Der unterbrochene Wald - Georges-Arthur Goldschmidt - E-Book

Der unterbrochene Wald E-Book

Georges-Arthur Goldschmidt

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Beschreibung

Geprägt vom Gefühl existentieller Ortlosigkeit und geschützt vor äußerer Gefahr: Georges-Arthur Goldschmidt über seinen ganz persönlichen Kampf ums Überleben. In seinen Büchern vertraut sich Georges-Arthur Goldschmidt inneren Bildern an: Er erinnert sich an seine frühe Jugend, die er in einem französischen Internat in den Savoyen durchlebte – geborgen vor großer äußerer Gefahr, doch den Strafritualen der Anstalt und den Quälereien der Mitschüler vollkommen ausgeliefert. Diese Erfahrungen verbinden sich mit der Entdeckung des eigenen Körpers. Ist er Opfer einer aggressiven Gemeinschaft? Ausgestoßener durch seine Herkunft? »Der unterbrochene Wald« erzählt von der Flucht des Jungen vor den Deutschen, davon, wie es ihm gelingt, sich bei Bergbauern zu verstecken. Und er erzählt von einem Besuch in seinem Heimathaus bei Hamburg, 1949, von der ahnungslosen Begriffsstutzigkeit der Nachkriegsdeutschen. Hier erinnert er sich an eine Geschichte, die er einst von seinem Vater erfuhr, über einen Gedenkstein im Wald, der an einen dort erschlagenen jüdischen Hausierer mahnt. Eine Warnung? All diese Fäden verknüpft der Autor zu einem kunstvoll verdichteten Gewebe, ohne Scham, ohne sich selbst zu schonen, ohne falsche Nachsicht – und voller poetischer Aufrichtigkeit.

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Georges-Arthur Goldschmidt

Der unterbrochene Wald

Erzählung

Aus dem Französischen von Peter Handke

WALLSTEIN

Die Originalausgabe erschien 1991 bei Editions du Seuil

in Paris unter dem Titel La forêt interrompue.

Bibliografische Information der

Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Marion Wiebel, Wallstein Verlag

ISBN (Print) 978-3-8353-5188-2

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4866-0

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4865-3

Für den Übersetzer dieses Buches

Zuinnerst bin ich heiter, doch an der

Oberfläche bedrängt mich alles.

Flaubert an Le Poitevin,

15. April 1845

Inhalt

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

Das Land der stillen RettungEin Nachwort in deutscher Sprache

Anmerkungen

I

Am Ende der Rue du Garde-Chasse taucht der Himmel unversehens ins Leere. Es ist eine ruhige und schmale Straße, gesäumt von Gärten, gleich hinter Paris. Die Geräusche der Schritte sind hoch oder tief, je nachdem ob die Passanten an einem Haus vorbeigehen oder an einem Zaun. Es parken keine Autos entlang den Trottoirs, deren Ränder, hell auf der einen, dunkel auf der andern Seite, gleichförmig den Verlauf der Straße nachziehen.

Über ihre ganze Breite ist die Fahrbahn am Horizont zerfranst von der Berührung des Himmels. Gleich am Beginn der Straße ahnt der Spaziergänger die Weite, die sich da ankündigt. Der Schritt ändert sich, wird schneller oder, wenn man die Überraschung über die bevorstehende Entdeckung sich aufsparen will, langsamer. Je näher man dem Ende kommt, desto weiter wird es, das Licht belebt sich, und die Unermeßlichkeit der Landschaft wird spürbar, ehe sie noch in den Blick gerät. Die Straße läuft aus in einer leichten Neigung. Kleine Häuser beidseits, stößt sie zuletzt auf eine Grasflanke.

Und von dort aus geht der Blick in eine so weite Gegend, daß die vollständige Vergangenheit aufersteht, schluchzergleich. Ein undeutliches Rumoren steigt auf, Geräusche, Töne hallen wider, schon anderswo gehört, hier und da, so als sei es immer noch damals: Jenseits von Pantin erstreckt die Ebene sich weg zum für immer verschwundenen Geburtsland. Der Atem wird tief: vom Mont Valérien und dem Hügel von St-Cloud, linker Hand bis Montfermeil, rechter Hand bis zum Plateau d’Avron, zieht sich bis zur Blickgrenze beinah die gesamte nördliche Vorstadtregion hin, und von dem Punkt, wo man ist, kann das Auge ganze Geschichten streifen: von den Straßen, vertrauten Horizonten zu Wesen, welche da nebeneinander leben, unbekannt, und so weiter ins Unendliche.

