Die Aussetzung - Georges-Arthur Goldschmidt - E-Book

Die Aussetzung E-Book

Georges-Arthur Goldschmidt

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Beschreibung

1944 muss der sechzehnjährige Georges-Arthur Goldschmidt das Kinderheim in den Savoyen verlassen, die Unterbringung dort ist zu gefährlich geworden. Auf einem Bauernhof findet der jüdische Jugendliche Unterkunft, hört Radio London und Radio Paris und hilft dem Bauern bei der Arbeit. Nützlich will er sich machen, sodass man ihn allmählich vergisst. Doch es vergisst ihn niemand, und mit den Schuldgefühlen des Andersseins hängt auch das Rätsel um seine Sexualität zusammen. Immer neue Anstöße, sich mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen, liefern die Vorgänge auf dem Bauernhof: der Stier, der einer Kuh zugeführt wird, die Geburt eines Kalbes und die Schlachtung eines Schweines. Anknüpfend an »Die Absonderung« erzählt Georges-Arthur Goldschmidt in »Die Aussetzung« von einem weiteren Ausschnitt aus der Geschichte seiner Jugend.

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Seitenzahl: 192

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Georges-Arthur Goldschmidt

Die Aussetzung

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungDie AussetzungIIIIIIIVVVIVIIVIIIIXX

Für Benno S.

Die Aussetzung

Man muß mich nackt auf die kalte Straße werfen, dann stelle ich mir vielleicht vor, ich sei der allesumfassende Herrgott.

Robert Walser,

in: Jakob von Gunten

I

Scherenschnittgenau stand der tellerblaue Morgenhimmel über dem Bergkamm, jede Tanne davor ausgespart. Die noch länglichen Schatten bildeten die Unebenheiten der Abhänge nach. Aus der Schlucht stiegen Dampfschwaden vom Nachtregen auf. Der Junimorgen leuchtete wie schon seit Tagen nicht mehr, das Licht war hochgolden, die Umrisse scharf, ein Tag voll Erwartungen und sich öffnenden Weiten.

Über das Fenstersims hinuntergebeugt konnte man mit den Kieselsteinen vor dem Haus spielen und zugleich drinnen mit den Füßen auf dem Holz des Fußbodens scharren. Im Hintergrund stampfte der Bauer umher und die Kühe rasselten an den Ketten im Stall, während die beiden Töchter sie versorgten. Seitlich vom Wohnraum, hinter einer dünnen Holzplanke, lag der Stall unter niedrigen Deckenbalken, waagrechte Tannenstämme, vielleicht vor langer Zeit am Abhang im Rauschen des Sonnenmorgens gestanden. Die Knollen und Ansätze der Äste standen dunkelbraun heraus. Vor genau hundert Jahren, 1844, waren die Balken eingesetzt worden.

An diesem Morgen sollten sie beide, der Bauer und der Knabe, Mist fahren und er hatte sich schon vorgestellt, wie die eingesackte überkrustete hartgrau gewordene Oberfläche reißen würde mit der warmbraunen, durchhalmten Masse darunter.

Er ließ die Arme baumeln und hinter ihm lag der längliche holzgetäfelte Raum, stand der runde Tisch am Fenster mit dem rotkarierten Wachstuch. An der Wand hinten die Monstranz unter einer Glashaube und auf dem Bord der Radioapparat. Im ganzen Haus waren es die einzigen glattglänzenden Gegenstände, sonst war alles rauh, hart, hölzern, abgeschabt von altem Gebrauch, die Tonteller blasenüberzogen. Im Schrank der Bäuerin lag ein seidenes Tuch, über welches sie manchmal mit der Hand strich, als wolle sie auch Regelmäßiges, Glattes, Sanftes fühlen.

Der Radioapparat war aus braunlackiertem Holz, in der Mitte eine runde stoffüberspannte Öffnung mit Goldfäden durchwoben. Wenn man leise mit dem Finger darauf trommelte, durchzuckte die Leere dahinter den Körper. Zum Radiohören lehnte sich der Bauer an die Holzwand mit dem Bord in Kopfhöhe, er hörte das Schweizer Radio, Radio Sottens, Radio London und Radio Paris, den Sender des verratenen Frankreichs, da sprachen immer mit krächzenden, heiseren Stimmen die Kollaborateure, von denen der Knabe, obgleich er doch Deutscher war und noch ein Kind, wußte, daß sie sich nur aus Feigheit dem Nazisieger ausgeliefert hatten.

