, um in einer Spitzenmannschaft zu spielen, kann auch einen Elfmeter verwandeln. Die Frage ist nur, ob er es auch dann kann, wenn ihm die ganze Welt dabei zusieht. Und ich fürchte, es gibt nur einen Weg, um das herauszufinden. Gleich zu Beginn meiner Karriere habe ich im Finale der Coppa Italia 1980 gegen den FC Turin einen Elfmeter für die Roma geschossen. Es war der erste des Elfmeterschießens, und ich habe getroffen. Ich war zwanzig Jahre alt und weiß noch, wie ich beim Anlaufen dachte: Ich schieße ihn rechts neben den Torwart. Der Ball ging tatsächlich rein, aber links. Man kann denken und planen, aber manchmal übernimmt der Instinkt das Kommando. Jenes Elfmeterschießen hatten wir gewonnen. Würden wir auch dieses Mal siegreich sein?
Spieler beider Seiten schossen den Ball über das Tor, aber leider mehr von uns als von ihnen. Um im Spiel zu bleiben, mussten wir unseren fünften Elfmeter verwandeln. Auch vierzig Jahre danach habe ich immer noch deutlich vor Augen, wie der Liverpooler Torwart Bruce Grobbelaar auf der Linie stand und mit den Beinen wackelte, als seien sie aus Gummi – »Spaghetti-Beine« nannten es die englischen Medien, glaube ich. Wenn er damit meinen älteren Mannschaftskameraden Francesco Graziani aus dem Konzept bringen wollte, dann ist ihm das gelungen. Grazianis Schuss klatschte an die Oberkante der Latte und flog über das Tor. Je nach Sichtweise bleibt dies einer der berühmtesten oder berüchtigtsten Momente in der Geschichte des Elfmeterschießens.
Die Roma verlor und Liverpool gewann zum vierten Mal den Europapokal der Landesmeister. Ich glaube, der Druck, das Finale im eigenen Stadion zu spielen, war letztlich einfach zu groß. Es wurde jedes Jahr in einer anderen Stadt ausgetragen, so wie heute auch bei der Champions League. Aber es kommt nur sehr selten vor, dass es für einen der beiden Finalisten ein Heimspiel ist. Vor 1984 war das nur zweimal der Fall, nämlich 1957 bei Real Madrid und 1965 bei Inter Mailand. Seither ist nur noch Bayern München im Jahr 2012 dazugestoßen. Diese Mannschaften hatten alle Erfahrung mit dem Europapokal der Landesmeister. Vielleicht war es für die Roma besonders schwer, weil es die erste Teilnahme des Vereins an diesem Wettbewerb war. Die Erwartungshaltung und der damit verbundene Druck waren einfach zu hoch. Es sollte übrigens bis heute das einzige Finale der Roma im wichtigsten europäischen Pokalwettbewerb bleiben.
Es war ein schmerzlicher Abend für mich als Zuschauer. Während ich von meinem Platz aus hilflos das Geschehen verfolgte, konnte ich noch nicht wissen, dass Liverpool viele Jahre später auch in zwei der denkwürdigsten Nächte meines Lebens der Gegner sein würde.
Das also war meine erste Begegnung mit dem Europapokal der Landesmeister. Zur nächsten kam es erst, nachdem ich die Roma verlassen hatte.
Nur ein Scudetto, 1987/88
Mailand war ein naheliegendes Ziel für mich. Obwohl eine Großstadt wie Rom, lag es nicht sehr weit von dem Ort entfernt, an dem ich aufgewachsen bin. Deshalb freute es mich, als ich Ende der Saison 1987 hörte, dass der AC Mailand an mir interessiert sei. Genauer gesagt war der neue Trainer Arrigo Sacchi an mir interessiert. Nach dem Weggang von Ray Wilkins brauchte er einen neuen zentralen Mittelfeldspieler.
Zu diesem Zeitpunkt konnte ich natürlich noch nicht wissen, wie wichtig Ray einmal für mich werden sollte, denn er stand mir später zur Seite, als ich nach England ging, um Chelsea zu trainieren. Doch zunächst einmal wollte Sacchi einen beweglicheren Spieler, um ihn zu ersetzen. Leider hatten Vereinspräsident Silvio Berlusconi und Geschäftsführer Adriano Galliani jedoch ihre Zweifel an meiner Beweglichkeit. Nach mehreren Verletzungen waren meine Knie nicht mehr ganz so gut in Schuss wie einst, und sie fürchteten, sich ein menschliches Wrack einzuhandeln. Auch der Vereinsarzt zeigte sich nach der obligatorischen Untersuchung besorgt. Aber Sacchi war sehr überzeugend. Ich weiß noch, dass Berlusconi sagte: »Ich kann Ancelotti nicht verpflichten. Der Arzt sagt, dass sein Knie nach der letzten Operation zwanzig Prozent seiner Beweglichkeit verloren hat. Er hatte Meniskusprobleme und wurde mehrmals operiert.« Sacchi antwortete, wie nur er es vermochte: »Mit Ancelotti werden wir Meister. Es ist mir egal, ob sein Knie zwanzig Prozent weniger beweglich ist. Ich würde mir nur Sorgen machen, wenn er im Kopf zwanzig Prozent weniger beweglich wäre.«
Das schien zu wirken.
