In Gegenwart des abwesenden Gottes - Georges-Arthur Goldschmidt - E-Book

In Gegenwart des abwesenden Gottes E-Book

Georges-Arthur Goldschmidt

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie hältst du's mit der Religion? - diese Frage stellt und beantwortet Georges-Arthur Goldschmidt sich selbst vor seinen Lesern. Als Kind jüdischer, zum Protestantismus konvertierter Eltern 1928 in Hamburg geboren, muss Georges-Arthur Goldschmidt vor der Judenverfolgung in Deutschland fliehen. Er entkommt nach Frankreich, findet Unterschlupf bei savoyischen Bauern. 1949 nimmt er die französische Staatsbürgerschaft an und konvertiert zum Katholizismus. Vor den Bildern des nationalsozialistischen Terrors wendet er sich schließlich vom Glauben ab. Heute, dem Schlimmsten entkommen und inzwischen durch drei Bekenntnisse gewandert, ersetzen ihm Seinsbegeisterung und Feier des Augenblicks den Glauben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 69

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Georges-Arthur Goldschmidt

In Gegenwart des abwesenden Gottes

Essay

Übersetzt von Brigitte Große

FISCHER E-Books

Inhalt

Ein wartender GottEin fehlender GottEin abwesender Gott

Ein wartender Gott

Gott, der große Abwesende, wich mir zeit meines Lebens nicht von den Fersen, und fast hätte ich dafür den höchsten Preis bezahlt. Als Christ »jüdischer Herkunft« geboren, Agnostiker, wenn nicht Atheist geworden, hatte ich wirklich alle Chancen, von niemandem als seinesgleichen angenommen und vom Schicksal dazu verdammt zu werden, als Seife oder Rauchfahne zu enden. Alle hielten mich für etwas, das ich nicht war, für unecht die einen, für einen Verräter die anderen, und heute, angesichts der Abwesenheit Gottes, bin ich glücklich wie ein Fisch im Wasser. Zur lange geplanten Vernichtung geboren, habe ich mich durchgeschummelt und bin immer noch da, wofür Gott nichts kann; nur ein Gendarm, eine verdrehte, perverse Heimleiterin, ein Dorfvikar und ein paar savoyardische Bauern können was dafür.

Wie jeder weiß, ist die Shoah nicht aus dem Nichts entsprungen, sondern dem Schoß des Christentums, dem christlichen Bewußtsein. Auschwitz, dem ich »unverdientermaßen« entgangen bin, wurde von Menschen entworfen und verwirklicht, die sich auf denselben Gott beriefen wie die von ihnen Ermordeten, sie führten diesen Gott ständig im Munde, ja, er zierte sogar ihre Koppel: »Gott mit uns«. Die folgende Geschichte, so unbedeutend sie ist, mag als Beleg und Widerlegung des Gesagten dienen.

Ich bin der Sohn evangelisch-lutherischer Eltern, die ihre religiöse Inbrunst, ihren neuerworbenen, aufrichtigen Glauben bei jeder Gelegenheit zeigten. Tatsächlich ist meine Familie eine der alteingesessenen Hamburger jüdischen Familien, meine Vorfahren (die sich über sechzehn verschiedene Nachnamen bis zur Mitte des XVII. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen) sind allesamt Juden, wahrscheinlich waren sogar Rabbis dabei. Gottes wegen konnte man ihnen das Leben schwermachen, ihnen den Zugang zu allen Rechten verweigern und sich ihnen gegenüber alles herausnehmen, sofern es nicht die öffentliche Ruhe und Ordnung störte, nur umbringen durfte man sie nicht.

In Hamburg war nicht einmal darauf Verlaß. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts konnte man im Namen Gottes leicht diejenigen ermorden, die immer noch darauf beharrten, vom selben Gott zu sprechen. Pastoren hetzten von der Kanzel zum Pogrom auf, das gab schöne Judenjagden, damals Hepp!-Hepp!-Krawalle genannt. Von diesem Zeitpunkt an machte die Assimilation trotz ihrer teilweisen Ablehnung durch die jüdische Gemeinde und gegen den Widerstand der städtischen Behörden große Fortschritte, und schon bald nahmen die Juden aktiv am gesellschaftlichen Leben teil.

