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Als Fortsetzung seiner berühmt gewordenen Studie »Als Freud das Meer sah«, die mehrere Auflagen erlebt und dem Autor zahlreiche renommierte Preise eingetragen hat (zuletzt: Joseph-Breitbach Preis 2005), setzt Goldschmidt seine Analyse der deutschen Sprache vor dem Hintergrund der Psychoanalyse fort. Orientierte sich Freud an der grammatikalischen Struktur der deutschen Sprache, die die eigentliche Information immer an den Schluss der Sätze stellt, ganz im Gegensatz zum Französischen, wo Subjekt und Verb am Anfang eines Satzes die Aussage bestimmen? Eine Sprache entfernt sich nicht von ihrem Gebrauch. Freud hat seine Methode am Vorabend der aufziehenden Nazi-Barbarei entwickelt, eine Barbarei, die alles daran gesetzt hat, wie die Geschichte zeigt, zuallererst die Sprache zu beschmutzen und zu zerstören. Goldschmidt geht diesem Phänomen nach und analysiert das Einhergehen von Sprachreinigung und Sprachzerstörung. Er sieht in der deutschen Sprache die 'Grundsprache', die von keiner anderen Sprache massgeblich beeinflusst worden ist, die durchsichtig davon spricht, was dem Benutzer in dringlicher Wirklichkeit vor Augen steht. Die beiden Sprachen, Französisch und Deutsch, werden per definitionem einander so gegenüber gestellt: das Deutsche ist urwüchsig, dinghaft, kindlich-obszön, das Französische durch luzide Rationalität geprägt, theoriegeeignet, geschmeidig, erwachsen.
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Seitenzahl: 274
Veröffentlichungsjahr: 2018
Georges-Arthur Goldschmidt
Freud und die deutsche Sprache II
Im Anschluss an seine berühmt gewordene Studie »Als Freud das Meer sah«, setzt Goldschmidt seine Analyse der deutschen Sprache vor dem Hintergrund der Psychoanalyse fort. Orientierte sich Freud an der grammatikalischen Struktur der deutschen Sprache, die die eigentliche Information immer an den Schluss der Sätze stellt – ganz im Gegensatz zum Französischen, wo Subjekt und Verb am Anfang eines Satzes die Aussage bestimmen?
Eine Sprache entfernt sich nicht von ihrem Gebrauch. Freud hat seine Methode am Vorabend der aufziehenden Nazi-Barbarei entwickelt, eine Barbarei, die alles daran gesetzt hat, die Sprache zu beschmutzen und zu zerstören. Goldschmidt geht diesem Phänomen nach und analysiert das Einhergehen von Sprachreinigung und Sprachzerstörung. Er sieht in der deutschen Sprache die ‚Grundsprache’, die von keiner anderen Sprache maßgeblich beeinflusst worden ist, die durchsichtig davon spricht, was dem Benutzer in dringlicher Wirklichkeit vor Augen steht. Die beiden Sprachen, Französisch und Deutsch, werden einander so gegenüber gestellt: das Deutsche ist urwüchsig, dinghaft, kindlich-obszön, das Französische durch luzide Rationalität geprägt, theoriegeeignet, geschmeidig, erwachsen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Georges-Arthur Goldschmidt, 1928 in Reinbek bei Hamburg geboren, musste als Zehnjähriger in die Emigration nach Frankreich gehen. Er lebt heute in Paris. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem Bremer Literatur-Preis, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet. Im November 2013 erhielt er den Prix de L’Académie de Berlin. Zuletzt erschien seine Erzählung ›Der Ausweg‹.
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Widmung
Motto
Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe
I Ohne das Wissen von Babel
II Am Waldrand oder Soll man Freud übersetzen?
III Drunter und drüber
IV Freud wartet auf das Wort oder Der Verzögerungseffekt
V Eine Sprache in Zeitlupe
VI Aus-Sichten einer Sprache
VII Ein Sprachzwang
VIII Das Feld der Wörter
IX Der Klang der Wörter
X Apocalypse now
Anhang
Am Waldrand
Literatur
Für Nicole und Patrice Loraux, in tiefer Freundschaft
»Der gleiche Sinn verändert sich mit den Worten, die ihn ausdrücken.«
Blaise Pascal[1]
»Ich beschreibe nur die Sprache und erkläre nichts.«
Ludwig Wittgenstein[2]
[1]
Blaise Pascal, Gedanken, übersetzt von Wolfgang Rüttenauer, Bremen 1955
[2]
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Schriften, Bd. 4, hg. von Rush Rhees, Frankfurt/M. 1969
Dieses Buch, genau vor zehn Jahren in seiner französischen Niederschrift erschienen, war ein Versuch, Freud durch seinen Gebrauch der deutschen Sprache zu verstehen, einer Sprache, wie sie in Frankreich doch kaum gelesen werden kann. Durch die Übertragung wird der Text ein vollkommen anderer, wobei der Inhalt derselbe bleibt, er aber die Farbe gewechselt hat, ein rot angestrichenes Gebäude wird auf einmal hellblau. Es ist sozusagen derselbe Mensch mit einem anderen Gesicht. Was haben uns die Sprachen zu sagen, da, wo die Übersetzung nicht ganz ankommt und von der Ausgangssprache nichts wiedergibt? Vielleicht drücken die Sprachen das Wesentliche gerade dort aus, wo sie der anderen Sprache nur ihre Stummheit entgegenzuhalten haben, denn die Sprachfelder decken sich nur teilweise, und das Aufregende und Deutlichste geschieht fast immer dort, wo die Zielsprache leer ausgeht. Allein der Sinn bleibt erhalten, man versteht, sieht aber nicht, es ist, als sollte Glasgow für Lissabon gehalten werden.
