Der Wintergarten - Jan Konst - E-Book

Der Wintergarten E-Book

Jan Konst

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Beschreibung

Fast hundert Jahre alt wird Hilde Grunewald. 1902 im sächsischen Meißen geboren, wächst sie unter Kaiser Wilhelm II. auf. Sie heiratet in der Weimarer Republik, ihre Kinder kommen in der Zeit des Nationalsozialismus zur Welt. Hilde erlebt den Aufstieg, aber auch den Zusammenbruch der DDR – und schließlich die friedliche Revolution von 1989, durch die sie Bürgerin der Bundesrepublik wird. Ihr Leben ist von Umbrüchen gezeichnet. Sie überlebt zwei Weltkriege und hat mit den Folgen wirtschaftlicher Krisen zu kämpfen. Aus eigener Erfahrung weiß sie, wie es in höheren Kreisen zugeht – aber auch, was es bedeutet, auf finanzielle Unterstützung angewiesen zu sein. Die russische Besatzung prägt ihr Leben ebenso wie der Kalte Krieg, der Bau der Berliner Mauer und die Wende. Mit historischer Präzision und erzählerischem Geschick blickt Literaturwissenschaftler Jan Konst in "Der Wintergarten" auf das bewegte Leben seiner Schwiegerfamilie. Hildes Geschichte, aber auch die ihrer Eltern, Kinder und Enkel gerät dabei für den Leser zu einer faszinierenden Zeitreise durch das lange 20. Jahrhundert vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Eine einzigartige Familienchronik über vier Generationen und hundertfünfzig Jahre deutscher Geschichte.

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Jan Konst

Der Wintergarten

Eine deutsche Familieim langen 20. Jahrhundert

Aus dem Niederländischen vonMarlene Müller-Haas

Die niederländische Originalausgabe ist 2018 unter dem TitelDe Wintertuin – Een Duitse familie in de lange twintigste eeuw bei Uitgeverij Balans, Amsterdam, erschienen.

Die Übersetzung folgt der vierten Auflage vom Mai 2018.

Die Übersetzung dieses Buches wurde durch die finanzielle Unterstützung der Niederländischen Stiftung für Literatur ermöglicht.

1. eBook-Ausgabe 2019

© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe Europa Verlag GmbH & Co. KG, MünchenUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Designs von Nico Richter

Umschlagfoto: Gartenfest der Familien Grunewald und Grellig (1904)

Lektorat: Silwen Randebrock

Layout & Satz: Danai Afrati und Robert Gigler, München

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-270-1

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Für Katrin

Inhalt

VORWORT

KAPITEL1Auf einen Dampfzug, um genau zu sein

KAPITEL2Vielleicht ist es sogar eine Afrana-Nähmaschine?

KAPITEL3Ja, dieser junge Unternehmer macht Eindruck auf Hilde

KAPITEL4Taubenzüchter und Briefmarkensammler

KAPITEL5Der nackte Hintern der Wehrmacht

KAPITEL6Eine mystische Hochzeit

KAPITEL7Anatomische Gründe

KAPITEL8Klassenzimmer, die noch nach frischer Farbe riechen

KAPITEL9In kleine Blätter zerschnittenes Zeitungspapier

KAPITEL 10Ein gescheitertes Erdbeerfeld

KAPITEL 11Das Tal der Ahnungslosen

KAPITEL 12Wie der Schaumwein auf ihrer Zunge prickelt

NACHWORT

NACHWEISE & DANK

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

HANDELNDE PERSONEN

KARTEN

Vorwort

Am Ortsrand des dörflichen Weinböhla steht ein Wohnhaus, das zwischen den bescheidenen DDR-Behausungen aus der Reihe tanzt. Es liegt auf einem künstlich angelegten Hügel und wurde nach der Wende erbaut. Das außerhalb der eigenen Region unbekannte Winzerdorf Weinböhla liegt im Herzen des ehemaligen Königreichs Sachsen. In nächster Nähe befindet sich das Jagdschloss Moritzburg des legendären Monarchen August des Starken. Auch nach Dresden, der früheren Residenzstadt an der Elbe, oder nach Meißen, wo das erste europäische Porzellan hergestellt wurde, ist es nicht weit.

In den Kellern des Hauses in Weinböhla lagert ein umfangreiches Familienarchiv. In den Anfangsjahren sind die Bestände unvollständig, aber seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurde immer mehr aufgehoben: Briefwechsel, Tagebücher, allerlei Foto- und Bildmaterial, offizielle Dokumente, Geschäftsunterlagen und so weiter. In diesem Archiv – vielleicht besser: in den vier Schränken voll ungeordnetem Papier – stieß ich auf vieles, was ich nicht gleich deuten konnte. Darunter lang vergessene Dokumente, die alle möglichen Fragen aufwarfen.

Wer ist der Mann, der kurz vor 1900 diese schmachtenden Liebesbriefe (»Mein liebes Herzglöckchen!«) schreibt? Was hat die Bauzeichnung eines achtundzwanzig Meter hohen Fabrikschlots zu bedeuten? Und woher stammt die Urkunde von Friedrich August III. aus dem Jahr 1917: »Wir, Friedrich August, von Gottes Gnaden König von Sachsen, haben Uns bewogen gefunden …«?

Wie lässt es sich erklären, dass das Tagebuch eines Wehrmachtssoldaten Fotos von der vergessenen Bombardierung Middelburgs enthält? Nicht weniger überraschend ist der Zeugenbericht eines italienischen Zwangsarbeiters: »Mein Arbeitgeber Jungblut sowie unser Meister Lenz waren sehr gut zu uns Ausländern.« Und warum erwähnt jemand in einem Bericht für die Stasi, den Geheimdienst der DDR, antike Möbel?

Den Kopf über Wasser

Ein Archiv in den Kellerräumen eines Privathauses. Zweifellos gibt es davon in Deutschland Zehntausende. Und eines ist allen gemeinsam: Sie sind nicht frei zugänglich. So auch in diesem Fall. Aber meine Schwiegermutter Brigitte erlaubte mir, den papiernen Nachlass ihrer Vorfahren zu sichten. Sie bewohnt das weiß verputzte Haus in Weinböhla, das einen Wintergarten und große Sonnenterrassen hat.

Brigitte ist inzwischen 85 Jahre alt und hat oft mit mir über ihre Familie gesprochen. Es ist eine Familie, wie es viele gibt. Jedoch keine von denen, deren Mitglieder man in den Geschichtsbüchern findet. Unter ihren Angehörigen sucht man vergeblich nach Politikern, Schriftstellern oder Künstlern. Eine durchschnittliche Familie.

Aber gerade das ist faszinierend. Das Archiv in den Kellerräumen dokumentiert, wie Menschen aus der Mitte der Gesellschaft in unruhigen Zeiten versuchen, den Kopf über Wasser zu halten. Von Generation zu Generation. Leicht ist es nicht. Nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 sind in der europäischen Geschichte eine Reihe entscheidender Entwicklungen zu beobachten. Nicht selten gehen sie von Deutschland aus, und wenn nicht, sind deren Auswirkungen dort doch unübersehbar. Deutschland ist eine Art Seismograf, nicht allein der Ort, wo Geschichte gemacht wird, sondern auch der Ort, wo sie zuschlägt.

Man nehme nur Hilde, Brigittes Mutter. Sie wird 1902 geboren und stirbt fast hundert Jahre später im Jahr 2001. Hilde wächst unter Kaiser Wilhelm II. heran, heiratet in der Weimarer Republik und bekommt ihre Kinder während der Nazidiktatur. Sie erlebt den Auf- und Untergang der DDR, und kurz vor ihrem Tod feiert die neue Berliner Republik ihr zehnjähriges Bestehen. Einem Vierteljahrhundert Demokratie, das den Zwanziger- und den Neunzigerjahren zu verdanken ist, stehen sieben lange Jahrzehnte gegenüber, in denen Hilde unter grundverschiedenen, zum Teil ausgesprochen totalitären Regimen lebte.

Hildes Leben wird vom Ersten Weltkrieg bestimmt, von der Hyperinflation im Jahr 1923 und dem Börsenkrach 1929. Sie erlebt die Machtergreifung Hitlers und die Schrecken des Zweiten Weltkriegs. Dem folgen die sowjetrussische Besatzung, der Kalte Krieg, der Bau der Berliner Mauer und als Schlussstein der Mauerfall und die Wende. Auch dieses Familienmitglied wird nicht in die Geschichtsbücher eingehen, aber man kann behaupten, dass sich Hildes kleines Leben vor der Kulisse der ganz großen Geschichte abgespielt hat.

Ein Blind-Booking-Ticket

Im Lauf der Gespräche mit Brigitte entsteht der Plan, eine Geschichte ihrer Familie zu schreiben. Vielleicht nicht vom allerersten Anfang an, aber auf jeden Fall seit 1871, als mit dem neuen Kaiserreich das »lange« zwanzigste Jahrhundert anbricht. Im selben Jahr wird auch der Gärtnersohn Emil Grunewald geboren. Er ist der Stammvater eines Familienzweigs, der in Meißen und später in Weinböhla sein Zuhause hat.

