Ein Wiederkommen - Georges-Arthur Goldschmidt - E-Book

Ein Wiederkommen E-Book

Georges-Arthur Goldschmidt

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Beschreibung

Paris ist seine neue Heimat. Endlich das Gefühl, aufgenommen zu sein. Aber vergessen hat Arthur Kellerlicht nichts: Erst zehnjährig wird er des Landes verwiesen, verurteilt, weil er als Jude geboren ist. Rettung findet er in einem Internat in den Savoyen, wo die Züchtigung zum Alltag gehört. Und weil sich der Heranwachsende des Lebens unwürdig fühlt, ist es nur richtig, dass er bestraft wird: für das Lesen unerlaubter Bücher, für das Entdecken des eigenen Körpers, ganz einfach dafür, dass es ihn gibt, dass er überlebt hat. Kein Schreiben ist so existenziell wie das von Georges-Arthur Goldschmidt. Seine Romane und Essays sind einer der schönsten Existenzbeweise.

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Seitenzahl: 204

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Georges-Arthur Goldschmidt

Ein Wiederkommen

Erzählung

Fischer e-books

Still, meine Finger suchen dich, versteckter.

 

Paul Celan, Sommernacht

Für Marie-Luise Flammersfeld und Egon Ammann in alter Freundschaft

IStadtgrau

Das Dröhnen des Zuges wurde jetzt, da man die Berge hinter sich gelassen hatte, vom Heulen des Windes übertönt, der von weither vom Ozean gekommen, bis in die russischen Weiten ziehen würde. In der leicht gewellten Ebene fuhr der Zug durch Felder und Wiesen, von weit ausholenden Eichen gesäumt, deren Kronen in der Mondhelle Nachtschatten warfen. Ganz in der Ferne erriet man Hügelketten, trotz der Dunkelheit ging der Blick ins Endlose, in unermeßliche Ferne. Es war sonderbar, so im Abteil mit sieben anderen, völlig unbekannten Menschen, vier zu vier, gegenüberzusitzen.

Die Reisenden hatten das Licht im Abteil ausgemacht, manche schliefen und fielen gegen ihren Nachbarn, der, selbst im Halbschlaf, ihn nicht zurückschob. Er, Arthur Kellerlicht, gerade achtzehnjährig, mit zur Hälfte bestandenem Abitur, saß am Gang, natürlich hätte er gerne am Fenster gesessen, da es doch seine allererste längere Bahnfahrt durch Frankreich war. Man war von Sallanches um neun Uhr abends abgefahren und sollte zehn Stunden später in Paris, Gare de Lyon, ankommen, dort würde man ihn am nächsten Tag abholen. Ihm gegenüber schlummerte, in sich zusammengesunken, der Baron von Weinbein, der ihn nach Paris begleiten sollte. Im Halbdunkel sah man ihn ungenau, aber Kellerlicht kannte ihn so gut, daß er nicht einmal hinzuschauen brauchte, um ihn zu erkennen, er war der Englischlehrer im Internat, und da sie nur drei Schüler waren, die man auf das Abitur vorbereitete, sah man ihn immer aus nächster Nähe. Da Arthur Kellerlicht links von ihm saß, kannte er jeden Bartstoppel, jede Hautfaser seiner linken Gesichtshälfte, er hatte eine tiefe Stimme und schwarze Haare, die über der Stirn eine gerade Linie bildeten und von der Arthur nicht wegsehen konnte: Wie war es möglich, daß die Haare so genau, jedes für sich, eins neben dem anderen, wuchsen und auf einmal aufhörten, und es von da ab nur noch leicht angefeuchtete, ein wenig fettige, glatte Haut gab, mit unzähligen Poren und hie und da schwarzen Punkten, die die Stirn überzogen. Es gab so viel in einem Gesicht zu sehen, das von sich selbst nicht wußte, wie es aussah.