Das Erstaunliche daran ist, dass Sacchi sich sein Urteil über meine Fähigkeiten bildete, ohne vor meiner Verpflichtung auch nur ein einziges Mal mit mir gesprochen zu haben. Er hatte so viele Informationen über mich und meinen Charakter gesammelt, wie er nur konnte. Als er noch Trainer in Parma war, hatte er sich über mich erkundigt und sogar einen Scout nach Rom geschickt, um zu erfahren, wie ich dort trainierte und wie hart ich zu arbeiten bereit war. Offenbar war er mit dem Ergebnis zufrieden.
Aber auch in Sacchis Augen war ich als Spieler noch längst nicht komplett. Berlusconi zufolge spielte ich wie ein Orchesterleiter, der keine Noten lesen könne. Sacchi versicherte ihm jedoch, dass er mir das Dirigieren schon noch beibringen werde. In der Praxis bedeutete das für mich, dass ich eine Stunde früher kommen musste, um mit einigen Spielern der Juniorenmannschaft zu trainieren. Auf diese Weise, so sagte er dem Boss, würden wir alles noch einmal durchgehen.
Sacchis Meisterschaftsversprechen zielte darauf ab, dass der AC Mailand sich dann für den Europapokal der Landesmeister qualifizieren würde. Denn das war Berlusconis großer Traum. Der Club hatte zuletzt schlechte Zeiten durchgemacht und war erst im Jahr zuvor von ihm gekauft und damit vor dem Bankrott gerettet worden. Seinen letzten Scudetto hatte der Verein 1979 gewonnen, war seither aber zweimal in die Serie B abgestiegen – 1980/81 und 1982/83, die einzigen Male in seiner Geschichte. Der Vereinspräsident war also sehr ehrgeizig, wenn er aus dem AC Mailand eine Spitzenmannschaft machen wollte, die es mit Liverpool, Juventus Turin, Real Madrid und Bayern München aufnehmen konnte. Und ich war offenbar ein Puzzlestück in diesem Vorhaben.
Die Roma wollte nicht, dass ich gehe, und stimmte erst im allerletzten Moment Verhandlungen mit dem AC Mailand zu, sodass meine Papiere per Privatjet und Motorradkurier in die Ligazentrale gebracht werden mussten.
Dabei war Sacchi selbst ein Neuling im Verein. Nils Liedholm, mein alter Trainer bei der Roma, war gerade vom AC Mailand entlassen worden. Und sein Nachfolger war eine echte Ausnahmeerscheinung im italienischen Fußball. Sacchi hatte nie professionell Fußball gespielt und eine Zeit lang sogar als Schuhverkäufer gearbeitet. Er war erst in seinen Dreißigern, als er mit Parma Erfolge feierte, die Berlusconi auf diesen Trainer aufmerksam machten. Ungeachtet seiner Meriten nannten ihn die Medien Signor Nessuno. Herr Niemand.
Die von Sacchi zusammengestellte Mannschaft wurde in der italienischen Presse als »Die Unsterblichen« bekannt. Im Jahr 2007 befragte das Magazin World Soccer eine internationale Expertengruppe nach der besten Mannschaft aller Zeiten. An erster Stelle lag Pelés brasilianische Nationalmannschaft, die 1970 Weltmeister geworden war, gefolgt von den Ungarn, die 1953 unter der Führung von Ferenc Puskás England in Grund und Boden gespielt hatten. Den dritten Platz belegte die niederländische Mannschaft um Johan Cruyff, die das Finale der Weltmeisterschaft 1974 verloren hatte. Die bestplatzierte Vereinsmannschaft war Sacchis AC Mailand auf Platz vier.
Warum waren sie – waren wir – so gut?
Wir hatten Franco Baresi, unseren Kapitän. Er war ein Löwe im Abwehrzentrum. Ihn zeichneten eine unfassbare Widerstandskraft, eine fantastische Arbeitsmoral und großes technisches Geschick aus – er war ebenso Ballkünstler wie gnadenloser Abräumer. Vor allem aber verlieh ihm der kühle Blick seiner blauen Augen eine ungeheure Aura der Autorität. Das zeigte sich nicht abseits des Platzes, wo er ein eher introvertiertes Verhalten an den Tag legte. Aber auf dem Spielfeld, mitten in der Schlacht, war seine Stimme laut und deutlich zu hören.
Baresi war der wichtigste Baustein der Mannschaft. Von ihm ging alles aus. Hilfreich war allerdings auch das starke niederländische Element, das Sacchi seiner italienischen Mannschaft hinzufügte. Die holländischen Spieler waren mit dem »Totalen Fußball« der 1970er-Jahre aufgewachsen, einem Stil, der den Spielern ein hohes Maß an Flexibilität abverlangt, aber auch die Eigeninitiative fördert. In den Niederlanden herrschte nämlich eine Kultur, in der die Spieler ihre Meinung sagten. Die Niederländer schätzen Streitkultur. Das konnte in der niederländischen Nationalmannschaft auch schon mal zu Problemen führen, wenn die älteren Spieler scheinbar mehr zu sagen hatten als der Trainer. Aber für uns hat es funktioniert. In jenem Sommer kamen zwei großartige Spieler, die ein schlagkräftiges Angriffsduo bilden sollten: Ruud Gullit und Marco van Basten. Van Basten war ein unglaublicher Techniker, während Gullit mit seinem starken Charakter eine echte Führungspersönlichkeit und ein großer Motivator wurde.
