Der Zauber meines viel zu kurzen Lebens - Kate Gross - E-Book

Der Zauber meines viel zu kurzen Lebens E-Book

Kate Gross

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Beschreibung

Über die Kunst zu leben, wenn man stirbt

Kate Gross ist vierunddreißig, als es heißt: Darmkrebs, Überleben ausgeschlossen. Ein Schock für sie selbst, eine Tragödie für Freunde und Familie, besonders für ihre dreijährigen Zwillingssöhne. Wie lebt eine junge Frau weiter, in deren Inneren ein Zellhaufen außer Kontrolle geraten ist? In zehn Kapiteln hinterlässt Kate Gross ihren Liebsten die vielen Geschichten, die sie zu der machten, die sie ist. Mit dem scharfen Blick eines Menschen, dem nicht mehr viel Zeit bleibt, hält sie die Welt an und erzählt uns von der Schönheit des Lebens.

"Das Leben steckt voller Möglichkeiten, nicht voller Beschränkungen – Kate Gross hat immer so gelebt und zeigt uns, wie es geht." Tony Blair

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Kate Gross ist vierunddreißig, als es heißt: Darmkrebs, Überleben ausgeschlossen. Ein Schock für sie selbst, eine Tragödie für Freunde und Familie, besonders für ihre dreijährigen Zwillingssöhne. Wie lebt eine junge Frau weiter, in deren Inneren ein Zellhaufen außer Kontrolle geraten ist? In zehn Kapiteln hinterlässt Kate Gross ihren Liebsten die vielen Geschichten, die sie zu der machten, die sie ist. Mit dem scharfen Blick eines Menschen, dem nicht mehr viel Zeit bleibt, hält sie die Welt an und erzählt uns von der Schönheit des Lebens.

»Das Leben steckt voller Möglichkeiten, nicht voller Beschränkungen – Kate Gross hat immer so gelebt und zeigt uns, wie es geht.«     Tony Blair

VITA

Kate Gross studierte an der Oxford University Englische Literatur und arbeitete danach im öffentlichen Dienst für Tony Blair und Gordon Brown. Später wurde sie Geschäftsführerin der Africa Governance Initiative und für ihr Engagement in der Wohltätigkeitsarbeit mehrfach ausgezeichnet. Ende 2014 starb Kate Gross mit 36 Jahren an Darmkrebs.

KATE GROSS

DER

ZAUBER

MEINES

VIEL

ZU KURZEN

LEBENS

Aus dem Englischen

von Stefanie Fahrner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt

und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen

unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie

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auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung

dieses E-Books verweisen.

Copyright © 2015 by Kate Gross

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Late Fragments.

Everything I Want to Tell You (About this Magnificent Life)

bei William Collins, An Imprint of HarperCollinsPublishers, London

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Uta Rupprecht

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik∙Design, München

Umschlagmotive: © privat (provided and the property

of the family of Kate Gross); depositphotos/apolobay

Fotos Innenteil: © privat (provided and the property

of the family of Kate Gross)

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-18065-2V003

www.diana-verlag.de

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Zwei Exemplare dieses Buches sind mir besonders wichtig.

Zwei Augenpaare werden jedes einzelne Wort lesen.

Vier Hände werden irgendwann einmal

ein zerlesenes Taschenbuch halten,

wenn alle anderen mich und das,

was ich zu sagen habe,

schon längst vergessen haben.

Ich schreibe dieses Buch

für Oscar und Isaac,

meine beiden kleinen Ritter,

mein Glück, meine Wunder.

EINLEITUNG

Als ich drei Jahre alt war, erklärte ich meiner Mutter, dass ich meine Wörter in meinem Kopf aufbewahre, und zwar in einer durchsichtigen Plastiktüte. Jetzt ist es an der Zeit, sie herauszuholen und so anzuordnen, dass sie diese Geschichte ergeben. Die Sache ist bloß: Ich weiß nicht, wie sie zu Ende gehen wird. Ich weiß nicht, ob ich sterbe, bevor ich sie fertiggestellt habe. Wenn das passiert, wird jemand anders für mich den Schluss schreiben, so viel ist sicher. Meine Mutter wird einspringen und meine Geschichte für mich beenden, genau wie früher, als sie mir bei meinen Aufsätzen half. Ich kann also anfangen.