Herr von Weinbein rauchte Pfeife, und an ihm hing immer ein leiser bräunlicher Geruch, er trug dickes, aber, wie jeder zu dieser Zeit, zerschlissenes Tuch.

Im Internat war er Englischlehrer gewesen, als Nachfolger des Herrn Baron von Frankenstein, der sofort nach dem Anschluß Österreichs an Hitlerdeutschland sein Schloß und seine Pferde zurückgelassen hatte und nach Frankreich ins Exil gegangen war. Sehr rasch hatte er in Florimontane, dem Internat, eine Anstellung gefunden, als Englischlehrer, Deutsch lernte ja keiner. Er bewohnte ein winziges Holzhaus mit Ofen gegenüber vom Internat. 1943, als die Deutschen die italienischen Besatzer des damals mit den Nazis kollaborierenden okkupierten Frankreich ablösten, war er der Französischen Résistance beigetreten und nach London geschleust worden, wo er sich in die Englische Armee einreihte und Dolmetscher wurde.

Den Tip hatte er seinem Freund Weinbein gegeben, der gleichfalls nach dem Anschluß Österreichs an Nazideutschland emigriert und einige Monate lang auch dort im Internat Englischlehrer gewesen war. Er, Baron von Frankenstein, hatte aber nicht im Holzhäuschen gewohnt, sondern in einem großen Zimmer im Internat. Arthur Kellerlicht hatte es immer vor Scham geschüttelt, wenn er sich einen Erwachsenen im Bett vorstellte.

Erst ein Jahr nach der Befreiung des südlichen Teils Frankreichs, im September 1944, war der Baron von Weinbein plötzlich wieder aufgetaucht. Allmählich erfuhr man, daß er ein Jahr zuvor in Lyon von der Miliz verhaftet und zum Tode verurteilt worden war und im Gefängnis des Fort Monluc in den noch blutfeuchten Bettüchern eines von der Gestapo gefolterten französischen Widerstandskämpfers hatte schlafen müssen. Da am Tage seiner Hinrichtung Lyon von der Résistance befreit wurde, hatte er überlebt. Als er dann, ein Jahr später, im Internat wieder Englischlehrer war, schwieg man immer, wenn man ihm begegnete und schaute ihn länger an, weil man wissen wollte, wie es in einem aussah, der zum Tode verurteilt worden war. Er fand Arthur Kellerlicht viel zu zappelig, störend, nervös, und gerade ihn hatte man gebeten, da er nun schon mal hinfuhr, den Arthur nach Paris zu bringen, wo er an einer neuen Schule aufgenommen worden war. Und nun konnte er wieder nicht von diesem Gesicht lassen. Schräg gegenüber von Herrn von Weinbein saß ein älterer schwitzender Mann, dessen Bauch sich langsam unter den vielen Knöpfen, die ein so großer Bauch brauchte, hob und senkte, es war eigenartig, daß dessen Gesicht wie auch die Gesichter der anderen Mitreisenden einfach so mitfuhren.

Alle Gesichter waren immer und überall mit dabei, und das war das Groteske, er, Kellerlicht, stellte sich diese Gesichter beim Waschen, beim Ankleiden vor, und dabei sah man doch kaum etwas in der fahlen Beleuchtung des Abteils. All die Reisenden waren auch immer wieder, abends oder morgens, selbst Nackedeis, und man wußte nichts von all den Landschaften, die jeder einzelne von ihnen gesehen hatte, von den Wegen, die er gegangen, von den Zimmern, in denen er gewesen war, den Türen, die er auf- oder zugemacht hatte, all das war in jedem von ihnen, und von alldem wußte man nichts, von den Sonntagskleidern, den Abenden, den Fenstern, aus denen sie sich gelehnt hatten, und jedes Gesicht war so vollkommen anders und doch ähnlich zugleich mit seinen ganz eigenen Zügen, die jeden von ihnen überallhin begleiteten, aufs Klo, ins Bett, ins Zimmer, auf die Straße, man konnte sich einfach nicht satt sehen. Ganze Weltgeschichten fuhren da mit ihm, Arthur Kellerlicht, eine Frau mittleren Alters saß am Fenster, schaute starr in die Nacht hinein und dachte an etwas, wovon man nichts ahnte, sie hielt den Kopf unbeweglich gesenkt, und die Haare hingen ihr herunter. Sie mußte an die dreißig Jahre alt sein und hatte bestimmt schon Hunderte von Türen zu- und aufgemacht, sie hatte Verwandte und Freunde, Eltern vielleicht, die alle wiederum andere Menschen kannten, und jeder hatte seine eigenen Bilder in sich.