Gullits Qualitäten waren auch deshalb gefragt, weil Baresi in der Umkleidekabine nicht unbedingt ein Lautsprecher war. Auch auf dem Spielfeld war er nicht wirklich laut, hatte aber eine gewisse Präsenz. Wegen seiner relativ geringen Körpergröße von 1,77 m sahen viele ihn nur als Libero. Dabei war er ein starker Kopfballspieler und vielseitiger Verteidiger, der sich auch in der heutigen Spielweise wohlfühlen würde – wie in jeder anderen Ära. Zur gleichen Zeit kam Roberto Donadoni, ein großartiger, schneller und defensiv orientierter Mann fürs rechte Mittelfeld. Der spannende junge Linksverteidiger Paolo Maldini sollte ebenfalls ein ganz Großer werden. Im folgenden Jahr vergrößerte sich unser niederländisches Kontingent durch die Ankunft Frank Rijkaards auf drei Spieler. Als defensiver Mittelfeldmann vereinte er Kraft und technisches Können in sich.
Ich wurde im zentralen Mittelfeld als eine Art Stabschef eingesetzt, der seinen Verstand auf dem Spielfeld einbrachte. Als Befehlshaber auf dem Schlachtfeld, der mitten im Getümmel agierte, hatte ich eine sehr spezifische Aufgabe, die mit viel harter Arbeit verbunden war. Sacchi stützte sich auf meine Fähigkeit, einen Großteil des Spielfeldes abzudecken, »ohne dafür körperlich eine Bestie sein zu müssen«. Ich glaube, er wollte damit sagen, dass es mir an Geschwindigkeit mangelte.
Die Anforderungen, die Sacchi an mich stellte, waren weit höher als alles, was man mir bei der Roma abverlangt hatte. Ich sollte als Bindeglied zwischen Baresi in der Innenverteidigung und Gullit in der Angriffsspitze agieren, denn wir drei waren das Rückgrat in Sacchis System. Seine Taktik wurde seither von vielen Trainern übernommen, aber in den späten 1980er-Jahren war sie innovativ, ja geradezu revolutionär – vor allem im italienischen Fußball, den Sacchi in jeder Hinsicht veränderte. Das betraf nicht nur neue Trainingsmethoden und Taktiken, sondern auch das deutlich höhere Niveau und Tempo, mit dem gespielt wurde. Dabei lag der Schwerpunkt stets auf der Verteidigung. Nach Sacchis Philosophie war Angriff allerdings die beste Verteidigung.
Sacchi schaffte den traditionellen italienischen Libero ab und führte die Raumdeckung mit zwei Viererketten ein. Dank Baresis Fähigkeiten konnte diese Umstellung ohne allzu große Schwierigkeiten vollzogen werden. Wir haben es unablässig geübt. Um dem Gegner möglichst wenig Raum zum Spielen zu geben, verringerte Sacchi den Abstand zwischen der Verteidigung und der vordersten Linie. Sobald wir den Ball erobert hatten, sollten wir ihn zügig durch die gegnerischen Reihen spielen. Baresi hielt eine hohe Linie im Zentrum der Verteidigung, während der hochgewachsene und agile Gullit vorne ständig in Bewegung war. Als Bindeglied zwischen den beiden musste ich wahnsinnig viel laufen. Sacchi bestand darauf, dass wir nie zu weit voneinander entfernt waren. Um uns an den Gedanken zu gewöhnen, dass wir genaue Abstände einhalten mussten, band er uns im Training sogar mit Seilen aneinander. Wenn ich das aufschreibe, klingt es ziemlich verrückt, und damals kam es mir auch so vor. Aber das Ergebnis gab ihm recht. Nach drei Spielzeiten in Sacchis System hatte ich nicht nur sechs Kilogramm abgenommen, sondern auch einen Scudetto und zwei Europapokale gewonnen.
Die Meisterschaft holten wir gleich in meinem ersten Mailänder Jahr. In der Saison 1987/88 fiel die Entscheidung in der Serie A erst kurz vor Schluss, und zwar in unserem Auswärtsspiel beim amtierenden Meister SSC Neapel, wo wir vor der bedrohlichen Kulisse des Stadio San Paolo antreten mussten. Zu Hause hatten wir Napoli mit 4:1 geschlagen, ein Sieg, der uns so sehr beflügelte, dass wir Anfang Mai Tabellenzweiter waren, mit nur einem Punkt Rückstand auf den Titelverteidiger. Napoli wurde von seinem Kapitän und Talisman Diego Maradona angeführt, der seit seiner Ankunft zu Beginn der Saison 1984/85 maßgeblich dazu beigetragen hatte, dass die Stadt den ersten Meistertitel der Vereinsgeschichte feiern konnte. Und gerade durchlebte er das, was er später als seine bis dahin beste Saison bezeichnen sollte. »Ich will keine einzige Mailänder Fahne im San Paolo sehen«, sagte er vor dem Spiel. »Wir sind hier zu Hause, und für sie muss es wie ein Friedhof sein. Hier müssen sie sterben. Ich will das San Paolo ganz und gar in Blau sehen.« Das Stadion fasst 82 000 Zuschauer, das war also eine Menge an Blau.
Das Spiel wird häufig als eines der größten in der Geschichte der Serie A bezeichnet. Es war das perfekte Finale – der amtierende Meister gegen den Tabellenzweiten. Der Titelverteidiger gegen den Herausforderer.