Lange ist eine Wohnung in der Meißener Brauhausstraße der Mittelpunkt des Familienlebens. Seit den 1960er-Jahren verlagert sich der Schwerpunkt nach Weinböhla. Die vorläufige Endstation dieser Bewegung ist das weiß verputzte Haus, die Zuflucht einer Familie, die inzwischen über ganz Deutschland verstreut lebt.

Außer der Grunewald-Linie, die auf Emil zurückgeht, sind drei andere Linien von Bedeutung: Reinhard, Oehmigen und Otto. Sie sind in der genealogischen Übersicht verzeichnet, die auf Seite 13 abgedruckt ist. Die horizontale und die vertikale Achse markieren, dass es in dieser Geschichte nicht allein um die Schicksale von vier Familienzweigen geht, sondern auch um die Geschichte von vier Generationen. Deren Mitglieder erblickten gegen 1870, 1900, 1930 und 1960 das Licht der Welt. Immer wieder ist zu beobachten, wie der Geburtszeitpunkt die Möglichkeiten eines Menschen beeinflusst. Es ist ein bisschen wie mit einem Blind-Booking-Ticket: Wohin einen die Lebensreise führt, weiß man nicht, aber der Zeitpunkt des Aufbruchs erweist sich als entscheidend dafür, wo es einen hin verschlägt.

Im Scheinwerferlicht stehen vor allem acht Personen. Sie gehören – über die weibliche Abstammungslinie – zum Grunewald-Zweig. Dabei handelt es sich um vier Ehepaare: Emil & Hedwig, Hanna & Hanns, Hilde & Hellmuth und Brigitte & Gerd. Vier Familienzweige, vier Generationen, vier Ehen: Sie machen es möglich, 130 Jahre deutsche Geschichte vor Augen zu führen. Nicht aus der Vogelperspektive, sondern von unten, aus dem Blickwinkel der Menschen, die deren Auswirkungen täglich am eigenen Leib erlebten.

Stammbaum: vier Familienzweige, vier Generationen, vier Ehen

Um 1900: Emil mit seinem Vater vor dem Geburtshaus in Seifhennersdorf

KAPITEL 1

Auf einen Dampfzug, um genau zu sein

18. März 1871 – Otto von Bismarck, der eiserne Reichsgründer, wird erster deutscher Reichskanzler.

1. November 1874 – Das abgelegene Seifhennersdorf bekommt einen eigenen Anschluss ans Eisenbahnnetz.

1. Dezember 1884 – Für Arbeiter wird eine verpflichtende Krankenversicherung eingeführt.

5. Dezember 1894 – Kaiser Wilhelm II. weiht in Berlin das neue Reichstagsgebäude ein.

7. Mai 1896 – In Meißen-Cölln wird der Hamburger Hof eröffnet, das größte Hotel-Restaurant der Stadt.

Ein Herrenzimmer, das klingt wenig emanzipiert – ein Zimmer, in dem Frauen offenbar unerwünscht sind. Wenn man alte Möbelkataloge aufschlägt, ist alles zu sehen, was man zur Einrichtung eines solchen Herrenzimmers braucht. Offenbar ziemlich viel: einen Schreibtisch mit dazu passendem Stuhl, einen hohen Spieltisch für Kartenspiele und einen großen Bücherschrank. Weiter sind ein paar Clubsessel Standard, ebenso ein bequemes Sofa, meist mit einem kleinen drum herum gebauten Kabinett, in dem sich Rauchutensilien befinden.

Diese Möbelstücke werden als Ensemble gekauft. Daher hat eine Berliner Handelsfirma um 1910 Herrenzimmer in verschiedenen historisierenden Stilen im Angebot, darunter das romanisch inspirierte Ameublement »Erich« oder das barocke »Wolfgang«, typisch deutsche Vornamen, die an die Marketingstrategie einer schwedischen Möbelhauskette erinnern. Billig ist die Einrichtung dieses dem männlichen Bevölkerungsteil vorbehaltenen Zimmers nicht. Nach dem Katalog des in der deutschen Hauptstadt ansässigen Möbelhauses ist man schnell bei 800 Mark, einem Betrag, für den ein Facharbeiter damals ein halbes Jahr arbeiten musste.

In meinem Arbeitszimmer steht ein Teil von Emil Grunewalds Herrenzimmer. Ich habe mich lange mit Emil und seiner Lebensgeschichte beschäftigt. Er wird 1871, knapp fünf Monate nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs, als ältester Sohn von Christian und Johanna Grunewald geboren. Sein Vater ist Gemüsebauer im sächsischen Seifhennersdorf, einem kleinen Ort an der Grenze zu Böhmen, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Die Familie lebt vom Ertrag eines Ackers, auf dem Kartoffeln, Kohl und Mohrrüben angebaut werden. Es gibt auch einen kleinen Obstgarten. Hunger muss Emil nicht leiden, aber die Lebensbedingungen, unter denen er aufwächst, sind bescheiden.

Eine fast durchgängige Diagonale

Mit meiner Schwiegermutter Brigitte besuche ich sein Heimatdorf. Wir haben eine historische Aufnahme des Elternhauses mitgenommen und möchten wissen, ob es heute noch steht. Es handelt sich um ein für die Gegend typisches Umgebindehaus, ein teilweise in Fachwerk ausgeführtes Bauernhaus mit der Besonderheit, dass sich das tragende hölzerne Stützensystem außen an der Fassade befindet. Brigitte ist schlecht zu Fuß, deshalb kommen wir in den Straßen des kleinen Orts nur langsam voran. Irgendwann meinen wir, das Haus gefunden zu haben, und vergleichen die Fassade auf dem Foto aufmerksam mit der Fassade vor uns.

Recht rasch öffnet sich die Haustür, und wir werden misstrauisch beäugt. Das Eis bricht, als Brigitte erklärt, weshalb wir hier stehen geblieben sind. Wir kommen mit einem etwa vierzigjährigen Paar ins Gespräch, einem barfüßigen Mann, der sein Haar zu einem Zopf gebunden hat, und einer kleinen, zierlichen Frau in Freizeitkleidung. Sie hätten, erzählen sie uns, das geldversessene München nicht mehr ertragen und für wenig Geld das Haus in dem entlegenen Seifhennersdorf gekauft. Typische Aussteiger, die nicht mehr in der Tretmühle der globalisierten Konsumgesellschaft mitlaufen wollen.

Wir bekommen handgebrühten Filterkaffee und beugen uns gemeinsam über das Foto. Bei näherer Betrachtung erweist sich, dass wir das Haus, in dem Emil aufwuchs, doch nicht gefunden haben. Der Gastgeber spürt unsere Enttäuschung und bietet einen Rundgang durch sein abgelegenes Reich an. Wir sehen mit Kartons und allerlei Hausrat vollgestopfte Zimmer, ein baufälliges Treppenhaus und feuchte Keller. Obwohl das Haus nicht klein ist, macht es mit seinen niedrigen Decken und den kahlen Holztüren doch einen ärmlichen Eindruck. Beim Verlassen der Räume muss ich mich jedes Mal bücken. Ob das in dem Haus wohl auch so war, in dem der Mann, an dessen Schreibtisch ich arbeite, seine ersten Lebensjahre verbrachte?

Mit neunzehn Jahren beschreibt Emil seine Kindheit in einem blauen, unlinierten Schulheft. Es war in den Kellern von Weinböhla gelandet. Was die Schönschreibkunst des neunzehnten Jahrhunderts nicht alles vermag: Die Handschrift des jungen Mannes, der die damals gängige Kurrentschrift schreibt, ist von einer peinlichen Regelmäßigkeit. Alle Buchstaben wurden im 45-Grad-Winkel zu Papier gebracht (Abb. 1). Dadurch bilden die Ober- und Unterlängen, also die Buchstaben, die über oder unter der Zeile hervorragen, eine fast durchgängige Diagonale. Aus einem gewissen Abstand scheint es, als ob auf der Seite Linien von links unten nach rechts oben verlaufen.

Mit jugendlichem Übermut

Emil berichtet von einer glücklichen Kindheit. Von seinem sechsten bis zum vierzehnten Lebensjahr besucht er die Dorfschule, wo er als eifriger und lernwilliger Schüler auffällt. Seine Eltern unterstützen ihn, wo sie nur können. Während der letzten Schuljahre bekommt er sogar zusätzlichen Unterricht. Zur Deckung der Kosten versagen sich die Eltern das bisschen Luxus, das sie sich vom Gemüse- und Obstverkauf leisten könnten. Mit kaum verhohlenem Stolz schreibt der Gärtnersohn, dass sich der Wunsch, Lehrer zu werden, schon früh in ihm zeigt. »In der ersten Klasse«, heißt es, »ereignete sich ein Vorfall mit einer prophetischen Bedeutung. Auf die an uns Jungen gerichtete Frage: ›Was wollt ihr später werden?‹, antwortete ich mit jugendlichem Übermut: ›Lehrer!‹«

Emil beschreibt sich als »Schulbub vom Lande«, als echtes Landkind, das sich auf den Feldern und in den Wäldern um Seifhennersdorf zu Hause fühlt. Bei der Beschreibung des Flüsschens, wie es am Ende eines langen Winters anschwillt, spürt man die Ehrfurcht, mit der Emil alles in sich aufnimmt: »Es war ein Schauspiel von einer wilden, romantischen Schönheit. Als der Frühling kam, brach das Eis der Mandau. Das ansteigende Wasser des sonst so ruhigen Bächleins trieb mächtige Eisschollen vor sich her.« Auch die Überschwemmungen vom Juni 1880 im deutsch-böhmischen Grenzgebiet prägen sich dem Schüler unauslöschlich ein.