Zum Glück hatten meine Urgroßeltern nicht unter Verfolgungen zu leiden. Mein Urgroßvater, geboren 1794, und meine Urgroßmutter, geboren 1806, gehörten der reichen jüdischen Bourgeoisie an und waren daher relativ geschützt. Beide traten dem »Verein des Neuen Tempels« bei, der 1817 gegründet wurde und unter dem Einfluß von Moses Mendelssohn und der »Haskala« stand, der jüdischen Aufklärung, deren Ziel es war, die rigide Glaubenspraxis aufzuweichen und das Jiddische aufzugeben. Obwohl meine Urgroßeltern mit den Protestanten in ihrer Umgebung freundschaftlich verkehrten, weigerten sie sich doch standhaft, deren Glauben anzunehmen.

Meine Urgroßmutter, Johanna Goldschmidt, hat einen Briefroman geschrieben, Amalia und Rebecca, in dem eine junge Frau eine »gute Partie« ausschlägt, um dem Glauben ihrer Väter treu zu bleiben. In einem anderen Buch von ihr, Muttersorgen und Mutterfreuden, findet sich folgende Mahnung an die Religionslehrer: »… aus dem zarten Alter aber entfernt den Hochmutsteufel der sogenannten konfessionellen Tugenden, denn dem Erzieher kann es, darf es nicht unbekannt sein, daß jede Religionslehre dieselben gebietet und man daher für die Vortrefflichkeit der Menschen am besten sorgt, wenn man ihnen die Grundlage alles Guten als festwurzelnd in den ewigen Geboten heiliger Menschenliebe zeigt.«

Es ist vielleicht solchen freien Geistern zu verdanken, daß es am 23. Februar 1849 in Hamburg zur religiösen Gleichstellung von Juden und Christen kommen konnte. Das Bürgerrecht gab es für Juden erst 1869, gleich, was sie alles für die Stadt getan, wie viele Krankenhäuser und andere Gebäude sie womöglich gestiftet hatten. Im Namen des einen, gemeinsamen Gottes verweigerte man ihnen die Anerkennung als vollwertige Menschen. Ihre »gottgläubigen« evangelischen Nachbarn konnten ihnen ihre Treue zu Gott nicht verzeihen.

Mein Großvater trat am 1. Juli 1868 aus der jüdischen Gemeinde aus. Mein Vater, 1873 geboren, wurde im lutherischen Glauben erzogen, und dieser blieb der Mittelpunkt seines gesamten Lebens. Als er nach dem Tod meiner Mutter 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt kam, übte er dort die Funktion eines Pastors für die evangelischen Juden aus, wie es das Kirchenrecht für den Notfall bestimmt (67. Schmalkaldische Bestimmung).

Für mich war Gott von Anfang an gegenwärtig. Acht Monate nach meiner Geburt, am 30. Dezember 1928, wurde ich von Pastor A. Fries in meinem Geburtshaus getauft, wie es bei den Lutheranern damals Sitte war. Ich habe noch heute meinen Taufschein, in doppelter Ausführung, vom Pastor eigenhändig unterschrieben und mit dem Stempel der Kirchengemeinde versehen.