Wir beginnen am 11. Oktober 2012. Ich jogge in Südkalifornien am Strand. Es ist dämmrig, die Wellen brechen sich entlang der Küste, und die Surfer paddeln aufs Meer hinaus. Meine Beine sind stark, meine Lunge ist voll mit salziger Luft. Ich bin hier, um bei einem Wohltätigkeitslauf zu starten. Das Geld soll einer Hilfsorganisation zugutekommen, die in ehemaligen Krisengebieten in Afrika tätig ist. Ich bin eine erfolgreiche Frau Mitte dreißig, habe einen tollen Job, reise durch die Welt und treffe mich mit Präsidenten und Premierministern. Meine wunderbaren Zwillinge sind drei Jahre alt, und ihr Vater Billy ist nicht nur mein Seelenverwandter, sondern auch der schnuckeligste Mann, den ich je geküsst habe. Aber in meinem Inneren gerät ein Zellhaufen außer Kontrolle. Er hat einen Tumor gebildet, der sich in meinem Dickdarm ausgebreitet hat, durch mein Lymphsystem gekrochen ist und meine Leber besiedelt hat. Der Krebs hat mich schon halb umgebracht, und ich habe noch keine Ahnung von seiner Existenz.

Am nächsten Tag stehe ich am Flughafen. Die einwöchige Reise ist vorbei, und ich bin auf dem Weg nach Hause, nach Cambridge in England. Am Check-in-Schalter überkommt mich eine plötzliche Übelkeit. Fünfzehn Stunden lang muss ich mich übergeben: auf dem Weg durch die Sicherheitskontrolle, in der Lounge und den ganzen Flug über. Ich fühle mich fiebrig und erschöpft. Jetzt erst merke ich, dass irgendwas mit mir ganz und gar nicht in Ordnung ist. In Heathrow lasse ich mich in ein Taxi fallen und bitte den Fahrer, mich zur Notaufnahme des Addenbrooke-Krankenhauses bei uns um die Ecke zu bringen. Dort wird ein CT gemacht, und zwölf Stunden nach der Landung in England liege ich im Operationssaal. Die Verstopfung in meinem Dickdarm erweist sich als Tumor, und die dunklen Flecken, die die Ärzte in meiner Leber entdeckt haben, sind Sekundärherde – Metastasen, um den Fachbegriff zu benutzen. Ich habe Krebs im vierten Stadium. Diese ganzen Krebsausdrücke sind zwar neu für mich, aber ich weiß trotzdem schon, dass es kein fünftes Stadium gibt. Was mir (im Gegensatz zu Billy, der ständig online ist und längst Bescheid weiß) in diesem Moment allerdings noch nicht klar war: Meine Chance, die nächsten fünf Jahre zu überleben, betrug nur sechs Prozent.

Dieses erste Erdbeben, das unsere kleine Familie erschüttert hat, ist nun mehr als zwei Jahre her. Inzwischen habe ich zwei Operationen, sechs Monate Chemotherapie und eine kurze, wunderschöne Zeit der Besserung hinter mir. Aber jetzt ist der Krebs wieder da. Er hat sich weiter in mir ausgebreitet, und er ist unheilbar. Ich werde sterben, bevor meine Kinder die Grundschule abgeschlossen haben. Wahrscheinlich schon, bevor sie das stolze Alter von sechs Jahren erreicht haben. Für sie klingt das fast schon erwachsen, für mich klingt es unglaublich jung. Jedenfalls dauert es nicht mehr lang.

Sofort nach der Diagnose habe ich mit dem Schreiben angefangen. Als ich mit dem Tippen begann, sprudelten die Wörter nur so aus mir heraus und brachten sich fast von selbst in die richtige Reihenfolge, so fleißig, wie sich derweil die bösartigen Zellen in meinem Inneren vermehrten. Alles, was ich aufgeschrieben habe, ist ein Geschenk an mich selbst. Eine Erinnerung daran, dass ich sogar dann noch etwas erschaffen konnte, während mein Körper gleichzeitig dabei war, sich selbst zu zerstören. Es soll aber auch ein Geschenk an diejenigen sein, die ich liebe, an meine lebendige Terrakotta-Armee. Jetzt quellen die Wörter aus meiner Plastiktüte heraus wie die Magnetbuchstaben, die meine Kinder an den Kühlschrank pappen. Ich schreibe alles auf, um zu verstehen, was unserer Familie widerfahren ist, um die Kate zu verstehen, die jetzt in diesem seltsamen, klaren, letzten Abschnitt des Lebens angekommen ist. Ich schreibe, weil die Krankheit mich immer stärker zeichnet und ich wie ein Keats für Arme schreckliche Angst davor habe, dass ich aufhören muss, »noch eh die Feder, was mein Hirn erdachte, in Schrift, in Büchern wusste zu vollenden«1. Noch ehe ich alles aufschreiben kann, was ich meinen Jungs sagen möchte, wenn sie fünfunddreißig sind, nicht fünf. Noch ehe ich ihnen erzählen kann, wer ich bin, was ich weiß und welche Geschichten mein Leben ausmachen.