Am liebsten hörte er Radio London, zur vollen Stunde, die von einem motorradähnlichen Geknatter immer wieder überdeckt wurde, er wußte, daß da Freunde sprachen und jedesmal, wenn die breite, ein wenig belegte und belustigte Männerstimme den Singsang: »Radio Paris ment, Radio Paris ment, radio Paris est allemand« anstimmte, fühlte er sich wohl.

Dann kamen immer die vier dumpfen Anfangstakte der fünften Symphonie von Beethoven auf der Pauke geschlagen und die Geheimbotschaften für die französische Résistance: »Morgen kommt Onkel Paul« oder »Der Gärtner hat Tulpen gepflanzt« (zweimal) oder »Emil läßt grüßen.« … Beim Hören entstanden unbekannte Stadtlandschaften mit leeren Straßen zwischen Mauern am Abend mit einem vorbeiknatternden Motorrad und hinter dem verstaubten Schaufenster eines Haarschneiders, wo eine Pappfigur als Reklame für ein Shampoo stand, hörten Widerstandskämpfer ihre Geheimbotschaften mit.

Der Bauer trug eine früher blaue, jetzt stellenweise grau-weiß verblichene Joppe. Es war der 6. Juni, kurz vor neun, wieder knarrte und zischte es aus dem Radio, aber plötzlich sagte eine bis dahin nie gehörte Stimme: »Heute morgen um sechs sind die alliierten Verbände in der Normandie gelandet. Es ist der Anfang der Befreiung des Vaterlandes.« Er stellte sich in einer unendlich entfernten Ebene am Horizont das dumpfe Dröhnen der Geschütze vor und dachte an den größeren Bruder.

Die Deutschen waren gekommen, die beiden abholen. Man hatte sie denunziert, der größere Bruder war aus dem Fenster gesprungen; beide waren erst als es Nacht war zurückgekehrt und schon war das Hausinnere wie von ihnen entrückt, als gehörten sie nicht mehr dazu.

In der selben Nacht noch, bevor man über sie entschied, hatten beide, der größere Bruder und er, bei dem Bauer Socquet, ganz in der Nähe des Internats, im Dorfteil les Pettoreaux in der Futterkrippe der Kühe geschlafen, über ihnen das warme, erstaunte Mampfen der Kühe. Für eine einzige Nacht, länger wollte es der Bauer nicht riskieren, auch war man zu nahe am Internat, er könnte als Geisel von den Deutschen, die das Dorf besetzt hielten, erschossen werden.

Nun wohnte er schon seit neun Monaten hier auf dem Bauernhof La Livraz. Seitdem war die Angst in ihm noch tiefer, fester hinter der Bauchwand gelegen, er konnte sie aus sich heraus fühlen, fast wie von innen berühren, eine langsam schwärende Geschwulst, die sich in ihn hineinfraß.

Der große Bruder hatte sich zu sehr geschämt und so hatte es die Anstaltsleiterin des Internats, wo er nun schon seit Jahren lebte, erklären müssen, als die Gerüchte immer genauer wurden: die Deutschen suchten die umliegenden Dörfer nach Flüchtlingen ab. Er sei Jude, wurde ihm gesagt, ob er das denn nicht wüßte, und da er aus tiefer Überzeugung verneinte, dafür schallend geohrfeigt wurde, wieder einmal ein schon so großer Junge, hatte er laut aufgeheult, vom Selbstmitleid erfüllt, und so vehement beteuert, daß er es nicht gewußt habe, daß ihm doch Glaube geschenkt wurde. Er hatte in sich hineingehorcht und es hatte ihn gewundert, so etwas in sich zu haben, von dem er nichts wußte und nichts fühlte, es war etwas, was den anderen nicht vorgeworfen wurde, und hatte sofort verstanden, es war das, was er abends im Bett machte, das war es, das Judesein: das Schlimme.