In der Ferne schallt es von einem fahrenden Zug, dumpf und zugleich fein, eine klare Linie, die dort links den Raum teilt. Dann klirrt die Bahn, dunkle Stange, plötzlich zwischen Häusern, wo man nie Schienen vermutet hätte. Lange folgt der Blick der kleinwinzigen Passage durch den Raum, so groß, daß man die Arme breiten möchte.

Wenn man die Augen schloß, war es, sehr weit weg, der Güterzug, welcher, von rechts nach links, abfuhr nach Berlin. Berlin, dieses Wort hatte die Kindheit beschwingt. Er hatte sich hohe Fabrikschlote vorgestellt, aufragend aus der Heide, mit Tausenden von Ziegeln, eine Rundung nach der andern: Je näher man kam, um so mächtiger wurde die Basis, und trotzdem erhob sich, im Abstand, immer ein unüberwindliches Hindernis, eine Mauer, ein Gebäude, ein Hangar. Nein, die Basis der Schlote blieb jeweils unsichtbar. Nie käme man an jene Stelle, wo sie sich berühren ließen und wo man sehen könnte, wie sie sie selber waren, wie sie es machten, emporzuragen über sich selbst, von Ziegel zu Ziegel.

Deren rosa, oder rötlicher, Schimmer wechselte mit ihrem Volumen, welches die Finger gleichsam schon auffaserten. Einige trugen – senkrecht in Lettern aus weißen Ziegeln – das Datum ihrer Erbauung: 1883 oder 1907. Die Spitzen oben waren bezeichnet von einer schwarz-ziegeligen, kohlschwarzen Ausbuchtung, wo dann die Fahrt der Finger innegehalten hätte – wären sie überhaupt über diese ganze Länge gekommen, die sich nach und nach verjüngende Rundung hinauf.

Manchmal erhoben sich weiter weg andere Schlote, schon ausgebleicht in der Entfernung, und dahinter zeigten sich wieder welche, pastellrosa oder schon bläulich. Sie waren gestaffelt, ohne sich zu vermischen, und der Horizont wirkte so weit, daß die Brust sich sperrte wie unter einem Schmerz. Einige waren so entfernt, daß sie Schiffsmasten glichen.

Dort hinten erstreckte sich vielleicht Hamburg, wo er geboren war, woher sie gekommen waren von sehr weit, sie hatten mit sich genommen das Pfeifen des Winds und jenen Ort, mag sein die Reling, an welche jemand die Hand gelegt hatte am Abschiedstag, als sich jählings das Wasser zeigte zwischen den gewaltigen, von Feuchtigkeit grünen Balken. Und schon war’s zu spät gewesen.

In der Kindheit hatte er seine Eltern für immer verlassen müssen, und jener Morgen blieb eingebrannt in sein Gedächtnis, begleitet weder von Kummer noch Trauer, und zugleich mit einer solchen Schärfe, daß er immer neu ihn sich klar vor Augen rufen konnte.

Seitdem war ihm, als überflöge er sich selbst, von Landschaft zu Landschaft. Er war in ein Kinderheim gebracht worden, sehr hoch überm Tal. Angekommen war er da in einem offenen Wagen, eine Verwandte hatte ihn begrüßt, umgeben von Schnee.

Um ihn herum wurde eine Sprache mit spitzen, seltsamen Lauten gesprochen, welche er nicht verstand. Den ganzen Krieg hatte er da verbracht und am Ende seine Herkunft vergessen, nichts war ihm davon geblieben als jener Morgen. In den ausgehenden vierziger Jahren hatte er sich wiedergefunden in der Pariser Vorstadtgegend, inmitten von Rübenäckern, Raum allüberall, Gebäude und Serien von Fabrikschloten, sehr weit weg, und dahinter erhob sich manchmal Montmartre.

Andere waren aufgebrochen nach Amerika. Sie hatten Dampfer oder Frachtschiffe bestiegen und waren, oben auf der Brücke, vielleicht auch in Gedanken bei der Abfahrt gewesen und bei jenem Schiff, welches nach Hamburg zurückkehren und anlegen würde am selben Quai. Seltsam, daß die Objekte zurückkehren konnten an die Orte, die man selber verlassen hatte für immer. Die Hand auf der Reling berührte etwas, was zurückkehrte in den Heimathafen.