Das erste Tor fiel nach etwa dreißig Minuten. Ich war noch etwa sechzig Meter vom gegnerischen Tor entfernt, als ich an den Ball kam. Ich hob den Blick, erkannte direkt vor mir einen freien Raum und lief hinein. Immer weiter stieß ich vor, es war, als hätte sich das Meer vor mir geteilt. Kein Spieler von Napoli stellte sich mir in den Weg, bis ich kurz vor der Strafraumgrenze zu Fall gebracht wurde. Den fälligen Freistoß legte ich nach links auf Evani ab, dessen Schuss von der Mauer abgefälscht wurde. Aber der Ball landete genau vor den Füßen des aufmerksamen Pietro Paolo Virdis, der ihn am herauseilenden Torwart vorbei in den Kasten schob. Zwei Minuten vor der Halbzeit erzielte Maradona den Ausgleich mit einem fulminanten Freistoß aus gut zwanzig Metern, der im linken Torwinkel einschlug. Das kam nicht unerwartet, aber wie sollte man ein Freistoßtor von Maradona verhindern? Gullit versuchte es zumindest, schraubte sich am Ende der Mauer in die Luft und hätte den Ball auch beinahe mit dem Kopf erwischt. Maradona behauptete später, er habe absichtlich versucht, Gullit seine berühmten Dreadlocks oben wegzurasieren.
Maradona war ohne Zweifel der beste Fußballer, gegen den ich je gespielt habe. Er war kaum aufzuhalten und hatte nicht nur unfassbare Fähigkeiten am Ball, sondern verfügte auch über enorme Kraft und Geschwindigkeit. In dieser Partie spielte er einen unglaublichen Rabona-Pass auf den brasilianischen Stürmer Careca. Ich versuchte, ihn durch engen Körperkontakt halbwegs in Schach zu halten, aber er hat sich nie beschwert. Nach Ende unserer aktiven Karrieren begegneten wir uns häufig bei Veranstaltungen und wurden gute Freunde. Er war sehr bescheiden, und trotz aller Kontroversen um seine Lebensführung war sein Tod ein großer Verlust für den Fußball. Maradona schien mich auch als Spieler zu respektieren. »Arrigo«, sagte er einmal zu Sacchi, »unter dir läuft Ancelotti schnell.« »Er läuft nicht schnell, er denkt schnell«, antwortete mein Trainer. Zwei ganz Große des Fußballs, die sich liebevoll über einen unterhalten – besser geht’s eigentlich kaum.
Doch zurück zum Spiel. Wir mussten gewinnen, also brachte Sacchi zur zweiten Halbzeit van Basten für Donadoni und beorderte Gullit ins Sturmzentrum. Von diesem Moment an hatten wir Oberwasser. Oder besser gesagt: Gullit hatte Oberwasser. Er versetzte Napolis Abwehr in Angst und Schrecken und bereitete zwei Tore vor, erst von rechts und dann von links. Wenn ein groß gewachsener Spieler gut spielt, ist er genauso schwer zu stoppen wie Maradona. Und Gullit war ein erstklassiger Spieler. Von der rechten Seite flankte er perfekt auf Virdis, der unser zweites Tor köpfte. Wir waren wieder in Führung. Schließlich gab er Napoli den Rest: Er tauchte auf der linken Seite auf, stürmte an den zurückweichenden Verteidigern vorbei und spielte den Ball in aller Seelenruhe van Basten in den Lauf, der ihn ins leere Tor schoss. Man vergisst leicht, wie schnell Gullit war – es war ein blitzschneller Gegenangriff. Es stand 3:1 für Mailand, und wie sich zeigte, war damit nicht nur das Spiel, sondern auch die Meisterschaft entschieden. Denn Napoli konnte keines seiner letzten beiden Spiele gewinnen. Wir hatten uns für den Europapokal der Landesmeister qualifiziert und hielten uns dafür gerüstet. Ob wir es auch waren, sollten wir bald herausfinden.
Das erste Mal, 1988/89
Es war über vier Jahre her, seit ich das letzte Mal mit der Königsklasse zu tun hatte, und da war ich am Ende nur Zuschauer gewesen. Damals, bei der Roma, war ich verletzt. Jetzt, im Herbst 1988, war ich wieder zum Zusehen verurteilt. Nur war es diesmal keine Verletzung, die mich vom Spielfeld fernhielt, sondern Disziplinlosigkeit.
Lassen Sie mich das erklären. Der AC Mailand von Arrigo Sacchi startete mit einem leicht errungenen Sieg gegen den bulgarischen Meister Lewski Sofia in die Europapokalsaison. Am 6. Oktober besiegten wir sie zu Hause mit vier Toren von Marco van Basten. In den folgenden Jahren sollte sich unser niederländischer Stürmer zum Schreckgespenst der Abwehrreihen in ganz Europa entwickeln, und die Saison 1988/89 war erst der Anfang. Zu ihm und Ruud Gullit gesellte sich nun auch ihr Landsmann Frank Rijkaard. Das ohnehin schon immense Selbstvertrauen der drei hatte im Sommer noch weiteren Auftrieb erhalten, nachdem die Niederlande erstmals einen internationalen Titel gewonnen hatten und in Westdeutschland Europameister geworden waren. Zusammen mit drei Mailänder Mannschaftskameraden spielte ich in der italienischen Mannschaft, die ein verregnetes Halbfinale gegen die Sowjetunion verlor.