Am nächsten Morgen hatte man beiden, sie hatten ganz angezogen geschlafen, Milchkaffee in den Stall gebracht und Butterbrote, wie sie schon lange keine mehr gegessen hatten. In der Brotscheibe öffneten sich die runden abgebissenen Stellen vom dunklen Hintergrund abgerundet ab. Die Anstaltsleiterin erschien plötzlich unter den niedrigen Balken, unerwartet und seltsam sie selbst, da wo man sie nicht vermutet hätte.

Auf Umwegen sollte der große Bruder in ein anderes Dorf und er in einen entfernten Bauernhof gebracht werden, im Hochtal am Fuß der Aiguilles-Croches gelegen, den Namen kannte er, die ganz Großen des Internats waren da schon auf Ausflug gewesen. Vielleicht war man in der Nacht schon hingegangen. Er wurde erwartet. Zuerst war es der Weg des alltäglichen Spaziergangs gewesen: an den geschlossenen balkonumgürteten Hotels vorbei und dann zu beiden Seiten der schnurgeraden Straße, die ansteigenden Abhänge, die Gebirgskuppen darüber und unten der Einschnitt der Schlucht.

Diesmal auch wieder das Erstaunen, mit einem einzigen Blick so viel Landschaft zu sehen, nach der kleinen vom Berghang abgestuften Hochebene plötzlich eine flache Bachlandschaft, Birken am Wasserrand, am Baum angelehnte, verwitterte Bretter, ein Gitter wie anderswo auch in Stadtnähe. Im Hintergrund aber, drehte man sich um, lag da bis in unermessliche Fernen der Himmel über der ganzen Talöffnung, bis über unsichtbare Ebenen hin, wo das Land lag, wo aber Gefahr war, überall; es war Frankreich, wie es das Land für ihn noch nicht gab, von der Besetzung überfroren, als läge es heimlich unter sich selbst und warte.

Das Anschlagen einer Gartentür, ein kurzes Hämmern, ein Schleifen, von überall erklangen ferne Geräusche, als stünde man auf einer Insel. In diesem Dorfteil, er hieß Le Planellet, kannte man ihn – noch vor wenigen Tagen war er zum Milchholen dagewesen – trotzdem stand die Angst in ihm: von allen Seiten konnte man ihn anspringen. Er schämte sich aber beinahe, daß er sich für so wichtig hielt. Dabei wurde er wieder einmal von sich selbst überfallen, gerade jetzt, so daß er kaum noch atmen konnte, mit steifen Beinen ging, als lähme ihn der Ekel, er selbst zu sein, so grotesk exponiert und gezeichnet von schändlicher, schamloser Geburt. Auf dem etwas erhöhten, hellen Weg, zwischen den beiden Grasufern auf beiden Seiten die tannenbedeckten Abhänge und vor ihm geradeaus die zugemauerte, ungeheure Wand der Aiguilles-Croches, die immer höher wurde und immer gleich weit weg lag.

Die beiden abgerundeten Spitzen der Aiguilles-Croches erhoben sich kaum vom beinahe waagerechten Bergkamm, so hoch, daß er fast das ganze Blickfeld verdeckte. Vom Kamm hingen die Abhänge dachartig herab, abgerundete Kuppenansätze, die auf einmal auf gleicher Höhe, alle drei zugleich, wie mit einem weltgroßen Messer in unvordenklichen Zeiten tranchiert worden waren und nun wie riesige zugemauerte Bögen bis ins Hochtal herunterreichten. Davor, landschaftsgroß, die flache Talöffnung im Hintergrund, bewaldet, so weit, daß ganze Dörfer darin Platz gefunden hätten.

Auf der Grasfläche zur linken Seite, La Livraz, ein einziger von Wiesen umgebener Hof, am Schluchtenrand, niedrig, heruntergedrückt unter einem riesigen Satteldach, dessen Schindeln teilweise mit Wellblechplanken ausgebessert worden waren, die unter der Sonne blinkten. Ein wenig in der leichten Mulde eingesackt, lag das Haus, reglos, still und er, ein wenig höher gestanden, betrachtete dabei seine Unterkunft. Käme ihm jemand nach, würde er nicht ahnen können, daß er es mit einem vogelfreien, schuldigen Jüngling zu tun hätte, der da irgendwo unter dieser Bedachung für einige Zeit wohnen würde.