Eine Freundin hat mich mal gefragt, was das Beste sei, das der Krebs mir geschenkt habe. Als ich diese Frage hörte, brach ich innerlich zusammen. Krebs ist ein ziemlich schreckliches Geschenk. Er nimmt und nimmt und nimmt und lässt eine Spur der Verwüstung zurück. Er hat mir die Zukunft genommen, die ich für mich geplant hatte, und eine berufliche Karriere, in der ich Gutes bewirken, durch die Welt reisen, meine selbstgesetzten Ziele erreichen konnte. Er hat mir die selbstverständliche Leichtigkeit in meiner Beziehung zu Billy gestohlen. Wie kann es leicht sein, sich mit sechsunddreißig Jahren von seinem Mann auf dem Sterbebett pflegen zu lassen? Wir sollten uns darüber streiten, wer den Müll rausbringt, anstatt ernste Gespräche darüber zu führen, wie ich mir die weitere Erziehung unserer Kinder wünsche. Der Krebs hat mir die Fähigkeit genommen, für andere da zu sein. Ich sollte mich um meine Eltern kümmern, aber jetzt besuchen sie mich im Krankenhaus und holen meine Kinder von der Schule ab. Sie sind nicht mehr Großeltern, sondern Ersatzeltern. Der Krebs hat die Gegenseitigkeit aus meinen Beziehungen gestohlen. Plötzlich bin ich nur noch die Besuchte, nie mehr die Besucherin. Nur noch die Empfängerin von Karten und Geschenken, nie mehr die Absenderin. Und er hat mir die Möglichkeit genommen, die Mutter zu sein, die ich sein möchte. Immer, wenn ich eigentlich achtlos, rechthaberisch, energisch und unaufmerksam sein möchte, muss ich jetzt sorgfältig, sanft und nachgiebig auftreten, weil ich es nicht ertrage, meinen Kindern als der böse Cop in Erinnerung zu bleiben. Jede Umarmung ist aufgeladen mit brennender Freude über ihre bloße Anwesenheit und dem Kummer, dass ich ihre Zukunft nicht miterleben werde. Wenn sie schlafen, lege ich mich neben sie und ertappe mich dabei, heiße Tränen in den Babyspeck an ihrem Nacken zu weinen.

Aber Krankheit nimmt nicht nur, sie gibt auch. Genauer gesagt, wir bekommen etwas von ihr, obwohl sie gleichzeitig versucht, uns alles zu nehmen. Insofern hatte meine Freundin irgendwie doch recht. Die Krankheit hat mir die Normalität gestohlen, die ich für selbstverständlich hielt, und die Zukunft, die ich vor mir hatte. Aber ich habe auch von der Krankheit profitiert. Da wäre zunächst einmal das gute Gefühl, hellwach und am Leben zu sein, das sich in den besseren Phasen mit Macht ins Bewusstsein schiebt. Es ist fast so, als würde man zum ersten Mal Ecstasy nehmen, nur ohne die wummernde Musik und das schwallartige Erbrechen. Ob ich nun nach der Chemotherapie wieder zu Kräften kam oder aus einer Narkose aufwachte, immer empfand ich eine Art Freude – vielleicht sogar eine gewisse Erhabenheit –, die ich so nie gekannt hatte. Das erste Mal passierte es auf Station L4, einer ziemlich unpassenden Umgebung, kurz nach der ersten Diagnose. Mitten in der Nacht öffnete ich ein Fenster und beugte mich hinaus, um den kalten Herbstregen auf dem Gesicht zu spüren, der sich bald mit heißen, glückseligen Tränen vermischte.

Dann sind da noch die Menschen in meinem Leben. Billy. Zusammen haben wir beide eine Liebe hervorgebracht, die sonst nur in Powerballaden besungen wird. Ein gegenseitiges Verständnis füreinander und eine Kameradschaft, die für ein ganzes Leben genügt hätte – wenn das Leben fair wäre. Meine Eltern. Sie sind mir näher denn je, nicht nur physisch, sondern auch emotional. Freundinnen und Freunde. Beziehungen, für die bislang nicht viel Zeit gewesen ist, sind zu neuem Leben erwacht.