Seine Familie dort wollte ihn nicht mehr, er war im Weg, und man zog um. Im übrigen wäre man gezwungen, sich an die Vergangenheit zu erinnern, wenn er zurückkäme, an die Lager und dergleichen; hatte man nicht schon genug Ängste ausgestanden um sich selber aufgrund der Herkunft, der Mesalliancen? Komm in die Ferien, ja. Und er kam zurück an seine Kindheitsorte, und es war, als gingen sie ihn gar nichts an. Er bewohnte damals eine Mansarde in einem Waisenhaus, betrieb dort fragwürdige Studien, und am Abend schloß er sich ein, um nicht überrascht zu werden. Er hatte seine Gewohnheiten, dazu einen Spiegel, seinen haarlosen Körper zu reflektieren.

Er wußte noch nicht: Es gibt Reisen, die man besser unterläßt, kehrt man dahin zurück, beginnt der Abschied.

Daß er dahin zurückkehrte, kam ein Jahrzehnt später, gerade als sein Erinnern überging ins heilsame Vergessen. Zehn Jahre lang hatte er in dem Kinderheim verbracht, zehn Jahre an einem Berghang in einem Gebäude, dessen Dach zur einen Seite die Straße berührte und wo auf der anderen Seite der Keller das Tal überragte. Wenn er vor der unermeßlichen Sonne vom Spaziergang heimkam, stellte er sich ein jedes Mal seinen Vater vor, am Ausgang des Pfades dort unten, im grauen Hut mit breitem Band. Und ein jedes Mal bei dieser Vorstellung schnürte ihn die Scham ein.

Die Straße verlief auf einer Stützmauer oberhalb des Pfads. Ein paar Schritte, und sie verschwand zu seinen Häupten. An der Pfadbiegung erweiterte die Steinwand sich jäh, senkrecht, festzementiert. Ein Steigschritt, und sie war auf Schenkelhöhe, noch einer, und sie war brusthoch. Streckte man den Arm aus, ließ sich die Hand flach auf die Fahrbahn legen, noch ein Schritt, und man rührte mit dem Kinn an den Straßenrand. Jetzt war die ganze Erdoberfläche auf Augenhöhe; in der Ferne, unter dem Himmel, wo große Wolken standen, das Geburtsland.

Wenn er gezüchtigt worden war, hatte er verschwinden wollen unter der Steilstelle der Straße, sich da einwühlen, mit der Straße zu seinen Häupten: Er würde das leichte Dahinzischen der Fahrräder hören oder die Schritte der Fußgänger, und zuweilen auch, von weitem schon angekündigt, ein Auto; angewinkelt läge er da ans Herz des Steins, mit diesem eins. Er wäre hineingeglitten ins Erdreich, und dessen Klammheit verband sich mit seiner Haut, zog genau die Formen seines Körpers nach, in langsamen Kriechbewegungen grub er sich tiefer, die Kiesel und die Erde darunter rieben und skulpturierten der Länge nach seinen Leib. Als er die Augen aufmachte, war da die ganze Himmelshöhe über der fast vertikalen Wand des Straßenunterbaus.

Mit zehn Jahren der Abschied, und fünfzig Jahre lang das Augenschließen, um die Stimmen wiederzuhören im Moment davor: die Eltern, die so taten, als hätten sie ihre Alltagsstimmen und sähen den Rückweg vor sich und die Landschaft von immer.

Die Hast hatte den Körper derart verkrampft, und der Samt im Eisenbahnabteil spannte derart, war derart steif, daß man durch die neue Hose die Samtstreifen spürte.

Dieser Abschied dauerte an: das Gartentor, die weißen Stäbe heben sich ab vor dem Taxi, das dahinter wartet: als sei man zu Besuch gekommen. Das Knirschen im Kies, und das Bestreben, dort zu gehen, wo er am feinsten ist, auf dem Weg zwischen den beiden Rasenstücken und der Hecke vor einem, wie jeden Tag: Jetzt ist man auf halbem Weg, dahinter – es wäre das letzte Mal – das gelbe Haus, mit der Veranda in der Mitte, umgeben von Blätterwerk, der Balkon, die Etage und das Schieferdach, der Giebel im Zentrum, und die großen weißen Fenster, welche ins Freie wiesen. Es genügte, sich umzuwenden, man sah’s in einem einzigen Augenblick. Man selbst wäre fort, und alles bliebe, als wäre man noch da.