Im Februar 1885 besteht Emil die Aufnahmeprüfung am Königlichen Lehrerseminar in Löbau, einer fünfundzwanzig Kilometer entfernten, mittelgroßen Provinzstadt. Im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts entstehen überall in Deutschland Lehrerbildungsanstalten. Sie sollen das Niveau der Volksschule heben, der achtjährigen Grundschule, die für alle Kinder Pflicht ist. Um Lehrer zu werden, braucht man kein Abitur. Deshalb kann Emil mit vierzehn Jahren eine weiterführende pädagogische Ausbildung beginnen. Einschneidend sind die Veränderungen (»eine neue Lebensweise«) in seinem persönlichen Leben. Sie werden von dem neuen Schulgebäude symbolisiert.

An die Stelle der vertrauten kleinen Dorfschule tritt ein protziges, neobarockes Gebäude mit großen, lichtdurchfluteten Klassenzimmern. Von nah und fern kommen im April 1885 mehr als hundert neue Schüler hierher, voll gespannter Erwartung, was die vor ihnen liegenden Jahre bringen werden. Sie werden von ihren Eltern begleitet, manchmal nur vom Vater oder von der Mutter. Wie ihre Söhne haben auch diese ihre besten Kleider angezogen. Emil trägt halbhohe Lederschuhe mit Kniestrümpfen. Die Wollhose reicht bis knapp übers Knie. Er hat ein weißes Hemd an, mit Fliege, und darüber ein hochgeschlossenes, schwarzes Jackett. Vom Vater bekam er eine neue Mütze.

Kleine und große Risse

Emil, der ungewöhnlich schlank gebaut ist, verlässt als Jugendlicher sein Elternhaus. Er kommt aufs Internat des Lehrerseminars und teilt sich das Zimmer mit fünf anderen Jungen. Neben seinem Bett steht ein kleiner Tisch, und er hat einen eigenen Schrank für Kleidung und Bücher. In der Mitte des geräumigen Zimmers stehen sechs kleine Schreibtische, an denen die Jungen ihre Hausaufgaben machen. Sie bilden eine kleine, vertraute Gruppe und übernehmen ab und zu, wenn es nötig ist, füreinander die Vater- oder Mutterrolle.

»In sozialer Hinsicht«, schreibt Emil, »war das Leben im Seminar in einer ganz eigenen Weise abwechslungsreich. Man war Teil einer großen Gemeinschaft, lauter Kameraden, die im Prinzip gleich dachten und dasselbe Streben nach selbst gesetzten Zielen an den Tag legten. Gleichzeitig war es eine Gruppe von Altersgenossen, unter denen sich immer ein paar gute Freunde finden ließen.« Nüchtern, ohne große Gefühle, so sieht der Neunzehnjährige im Nachhinein seine Situation. Aus nichts geht hervor, dass ihm die Trennung von den Eltern schwergefallen ist.

Ob der Gärtnersohn sich keine Blöße geben will? Es gibt ein Doppelporträt seiner Eltern Christian und Johanna Grunewald, das eine andere Geschichte erzählt, gedruckt auf einer typischen Carte de Visite, einem Foto auf dickem Karton mit einem standardisierten Format. Dafür waren in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts die schönsten Alben mit Buchschloss auf den Markt gekommen. Während seiner Internatszeit trägt Emil dieses Bild seiner Eltern immer bei sich. Er nimmt den Visitkarton regelmäßig zur Hand: Die Ecken sind verbogen, die Karte ist schlaff geworden, und über den Abdruck verlaufen zahllose kleine und große Risse. Das ramponierte Foto zeugt so von einem Heimweh, über das sich Emil in dem blauen Heft offenbar nicht aussprechen will.

Seine Jugendjahre charakterisiert er nicht nur als eine Zeit der »mühevollen Arbeit«, sondern auch als eine Zeit, in der sich sein Horizont weitet. Die Schulausflüge stehen ihm noch klar vor Augen. Vor allem eine »großartige« Ausstellung in Görlitz, der nächstgelegenen großen Stadt, ist ihm im Gedächtnis geblieben. Dabei handelt es sich um die Industrie- und Gewerbeausstellung, die in den Sommermonaten des Jahres 1885 Hunderttausende Besucher aus dem In- und Ausland in die Stadt an der Neiße zieht.

Totenglocken

Die Ausstellung bietet eine Momentaufnahme der Errungenschaften der industriellen Revolution. Dass Sachsen als Ausstellungsort gewählt wurde, muss nicht verwundern. Denn das Königreich, das ein mehr oder weniger souveräner Teil des Kaiserreichs ist, gilt zusammen mit beispielsweise dem Ruhrgebiet und der Metropolenregion Berlin als eines der Kerngebiete der deutschen Industrialisierung. In Görlitz präsentieren Fabrikanten die neuesten technischen Entwicklungen. Der angehende Volksschullehrer bestaunt schwere Dampfmaschinen, frühe Verbrennungsmotoren und sogar einen hydraulisch angetriebenen Güter- und Personenlift.

Um die Wirkung dieses Hebegeräts zu illustrieren, hatte der Fabrikbesitzer Theodor Lissmann aus Berlin einen Aussichtsturm bauen lassen, der einen fantastischen Blick über das Ausstellungsgelände bietet. Als Emil nach einer guten Minute mit einigen seiner Mitschüler aus der Liftkabine steigt, der sie zu der kleinen Aussichtsplattform gebracht hat, fühlen sich seine Beine wie Gummi an. Plötzlich steht er im Himmel und schreit wie die anderen Jungen seinen Schreck heraus. Aufgeregt rufen sie zu ihren Klassenkameraden dreißig Meter tiefer hinunter. Die hatten nicht mehr in die Kabine gepasst und warten noch auf ihren Ausflug nach oben. An der brusthohen Balustrade späht Emil nach Osten, wo er die blau schimmernden Gipfel des Riesengebirges vermutet.

In seinem Heft gräbt er auch Erinnerungen an eine mehrtägige Reise durch die Böhmische Schweiz im heutigen Tschechien aus. Die Geschichten seiner Lehrer über die Entstehung der imposanten Sandsteinformationen und die Auswirkungen der Erosionsprozesse wecken sein bleibendes Interesse an Geologie. Urmeere, tektonische Verschiebungen und Sedimentgestein – als Lehrer wird Emil seinen Schülern später voller Begeisterung davon erzählen.

Dass er an der Schwelle zum Erwachsensein beginnt, sich für Politik zu interessieren, merkt man an den Sorgen, die ihm der Zustand des Deutschen Reichs 1888 bereitet. In dem Jahr, das schon bald als Dreikaiserjahr bezeichnet werden sollte, läuten die Totenglocken zweimal für einen deutschen Kaiser. Hundert Tage nach dem Tod Wilhelms I. stirbt dessen Nachfolger Friedrich III. Schon bei der Thronbesteigung ist er unheilbar krank:

Noch immer höre ich das schrille Läuten, mit dem die Seminarschüler zusammengerufen wurden, um sie über den Tod des ersten Kaisers von Deutschland zu informieren. Kurz darauf ertönten sie noch einmal und verkündeten, dass der zweite Kaiser des deutschen Reichs dem greisen Heldenvater in den Tod gefolgt war.

Am Ende des Winters von 1891 verlässt Emil das Löbauer Lehrerseminar als diplomierter Pädagoge. Die Prüfungen legt er mit überdurchschnittlichen Ergebnissen ab. Bereits in den letzten Wochen seiner Schulzeit wird dem jungen Mann eine Stelle als Hilfslehrer in Aussicht gestellt. Die Examensfeier, die am 28. Februar 1891 stattfindet, muss also ein Erfolg werden. Umso mehr, weil Emil von dem Mädchen begleitet wird, dem er – doch darüber später mehr – insgeheim sein Herz verpfändet hat.

Körperliche Züchtigung

Am 1. September 1899 wird Emil an das angesehene Meißener Gymnasium berufen. Hoch auf dem Ratsweinberg gelegen, ragt das Franziskaneum über die Stadt empor. In dem gedruckten Jahresbericht für das Schuljahr 1899/1900 führt sich Emil mit einer kurzen Lebensbeschreibung ein. Daraus geht hervor, dass er in dem knappen Jahrzehnt zwischen der Abreise aus Löbau und der Ankunft in Meißen Erfahrungen an drei verschiedenen Volksschulen sammelte. Daneben hatte er in Leipzig den Militärdienst absolviert.