Von den drei Reisenden neben sich sah er nur wenig, Knie und eine Gesichtsflanke auf Augenhöhe, die drei anderen ihm gegenüber hatte man alle auf einmal vor Augen, mit allem Zubehör: Nase, Lippen, Kinn, Stirn. Alles hatte sie immer, zu jeder Gelegenheit, begleitet, war immer dabei, hatte alles gehört und gesehen.

Hinter den Reisenden befand sich in einem Rechteck ein fahlgraues Foto, das eine französische Landschaft darstellte. In der sehr schwachen Beleuchtung konnte man hinter dem Glanzpapier nur vage Formen von Bergen, von Ebenen oder Türmen sehen, vielleicht war in irgendeinem anderen Abteil des Zuges die Landschaft abgebildet, durch welche man gerade fuhr.

Aus der Luft sah der Zug wie ein langer, heller dünner Strich aus, der da unten auf einer schwarzen, geraden Linie fuhr. Man konnte sich vorstellen, wie alles, von einem nächtlichen Flugzeug aus betrachtet, aussehen würde. Die Wiesen, Hecken und Wälder wurden von dieser sonderbar geraden Linie durchschnitten, und im vom Mond hell beleuchteten schmalen Strich saßen oder lagen einige hundert Menschen, je nach Reichtum in weichen Bettüchern oder auf Leder, Kord oder Holz, schlafend, dösend, nachdenkend, wartend, traurig, ruhig oder froh, und von all diesen jahrzehntelangen Geschichten eines jeden war nichts zu sehen, nichts zu vernehmen, und doch zog da in jenem winzigen Strich, der da fuhr, die ganze Welt vorbei.

Einer erinnerte sich an den letzten Geburtstag seiner kleinen Tochter, an den im Garten aufgestellten Tisch mit der Decke, die auf einer Seite die Beine verdeckte, man hatte Kuchen von blauen Tellern gegessen, und der andere neben ihm dachte an den Haken am Fensterladen, den er immer so schwer aufkriegte, und ein anderer an seine Küche, wo seine Frau, trotz fortgeschrittener Stunde, am Tisch mit dem Wachstuch saß und auf ihn wartete: aus jedem konnten ganze Romane hervorkommen, und er, Arthur, der da auch im winzigen Strich saß, stellte sich die Unendlichkeit der Welt vor.

 

Hinter Kellerlicht lag die vertraute Landschaft. Vom hohen Sockel aus, am Gesims des Abhangs, überschaute man vom Internat, wo er nun sieben Jahre gelebt hatte, das ganze Tal. Die Bank, auf der er jahrelang gesessen hatte, sein Bett, sein Regal, die Stimmen vor allem all seiner siebzehn Mitschüler, die er nur von weitem hören brauchte, um sofort zu wissen, zu wem welche gehörte, wußte, wie er aussah, wo er wohnte, ob er vor Heimweh weinte oder nicht, wie er lachte, wußte, ob er ihn schon berührt oder angefaßt, ob er ihn liebgehabt hatte, ob der andere ihn auf den Dachboden mitgenommen und ihn vor sich hinknien lassen hatte, wie seine Eltern hießen, dessen Schuhe oder Hemd er sofort erkannte, das lag nun alles hinter ihm, wäre er noch da, wäre alles wie sonst. Jetzt, auf einmal, war das alles weg, verschwunden, schon weit hinter dem Horizont, das steile Wäldchen, wo er so viele Tannenzapfen für die Heizung gesammelt hatte, sie lagen, nie hatte es zwei gleiche gegeben, überall unter dem strähnigen Gras, der Felsenbehaarung, auf dem Moos, zwischen den Heidelbeersträuchern, die wie winzige Waldbäume aussahen. Er hatte damit die ovalen Weidenkörbe für Tomaten gefüllt. Der lange Balkon ganz oben, wo er so oft gestanden und das ganze Tal überschaut hatte, bis auf fast hundert Kilometer weit, das alles war nun weit hinter ihm, man mußte nur zurückkehren, und alles wäre wieder da wie sonst.