Nach Lewski Sofia bekamen wir es mit einer höheren Hürde zu tun. Roter Stern Belgrad war der Vertreter Jugoslawiens in dieser Saison. Und die Mannschaft hatte es in sich, denn zu ihrem Kader gehörten einige ganz besondere Spieler, die 1991 selbst den Europapokal gewinnen sollten. Der montenegrinische Mittelfeldspieler Dejan Savićević etwa wurde hinter Jean-Pierre Papin von Marseille Zweitplatzierter bei der Verleihung des Ballon d’Or und wechselte später zum AC Mailand. Der blonde kroatische Mittelfeldspieler Robert Prosinečki wurde bei der Weltmeisterschaft 1990 als bester junger Spieler ausgezeichnet und spielte später für Real Madrid und den FC Barcelona. Aber vor allem Dragan Stojković war zu beachten, ein wahrer General, der sich darauf verstand, im zentralen Mittelfeld subtile Muster zu weben. Außerdem war er äußerst gerissen und hatte die geradezu unheimliche Fähigkeit, seine Gegenspieler zu provozieren – was ihm bei mir im San Siro auch gelang.
Nach dem Hinspiel gerieten wir aneinander, und am Ende unseres Disputs sagte er zu mir: »Ich warte in Belgrad auf dich.« Das Spiel endete 1:1. Stojković eröffnete den Torreigen zu Beginn der zweiten Halbzeit mit einem raffinierten Dribbling, bevor er unseren Torwart mit einem Schuss auf den kurzen Pfosten überwand. Die Jugoslawen feierten ausgelassen, denn auch wenn wir nur eine Minute später den Ausgleich erzielten, war ein Tor in der Fremde nach der damals noch geltenden Auswärtstorregel doppelt so viel wert. Es war eine giftig geführte Begegnung, und ich war einer von fünf Spielern, die eine Verwarnung erhielten. Das sollte sich als wichtig erweisen.
Zwei Wochen später fuhren wir zum Rückspiel nach Belgrad. Das Stadion von Roter Stern ist selbst unter den besten Umständen immer noch einschüchternd, und nach dem Auswärtstor der Jugoslawen wussten wir, dass sie nur schwer zu bezwingen sein würden. Aber ich war fest entschlossen, mich nicht einschüchtern zu lassen. Als wir uns im Tunnel aufstellten, fand ich Stojković und begrüßte ihn. »Da bin ich«, sagte ich, »und jetzt spielen wir.« Ich weiß nicht, ob er mein Italienisch verstanden hat, aber die Gesten, die meine Worte begleiteten, waren unmissverständlich.
Wir gingen auf das Spielfeld, und eine meiner ersten Aktionen nach dem Anpfiff bestand darin, mir eine weitere gelbe Karte einzuhandeln. Wen ich dafür gefoult habe, ist nicht schwer zu erraten – Stojković natürlich. Es war unser erster Kontakt in diesem Spiel. Zu allem Überfluss wurde auch noch mein Mannschaftskamerad Virdis vom Platz gestellt, und wir kassierten ein Gegentor. Unsere Mannschaft stand vor dem Aus – wir lagen nicht nur zurück, Belgrad hatte auch noch ein Auswärtstor auf der Habenseite, und wir waren nur noch zu zehnt. Das Ausscheiden der Mannschaft, die später den Beinamen »Die Unsterblichen« erhalten sollte, schien unmittelbar bevorzustehen.
Doch dann wurden wir auf wundersame Weise gerettet. Dichte Nebelschwaden zogen auf und hüllten das gesamte Spielfeld ein. Herbstnebel sind in diesem Teil der Welt offenbar nichts Besonderes, aber dieser hier war ungewöhnlich heftig. Schon beim Anpfiff war die Sicht nicht perfekt, aber in der zweiten Halbzeit konnte man kaum noch die Spieler neben sich ausmachen, von den weiter entfernten gar nicht zu reden. Ich bin sicher, dass die Zuschauer so gut wie gar nichts erkennen konnten. Wenn man sich heute die Übertragung des Spiels auf YouTube ansieht, fragt man sich unwillkürlich, woher die Kameraleute wussten, wohin sie ihre Objektive richten mussten. Schließlich, nicht lange nach Savićevićs Treffer zu Beginn der zweiten Halbzeit, musste das Spiel abgebrochen werden. Man mag es Glück, Schicksal oder auch göttliche Fügung nennen.
Das Spiel mochte abgebrochen worden sein, meine zweite gelbe Karte aber wurde nicht gestrichen. Das bedeutete, dass ich für das Wiederholungsspiel am nächsten Tag gesperrt war und auf der Tribüne Platz nehmen musste. Sacchi war so wütend, dass er mir eine Geldstrafe aufbrummte.
Im Vergleich zu meinem Mannschaftskameraden Roberto Donadoni hatte ich aber noch Glück, denn er fehlte aus weit ernsteren Gründen. Kaum zu glauben, aber bei der Neuauflage des abgebrochenen Spiels wäre er beinahe gestorben. Es passierte, als Roberto und Vasilijević von Roter Stern bei einem Kopfballduell in der Luft zusammenstießen. Vasilijević traf ihn mit voller Wucht – mit Kopf und Ellbogen.
Roberto verlor sofort das Bewusstsein und stürzte unkontrolliert zu Boden. Der Anblick war schrecklich, denn er schien Krämpfe zu haben und lief blau an. Der Teamarzt von Roter Stern und unser Masseur haben ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Wenn ich mich richtig erinnere, musste der Arzt ihm den Kiefer brechen, um die verschluckte Zunge herausziehen zu können, andernfalls wäre er vermutlich erstickt. Dann begann Donadoni, mit den Füßen auf den Boden zu stampfen, was wohl ein Symptom für eine schwere Kopfverletzung sein kann.