Man hatte Zeit gehabt zu gar nichts: die braun gestrichenen Eisensäulen des Bahnhofs, das unzählbare Schlagen der Zugtüren: für jenes letzte Mal saß er in der zweiten Klasse statt wie sonst, wenn er nach Hamburg zum Zahnarzt gebracht wurde, in der dritten. Dann war der Vorortzug eingefahren in die Riesenhalle, unter dem Glasdach, welches rundum den Raum überwölbte und ganze Züge in sich aufnahm. Die Treppe, die am Ende des Quais hinaufführte zu der Passage über den Gleisen: Gelaufen waren sie, den Körper nach vorn geneigt; man hatte sich in sich selbst gekrümmt vor Eile, man würde den Zug nach München versäumen: »Bahnsteig Sieben«, wiederholte seine Mutter in einem fort, während die Kleider um sie hingen. Und wie jedesmal empfand er jene Angst, die ihm den Brustkorb versperrte, die übliche, während er doch wegfuhr für immer. Und zugleich waren’s die gleichen Gesten wie auf dem Weg zum Dentisten: die Furcht, sich zu verlieren inmitten der Menge; unter all den Gesichtern nicht das eine gute zu erkennen; Händefuchteln, Armzucken.

Das Abteil des Schnellzugs war dunkel; der Zug stand am Ende des Bahnhofs unter der Passage. Man erwartete ungeduldig die Abfahrt, als sei die Zukunft schon da, irgendwo darauf wartend, daß man sich bei ihr einstelle.

Seit jenem Tag im Jahr 1938 hatte die Reise immerzu angedauert, ein kompakter Punkt im Innern, über dem Herzen, gleich einem Gepäckstück, das ausgepackt werden wollte.

Zuzeiten hieß es tief atmen, um das aufsteigende Schluchzen loszuwerden: Noch immer brannte das Laubwerk des Gartens, in jenem Herbst, in dem man begann, alles zu entdecken, die Klarheit des Himmels und das Vorbeiziehen des Raums und den in der Sonne blinkenden Glaspokal, wohinein die Blindschleiche gelegt worden war zum Aufwärmen; glattes, durchscheinendes, eingepaßtes Ding, im Freien. Die Seltsamkeit der Dinge vor dem Hintergrund der Bäume und des Grases, und der Schall der Stimmen, oder das Fahrradklingeln, und die spitzen Möwenschreie.

Von dem ersten Rucken des Zuges an war zu spüren gewesen jenes schwerfällige Zögern dieser Masse aus Holz und Eisen, eine langsame Gewichtigkeit vor dem Einsetzen der Bewegung, und der Speicher war ihm vor Augen getreten, samt all den Einzelheiten: in der Düsternis die helle Lukenöffnung und unter dem stillen Mond zwischen den Baumästen der geradlinige Horizont, so gerade, daß die Hand ihn nachziehen wollte. Und wieder die Atemnot vor einer künftigen Zeit, welche irgendwo schon fertig da war. Eine beinah triumphale Ahnung hatte ihm das Rückgrat gehöhlt, eine Erwartung, eine Gewißheit.

Dann war der Zug dahingerollt, das Licht hatte sich geweitet; zu beiden Seiten Gleisstränge wie blinkende Horizonte und darüber für Augenblicke die Düsterkeit der Brücken. Sonderbar das so kleine Abteil in einem so langen Zug.

Als er 1949 zurückfuhr, um seine Familie, Schwestern, Schwager und Neffen, zu besuchen, ging sein Blick wieder hinaus zu den zwei Fenstern des letzten Waggons; am Zugende befand sich, wie bei der Abfahrt einst, ein Passagierwaggon: Seite an Seite, getrennt von gummiverkleideten Metalleisten, gingen die zwei länglichen Scheiben auf die Schienen hinaus, und vor einem zog die Landschaft weg in die Gegenrichtung: die Ziegel der Wärterhäuschen, deren graugrüne Dächer mit Vorbauten – sie blieben unverändert und verkleinerten sich zugleich im Zuschauen –, die Signale, die Gebäude waren Augenblicke später nur helle Punkte, schon verschluckt vom Horizont. Hügel erschienen, um welche der Zug bisweilen kurvte, während man mit dem Körper der Krümmung nachging.

Manchmal wurden ganze Städte durchbraust. Sie zeichneten sich ab zu beiden Seiten der Gleise, wie eigens dazu errichtet, und der Zug ließ einen braunen und grauen, immergleichen Wirbel hinter sich, durchschossen von der silbrigen Spur der Schienen. Türme erhoben sich rechts oder links und schrumpften gleich wieder.