Wie er da saß, überkam ihn auf einmal, unerwartet, hinterrücks das Heimweh, eine Welle, die ihn ansprang, so mächtig, daß ihm die Tränen in die Augen schossen, es wunderte ihn selbst. Das Internat hatte also doch zu seinem Inbild gehört, war nun Teil seiner Innenlandschaft geworden: die Beleuchtungen, Ecken, Zimmer, die Küche, die Bretter der Holzverschalungen, alles kannte er und vor allem die Stellen, wo man ihn hingeführt hatte.

Arthur Kellerlicht war Vollwaise, zehnjährig hatte er seine Eltern verloren. Genauer gesagt, er hatte aus der Heimat wegmüssen, weil er geburtsschuldig war, aus »nichtarischer« Familie, wie es damals hieß, eine Bestimmung, von der er nie gewußt hatte, daß es sie gab. Der Vater, ein deutscher Jurist jüdischer Herkunft, als Kind aber evangelisch getauft, war schon fünfundfünfzig Jahre alt, als Arthur geboren wurde, die Mutter zehn Jahre jünger. Er hatte in einem großen Haus mit hohen Fenstern gelebt, in dem immer hinauf- und hinuntergerannt wurde, und sich Vater oder Mutter vom Treppenabsatz immer etwas zuriefen, es wurde auch viel geschrien und ab und zu, aber immer seltener, stoßweise gelacht. Vom Kinderzimmer oben hörte man im Winter den Vater unten in der Heizung mit einer langen Eisenstange stochern. Es war stets etwas nicht in Ordnung, es schlugen Türen irgendwo, weißlackierte Türen mit kleinen schwarzen Stellen, da wo die Farbe abgesprungen war. Seinetwegen, das hatte er schon herausbekommen, wurden sie so oft zugeschlagen. Er war viel zu jung für so alte Eltern, und mit kindlichem Zynismus nutzte er die Lage aus: Er war ein Böser. Auch hatte er sich mehrmals im weiträumigen Garten im Gesträuch versteckt, versucht sich nackt auszuziehen, um zu fühlen, wie es war. Jedesmal aber war er dabei überrascht worden, und man hatte ihn von der Stelle weggezerrt und gesagt, er sei ein ganz böser Junge.

So hatte das Nacktsein nie von ihm abgelassen, immer irgendwo, im Hintergrund, abends im Bett, und auch das hing mit der Nacktheit zusammen, befingerte er in der Körpermitte die kleine rundliche Härte, die plötzlich aus ihm herausstand, und dann war auf einmal das Licht angegangen, und am Fuß des Bettes hatten zusammen, das war noch nie geschehen, Vater und Mutter nebeneinander gestanden, von oben bis unten mit allen Details, Anzug, Fliege, braunem Kleid und Kette, alles war da, und dann hatte die Mutter seine Hände ergriffen und versucht, sie mit einer Kordel, die er nicht gesehen hatte, zusammenzubinden. Es überfiel ihn da eine unmäßige, aus ihm herausbrechende Wut, ein bodenloser, ungeheurer Haß, am liebsten hätte er der Mutter das Gesicht zerkratzt, ihr den Schädel mit den Schuhhacken zertrampelt. Er schrie sie an, nannte sie Scheißsau, Hexe, Hure, ohne zu wissen, was das bedeutete, und fühlte, indem die Wut in ihm andauerte, daß sie in Mordlust umschlagen konnte, fühlte ihren Hals in seinen Händen, fühlte, wie er sie, ein letztes Schlucken unter seinen Fingern, erwürgte. Auf einmal aber schlug seine Wut in Schluchzen um, er war doch nur ein Bösewicht, ein Mörder vielleicht, der Vater, peinlich berührt, war davongeschlichen, und die Mutter hatte Tränen in den Augen, daß ihr Kind so boshaft war. Von da an hatte er gewußt, er trug in sich eine Wildheit, gegen die nur die Tränen, das herrliche, rettende Weinen ankommen konnte.