Der Rest von uns war völlig traumatisiert und reagierte auf unterschiedliche Weise. Van Basten brach in Tränen aus und wollte nicht weiterspielen. Heute wäre das Spiel sofort abgebrochen worden. Roberto wurde umgehend ins Krankenhaus gebracht, doch das Spiel ging zunächst weiter, und wir wussten nicht, wie es ihm ging. Dann gab es eine Lautsprecherdurchsage. Paolo Maldini sagte mir hinterher, dass er dem Spieler von Roter Stern, der ihm die Durchsage übersetzt hatte, für immer dankbar sein würde. Demnach war Roberto außer Lebensgefahr. Paolo gab die guten Neuigkeiten an uns Übrige weiter.
Wie nicht anders zu erwarten, wurde es eine unruhige Nacht, schließlich lag einer unserer Mitspieler im Krankenhaus. Wir mussten schlafen, waren aber zu aufgewühlt und hatten Angst um unseren Freund. Jeder Fußballer will Spiele gewinnen, aber das hier war wichtiger. Mit anderen Worten: Es wurde eine wirklich schwierige Nacht für uns.
Zum Glück für Virdis und mich wirkte sich unser Fehlverhalten nicht negativ auf das Ergebnis des Wiederholungsspiels aus. In der ersten Halbzeit gelang van Basten mit einem wuchtigen Kopfball der Führungstreffer, bevor der unvermeidliche Stojković nur vier Minuten später den Ausgleich erzielte. Von Savićević auf der linken Seite freigespielt, durchbrach er unsere Abwehr und schloss mit einem präzisen Linksschuss ab. Eigentlich erzielte van Basten ein weiteres Tor. Der Ball hatte eindeutig die Torlinie überschritten, aber damals gab es weder VAR noch Torlinientechnologie, und der Schiedsrichter erkannte den Treffer nicht an. Da keine weiteren Tore mehr fielen, musste ich einmal mehr wie ein Nervenbündel von der Tribüne aus zusehen, wie sich meine Mannschaft im Elfmeterschießen schlug. Unser Anführer Baresi zeigte den anderen, wie’s geht, und hämmerte den ersten Elfmeter unter die Latte. Wir haben alle unsere Elfmeter verwandelt, und unser Torwart Giovanni Galli hat zwei gehalten. Wir waren durch.
Was für eine seltsame und dramatische Woche. Heutzutage würde es zu einer solchen Situation vermutlich gar nicht erst kommen. Andererseits gäbe es ohne den Nebel vielleicht keine Geschichte über den AC Mailand und meinen Traum von der Champions League zu erzählen. Nicht, dass ich die zusätzliche Motivation gebraucht hätte, aber der Verein versprach, mir die Geldstrafe zu erlassen, sollten wir den Europapokal gewinnen.
Dann kam die Mannschaft von Werder Bremen, gegen die wir zwei wirklich enge Spiele hatten. Im Hinspiel in Deutschland hatte van Basten die besten Chancen. Ein Eckball landete bei ihm am langen Pfosten, und er köpfte ihn so kraftvoll nach unten, dass er wie eine Flipperkugel von den Bremer Spielern abprallte und an die Unterkante der Latte klatschte, bevor ihn schließlich jemand klären konnte. Der Ball war ohne Zweifel hinter der Torlinie, was die Torlinientechnik heute sicher bestätigen würde. Fairerweise muss man sagen, dass auch den Bremern ein Tor aberkannt wurde – wegen eines Foulspiels an unserem Torwart, das in meiner Erinnerung gar keins war.
Auch das Rückspiel in Mailand war spannend, aber wir hatten Bremen im Griff. Van Basten entschied die Partie mit einem Elfmeter, und wir standen im Halbfinale.
Jetzt wurde es allerdings erst richtig ernst, denn unser Gegner hieß Real Madrid. Das war genau die Art von Spiel, die unser Präsident sich wünschte, denn Real war die Messlatte für seinen AC Mailand. In diesem Halbfinale würde er sehen, wie weit sich die Mannschaft in der kurzen Zeit seit Sacchis Amtsantritt bereits entwickelt hatte. Es war die bis dahin härteste Prüfung für sein Projekt. Natürlich wäre ihm, wie uns allen, dieses Spiel als Finale lieber gewesen. Ich sage das auch mit Blick auf das andere Halbfinale, das von Steaua Bukarest und Galatasaray Istanbul bestritten wurde. Wir waren überzeugt, diese beiden Mannschaften schlagen zu können, aber Real Madrid war ein völlig anderes Kaliber. Es war der dickste Fisch im Teich, und wenn uns ein Sieg gelingen sollte, hätten wir schon eine Hand am Pokal.
Real war der Hochadel des europäischen Fußballs. Es hatte den Europapokal der Landesmeister häufiger als jeder andere Club gewonnen, darunter fünfmal in Folge in den ersten fünf Jahren seines Bestehens. Und in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre waren sie fast genauso stark. Sie hatten den Pokal zwar schon länger nicht mehr gewonnen, aber es war ihr drittes Halbfinale nacheinander, und sie schickten sich an, in La Liga den vierten Meistertitel in Folge zu holen. Die Stars der aktuellen Mannschaft spielten in der Offensive. Dem spanischen Stürmer Emilio Butragueño stand der mexikanische Torjäger Hugo Sánchez zur Seite, dem in 282 Pflichtspielen für Real sagenhafte 208 Tore gelangen. Hinter den beiden zog Bernd Schuster, der blonde deutsche Spielgestalter, die Fäden.