Unter vorspringendem Holzgiebel lag das doppelgescheitelte Gebäude. Der Holzverschalung entlang lief eine Galerie mit einem vom Wetter dunkelgrau gefärbten Geländer, dessen zerfurchtes Holz teilweise absprang; darunter gingen die beiden Fenster des Wohnraums auf den Misthaufen.

Der Eingang war wie immer zur Längsseite des Hauses mit Granitplatten davor und einer Holzbank: vielleicht würde er da auch schweigend sitzen dürfen und die ganze Landschaft um sich herum sich ausbreiten lassen.

Die graue verwitterte Haustür stand offen, auf einen engen holzgetäfelten Gang. Er zögerte eine Weile davor, aber als er dann eintrat, glitt die Angst von ihm auf einmal ab, als gehöre sie nicht mehr zum Körper. Es war, als wüßte man nun nichts mehr von ihm, zwischen den Holzwänden aus senkrechten, breiten, aneinandergefügten Brettern. Es hingen da einige rundförmig ausgesparte bräunliche Photographien in schweren lackierten Rahmen: starre Gesichter mit angestrengten Blicken, flach gescheiteltem Haar und alter ungebräuchlicher Kleidung aus dunklem Sonntagstuch. Sie hatten sich bestimmt innerlich lange auf das Photographiertwerden vorbereitet. Es waren die Eltern, die Vorfahren auch des Bauern. Sie schonten ihre Kleider und trugen in sich die Erinnerung an die langen Fahrten zur Kirche, mit den unzähligen, winzigen dennoch lebensgroßen Begebenheiten: der umgestürzte Kirschbaum, die den Weg hinunterrollende Radfelge, das bei der Rückfahrt stürzende Pferd oder der über seine Ufer tretende Bach und vor allem die Himmelsfarben, die aufeinanderfolgenden Tage, jedesmal, wie nie gewesen. An den Wänden zogen sich hier und da Schrammen entlang, hellere oder dunklere Stellen von den vielen Menschen, die durchgegangen waren.

Nun umschloß ihn das Haus, von außen war er unsichtbar, es ließ sich nur eine viereckige Bedachung wahrnehmen, man konnte nichts vermuten, nichts von dem schon größeren, mageren Knaben ahnen, der verboten gehörte.

 

Er wußte nur, daß man für ihn hundert Francs pro Tag zahlte, aus der Schweiz, eine ältere Verwandte, er hatte sie ab und zu gesehen, in weißem Sportanzug, wie sie neben ihrem Wagen stand, in dem der unter der ledernen Vorbedachung sitzen gebliebene Chauffeur wartete. Sie sprach mit lauter, sicherer Stimme. 1937 war sie auf dem Luxusdampfer »Normandie« mit ihrem Sohn nach New-York gefahren und hatte die ganze Reise lang zur Rechten des Kapitäns zu Mittag gegessen. Viele Jahre später hatte er dann in einer damaligen Illustrierten ihre Reise in Glanzfotos abgebildet gesehen. Sogar die Speisekarte war mitphotographiert worden.

Damals als der Bruder und er der Herkunft wegen aus Deutschland hatten weg müssen, hatte sie sich ihrer angenommen und ins Internat gesteckt, wo sie seitdem gewohnt hatten. Einmal hatte sie den Jungen in die Stadt hinuntergefahren, seiner schlechten Gewohnheiten wegen, zum Arzt.

Während der ersten Monate nach Kriegsausbruch war sie ein paarmal am Internat vorbeigekommen und wenn sie dann gerade auf einer Wiese Fußball spielten, lief und rief er viel her und hin, nur um der Dame als besonders interessant zu erscheinen und ihr zu zeigen, daß es sich lohnte, für ihn ihr Geld auszugeben. Natürlich brachte er dabei das ganze Spiel durcheinander, und die anderen jagten ihn von der Wiese weg, noch bevor die Verwandte sich entfernt hatte; sie zuckte nur die Achseln, wandte den Kopf ab, und der Gedanke ließ ihn nicht los, daß sie ihre Auslagen bereute.