Da die Mutter nicht mehr mit ihm fertig wurde, hatte man ihn seiner Hamburger Kinderfrau anvertraut, die ihn hütete, während die Mutter auf irgendwelchen mondänen Parties verschwand. Er war monatelang bei ihr in einem hohen Stadthaus mit schütterem engen Garten geblieben. Sie war mit Arthur streng und gerecht, und er war gerne bei ihr, jeden Tag bekam er es mit der Hand auf den Nackten und jede Woche sechs Hiebe mit dem Rohrstock, die er, neunjährig, entkleidet zu empfangen hatte, zuerst hatte er das ganze Haus zusammengeschrien, bald aber gelernt, den Schmerz herunterzuschlucken, vor allem, da die Hiebe nicht einmal sehr fest waren, und man ihm das Schreien verboten hatte. So weinte er nur noch, sonderbar entzückt, verwirrt, erregt, seine auf diese Weise ausgestellte Nacktheit wurde zu einem festen Bild seiner Innenwelt.

Was ihm von der Mutter geblieben war, war eine Silhouette in weißen, wehenden Kleidern, im sommerlichen, sonnenüberfluteten Garten, unter den hohen weißen Wolken. Seine Mutter hatte oft mit ihm gespielt, er war ihr im Garten hinterhergelaufen, sie hatte seine Hände gehalten und sich mit ihm lachend im Kreise gedreht, und dann war sie auf einmal weg, und die ganze Welt um ihn herum schrumpfte, er sah nur noch Verschwommenes und in ihm war, jedesmal von ganz tief, Verzweiflung und Panik aufgestiegen.

 

Während all der Jahre im Internat hatte er manches von ihr vergessen, und da sie nicht wiederkam, ließ er sie jeden Morgen in dem weißen Kleid mit der blauen Schleife mit ihm spielen, er fühlte den Druck ihrer Hände um seine Handgelenke. Er hatte jetzt Erfahrung und konnte das Bild verdrängen, wenn die Tränen in ihm aufstiegen.

Eine französische Kusine, die Deutsch so drollig mit singenden Endungen aussprach, hatte sich seiner angenommen. Sie war eine geborene de la Rapière aus dem Périgord, eine alte »betuchte« Familie, die Adel vorspielte, weil sie vierzehn Bauernhöfe verpachtet hatte, die man im Laufe der Jahrhunderte auf nicht immer ehrliche Weise erworben hatte, und deren Name der Wiese »la Rapière«, die sie im 19. Jahrhundert erworben hatte, entstammte.

 

Das wiederholte weiche Anschlagen der Räder, das nun dumpfer und härter war als bisher, bedeutete, daß man über Weichen fuhr und in eine Stadt kam, er mußte geschlafen haben. Der Zug verlangsamte und hielt schließlich an einem mit rautenförmigen gelblichen Fliesen versehenen, nicht sehr hohen Bahnsteig. In großen roten Buchstaben konnte man DIJON lesen. Er hatte es auf der Karte gesehen, der Zug fuhr über Louhans, Bourg-en-Bresse, la Roche-Migennes, Dijon und dann Paris. Als der Zug wieder anfuhr, sah er einen nicht sehr hohen Kirchturm, und er wußte sofort, daß es Spätgotik, 14. Jahrhundert, war. Dann folgten endlos, stundenlang Wiesen, Hecken und Felder, und Dörfer hie und da.