In Leipzig studierte Emil außerdem drei Jahre an der Universität (Abb. 2). Den Studienplatz verdankte er einem Sonderprogramm für vielversprechende Volksschullehrer. Der Sohn eines Gemüsegärtners, der als Erster in seiner Familie eine akademische Ausbildung absolviert, besucht ab April 1896 das Curriculum Pädagogik.

In seinem Studienbuch kann man nachlesen, welche Lehrveranstaltungen er belegt hat. Bei etwa der Hälfte handelt es sich um Seminare zur Schulpädagogik und Unterrichtslehre. Daneben wurde Emil auch in Philosophie (»Allgemeine Einführung in die Philosophie«), Theologie (»Das Christentum in der heutigen Gesellschaft«), Geisteswissenschaften (»Kulturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts«) und Deutscher Geschichte (vier aufeinander aufbauende Seminare zu historischen Entwicklungen vom Mittelalter bis ins späte neunzehnte Jahrhundert) unterrichtet.

Emils Reifezeugnis: »Sein sittliches Verhalten war völlig befriedigend (1)«

Ein guter Teil von Emils Lehrbüchern landete im Kellerarchiv in Weinböhla. Sie zeigen Spuren intensiven Lernens – seines Lernens, denn darüber lässt die regelmäßige Handschrift an den Seitenrändern keinen Zweifel. Wenn man die Unterstreichungen von Seite zu Seite verfolgt, studiert man über dessen Schulter hinweg mit einem jungen Mann, der vor hundertzwanzig Jahren alles über Schule und Didaktik wissen wollte.

Emils Interesse galt besonders den klassischen Schriften zur geistigen und sittlichen Bildung von Kindern, etwa den Texten von Johann Heinrich Pestalozzi und Christian Gotthilf Salzmann. Aber er las auch – in einer deutschen Übersetzung – Émile, ou De l’éducation, Jean-Jacques Rousseaus berühmten Erziehungsroman. Darin wird das Kind als Tabula rasa dargestellt, als unbeschriebenes Blatt. Nicht nur die Eltern, auch die Schulpädagogen müssen die Inhalte zur Verfügung stellen, die nun dieses Blatt füllen sollen. Auf einer der ersten Seiten des Romans markierte Emil, der spätere Vater zweier Töchter: »Wer die Pflichten eines Vaters nicht erfüllen kann, hat kein Recht, es zu werden.«

Emils wichtigster Gewährsmann war Johann Friedrich Herbart, dessen Einfluss auf das Denken des neunzehnten Jahrhunderts in Sachen Erziehung und Unterricht kaum überschätzt werden kann. Im Bücherschrank des lernbegierigen jungen Mannes aus Seifhennersdorf stand eine zweibändige Luxusausgabe seiner Pädagogischen Schriften. Herbarts Regeln sind mitunter bemerkenswert praktischer Natur, und vor allem dort blieb Emil gern mit dem Bleistift hängen. In der Nachfolge des Göttinger Hochschullehrers ließ auch er seinen Gedanken über die körperliche Züchtigung von Schulkindern freien Lauf: »Körperstrafen, die üblich sind, wenn Ermahnungen nichts fruchten, brauchen nicht abgeschafft zu werden. Sie müssen allerdings so selten sein, dass Schüler sie eher als Bedrohung fürchten, denn dass sie tatsächlich vollzogen werden.«

Ein Sohn in seinem Alter

Später wird Emil erzählen, wie schwer seine Studienjahre waren. Im Gegensatz zu den meisten seiner Mitstudenten, die oft aus wohlhabenden Elternhäusern stammten, konnte er sich kaum über Wasser halten. Er aß schlecht, schlief wenig und musste allerlei Nebentätigkeiten annehmen. In einem der Winter erkrankte er ernsthaft, und eine Weile lang sah es so aus, als würde ihm eine Lungenentzündung zum Verhängnis werden. Doch im Sommer 1899 ist alles Ungemach vergessen. Er hat einen universitären Titel in der Tasche, und die Welt steht ihm offen.

Als Emil an einem Montagmorgen eine knappe halbe Stunde vor seiner allerersten Unterrichtsstunde in Meißen das Lehrerzimmer betritt, spürt er, wie ihn seine neuen Schuhe drücken. Er fühlt, dass alle Augen auf ihn gerichtet sind. Um das Gesicht zu wahren, öffnet er seine Büchertasche und legt ein Heft auf den Tisch. Von dem leeren Papier aus lässt er seinen Blick durch den Raum schweifen. Er zählt mindestens fünfundzwanzig Kollegen, von denen sich einige leise unterhalten, andere in einem Buch blättern oder in einen Aufsatz letzte Korrekturen eintragen. Ein älterer Lehrer, der kurz vor der Pensionierung steht, erzählt seinem neuen Fachkollegen an diesem ersten Morgen, dass er einen Sohn in dessen Alter habe.

Vom Schuljahr 1903–1904 an darf sich Emil Oberlehrer nennen. Der ehemalige »Schulbub vom Lande« hat seinen Weg nach oben gemacht und kann mit dreißig Jahren zum gesellschaftlich arrivierten Teil der Bevölkerung gezählt werden. Um 1900 ist das Gymnasium eine Schulform für höhere Kreise, eine Zufluchtsstätte für die Oberschicht. Von den fast sechs Millionen Schülern, die im Kaiserreich jährlich die Schulbank drücken, gehen keine drei Prozent aufs Gymnasium. Emils Status drückt sich in seiner Bezahlung aus. Als Gymnasiallehrer gehört er plötzlich zu den zehn Prozent der bestbezahlten Beamten in Deutschland.

Drachen- und Blumenmotive

Emils Schreibtisch ist von vornehmer Schlichtheit. Weder mit gedrechselten Beinen noch mit opulenten Holzschnitzereien, sondern von einer relativen Schmucklosigkeit, die auch das restliche Herrenzimmer prägt. Das runde Tischblatt ist aus Walnussfurnier, glänzend mit Schellack poliert. Und der geschlossene Bücherschrank hat in der Mitte eine Tür aus geschliffenem Glas. Die schweren Möbel machen Emil zu einer Persönlichkeit, die Gewicht hat, auch zu jemandem, der sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist.

Seine Generation – junge Männer zwischen zwanzig und dreißig, die in den Jahren um die Reichsgründung geboren wurden – bekommt Chancen, von denen ihre Väter nur träumen konnten. Die Industrialisierung ist nicht ihr Verdienst, aber sie profitieren voll und ganz vom wirtschaftlichen Erfolg, den diese mit sich bringt. Emil und seine Altersgenossen springen auf einen fahrenden Zug auf – auf einen Dampfzug, um genau zu sein.

Auch in Meißen kündigt sich die industrielle Revolution an. Bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist das Städtchen ein verschlafener Ort, der seine Bedeutung der Vergangenheit verdankt. Denn einst lag dort eines der großen Machtzentren Deutschlands. Das war nicht allein den Markgrafen aus dem Hause Wettin zu verdanken, sondern auch dem hier ansässigen Bistum. Steinerne Zeugen dieser längst vergangenen Zeit sind die spätgotische Albrechtsburg und der Dom mit seinem reich geschmückten Interieur. Sie stehen hoch auf dem Burgberg nebeneinander und ziehen vom Stadtzentrum den Blick ganz automatisch nach oben.

Ruhm erwirbt sich Meißen am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bis weit über die Grenzen des deutschen Sprachgebiets hinaus, als im Schloss der Wettiner die erste europäische Porzellanmanufaktur gegründet wird. Das handgemalte Zwiebelmuster in Kobaltblau und die typischen Drachen- und Blumenmotive erobern die Festtafeln des internationalen Hochadels. Kurz nach 1800 leidet die Königlich-Sächsische Porzellan-Manufaktur trotzdem auch unter dem allgemeinen Niedergang. Neue Käuferschichten bleiben aus, und nach hundert Jahren Unternehmensgeschichte droht sogar die Schließung.

Die große Wende bringen um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts tief greifende technische Entwicklungen. Rohstoffe – vor allem Eisenerz und Steinkohle – werden in scheinbar unbegrenzten Mengen abgebaut, Maschinen steigern die Effizienz der Produktionsprozesse, und neue Transportmittel ermöglichen eine Verteilung der Güter in großem Stil. Die Folgen sind überall zu sehen: moderne Fabriken, neue Wohnviertel und wachsender Wohlstand.

Nähmaschinen aus Meißen

1860 bekommt Meißen mit einem repräsentativen Bahnhof im Renaissancestil einen eigenen Anschluss an das Eisenbahnnetz. Er liegt am östlichen Elbufer, auf dem Gebiet des kleinen Dörfchens Cölln, das schon bald als Meißen-Cölln in der Kreisstadt aufgeht. Neue Fabriken werden gebaut, wie beispielsweise die Zuckerfabrik der Gebrüder Langelütje oder die Sächsische Schuhfabrik Hermann Möbius. Auch die Maschinenfabrik von Maximilian Biesolt und Hermann Locke hat einen guten Ruf. Sie produzieren Nähmaschinen der Marke Afrana, die in ganz Europa Absatz finden. Die Ernst Teichert GmbH entwickelt sich zum größten Arbeitgeber der Stadt. Das Unternehmen hat neben Wandfliesen aus Porzellan vor allem Kachelöfen im Angebot, mannshoch und mit glasierten Tonplatten verkleidet.