Das Hinspiel in Madrid war ein gutes Spiel und offener, als die meisten erwartet hatten. Vor allem in der ersten Halbzeit waren wir so überlegen, dass sogar Baresi sich in den Angriff einschalten konnte. Einmal brach er auf der linken Seite durch und spielte Maldini im Strafraum an. Es war, als sei unsere gesamte taktische Formation auf den Kopf gestellt. Ich weiß noch, wie ich mich fragte, was die beiden so weit vorn zu suchen hatten. Vielleicht war es der holländische Einfluss – Totaler Fußball, vorgeführt von zwei gebürtigen Mailändern.
Dennoch gerieten wir kurz vor der Halbzeitpause in Rückstand. Es war ein ausgesprochen dummer Gegentreffer, denn er offenbarte eine ungewohnte Nachlässigkeit im Abwehrverhalten. Ein von der linken Seite getretener Eckball wurde zu Sánchez weitergeleitet, der das Leder aus gut sechs Metern mit einem Volleyschuss in die Maschen beförderte. Und keiner von uns war auch nur in der Nähe der beiden Madrilenen. Sánchez bejubelte seine Tore gern mit einem spektakulären Handstandüberschlag. Und wir hatten eigentlich verhindern wollen, dass er eine weitere Gelegenheit für seine akrobatische Einlage bekam.
In der zweiten Halbzeit hielten wir Real in Schach, während wir gleichzeitig auf das so wichtige Auswärtstor drängten. Es fiel fünfzehn Minuten vor Schluss und kam gewissermaßen aus dem Nichts. Die Mühe hat sich auf jeden Fall gelohnt. Unser rechter Außenverteidiger Mauro Tassotti trieb gerade den Ball durchs Mittelfeld, als er van Basten an der Strafraumgrenze bemerkte. Seltsamerweise griff ihn niemand an, sodass er unbedrängt flanken konnte. Um ehrlich zu sein, war es kein guter Ball, der auf Hüfthöhe in Richtung Strafraum flog – zu hoch für eine Direktabnahme und für einen Kopfball eigentlich zu tief. Aber zur Überraschung seines Gegenspielers trat van Basten an und hechtete dem Ball entgegen. Trotz der Entfernung hatte sein Flugkopfball so viel Wucht, dass er über den Torwart hinwegflog und von der Unterkante der Latte ins Tor prallte. Nur van Basten konnte solche Tore machen.
Obwohl beide Mannschaften zahlreiche Torchancen hatten, endete das Spiel mit 1:1, und wir konnten uns über das ebenso wertvolle wie hart erkämpfte Auswärtstor freuen. Zurück in Mailand wussten wir, dass wir alles versuchen mussten, um diesen kleinen Vorteil auszunutzen.
Das taten wir auch, und zwar auf Sacchi-Art. Man könnte dieses Rückspiel durchaus als den Moment bezeichnen, in dem die Fußballwelt zum ersten Mal die Größe dieser Mailänder Mannschaft erkannte, und ich war ebenso stolz wie begeistert, ein Teil davon zu sein. Sacchi ließ mich etwas weiter vorne spielen als üblich und sagte mir, er habe Vertrauen in meine Fähigkeit, »auf jeder Position zurechtzukommen«. Und sein Vertrauen gab mir natürlich Selbstvertrauen.
Bei diesem Spiel gegen Real Madrid haben wir damit angefangen, stärker ins Pressing zu gehen als jede andere Mannschaft. Sacchis Philosophie lautete: Um den Ball zu verteidigen, muss man ihn angreifen, wenn die gegnerische Mannschaft in Ballbesitz ist, ganz gleich wo auf dem Spielfeld sich der ballführende Spieler befindet. Das war weit entfernt von der gängigen Praxis in Italien, wo immer noch der Catenaccio die vorherrschende Spielweise war. Bei diesem System zieht man sich trichterförmig in Richtung eigenes Tor zurück, sobald der Gegner in Ballbesitz ist. Unser neues System baute auf eine Intensität, mit der wir den Gegner überrumpelten.
Madrid jedenfalls kam mit dieser Intensität überhaupt nicht zurecht. Ich habe gehört, dass wir ihnen in diesem Spiel 48-mal den Ball abgenommen haben. Ich weiß nicht, ob das stimmt, kann aber mit Sicherheit sagen, dass sie sich schwertaten und den Ball sehr oft hergeben mussten. Ich glaube, Real Madrid wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass wir so spielen konnten. Damals gab es einfach noch nicht viele Informationen. Was wir machten, war völlig neu für sie. Vielleicht kam uns der Umstand entgegen, dass man in den 1980er-Jahren ausländische Gegner vor einem Spiel oftmals gar nicht detailliert analysieren konnte. Es war die Vor-Moneyball-Ära, in der noch nicht jedes Spiel auf irgendwelchen Satellitenkanälen übertragen wurde, sodass die Trainer weniger Zugang zu statistischen Daten hatten.