Allmählich war es aber dichter besiedelt mit Ansammlungen rotbedachter kleiner Häuser wie Pocken in der Landschaft, dann Reihen von Sägedächern, dann wieder Wälder und plötzlich Stadtgebäude, Straßen mit breiten Bürgersteigen, eine sehr hohe Mauer in einer Senke mit einer Inschrift aus Backsteinen

PARIS À CINQ MINUTES

Der Zug verlangsamte wieder und fuhr in den Bahnhof Paris Gare de Lyon ein. Arthur hatte nicht überprüfen können, ob es auch wirklich fünf Minuten waren, denn er besaß keine Uhr. Um ihn herum stand man schon auf, und er blickte zum Koffer, der im Netz über ihm die ganz Reise lang gerasselt hatte, ein bräunlicher Pappmachékoffer.

Der Koffer auf dem Metallgerüst erinnerte ihn daran, daß er verköstigt wurde, von dem Wohlwollen einer entfernten Kusine abhing, die ihn ebensogut in eine Werkstatt als Lehrling hätte stecken können, damit er einen Beruf erlerne. Er hatte nicht einmal Taschengeld dabei, das hatte er noch nie bekommen. Im Internat kam man für ihn auf, und dies befand sich so weit oberhalb des Dorfes, daß es sowieso wenig Gelegenheit gab, etwas zu kaufen, und wenn man ihn auf Besorgungen schickte, traute er sich nicht, vom Geld ein paar Centimes zu nehmen, um sich Brot oder Käse zu kaufen. Hunger hatte er immer, und zum Glück hatte es nun nach dem Krieg Pellkartoffeln in Mengen gegeben, und davon aß er ganze Teller voll und träumte von braun-gelb überbackenem Nudelauflauf. Das hatte er im Kopf, als nun der Zug an einem mit wieder gelblichen Fliesen ausgelegten Bahnsteig hielt, wie noch vor gar nicht so langer Zeit im kleinen Bahnhof von Sallanches. Diese Fliesen waren einheitlich, es gab sie überall, so wie die Fenstersimse der Schule, die Streichhölzer oder die Lichtschalter, wie innere Erkennungszeichen des Landes. Und in Sekundenschnelle stieg in ihm die Frage auf, eine Kleinigkeit, die als Selbstschutz diente, wenn Kummer oder Heimweh in einem aufzusteigen drohen: ob in Paris die Lichtschalter auch so wie im Internat sind oder wie damals auf dem Bauernhof, wo der Strom erst gerade gelegt worden war? Es waren runde Schalter, auf die eine Art Aluminiumhaube um einen oben abgerundeten kleinen Stift geschraubt war, den man rauf- und runterkippte. Innerhalb der Haube lag zur Isolierung ein Stück Pappe, das bei jedem Schalter anders war, grau, grün, rosa oder gestreift und sogar manchmal mit Teilen von Buchstaben bedruckt, und man stellte sich die Menschen vor, die es hineingelegt hatten, wo sie jetzt wohl waren, ob sie überhaupt noch lebten. Solche kleinen Gegenstände verbanden einen Ort mit einem anderen, an dem man schon gewesen war, es war ein wenig wie ein Heimwehschutz.

 

Alle Reisenden zogen ihre Koffer aus dem Netz, stemmten sie herunter, manche stiegen auf die Holzbank, um sie herunterzuhieven, man sagte sich »Auf Wiedersehen«, und so zog er seinen alten Koffer, indem er ihn abstützte, auch aus dem Netz.