Mit sechs Jahren kam ich in die »Sonntagsschule«, den evangelischen Religionsunterricht. Die Gleichnisse gefielen mir, weil Jesus eine solche Güte ausstrahlte und den Schwachen half. Ich hörte andächtig zu. Die beweglichen Ziffern auf weißem Grund, die die Kirchenlieder anzeigten, begeisterten mich, ich träumte davon, sie eines Tages selbst auf der Holztafel verschieben zu dürfen. Von den Predigten des Pastors Fries, eines alten Herrn mit weißem Bart, schwarzem Talar und weißem Beffchen, war ich so hingerissen, daß ich auf einen Hocker im Badezimmer meines Vaters stieg und es ihm nachtat. Ich fand mich großartig, doch es mischte sich noch etwas anderes in die kindliche Eitelkeit, eine objektlose innere Gewißheit, die mich nie verlassen hat, aber es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis ich wußte, was es war: Ich fühlte mit höchster Intensität die Seele, die in mir war.

Ich konnte mich nicht satt sehen an meiner illustrierten Kinderbibel mit den berühmten Holzschnitten Ludwig Richters. Wenn mein Vater mir vorlas, nahm er Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung Dr. Martin Luthers, 6. Ausgabe, Halle, in der cansteinschen Bibelanstalt, 1830, zur Hand: ein dickes Buch, in gotischer Schrift zweispaltig gesetzt, mit einem klaren schwarzen Strich in der Mitte. Ich war sehr stolz, wenn ich es betrachten durfte. Es war darin oft von Juden die Rede, und dieses Wort verwirrte mich und machte mir angst. Ich wußte, daß Jesus Jude war und daß die Römer und andere Juden ihn gekreuzigt hatten. Aber vor allem wußte ich, daß von diesem Wort eine Gefahr, eine Drohung ausging, die auch mich betraf, ohne daß ich hätte sagen können, warum. Manchmal hörte ich das Wort »Judensau« und war mir nicht sicher, ob ich gemeint war. Vor mir oder meinem älteren Bruder nahmen meine Eltern das Wort »Jude« nie in den Mund, doch ich spürte, daß sie uns etwas verhehlten. Sie sagten immer, wir sollten auf Jesus Christus vertrauen, der uns noch mehr liebte als sie selbst.

Der alte Pastor Fries starb, ein jüngerer Pastor trat seine Nachfolge an, und schon am nächsten Sonntag wurde ich vom Religionsunterricht ausgeschlossen. Wie die meisten deutschen Pastoren kam es für ihn nicht in Frage, daß ein kleiner Jude den Gottesdienst besuchte. Seit dem 15. September 1935 war ich »Volljude«, weil ich vier Großeltern jüdischer Konfession hatte. Ganz Deutschland wurde so in Voll-, Halb- und Vierteljuden aufgeteilt. Denen, die keine »Arier« waren, verweigerten die Pastoren Taufe, Hochzeit und Begräbnis.

Der Verrat wohnte im Hause Gottes, und ohne es formulieren zu können, wußte ich, daß die Maria-Magdalenen-Kirche meines Dorfes, ein strenger, kantiger roter Backsteinbau, mit etwas Heillosem verbunden war, mit Verdammnis und Verbannung, und daß Gott, dessen war ich mir ganz sicher, dort nicht war, ja daß er wohl von den Orten, an denen er anwesend sein sollte, grundsätzlich abwesend war. Ich kann nichts dafür, wenn die protestantischen Bauwerke Norddeutschlands für mich heute noch tote, kalte Stätten sind, für alle Zeit vom Verbrechen besudelt.

Jeden Abend ließ meine Mutter mich das Vaterunser aufsagen. Ich betete stets mit der gleichen Inbrunst, aber etwas daran schien mir irgendwie verquer, irgendwie sonderbar, denn wenn ich im Arbeitszimmer meines Vaters in den großen Kunstbänden blätterte, was ich oft tat, wunderte ich mich jedesmal, wie viele Heilige dort nackt den schrecklichsten Foltern ausgesetzt zu sehen waren. Besonders der Heilige Sebastian des Antonello da Messina begeisterte und verwirrte mich. Obwohl ich wußte, daß die Märtyrer für ihren Glauben gelitten hatten, fand ich das Ergötzen an solchen Bildern unanständig. Und das Seltsame daran war, daß sich das Unkeusche mit der Gottesidee vermischte.