In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verdreifacht sich die Einwohnerzahl Meißens. Die Stadt bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme, denn überall herrscht Landflucht. Emil ist einer von vielen aus der Provinz, die versuchen, hier ihr Glück zu machen. Seine Schwester Minna bleibt in Seifhennersdorf und heiratet einen einfachen Postbeamten. Doch der ehrgeizige Pädagoge wird ein Repräsentant der fortschrittlichen Kleinstadt, einer Stadt der Dampflokomotiven, der Eisengießereien und der Drehbänke.

Emil steht für das Bürgertum, eine wohlhabende Bevölkerungsgruppe, die mehr als andere von der industriellen Revolution profitiert. Nach 1830, als grob geschätzt die erste Phase der Industrialisierung beginnt, bildet sich eine neue gesellschaftliche Oberschicht heraus. Fabrikbesitzer und Fabrikanten, aber auch Leute aus dem Mittelstand, Beamte und Arbeitnehmer mit abgeschlossenem Universitätsstudium bilden das wirtschaftliche und gesellschaftliche Rückgrat der Industrienation, zu der sich das Deutsche Kaiserreich entwickelt. Emils Biografie, die Geschichte dieses jungen Mannes, der auf den Wellen der industriellen Revolution nach oben getragen wird, ist ein Spiegel dieser Entwicklung.

Auch die Porzellanmanufaktur entdeckt das neue Bürgertum. Das Unternehmen verlässt 1863 die dunklen Räume der Albrechtsburg und zieht in ein eigens für die Porzellanproduktion entworfenes Fabrikgebäude. Der Umzug ist zugleich ein symbolischer, denn der Auszug aus der mittelalterlichen Burg markiert den Zeitpunkt, an dem der Adel als wichtigste Käuferschicht abgedankt hat. Die Fabrik hat jetzt die städtische Oberschicht im Blick und sucht ihre Käufer in Emils Kreisen. Emil liebt das Weinlaub-Service, ein einfaches, weißes Geschirr, das am Rand mit stilisierten Weinblättern in einem tiefen, sommerlichen Grün dekoriert ist. Manchmal fährt der Lehrer mit den Fingerspitzen über das makellos glatte, kühle Material und ist fasziniert von so viel Perfektion.

Elegante Stadtschuhe

Ein paar Jahre nach seiner Anstellung wird Emil am Meißener Gymnasium zum Professor ernannt. Wie weit er es gebracht hat, erkennt man, wenn man ihn mit seinem Vater vor dem Umgebindehaus in Seifhennersdorf stehen sieht. Der »Gartengrundstückbesitzer« trägt noch immer die traditionelle Landkleidung: eine kurze Joppe, eine hochschließende Weste und schwere Lederstiefel; in der Hand hält er eine Mütze. Mit dem sorgfältig modellierten Bart, dem halblangen Gehrock, dem weißen Kragen mit Fliege und den eleganten Stadtschuhen verkörpert sein Sohn eine andere Welt. Aber für seine gesellschaftliche Emanzipation zahlt Emil auch einen Preis. Die Nähe zur Natur, die Überschaubarkeit des Lebens und die Vertrautheit der dörflichen Gemeinschaft – auf all das muss er verzichten.

Emils Aufstieg beruht auf zwei Jahrzehnten Unterricht. Es sind Jahre, die seinen Charakter formen. Schon auf der Volksschule bekommt er gute Kopfnoten für »Ordnungsliebe« und »Betragen«. Am Lehrerseminar geht es weiter. Dort wird er nach »Sitten«, »Aufmerksamkeit« und »Ordnungssinn« beurteilt. Sogar in seinem Universitätsdiplom von 1898 steht, dass »an seinem Betragen nichts zu bemängeln ist«.

Emil ist also in der Dorfschule ein braver Schüler, im Lehrerseminar ein braver Eleve und an der Universität ein braver Student. Vielleicht machen ihn auch die Ausbildungsstätten zu einer Person, die im Gehorsam gewissermaßen die Vollendung ihres Charakters findet. Als Oberlehrer und Gymnasialprofessor wird er später seinen Schülern dieselbe Fügsamkeit abverlangen.

Zwischen Boden und Decke schwebend

Vor fünfzehn Jahren brachte ich Emils Herrenzimmer mit einem Kleintransporter nach Berlin. Über zehn Treppen mit jeweils zehn Stufen tragen wir die Möbel nach oben, in den obersten Stock eines typischen Altbaus mit Innenhof, wie es in Prenzlauer Berg viele gibt. Es ist heiß. Mein Amsterdamer Freund und ich schwitzen, weil es unerwartete Komplikationen gibt. Vor allem der drei Meter breite, untere Teil des Bücherschranks macht uns Probleme. Um ihn von den Zwischenpodesten eine Treppe höher zu tragen, müssen wir ihn jedes Mal auf einer Seite fast bis zur Decke hieven. Auf diese Weise, diagonal zwischen Fußboden und Decke schwebend, lässt sich der Unterschrank dann so drehen, dass einer von uns um die Kurve gehen kann, um dann vorsichtig auf die ersten Stufen der nächsten Treppe zu treten – eine ermüdende Choreografie, die wir auf jedem Podest erneut zur Aufführung bringen.

Schließlich bekommen wir das sperrige Möbelstück, vor dessen Transport wir uns bis zuletzt gedrückt hatten, unbeschädigt in die Wohnung mit Aussicht über die Dächer Berlins. Als alles aufgebaut ist, erblickt meine Frau die Möbel, an denen ihr Urgroßvater Emil einst die Schularbeiten seiner Schüler korrigierte, erstmals in einer neuen Umgebung.

Wenige Monate vorher, im Juni 2001, war die jüngere von Emils beiden Töchtern gestorben. Hilde verschied mit achtundneunzig Jahren in einem Pflegeheim. Nur allzu gern wäre sie hundert geworden. Am Ende fehlten ihr achtzehn Monate. Einen schlimmen Sturz, bei dem sie sich zum zweiten Mal die Hüfte brach, überstand sie nicht. Als ihr Ende nahte, wurden die nächsten Verwandten an ihr Bett gerufen.

Hilde war die Großmutter meiner Frau, die ihr bei ihrem Tod die Hand hielt. Hilde war schon ohne Bewusstsein. Der letzte Atem verließ ihren Mund mit einem Seufzer, der mit einem leisen, unwillkürlichen Ertönen ihrer Stimme einherging. Man konnte fast meinen, dass sie die Menschen, mit denen sie ihr Leben geteilt hatte, ein allerletztes Mal grüßte.

Nahezu ihr ganzes Leben hatte Hilde in der Stadtwohnung gelebt, die ihr Vater einst mit seiner Ehefrau und den beiden – damals sehr kleinen – Töchtern bezogen hatte. Sie wollte, dass ihre jüngste Enkelin das Herrenzimmer des Urgroßvaters bekommt. Damit würde der Schreibtisch, an dem Gymnasialprofessor Grunewald sich auf seinen Unterricht vorbereitet hatte, in würdige Hände übergehen, in die Hände eines um drei Generationen jüngeren Hochschullehrers.

Vielleicht war dieser Übergang für Hilde sogar ein Zeichen, dass das Leben weitergeht. Dass jemand den Faden dort aufnimmt, wo ihn Emil fallen lassen musste. Wenn ich am Schreibtisch sitze, bin ich mir all dieser Überlegungen bewusst. Das gravitätische Möbel verdankt seine Bedeutung nicht der simplen Tatsache, dass ich dort meine Seminare vorbereite. Es ist der Träger von Erinnerungen, das materielle Vermächtnis einer Familie, die mit dem fleißigen Landbuben Emil begann.

Um 1895: Hedwig (sitzend rechts) und ihre Schwester Anna (stehend rechts) inszenieren mit Freundinnen ein Damenkränzchen

KAPITEL 2

Vielleicht ist es sogar eine Afrana-Nähmaschine

17. Januar 1903 – In Peking wird ein Denkmal für den ermordeten Diplomaten Clemens von Ketteler eingeweiht.

27. März 1907 – In Berlin öffnet das riesige KaDeWe, das Kaufhaus des Westens, seine Pforten.

12. Januar 1912 – Die SPD wird mit 35 Prozent bei den Reichstagswahlen stärkste Fraktion.

28. Juni 1914 – Franz Ferdinand von Österreich wird in Sarajevo von Gavrilo Princip ermordet.

27. September 1917 – Der Unternehmer Alwin Bauer erwirbt für 1,9 Millionen Mark Schloss Weesenstein.

Am 5. Mai des Jahres 1900 ist es so weit: Emil Grunewald heiratet Hedwig Paul. Sie wird 1872 als Tochter des Fabrikantenehepaars Ernst und Johanna Paul geboren (Abb. 3). Emil kennt das Mädchen schon seit der Grundschule, aber er scheut sich lange, ihr seine Liebe zu gestehen. Das liegt sicher auch am Standesunterschied. Emils Vater, der kleine Gemüsegärtner, steht für den Bauernstand. Als Besitzer einer Firma, die sich auf die Fabrikation von Stoffen verlegt hat, ist Hedwigs Vater jedoch ein Angehöriger des Bürgertums.

Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erkennt auch Familie Paul die Möglichkeiten, die ihr die industrielle Revolution bietet. Hedwigs Großvater investiert in moderne Webstühle und kauft eine Dampfmaschine. Es entsteht eine kleine Fabrik, in der fünfzehn Menschen Arbeit finden. Die Familie kann sich einen gewissen Wohlstand erlauben und bewohnt ein Haus an einem ruhigen Plätzchen am Ortsrand von Seifhennersdorf. Emil weiß nicht, ob er Hedwig denselben Lebensstandard wird bieten können. Doch nachdem er sein Abschlusszeugnis vom Lehrerseminar Löbau schon einige Zeit in der Tasche hat, fasst er sich ein Herz. Er ist überrascht, dass Hedwig seine Zuneigung gleich erwidert. Sie werden ein Paar und beginnen Pläne für eine gemeinsame Zukunft zu schmieden.

Bevor diese Zukunft aber mit einer Hochzeit besiegelt wird, vergehen noch gut acht Jahre. Für ein Leben als Familienvater muss Emil auf eigenen Beinen stehen. Deshalb ist es kein Zufall, dass er gleich nach dem Ende seines ersten Schuljahrs in Meißen heiratet. Die feste Stelle am Franziskaneum sichert ihm nicht nur beruflichen Erfolg und Sozialprestige, sondern legt auch die materielle Basis für eine eigene Familie. Emil feiert Hochzeit, als er schon fast dreißig ist. Das mag spät erscheinen, war allerdings in dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Weil Männer erst einen Hausstand gründen, nachdem sie eine gewisse finanzielle Sicherheit erreicht haben, sind sie in der Regel dreißig Jahre oder gar noch älter.

Emil ist ein Selfmademan: Seine Stellung hat er sich selbst und seinen eigenen Anstrengungen zu verdanken. Damit unterscheidet er sich von Männern im vorindustriellen Deutschland. Als Fabrik und Eisenbahn das Leben noch nicht im Griff hatten, beruhte eine Ehe oft auf einem Erbe (dem Familienbauernhof oder der väterlichen Firma). Die Generation 1870 hatte dagegen Möglichkeiten, auf eigenen Füßen zu stehen und finanziell unabhängig zu werden. Das Wissen, dass er sich seine Stellung erkämpft hat, erklärt das Selbstbewusstsein, mit dem Emil durchs Leben geht. Der Junglehrer weiß, was er kann.

Das will gelernt sein

Schon als junges Mädchen hat Hedwig die etwas breiten Backenknochen, die sie ihren zwei Töchtern vererben wird. Manchmal meine ich sie noch im Gesicht meiner Schwiegermutter, ihrer einzigen Enkeltochter Brigitte, zu erkennen. Hedwig trägt nie die Tracht ihrer Heimatregion, der Oberlausitz, weil das nicht mehr zu ihrem sozialen Status zu passen scheint. Mit ungefähr fünfzehn Jahren kleidet sie sich schon wie eine Frau mittleren Alters. Ihr Lieblingsschmuck ist eine Goldkette mit einem großen Kreuz (Abb. 4). Hedwig ist religiös und bleibt ihr Leben lang Mitglied der evangelisch-lutherischen Gemeinde, anfangs im Kirchspiel der Kreuzkirche in Seifhennersdorf, danach der Johanneskirche in Meißen.

Hedwig wird als typisches Mädchen aus besseren Kreisen erzogen. Die höheren Töchter wachsen wohlbehütet auf, bekommen aber nur wenig Unterricht. Hedwig geht auf die achtjährige Grundschule, die auch Emil besucht hat. Danach ist Schluss mit dem Schulbesuch. Sie wird zu Hause auf ein Leben an der Seite eines Mannes vorbereitet und hilft ihrer Mutter, den großen Haushalt zu führen.

Und das will gelernt sein: der Umgang mit den Lieferanten, die Führung des Hauspersonals und die Verwaltung der zur Verfügung stehenden Gelder. Die höheren Töchter – und Hedwigs familiärer Hintergrund ist im Vergleich zu dem anderer Mädchen aus gutem Hause noch relativ bescheiden – lernen keinen Beruf und müssen nicht im Familienunternehmen mitarbeiten. Für sie steht an erster Stelle, sich mit hauswirtschaftlichen Tätigkeiten wie Nähen und Sticken, Backen und Kochen vertraut zu machen.

Leg deinen Kummer in ein Lächeln

Einen Eindruck von Hedwigs intellektuellem Horizont bietet ihr Freundschaftsbuch: ein schön gebundenes kleines Poesiealbum mit unlinierten Seiten und Goldschnitt. Zwischen den Seiten liegen getrocknete Blumen. Verwandte und Freunde schreiben ihr Verse hinein. Meist mit einer Lebenslehre. »Tugend und Unschuld«, gibt einer Hedwig mit auf den Lebensweg, »wappnen sich mit Anspruchslosigkeit und Umsicht«. Ein anderer: »Leg deinen Kummer in ein Lächeln und all dein Sehnen in ein Lied!«. Und ein Dritter rät, nie den Kopf hängen zu lassen: »Dein Glück kannst du dir selbst erschaffen, wenn du nur die Hände regst!«

Die meisten Sprüche haben sich nicht die Personen ausgedacht, die sie in zierlichen Buchstaben kalligrafiert haben, sondern sie stammen aus Zitat- und Textsammlungen, die in gedruckter Form im Umlauf waren – typischer Ausdruck der Moral eines wohlhabenden Bürgertums, das seine Ideale in Reimen und Sprüchen verankert. In dem optimistischen Unterton schwingt der wirtschaftliche Erfolg der industriellen Revolution mit. Der zentrale Gedanke ist einfach: Wenn du dein Leben selbst in die Hand nimmst, kannst du was draus machen, also – sich regen, bringt Segen.

Das erste Gedicht in Hedwigs Poesiealbum ist mit 1885 datiert (»Zur Erinnerung an Deinen Vater«). Das letzte Gedicht wird 1898 dem Papier anvertraut, das Album hatte also die Fabrikantentochter von ihrem zwölften bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr begleitet. Fast alle Texte sind in Seifhennersdorf geschrieben – mit Ausnahme von einem Dutzend Beiträgen, die in der ersten Hälfte des Jahres 1889 in Dresden dazukommen.

In diesem Jahr lebt die siebzehnjährige Hedwig in der sächsischen Hauptstadt, weil sie lernen soll, wie man sich in städtischen Kreisen bewegt. Sie wohnt bei Verwandten und besucht die Salons und Soireen der Stadt. Hedwig fühlt sich unter all den eleganten Damen und wohlerzogenen Herren unwohl. Ob sie die Kunst der dahinplätschernden Konversation jemals hinreichend beherrschen wird? Nach sechs Monaten kommt die Tochter des fleißigen Textilfabrikanten wieder nach Hause zurück und beginnt, inzwischen heimisch im großstädtischen Leben, nun ihrerseits, Verwandte zu kritisieren, die sich ihrer Meinung nach allzu bäurisch benehmen.

Ist das der Hund des Fotografen?

Zwischen Schulabschluss und späterer Heirat liegen nicht selten etwa zehn Jahre, sodass eine recht lange Zeit überbrückt werden muss. Mädchen wie Hedwig sind Teil informeller kleiner Gruppen von Bürgertöchtern, die alle in derselben Lage sind: Gleichaltrige in einer Übergangsphase, junge Frauen, die darauf warten, dass die eigentliche Lebensreise beginnt. Hierauf werden sie spielerisch vorbereitet. In einem Fotoatelier dürfen Hedwig und ihre Freundinnen zeigen, dass sie wissen, wie es bei einem Damenkränzchen zugeht. So ein Kaffeeklatsch ist ein beliebter Zeitvertreib für Frauen aus besseren Kreisen, der zusätzlich noch eine wichtige soziale Funktion hat. Es sind Treffen mit festen Ritualen und eigenen Verhaltensregeln.

Das begreifen die Mädchen. Sie setzen sich um einen Tisch. Offenbar fordert der Fotograf eine von ihnen auf – hier Hedwigs jüngere Schwester Anna –, direkt in die Linse zu sehen, damit sich der künftige Betrachter in die Szene einbezogen fühlt. Sie schenkt Kaffee aus einer Porzellankanne ein und hält dabei vorsichtig den Deckel mit der linken Hand fest. Ein anderes Mädchen führt gleichzeitig ihre Tasse an die Lippen – und hält sie, wie es sich gehört, am Henkel.

Aufmerksam blättern zwei weitere Mädchen, die wie alle anderen modische Puffärmel tragen, in einem Buch. Eine fünfte hat eine Handarbeit auf dem Schoß. Hedwig, im weit fallenden Kleid, scheint dem Familienhund (der vielleicht einfach dem Fotografen gehört und nur mitspielt) etwas zustecken zu wollen. Alles wirkt sehr diszipliniert, sehr wohlerzogen. Ein Damenkränzchen wie aus dem Bilderbuch.