Dann war sie plötzlich nicht mehr da und schickte das nötige Geld für ihn und den Bruder über verzwickte Umwege. Er hatte nicht herausbekommen, ob der Bauer ihn nur des Geldes wegen aufgenommen hatte.

Man mußte seine Schritte gehört haben, es wurde am Ende des Gangs eine kleine Tür in der Rückwand geöffnet, die zu klein im zu großen Rahmen hing, schief ausgespart, mit einer steilen Holzschwelle davor, die sie noch höher und kleiner machte. Es bückte sich ein großer Körper heraus, den Kopf voran, die Haare braun, wie aneinandergeklebt, ein älteres Gesicht. Zwischen Nase, Ohr und Kinn war die Wangenfläche breit, senkrecht, stoppelig, mit kleinen Poren überzogen, von denen der Mann nichts ahnte und die doch zu ihm gehörten.

Im Halbdunkel der Küche stachen einige helle Möbelstücke hervor, die sich nach und nach aus der Dunkelheit herausarbeiteten. Schrank und Sessel waren wie fehl am Platz. Ein einziges kleines Fenster erhellte die Küche und vom offenen riesigen Hohlraum des Kamins, der sich bis zum Dach verjüngte und oben nur eine kleine viereckige Helligkeit durchließ, fiel ein Schimmer herunter. Die Küche war aus dem Felsen herausgeschlagen worden und der Felsen von draußen war drinnen der Fußboden. Der längliche Tisch mit einer Bank – auch hier würde er, wie im Internat, nie auf Stühlen sitzen – zu jeder Seite war mit einem Wachstuch zur Hälfte bedeckt. Durch das kleine Fenster sah man die Grashalme am Felsen, die sich im Wind bewegten.

Am Tisch saßen zwei Mädchen in seinem Alter, und die kleine Bauersfrau stand am niedrigen Herd neben dem Kamin. Das Rohr reichte nach einer Biegung hinein. Die Bauersfrau lächelte ihn an und er bekam einen Teller aus dicker Tonware vorgesetzt: braune gebratene Kartoffelpuffer und Buletten. Obgleich sie alle ovalförmig waren, war jeder Puffer anders gelblicher oder dunkler gebraten. Als er die braungebratene, halbweiche Kruste im Munde zergehen fühlte und sich dabei die anderen im Teller noch übrigen ansehen konnte, fühlte er sich auf einmal, als brauche er sich nicht mehr anzustrengen, um weiterzuleben. Er brauchte sich nicht mehr in sich selber hochzustemmen. Die Freude, die ganz hinten immer hinter der Traurigkeit und dem Heimweh gestanden hatte, lockerte ihm auf einmal den Körper: er konnte so tun, als sei er nicht er selber. Als er fertig war, wurde ihm der Teller nachgefüllt.

Er bekam schwarzen Kaffee aus einer Kanne, die am Herdrand stand, in einer großen Schale mit einem Löffel, den man drin ließ, wenn man trank. Er wurde fast wie ein Gast behandelt und man führte ihn in den Wohnraum, als wüßte man nicht recht, was man mit ihm machen sollte: die beiden Mädchen kamen hinterher, sie trugen Kniestrümpfe und Holzpantinen. Er schaute sie kaum an, damit man ihn später nicht anklagen könne, er habe sich an ihnen vergehen wollen.

Eine andere, an drei Lederangeln befestigte Tür, öffnete sich auf einen vom Licht überfluteten großen Raum, wo die Alkoven der Eltern zu einer Seite, die der beiden Töchter auf der anderen lagen, mit vorgezogenen Vorhängen aus steifem farbigem Tuch, das der Eltern war unten kleidartig bestickt. Sie ragten wie riesige Schränke ins Zimmer herein. Am andern Ende des Raums zwischen den beiden Fenstern stand ein abgeklappter Rundtisch.

Allmählich ließ das Anspannen aller Muskeln des Körpers nach. Die Gipskluft, in der er sonst eingeschlossen war, bröckelte von ihm ab. Es war ihm, als hätte man ihm sein Korsett aufgeschnürt und er könne nun frei atmen. Hier wußte man nichts von ihm.