Im Laufe der acht Jahre im Internat hatte sich doch einiges zusammengesammelt: alte Unterhosen von ehemaligen Mitschülern, zwei Hemden, die man ihm geschenkt hatte, und viele kleine violett umrandete Broschüren mit Auszügen aus den großen Werken der französischen Literatur: Voltaire, Chateaubriand, Vigny, Victor Hugo und vor allem von den großen Klassikern Pascal, Racine oder Bossuet, deren majestätische Prosa in ihm immer den Anblick von Prunksälen mit kannelierten Pilastern entlang der Mauern und bemalten Plafonds entstehen ließ und die er nun im Koffer rumpeln hörte. Darin lagen auch ein Nachthemd und seine Schulbücher für die Vorbereitung auf den zweiten Teil des Abiturs. In Frankreich bestand damals das Abitur aus zwei Prüfungen im Abstand von einem Jahr.

 

Herr von Weinbein schwieg, und dann standen sie beide unter hoher Verglasung zwischen grün bemalten schmalen Säulen in einem unendlichen Raunen von überall her, hinter den vielen Geräuschen waren Stimmen, Klingeln, Rollen, Rufe zu hören. Am Ausgang sagte Herr von Weinbein auf einmal: »Wir werden ein Taxi nehmen, und ich bringe Sie ins Hotel de l’Univers, Rue Jean-Jacques Rousseau, wo jemand Sie dann abholen wird.«

Sonderbar war es, daß er, Arthur Kellerlicht, selbst mitging, daß er dabei war, wie ein Zeuge, den er überall mit hinnahm, den er nie loswerden konnte, den er sogar auf dem Klo dabeihatte, beim Essen, Schlafengehen und bei allem anderen, der sich aber vor allem ins Fäustchen lachte, schon im Zuge hatte es angefangen, es war ihm, als ob er in einem Korsett mit Reißverschluß eingeschlossen war, und dabei sah er doch alles und wunderte sich, daß die grauen, ein wenig abgerundeten Hausfassaden so niedrig waren. Man kam auf eine Art erhöhte, gepflasterte Terrasse, die Gebäude davor schienen sich auf einmal zu erheben und mehrere Stockwerke hoch zu werden. Mit den Fingern zählte er ab, sechs Etagen übereinander.

Dann fuhr man Taxi, saß auf brüchigem Leder in einem schmalen Gehäuse hinter dem breiten Rücken des hantierenden Chauffeurs, mit Blick auf halbierte Passanten und Schaufenster. Ab und zu öffnete sich die Sicht auf vor bläulichem Hintergrund verlaufende Straßenfluchten mit Balkonfassaden und unzähligen Fenstern, Schneisen, die den Blick in die Ferne leiteten. Immer wieder änderte das rot-schwarz lackierte Taxi die Fahrtrichtung, um einen herum waren überall andere Autos, hohe oder niedrigere, in denen auch Menschen saßen, Gesichter im Profil, die einen plötzlich ansahen, und es war, als trüge man sich selbst wie eine ans Fenster gehaltene Tafel. Stoßweise hielt der Wagen an Ampeln, Pferdewagen fuhren vorbei, man hatte die riesigen fast menschlichen Hintern auf Gesichtshöhe.

Auf einmal hielt der Wagen, und der Chauffeur streckte den Arm hinaus, um an einem kleinen Kasten zu drehen, an dem sich plötzlich ein kleines Schild aufrichtete: »LIBRE«, frei. Herr von Weinbein lehnte sich zum Chauffeur vor und bekam einen Zettel für die ausgelegte Summe, stieg mit Kellerlicht die beiden Stufen zum Hoteleingang hinauf, verabschiedete sich von ihm und war verschwunden.

Im Hotel war man im Bilde, in einem glasierten (mit Fenstern versehenen) Holzkasten saß ein älterer, müde aussehender Mann, der ihm sagte: »Morgen um drei Uhr werden Sie hier abgeholt, und man wird sich um Sie kümmern, ihre Verwandte hat angerufen, Sie sollen hier im Hotel essen und schlafen, junger Mann.« Er reichte ihm den Zimmerschlüssel mit einem bronzenen Schild mit der Zimmernummer und dem Namen des Hotels, er lag schwer in der Hand, und auf der Rückseite des Schildes stand in Reliefbuchstaben, die man mit dem Finger ertasten konnte:

SOLLTEN SIE VERGESSEN HABEN,

MICH ABZUGEBEN, STECKEN

SIE MICH IN DEN BRIEFKASTEN.