Das Selbstvertrauen, das Sacchi mir eingepflanzt hatte, führte zu einem der schönsten Tore meiner gesamten Karriere. Dazu kam es folgendermaßen. In der siebzehnten Spielminute wurde Gullit auf der rechten Seite von gleich vier Gegenspielern bedrängt, bahnte sich aber irgendwie einen Weg zwischen ihnen hindurch und spielte mich kurz hinter dem Mittelkreis an. In der Mitte war mehr Platz, weil sich die halbe gegnerische Mannschaft um Gullit versammelt hatte. Schuster stellte sich mir in den Weg, doch ich legte den Ball mit einer Täuschung rechts an ihm vorbei. Mit dem nächsten Gegenspieler machte ich es genauso. Plötzlich war da niemand mehr, und ich hatte freie Schussbahn. Das Tor war noch weit entfernt – wahrscheinlich dreißig Meter –, aber ich legte meine ganze Kraft in den Schuss. Es war ein großartiger Anblick, als der Ball über alle Verteidiger und die ausgestreckte rechte Hand des zu weit vor seinem Kasten stehenden Torwarts hinwegflog und im Netz landete. Harte Weitschüsse gehörten zwar durchaus zu meinem Repertoire, aber wenn einem ein solcher Abschluss in einem so wichtigen Spiel gelingt, ist das schon etwas ganz Besonderes. Ich konnte es kaum fassen und rannte jubelnd in Richtung Trainerbank, wurde aber von meinen Mitspielern abgefangen, die mich mit ihrer Freude schier erstickten. Für hollywoodreife Aktionen waren meistens andere aus der Mannschaft zuständig. Aber zu diesem Spiel mit einem solchen Treffer beizutragen, bedeutete mir sehr viel.
Unsere drei holländischen Europameister verfügten allesamt über eine enorme Physis und Spielstärke. Wenn sie so richtig in Fahrt kamen, spielten sie jede Mannschaft schwindelig – selbst Real Madrid. Ein ums andere Mal versetzten sie die Abwehr der Madrilenen in Furcht und Schrecken. Zunächst erzielte Rijkaard ein herrliches Kopfballtor. Dann traf auch Gullit aus beinahe derselben Position mit dem Kopf. In der zweiten Halbzeit kombinierten sich die drei zu einem fußballerischen Meisterwerk. Rijkaard chippte den Ball nach vorne zu Gullit, der ihn mit dem Kopf auf van Basten ablegte, der den Ball mit dem linken Fuß in die Maschen drückte. An diesem Abend waren sie einfach nicht aufzuhalten.
Als Tüpfelchen auf dem i erzielte dann mein Freund Donadoni, der sich von den Strapazen in Belgrad vollständig erholt hatte, unser fünftes und letztes Tor. Nach einem kurz ausgeführten Eckball auf der rechten Seite wurde er sofort wieder angespielt, dribbelte zur rechten Strafraumecke und versenkte den Ball mit einem strammen, flachen Linksschuss am kurzen Pfosten.
Dieser Abend im San Siro bleibt die schlimmste Niederlage, die Real Madrid jemals in diesem Wettbewerb erlitten hat. Das einzig vergleichbare Ergebnis gab es 1982 gegen Kaiserslautern, aber damals wurden drei Madrilenen vom Platz gestellt. Eine solche Ausrede hatten sie gegen uns nicht.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Sacchi ganz genau wusste, was er tat, dann lieferte ihn das Finale. Es fand im Camp Nou in Barcelona statt, das mit 90 000 Fans unserer Mannschaft gefüllt war. Ich erinnere mich noch gut an die Atmosphäre, die dort herrschte. Unser Gegner war Steaua Bukarest, dessen Fans nicht aus dem kommunistischen Rumänien ausreisen durften. (Später im Jahr 1989 änderte sich in Osteuropa alles, aber das ist eine andere Geschichte.) Jedenfalls standen unsere Chancen so gut, dass eine Niederlage unmöglich schien. Und so kam es auch.
Alles lief wie am Schnürchen. Sacchi bevorzugte eine disziplinierte 4 – 4 – 2-Formation, aber wenn man sich in der Umkleidekabine umblickte, dachte man, dass man diese Spieler wahrscheinlich auf jeder Position und in jedem System einsetzen könnte. Allerdings war unsere Mannschaftszusammensetzung perfekt für ein 4 – 4 – 2 geeignet. Galli war ein sicherer Rückhalt im Tor, und die Viererkette mit Tassotti, Baresi, Costacurta und Maldini hätte besser kaum sein können. Zusammengerechnet standen sie über 2800-mal für den AC Mailand auf dem Platz – eine Zahl, die wohl niemals wieder erreicht werden wird. Im Mittelfeld besetzten Donadoni und Angelo Colombo die Flanken, während Rijkaard und ich im Zentrum agierten. Vorn spielten Gullit und van Basten. Nicht schlecht, würde ich sagen. Und sicherlich zu gut für Steaua Bukarest, auch wenn deren Star Gheorghe Hagi im Mittelfeld die Fäden zog.
Gullit erzielte den ersten Treffer – einen Abstauber nach einem Torwartfehler. Wenig später legte van Basten mit einem Kopfballtor nach. Unser drittes Tor fiel in der 38. Minute, als Gullit ein Zuspiel an der Strafraumgrenze in aller Seelenruhe annehmen und den Ball mit einem satten Rechtsschuss in die Maschen befördern konnte. Zur Halbzeit lagen wir mit 3:0 vorn. Jahre später sollte ich es einmal bedauern, als die Rossoneri im Finale so uneinholbar in Führung lagen. Nicht so in diesem Fall. Zu Beginn der zweiten Halbzeit schickte Rijkaard auf der linken Seite van Basten in den Strafraum, der zum 4:0 am Torwart vorbeischob.
Der AC Mailand hatte nach zwanzig Jahren endlich wieder einmal den Europapokal der Landesmeister gewonnen. Sacchi