Stich für Stich

Die Aussteuer spielt für junge Mädchen eine wichtige Rolle. Was im Haushalt benötigt wird, bringt die Braut mit. Es ist ihr Beitrag zu einer Ehe, die der Mann nach dem Jawort finanzieren wird. Deshalb macht sie sich, lange bevor ein Bräutigam in Sicht ist, auf die Suche nach Tafelgeschirr und Besteck, nach Küchengeräten und Glaswaren. Auch Tisch- und Bettzeug muss angeschafft werden: Geschirr- und Handtücher, Bettbezüge und Leintücher. Oft werden diese Textilien zu Hause hergestellt, denn eine höhere Tochter lernt schließlich Weißnäherei. Außerdem konnte sie Leib- oder Unterwäsche nähen, Blusen, Hemden und Kragen.

Hedwig ist froh, dass ihr Vater im Textilsektor tätig ist, denn er besorgt ihr das beste Leinen. Mit drei Freundinnen arbeitet sie im Sommer 1894 monatelang an ihrer Aussteuer. Sie hofft, dass diese in Qualität und Quantität den Erwartungen des Bräutigams in spe entsprechen wird (Abb. 5). Weil schon eine Weile gutes Wetter ist, wird die Tretnähmaschine (vielleicht ist es sogar eine Afrana aus Meißen) ins Freie getragen. Dann sitzen sie im Garten hinter dem Haus: vier junge Frauen, die sich Stich für Stich Richtung Ehe sticken.

Ein Schiffchen, Maiglöckchen und ein Erzählband

Nachdem sie sich kurz vor der Mitte der Neunzigerjahre Herz und Hand versprochen haben, beginnt für Emil und Hedwig eine Zeit des Wartens. Eine Zeit, in der sie sich wenig sehen, denn Emil unterrichtet an Volksschulen in verschiedenen sächsischen Orten. Kontakt halten sie schriftlich, mit Briefen. Hedwigs Korrespondenz ist verloren gegangen, aber von Emils Wunsch, wenigstens auf dem Papier Kontakt zu halten, zeugen noch immer zwanzig Schreiben.

Die Briefe, die auffallend formell klingen (»Ich überbringe Dir meine Glück- und Segenswünsche!«), haben Anreden, die beweisen, dass der Autor originell sein wollte. »Meine herzensgute Hedi«, schreibt Emil beispielsweise, »Mein liebes Herzglöckchen«, oder: »Mein allerliebstes Herzelchen«. Kurz vor Hedwigs Geburtstag im Jahr 1898 richtet er sich sogar mit dem schmachtenden »Herziges Geburtstagsschätzchen« an sie, dem eine sorgfältig formulierte Epistel voller Begehren und Sehnsucht folgt. Das Schreiben legt den langen Weg von Leipzig nach Seifhennersdorf zurück.

»Mit ganz besonderer Freude«, liest man in Emils regelmäßiger Handschrift, »übergebe ich heute meinen Brief und meine Sendung der Post, um Dich zu Deinem Freudenfeste mein Fernbleiben wenigstens durch einige Äußerlichkeiten vergessen zu lassen«. Mit »Deinem Freudenfeste« meint Emil den 16. Januar, denn er geht davon aus, dass seine Postsendung am Tag von Hedwigs sechsundzwanzigstem Geburtstag in der Oberlausitz zugestellt wird. Was er an kleinen Aufmerksamkeiten (»Äußerlichkeiten«) beilegte und warum er gerade diese Geschenke ausgesucht hat, erklärt der Student umständlich.

Er schickt Hedwig – erstens – ein Schiffchen, auf dessen Segel ein paar Gedichtzeilen aus einem französischen Volkslied stehen. Das kleine Schiff entpuppt sich als Hochzeitskahn: »Die Liebe zieht ihr Segel auf, Sehnsucht das Ruder sicher führt.« Emil zitiert den Schluss des anonymen Schifferlieds: »Liebchen, mein Arm ist dir bereit!«

Ein zweites Geschenk spielt ebenfalls auf die Liebe an. Hedwig bekommt ein Sträußchen mit Maiglöckchen aus Seide. Es unterstreicht, dass Emil und sie sich – unter Anspielung auf einen Titel des Biedermeierdichters Friedrich Rückert – noch immer in ihrem Liebesfrühling befinden.

In welche Richtung die Gedanken des Briefschreibers gehen, zeigt sich ein weiteres Mal, als er einen kleinen Band von Carl Crome-Schwiening, Allerhand humoristische Kleinigkeiten, einführt. Keine große Literatur, aber Emil ist auf drei Geschichten gestoßen, »Das Eheprotokoll«, »Auf der Hochzeitsreise« und »Die Chemie in der Küche«, die er Hedwig sehr ans Herz legt. Dass sie auf die Ehe und die Aufgaben der Frau verweisen, ist sicherlich kein Zufall.

Entsprechend den Konventionen der Zeit macht Emil einen Umweg, wenn er seine Gefühle für Hedwig ausdrückt. Er nimmt passende Texte in Anspruch oder verweist auf Autoren, von denen er annimmt, dass sie diese ebenfalls kennt. Paradoxerweise offenbart er sich auf diese Weise mit den Worten eines anderen. Aber auch hier gilt: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.

Hedwig bekommt also außer dem Schiffchen, den Maiglöckchen und dem Buch noch drei weitere kleine Überraschungen, die im Begleitbrief mit dem gleichen Feingefühl kommentiert werden. Emil schickt ein selbst geschnitztes Fotorähmchen, ein Leporello mit Ansichtskarten von Leipzig – in der Hoffnung, dass sie die Universitätsstadt bald mit eigenen Augen sehen wird – und eine Dose Schnupftabak.

Als Genussmittel ist Schnupftabak bei Frauen wenig üblich, aber der verliebte Student verweist auf eine medizinische Verwendung. Denn er will Hedwig vor einer möglichen Erkältung behüten: »Schön schnupfen, damit du nicht verschnupfen sollst!« Der Wunsch, sein Leben mit ihr zu teilen, wird am Ende in ein hübsches Versprechen verpackt: »Es liegt in meinem Bestreben Dir, liebes Herzchen, soviel angenehme Tage als möglich zu verschaffen. Freilich jetzt sind wir noch zu selten beieinander.«

Mädchenknospen vor dem Altar

Ein Jahr nach der offiziellen Verlobung im Jahr 1899 (Abb. 6) heiraten Emil und Hedwig an einem Samstag in der Kreuzkirche von Seifhennersdorf. Die kirchliche Trauung wird von dem alten Pfarrer vorgenommen, den sie seit Kinderjahren kennen. Um zwei Uhr mittags läuten die Glocken, und das Paar tritt aufgeregt vor den Altar.

Die Braut trägt, wie um 1900 üblich, ein langes, schwarzes Kleid. Ein weißer Schleier fällt ihr vom Scheitel bis unter die Kniekehlen. Emil trägt einen schwarzen Anzug und darunter ein Leinenhemd, das traditionelle Brauthemd, das Hedwig für ihn genäht hat. Nach dem Jawort sieht er Tränen in ihren Augen. Sie zeugen nicht nur von Glück, sondern auch von einem schmerzlich empfundenen Verlust. Drei Jahre vorher war Hedwigs Vater ganz unerwartet an einem Herzanfall gestorben.

Nach der kirchlichen Trauung wird gefeiert. Weil fast alle Mitglieder der Familien Grunewald und Paul in Seifhennersdorf wohnen, umfasst die Hochzeitsgesellschaft siebzig Personen. Getafelt wird an diesem warmen Maitag im Garten des Geburtshauses der Braut. Einen Höhepunkt bildet die Präsentation eines Tafellieds. Es hat dreißig Strophen und wurde von einem Jugendfreund Emils verfasst. Er hat dem Lied ein doppeltes Motto mitgegeben: »Eine wirkliche und wahrhaftige Liebesgeschichte«. Und: »Wie sie sich fanden«. Ein Buchdrucker hat den Text vervielfältigt. So können die Hochzeitsgäste mitsingen und außerdem den Abzug mit nach Hause nehmen.

Das Lied erzählt, wie Emil Hedwig bereits lieb gewann, als er noch am Löbauer Lehrerseminar war. 1886 ist er bei seinen Eltern zu Besuch und nimmt an der diesjährigen Konfirmationsfeier teil. In der Kirche – derselben, in der sie später heiraten werden – fällt sein Blick auf die vierzehnjährige Hedwig: »Von den vielen Mädchenknospen, / Die dort standen am Altar, / Schaut er immer nur die Eine, / Die für ihn die Schönste war.« Es ist der Beginn einer stillen Liebe, die dazu führt, dass der Internatszögling Emil die freien Tage im Elternhaus herbeisehnt. Jeden Umweg nimmt er in Kauf, um einen Blick auf Hedwig werfen zu können: »In der Ferienzeit / Promenierte er vorm Fenster, / War der Umweg noch so weit.«

Erst am Ende seiner Schulzeit geht der künftige Lehrer einen Schritt weiter: Er bittet Hedwig, bei der Abschlussfeier seine Balldame zu sein. Das Lied berichtet, wie sie den ganzen Abend miteinander tanzen. Auch den Katerbummel, den Spaziergang am Morgen nach dem Ball, machen sie zusammen – übrigens in Begleitung einer von Hedwigs Freundinnen, die das Paar im Auge behalten soll.