Er hatte noch nie, das fiel ihm jetzt auf, einen Schlüssel in der Hand gehalten, seit acht Jahren im Internat hatte man immer für ihn die Schlüssel im Schloß gedreht, gehört hatte er sie oft, jeden Schlüssel, so viele waren es nicht einmal, er hatte sie am Geräusch, wie sie sich drehten, erkannt. Und das Geräusch war besonders deutlich und laut, wenn er Karzer bekam, was, seitdem er sechzehn war, drei- oder viermal im Jahr passierte, bei trocken Brot und Wasser drei Tage und zwei Nächte und mit entsprechend kochenden Bestrafungen, wenn er wieder mal überrascht worden war, und er genug Strafpunkte gesammelt hatte.

Und nun hatte er selbst einen Schlüssel zum Auf- und Zuschließen. Das Zimmer lag im ersten Stock, zur Rechten. Neben dem Gehäuse des Portiers war die Treppe, die er nun hochging. Zum ersten Mal nach vielen langen Jahren, er war damals noch ein kleiner Junge gewesen, stieg er einen roten, ein wenig am Ansatz zerschlissenen Läufer hinauf, es fühlte sich weich unter den Füßen an, das hatte er in seinem Leben bisher nur selten empfunden, nur wenn er barfuß im Büro stand, um gewogen oder bestraft zu werden. Es war ein richtiger Läufer, der vornehm auf jeder Stufe auflag, mit einer kupfernen Stange und einem Knauf an jedem Ende, eine lange, nicht sehr steile Treppe mit niedrigen Stufen, es war aber alles alt und muffig, rot tapeziert mit fleckigen Stellen.

Und auf einmal stieg in ihm unerwartet die Treppe des Reinbeker Elternhauses auf, und dabei wußte er doch, wie man die schmerzhaften Erinnerungen von sich stößt, er hatte Übung darin und ließ die Eltern nie mehr in sich hochkommen, stemmte sie einfach weg.

Und nun in ihm die breite Treppe mit dem weißlackierten Geländer und den hie und da abgesprungenen Stellen, für die er sich gerne den Fingernagel hätte wachsen lassen, um unter die Farbschicht zu kommen, sie abzuheben, das ging ihm dann durch den ganzen Körper, wie beim Schorf, wenn man sich das Knie aufgeschlagen hatte. Es war ein grüner Läufer, und ihm war, als hörte er die Stimme der Mutter, wie sie die Treppe hinunterlief und dabei immer etwas ausrief. Auf dem Absatz, Gott weiß warum, stand das Telefon auf einem runden, kleinen Tisch vor dem hohen Fenster, das auf das Laub der Gartenbuchen ging, es hatte ihn gewundert, daß Möbel rund sein konnten. Sonderbar, wenn man die Treppe herauf- oder hinunterging, und man sich um sich selbst drehen mußte, als wäre man doppelt, um von einem Lauf zum anderen zu gelangen. Manchmal war er ganz schnell gelaufen, als ob er sich selbst auf dem Absatz treffen wollte.

Einmal, auf einer Stufe sitzend, er hielt sich gerade an einem Stab des Geländers fest, hatte das Telefon geklingelt, und auf dem anderen Treppenabsatz hatte er den Vater heraufkommen und seine Glatze von oben sehen können, er hatte den rundlichen älteren Herrn im Streifenanzug, der mit sich selbst sprach, im Profil betrachtet. Es war eine trockene Gleichgültigkeit in ihm, als läge das nun alles links neben ihm, wie nach hinten verschoben.