All diese Jahre waren demnach vergangen in Erwartung der beiden Fenster des letzten Waggons, und an jenem Tag, 1949, war es endlich, daß, nach einem Jahrzehnt, ihm jäh der Abschied erschien, den Brustkorb zuschnürend; er hätte den Umriß des Schmerzes mit einem Bleistift sich auf die Haut zeichnen können. All diese Jahre hatte er damit verbracht, die Farben, die Formen, die Zäune, die Straßen auszulöschen, welche etwas zum Wiedererkennen gewesen wären: aber: nichts war vergessen. Schon zwischen Osnabrück und Lohne waren jene Buchenwäldchen mit den hellen Stämmen vorbeigezogen, durchwirkt von Schatten, der Erdboden übersät mit Rundwällen abgefallenen Laubs. Lauenbrück, Königsmoor, Tostedt: Die Namen der Bahnhöfe standen geschrieben in schwarzen gotischen Buchstaben längs der Bahnsteige.

Rückwärts gleichsam, begegnete er Landschaften, die sein Vater gemalt hatte, mit langsamen Pinselstrichen, vortretend mit gezücktem Werkzeug, zum Prüfen zurückgehend, ein unaufhörliches Vor und Zurück. Die Staffelei vor ihm, auf drei festen Beinen, schien ihm das Bild vorzuzeichnen. Grotesk dieser Mensch im städtischen Aufzug mitten im Wald, den Hut auf dem Kopf, wie er verkleinert die Landschaft nachzog. Er gab sie auf der Leinwand wie zerschnitten wieder: der gleiche goldgelbe Hintergrund, unterbrochen von dem Schatten oder der Helligkeit der Stämme.

Buchholz: Der Zug wurde schneller, so als ginge es bergab; eine Kehre ließ sich allmählich spüren, und dann, als eine nach und nach entstehende Öffnung, von links nach rechts, so groß, so weit, daß man sie für das Meer hielt, ließ sich die Elbmündung sehen.

Gleich wäre er an dem vertrauten Bahnhof, wo die Seinen ihn sicher bereits erwarteten, auf dem Bahnsteig, mit den entsprechenden Worten auf den Lippen. Schon sah er sich Gesten vollführen, fuchtelnde Arme, während in seinem Kopf wieder einmal die Schuldbilder abliefen: Sie hatten allesamt mit dem Kinderheim zu tun, wo er aufgewachsen war, und mit dem Waisenhaus, wo ihm danach eine Mansarde zugeteilt worden war.

Da stand er, auf der Fahrt durch die Landschaft, in dieser länglichen Schachtel, welche sich fortbewegte. Er war da INHALT. Und das alles war fabriziert worden zum Transport von Körpern, sitzenden, stehenden oder gegen die Richtung des Zugs sich bewegenden. Ein stummes Gelächter packte ihn, so dahinzurollen mit all diesen Leibern, Rücken an Rücken, Gesicht zu Gesicht, Rücken an Rücken, Gesicht zu Gesicht.

II

Nach der senkrechten Leere über der Place des Fêtes, eingelassen wie ein Hochplateau zwischen den aufschießenden Bauwerken, führt die Rue Compans hügelab, vorbei an den Fundamenten der Wohntürme. Tunnels sind da eingegraben, groß wie Bahnhöfe, und im hellen Viereck am andern Ende zeigen sich eine andere Straße, Gebäudeausschnitte.

Die Rue Compans hat ein Fragment von einem Landweg bewahrt, eine Sackgasse mündet in sie ein, deren uralte Pflasterung leicht gebaucht und geglättet ist. Sie schrumpft zusammen zwischen Betonmauern, biegt plötzlich ab und bildet eine baumgesäumte Allee, mit einer Öffnung geradewegs auf den Himmel, wird eine Fußgängerpassage mit Pappeln, gleichsam am Ende einer Riesenstadt, auslaufend auf eine Klippe, ausgestattet mit einem Balkon. Die Weite ist indigograu wie das Meer; darin eine Vielzahl von Details, ineinandergeschoben, so fern sind sie. Über dem leichten Rumoren von Paris das wechselseitige Geräusch sich kreuzender Züge, Ausfahrt und Rückkehr sozusagen vermischt, gleichzeitig, so als sei das Erwachsenenalter nur eine Vorläufigkeit.

Das Grollen der Züge in der Erinnerung: Da rollen sie sehr schnell auf den hohen Dämmen der Ebene zwischen Bremen und Hamburg. Diese Rückkehr, elf Jahre später, ist ein stetig sich wiederholendes Bild. Er hatte das Waisenhaus der Vorstadt hinter sich gelassen; im Fahren stellte er sich seine Mansarde vor.

In der Landschaft, an einer leicht schiefwinkeligen Scheune, hatte er einen Taubenschlag gesehen. Felder, Wiesen, eine Straße, Zäune und Pappeln an dem Lauf der unsichtbaren, aber immer gegenwärtigen Oise.