Jemand war im Bauernhof gewesen, ihn anzumelden, wer es gewesen sein konnte, wußte er nicht. Jemand war vielleicht hingelaufen. Er war mit freien Händen hingegangen, nicht einmal einen Rucksack hatte man ihm mitgegeben, damit der Verdacht der Flucht überhaupt nicht aufkomme. So mußte die Bäuerin ihm ein Nachthemd leihen. Vor dem Bauer, der Bauersfrau und den beiden Töchtern, unter der heraufgezogenen schwachen Bogenlampe, hatte er sich den Oberkörper frei machen müssen.

So sehr schämte er sich, daß er kaum noch atmen konnte: die Mitschüler hatten ihn immer »Mädchen« geschimpft, es war ihm, als solle er, trotz seiner bald sechzehn Jahre, wieder einmal in Gegenwart aller für die Strafe vorbereitet werden, und er schüttelte sich vor Scham. Man wollte aber nur wissen, ob ihm das Nachthemd passe, und als er in der Küche im Lampenlicht die Arme hob, die nicht einmal aus den zu langen Ärmeln herausschauten, lachten alle auf einmal auf: »ein Gespenst, ein Gespenst« riefen die Töchter und es war ihm nun, als gehöre er schon lange dazu.

Schlafen sollte er in einem sehr langen und schmalen Zimmer mit ganz kleinem Fenster auf der anderen Seite des Hauses, es lag am niedrigen Korridor zum Eingang hin: es war eine Abstellkammer voll alter Geräte, Webstühle und Gerüste aus vom Alter verblichenem Holz. Das braune schwere Bett reichte ihm bis in Schulterhöhe, wenn er davor stand, und er mußte sich heraufstützen oder schwingen; er schlief auf einem Strohsack, in den man das frische Stroh durch einen Schlitz wie in eine Brieftasche hineinschob. Die Bauersfrau hatte ihm das Bett gemacht mit steifen Bettüchern, die nach Butter rochen.

Als er nach tiefstem Schlaf am hellichten Tag bei schon hoher Sonne aufwachte, wuchtete die Angst ihn quer durch, zweiteilte ihn, er wagte kaum, um sich herum zu tasten oder seinen eigenen Körper zu fühlen, an sich selber nachzuprüfen: es war trocken, er hatte zum ersten Mal nach langer Zeit nicht ins Bett gemacht. Als man ihm den Tod seiner Mutter in der fernen Heimat behutsam mitteilte, hatte er plötzlich einige Tage später ins Bett gemacht, zuvorkommend hatte man ihn zuerst verschont und die Bettücher ausgewechselt, dann aber strengstens zur Rute gegriffen und ihn aufs schärfste bestraft. Anfangs hatte es auch gewirkt. Er hatte dann nur noch von Strafe zu Strafe gelebt. In Sachen Strafe kannte er sich aus, da wußte er Bescheid. Der beißende Uringeruch ließ ihn nicht mehr los, man stellte ihn unter die kalte Dusche, minutenlang, und er schrie noch mehr als unter der Rute, er schrie das ganze Haus zusammen. Die Mitschüler sagten dann immer, seine Schreie hätten so dumpf und fern durch die Etagen hindurchgeklungen.

Und jetzt, am Tag nach der äußersten Gefahr, hatte er sich nicht naß gemacht. Verwundert ging er aus dem Haus und setzte sich auf die Bank, angesichts der ungeheuren Gebirgswand, die er noch nie in solcher Nähe gesehen hatte. Die Bäuerin brachte ihm den Milchkaffee und die Butterbrote vor das Haus, als wäre es selbstverständlich, er schämte sich, für einen »betuchten« Gast gehalten zu werden, bedankte sich nur schüchtern und kaum hörbar. Dennoch ließ er sich vom Morgenbereich wollüstig umgeben. Die Sonne drang in die Butterblasen auf den Brotporen hinein, noch nie hatte er für sich alleine so viel Butterbrot bekommen und während er die Butter am Gaumen zergehen ließ, schaute er um sich herum und wurde des Sehens nicht satt.

 

Schon am ersten Tag bot er sich dienstbeflissen dem erfreuten Bauer an und so nahm ihn der Bauer mit und zeigte ihm die Felder, Wiesen und Waldungen, die ihm gehörten, und sehr schnell lernte sein Auge sie genau vom Nachbarbesitz abzugrenzen und die unsichtbaren Trennungslinien zu ziehen, er lernte rasch von weitem schon die Tannen zu unterscheiden, die dazu gehörten, es waren doch jedesmal die besser gewachsenen, es war schon ein wenig, als wären es die seinen.