Freud schrieb deutsch, und zwar ein besonders klares, schönes Deutsch. Übersetzt wirkt er meist gestelzt und kompliziert, aber trotz der manchmal auffallenden Verschiebungen versteht man ihn durch das Französische genau wie im Deutschen. Die Übersetzung hat in nichts den Sinn der Psychoanalyse entstellt, und doch sieht der Text vollkommen anders aus, klingt anders, wird in einem anderen Kontext anders aufgenommen. Deshalb stellt sich die Frage: Wie ist dasselbe anders, wie funktioniert es in seiner Andersartigkeit? Und so galt es, dem französischen Leser zu zeigen, wie das Deutsche überhaupt, jedenfalls das Deutsche, wie es zur Zeit Freuds von »Akademikern« geschrieben wurde, funktioniert, vor allem im Hinblick darauf, daß Freuds Denken parallel zum Aufkommen des Nazismus verlief und sich entwickelte. Freud hat, ohne es entsprechend zu formulieren, wie ein Jahrhundert zuvor Heinrich Heine, die Katastrophe des 20. Jahrhunderts herannahen sehen. Sein ganzes Werk war vielleicht eine Warnung, die zu spät kam, angesichts der nicht wiedergutzumachenden Zerstörung Europas durch den Nazismus.
Die eigentliche Frage in diesem Buch lautet: Wie sieht das Deutsche auf französisch aus? Eine Frage, die in weiteren Arbeiten, z.B. für die inzwischen eingestellte Zeitschrift Nouvelle Revue de psychanalyse oder in l’Inactuel und anderen ähnlichen Veröffentlichungen, noch näher untersucht worden ist. An ein paar wenigen Stellen wurde der Text vom Verfasser für die deutsche Erstausgabe leicht abgeändert. Sein besonderer Dank gilt der Übersetzerin Brigitte Große.
Georges-Arthur Goldschmidt
[1]
Wilhelm von Humboldt, »Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues«, in: Schriften zur Sprachphilosophie, Stuttgart 1965
[2]
Im Deutschen bedeutet Parole Losungswort (mot de passe), Kennwort, Slogan, und das ist auch schon alles (s. Max Picard, Die Welt des Schweigens, Erlenbach 1950)
[1]
Georges-Arthur Goldschmidt, Molière ou la Liberté mise à nu, Paris 1973
[1]
Max Picard, Hitler in uns selbst, Erlenbach 1969
[1]
Humboldt, a.a.O.
[1]
Martin Seel, »Sprache bei Benjamin und Heidegger«, in: Merkur, Nr. 517, April 1992
[1]
Henri Bergson, La pensée et le Mouvant (dt. Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Materialien, aus dem Französischen übersetzt von Leonore Kottje, Stuttgart 1993)
[1]
S. Sigmund Freud, »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia« (»Der Fall Schreber«), StA, Bd. VII, S. 133ff.
[1]
Sandor Ferenczi, »Über obszöne Worte«, in: Bausteine zur Analyse, Leipzig-Wien-Zürich 1927
[1]
Henri Bergson, Les données immédiates de la conscience (dt. Zeit und Freiheit, Hamburg 1994)
Das ist es nicht, oder so geht das nicht.
Es gibt nichts Eigenartigeres als den Wechsel ein und desselben Objekts aus einer in eine andere Sprache. Dieser Wechsel ist um so verblüffender, als ein solches Sprachobjekt werden muß, was es nicht ist und nicht sein kann.
Jede Übersetzung hat von Anfang an schwer an ihrer Unmöglichkeit zu tragen – als könnte man einen Körper seines Körpers entkleiden. Alles, was in einer Sprache gesagt oder geschrieben wird, ist diese Sprache. Die Übersetzung macht aus demselben ein anderes; ein deutscher Text kann nicht zu einem französischen werden. Und gerade weil Übersetzung unmöglich ist, ist sie unumgänglich.
Freuds Text ergibt nur dann einen Sinn, wenn man ihn im Herzen des Deutschen, beim Intimsten der Sprache erwischt, und schreit deshalb um so mehr nach Übersetzung, was aus demselben Grund nicht geht. Sich mit dieser schlichten Tatsache zufriedenzugeben führt nicht weiter. Viel interessanter wäre es herauszufinden, wie es nicht geht, also den Unmöglichkeiten des Übersetzens auf die Schliche zu kommen.
Vielleicht läßt es ja tief blicken, was eine Sprache sagt, wenn man genau das nicht in der anderen sagen kann.
Wenn man beschreibt, was nicht geht, übersetzt man womöglich mehr, als wenn man übersetzt, was geht. Anders gesagt: Was sich von allein übersetzt, ist analytisch kaum zu gebrauchen, weil es keinen »ins Auge springenden« Widerstand enthält. Wie zufällig ballt sich der ganze Sinn an diesem Punkt zusammen, kristallisiert genau da, wo »es« nicht geht, wo man »es« nicht hinkriegt. Allseits bekannt sind die unzähligen Kommentare zu unübersetzbaren Wörtern, besonders bei Freud – als läge es an den Wörtern! Als hätte die Psychoanalyse nicht genau da ihren Ausgang genommen!
Wenn ein Text in seiner Sprache sehr klar ist, bedeutet das nicht, daß er leicht in eine andere übergeht. Beweis: die außerordentliche Schwierigkeit, Bergson ins Deutsche zu übersetzen. Und umgekehrt: Was einfach geht, muß nicht unbedingt klar sein.
Das Wesen jeder »interlinguistischen« Tätigkeit scheint das zu sein, was nicht geht. Es heißt oft, die Arbeit des Übersetzers und die des Analytikers seien eng verwandt: Das liegt auf der Hand! Das Französische sagt hier: Ça tombe sous le sens