Und Emil? Der fast zwanzigjährige Emil macht überhaupt nichts. Er bringt das Mädchen, das sein Herz gestohlen hat, zu ihrer Logieradresse in Löbau zurück und schweigt über seine Gefühle. Ein vielversprechender Schüler, das steht außer Zweifel, doch auf dem Pfad der Liebe fehlt ihm noch das Selbstbewusstsein, das in seinem späteren Leben für ihn geradezu typisch werden wird. Es folgt eine Zeit, in der die beiden viel gemeinsam musizieren. Hedwig beginnt etwas zu ahnen, hält sich aber, so berichtet das Lied, als »kluges Mädchen« zurück.

Stille Wasser

Es wird noch viel Zeit vergehen. Erst als Emil merkt, dass sich auch andere um Hedwigs Hand bemühen, kommt er endlich, endlich in Gang. »Hand und Herz /«, singt die lachende Hochzeitsgesellschaft, »Er Hedwig bietet, / Ängstlich dann auf Antwort harrt.« Hedwigs Reaktion hätte ihn nicht glücklicher machen können. »Mein Sehnen bist nur Du!« – sagt sie: »Du allein bist’s, / Nach dem ich verlang!«

Das Paar beschließt, seine Liebe niemandem zu verraten: »Was kann es Schön’res geben / Als der Liebe Heimlichkeit?« So kommt es also an einem Tag, an dem Hedwig eine Tante nach Leipzig begleitet, zu einer »zufälligen« Begegnung mit Emil. Der gibt den Stadtführer und zeigt den – für ihn nicht so ganz unerwarteten – Gästen seinen momentanen Wohnort. Hedwigs Tante ist von dem charmanten Studenten begeistert und meint sogar, dass er eine gute Partie für ihre Nichte sein könnte.

All das sind Geschichten von einem höchst schüchternen jungen Mann und einem Mädchen, das sehr viel Gelassenheit an den Tag legt. Wie groß sind die dichterischen Freiheiten, die sich Emils Jugendfreund erlaubt? Wenn man ihm aufs Wort glaubt und bedenkt, dass der Brief mit den Leipziger Ansichtskarten besagt, dass Hedwig bis zu ihrem sechsundzwanzigsten Lebensjahr nie in der Universitätsstadt gewesen ist, drängt sich der Schluss auf, dass die beiden ihre Liaison zumindest bis Anfang 1898 für sich behalten haben.

Das ist eine lange Zeit, aber irgendwie auch sehr romantisch. Falls stille Wasser auf tiefe Gründe hindeuten, dann sind sie bei Emil unermesslich tief. Jedenfalls ist es aus mit seiner Geduld, sobald er seine Anstellung als Lehrer an einem Gymnasium bekommen hat: »Aber nun die Hochzeit schnell!« Kurz nach der Vermählung ziehen Emil und Hedwig in ihre erste gemeinsame Wohnung am Hahnemannsplatz westlich der Elbe direkt in Meißens historischer Altstadt.

Sandstein aus der Sächsischen Schweiz

Jetzt nimmt Emils und Hedwigs Leben Fahrt auf. Es ist, als ob das junge Ehepaar die lange Wartezeit möglichst schnell ungeschehen machen möchte. Wenig mehr als ein Jahr nach dem Vollzug der Ehe wird im Juni 1901 Hanna geboren. Anderthalb Jahre darauf erblickt im November 1902 eine zweite Tochter, Hilde, das Licht der Welt. Beide Male entbindet Hedwig, wie es damals üblich ist, zu Hause, mithilfe einer Hebamme. Die jungen Eltern sind froh, dass alles gut geht, denn die Säuglingssterblichkeit liegt mit zwanzig Prozent recht hoch.

Im Winter 1904 suchen sie zum ersten Mal mit ihren Töchtern Max Freitags Fotoatelier auf, wo im Lauf der Jahre mehrere Familienporträts gemacht werden. Sie lassen Hanna und Hilde, die dann zweieinhalb und etwas älter als ein Jahr sind, in ihren Sonntagskleidchen fotografieren (Abb. 7). Ein paar Monate später zieht die Familie nach Meißen-Cölln, einem Stadtteil, der mit großen Fabrikgeländen und neuen Wohnvierteln wie kein zweiter die städtebauliche Auswirkung der industriellen Revolution symbolisiert. Emil und Hedwig beziehen eine großzügige Wohnung, die das gesamte zweite Stockwerk eines repräsentativen Gebäudes im Stil der Neorenaissance einnimmt.

Das Haus liegt in der Brauhausstraße und hat eine für diesen Teil Deutschlands ungewöhnliche gelbe Backsteinfassade. Die Fassadendekorationen sind in Sandstein ausgeführt, der in der Sächsischen Schweiz gewonnen wird. Von einem der Wohnzimmerfenster aus blickt man auf den Hamburger Hof, das neue Hotel, in dessen Fest- und Ballsälen sich ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens der Stadt abspielt. Emil wohnt nun in einer vornehmen Gegend. Seine Wohnung liegt strategisch günstig am Fuß des Ratsweinbergs, sodass er jeden Morgen zu Fuß zum Franziskaneum gehen kann. An manchen Stellen führt der schmale Weg steil nach oben. Vor allem in den Wintermonaten ist es nützlich, dass an den Fassaden und Gartenmauern Handläufe angebracht sind, die Halt bieten können.

Lautmalerei

Die Wohnung der Familie Grunewald ist in Sachen Küchentechnik und Sanitäranlagen vorbildlich modern ausgestattet. Es gibt eine Kochmaschine, einen riesigen, mit Holz zu beheizenden Herd, und man hat fließend Wasser, wohlgemerkt, fließend kaltes Wasser. In den Zimmern hängen Gaslampen, und im Badezimmer steht sogar ein Badeofen, ein gusseiserner Wasserspeicher mit Mischbatterie, in dem man das Badewasser erhitzen kann.

Auch die Wohn- und Schlafzimmer werden mit Kohlen geheizt. In einer Ecke stehen schwere Steinöfen mit glasierten Kacheln der Firma Teichert. Die sogenannten Berliner Öfen haben das Format eines eintürigen Kleiderschranks und sind im Speise- und Wohnzimmer en suite kunstvoll dekoriert. Im Treppenhaus, außerhalb der Wohnung, befindet sich die Toilette, die mit den Nachbarn geteilt wird. Keine Toilette mit Wasserspülung, sondern ein sogenanntes Plumpsklo. Alles, was dort hineinfällt, landet direkt unten in der Sickergrube. Dass »plumpsen« hier lautmalerisch gemeint ist, muss vermutlich nicht erläutert werden.

Das neue Heim erfüllt Emil und Hedwig mit Stolz. 1910 wird das Haus von einem Fotografen in voller Größe verewigt, mit drei Stockwerken und einer Mansarde (Abb. 10). Wenn man genau hinschaut, sieht man Hedwig aus dem Wohnzimmerfenster lehnen. Auf dem Gehsteig posieren ein paar Kinder, darunter Hanna und Hilde. Hinter dem Haus, das nach der Wende auf die Denkmalschutzliste kam, gibt es ein verhältnismäßig großes Gelände, das die Bewohner gemeinsam nutzen. Emil und Hedwig trocknen dort nicht nur ihre Wäsche, sondern legen auch einen Gemüse- und Blumengarten an.

Industrialisierung und Urbanisierung haben binnen weniger Jahrzehnte dazu geführt, dass viele Menschen, die selbst in einem ländlichen Umfeld aufwuchsen, sich plötzlich in einer städtischen Steinwüste wiederfinden. Sie sehnen sich nach Natur. Das manifestiert sich in den zahllosen Stadtgärten und Kleingartenanlagen, die überall aus dem Boden sprießen. In dieser Hinsicht sind Emil und Hedwig keine Ausnahme. In dem großen Garten hinter dem Haus haben sie ein paar Obstbäume gepflanzt und bauen dort Kopfsalat und Frühlingszwiebeln, Möhren und Bohnen an. Zwischen den Gemüsebeeten und den Blumenrabatten steht ein Holztisch mit gusseisernen Stühlen, wo sie im Sommer die eigenen Erdbeeren und Himbeeren genießen.

Acht Fräcke

Es gibt ein Dokument, das nicht nur einen guten Eindruck vom evidenten Wohlstand der jungen Familie Grunewald vermittelt, sondern auch von der Wohnkultur im ersten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts. Emil, der sein Leben lang gern Listen und Übersichten anlegte, erstellt 1912 ein vollständiges Verzeichnis ihrer Besitztümer. Er unterscheidet vierzehn Kategorien: Möbel – Küchengeräte – Kleidung – Wäsche – Schlafzimmer – Spiegel – Uhren – Porzellan – Glas – Silberzeug – Gemälde sowie Grafiken – Bücher – Musikinstrumente – und schließlich: Schmuck.