Öfters ließ sich der Bauer das Mittagessen mitgeben: angeblich gingen sie, der Bauer und er, den Wald »putzen«. Sie nahmen sich aber Zeit, der Bauer schlug mit der Axt die Äste von den gefällten Stämmen ab und es hallte über den steilen, luftigen Abhang hinweg, als sollte man am Wiesenhang gegenüber mithören. Er, der Jüngling, legte die Äste zu Haufen so gut er konnte und zog sie über den tannennadelnbedeckten Abhang herunter und stellte sich vor, er sei der Reiter, der den nackten jungen Märtyrer hinter seinem Pferd durch die Straßen Roms schleifte, oder erregender noch, er war selbst der junge Märtyrer.

Jetzt, da er sich in Sicherheit wähnte, ereilten ihn wieder ab und zu solche Bilder, die in ihm aufblitzten. Immer stand er in ihnen nackt am Marterpfahl. Aber sofort, wenn sie ihn überkamen, stieß er sie von sich weg, damit die Deutschen ihn nicht finden könnten. Man suchte doch nach ihm, weil er immer wieder an sich unsauber gewesen war und immer wieder einer gewissen bösen Angewohnheit verfiel, wegen welcher er im Heim doch so oft bestraft worden war.

Wenn sie dann die Äste in Haufen gelegt hatten, aßen sie zusammen auf demselben Baumstamm sitzend: Speck, Käse, Butter und Brot, er konnte sitzen ohne den Körper anspannen zu müssen, ohne den Kopf immer leicht nach rechts oder links zu wenden, um der Gefahr, dem Schlag auszuweichen und das Gesicht rechtzeitig hinter vorgehaltenem Ellbogen zu verbergen.

Er blickte an sich selber herunter, seine Beine im dicken Bergschuhwerk sahen wie alle anderen aus, rundlich geformtes Leder, am Rande verschlissen und faserig geworden, nur ein wenig kleiner als die Stiefel des Bauern neben ihm. Sollte ein Fremder vorbeikommen, hätte dieser den Knaben für jemand beliebigen gehalten, vielleicht für einen hiesigen, sogar für den Sohn des Bauern und er atmete auf im Gedanken, einstweilen nicht mehr er selber sein zu müssen. Er saß da und spielte einen anderen: die Waldaxt mit dem braungelben Holm, glattglänzend von allem Anfassen, an den Baum gelehnt. Die Speckriege hielt er genau, wie es der Bauer tat, mit dem Daumen auf das Brot gedrückt. Niemand konnte wissen, wer er war. Neben ihm das leise Schmatzen des Bauern.

Es gab nichts mehr außer dem Sitzen und dem Schauen beim Kauen: an den Tannenstämmen war die Borke rosa hell oder braundunkel schon im Nachmittagsschatten oder noch im Mittagslicht. Die senkrechten Bäume sparten Wiesenstreifen aus, die tuchartig dazwischen aufgehängt schienen. Die Mittagshitze hatte die Entfernungen verwischt, man saß da und vor einem gab es nur noch Farben und Flächen, man brauchte nichts zu denken, es war nur noch in einem die Sehfläche, die man um sich herum hatte und das Auf und Ab des Brustkorbs. Der Bauer stellte ihm keine Fragen, er war nun einmal da und das genügte ihm. Sie saßen zusammen auf dem steilen von Tannennadeln bedeckten Abhang mit dem armartigen Wurzelgreifen der Bäume in Gesichtshöhe und den grünen, sonnenbeleuchteten Bergkuppen. In ihm entstanden ferne, noch nie gesehene Landschaften. Er alleine wußte, daß er von weither kam, aus einem fremden Land, daß er zu den Feinden gehörte und die Feinde zugleich nach seinem Leben trachteten, daß er auf Teppichen durch Zimmerfluchten gegangen war, daß man durch hohe Fenstertüren auf Gartenbäume geblickt hatte und jetzt saß er da, während der Bauer neben ihm in der Nachmittagssonne schlief.