Der Welt mag vielleicht eine zukünftige Politikerin verloren gehen, aber dafür habe ich meine Stimme gefunden, und zusammen mit meiner Stimme ein intellektuelles und spirituelles Land, das lange brachlag, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, meine E-Mails zu beantworten und kleine Popos abzuwischen. Trotz all dem, was uns genommen wurde und noch genommen werden wird, bin ich also glücklich. Wahrhaft glücklich. Die letzten Jahre waren so sonderbar strahlend, so voller Entdeckungen, Staunen und Liebe. Ich weiß nicht, ob das für einen Silberstreif am Horizont reicht oder ob es sogar den Verlust meiner Zukunft aufwiegen kann. Manchmal kommen mir diese Gedanken geradezu wahnsinnig vor. Aber wenigstens sind die Waagschalen dadurch nicht gar so ungleich beladen.

Ich schreibe dieses Buch, um die Summe eines Lebens mit anderen zu teilen. In einer normalen Welt hätte ich Jahrzehnte gehabt, um das alles zu sagen. Alt, dick und in lilafarbene Kleider gehüllt, hätte ich meine Kinder und Kindeskinder mit meinen Geschichten aus der Welt, die ich kannte, gelangweilt. Vielleicht hätten sie mich ja über die verrückten Nullerjahre ausgefragt, die letzten Tage des Kapitalismus, und darüber, wie es so war, für die Regierung zu arbeiten, als Amerika noch der Chef und ein Kredit kein Problem war. Vielleicht hätten sie aber auch gern Geschichten aus der Zeit gehört, als es in Afrika noch Hunger und Warlords gab, als Lagos noch eine Stadt war, aus der man wegzog, nicht eine, in der man sich niederließ. Vielleicht hätten sie mich aber auch nur gefragt, welche Lieblingsbücher ich als Kind hatte, was meine frühesten Erinnerungen waren oder wie Billy und ich uns ineinander verliebt haben. Jetzt aber muss es schneller gehen. Solche Gespräche werden wir niemals führen können; diese Worte jedoch werden meine Kinder immer besitzen.

1

DIE PLASTIKTÜTE UND DIE ROTE JACKE

Es könnte immer noch ein gewisses Licht, geringer

Aus dem Küchentisch oder Stuhl

Glühend hervorspringen,

Als ob mitunter eine himmlische Flamme

Besitz ergriffe von den stumpfesten Gegenständen –

Solcherart einen Zwischenraum heiligend, der

Nicht folgerichtig wäre in jedem anderen Fall,

Durch Bescherung mit Großzügigkeit und Ehren,

Man könnte sagen, Liebe.

SYLVIA PLATH, Schwarze Krähe bei regnerischem Wetter2

Vor ungefähr zehn Jahren spazierte ich an einem grauen Wintertag durch Clapham Common. Der Himmel wirkte wie ausgelutscht und schien viel zu tief über meinem Kopf zu hängen. Ich war gut gelaunt, wahrscheinlich war ich unterwegs zu einem Nachmittag im Pub. Oder zum Shoppen. Jedenfalls lebte ich mein angenehmes, bedeutungsloses modernes Leben als Konsumentin. Da entdeckte ich ein Kind in einer roten Jacke und war plötzlich vollkommen fasziniert. Ich spürte eine reine Freude, überirdisch und beglückend. Habe ich mir diese Erinnerung etwa aus dem Film Schindlers Liste ausgeliehen? Oder hat mich dieser unerwartete Moment der Freude an einen anderen Film, nämlich American Beauty, erinnert? Ich denke an die Szene, in der der halbwüchsige Antiheld eine umherwirbelnde Plastiktüte filmt. Fast schon zärtlich fängt er ihr Kreiseln und Flattern ein. Nein, ich glaube, diese Erinnerung ist meine ureigene. Tatsächlich gibt es solche faszinierenden Momente im Alltag, man muss nur genau hinsehen.

Ich behaupte natürlich nicht, dass mir die ganze Zeit über solche Erlebnisse widerfahren. Oder dass ich sie nur mit roten Jacken oder Plastiktüten habe. Aber wenn ich meinen Kindern nur eine einzige Sache mitgeben könnte, dann am liebsten die Fähigkeit, sich vom Alltäglichen verzaubern zu lassen, Freude zu schöpfen aus der Welt, in der sie leben. Ich würde die Formel dafür ermitteln und sie in eine Superheldenbrille einarbeiten. So wie Michael Mayne, der frühere Dekan von Westminster, der in einem Brief an seine Enkelkinder schrieb: »Wenn ich bei eurer Geburt einen Zauberstab gehabt hätte und euch damit ein einziges Geschenk hätte herbeizaubern können, hätte ich mich nicht für Schönheit oder Reichtum oder ein langes Leben entschieden. Ich hätte euch das Staunen geschenkt.«3 Aber so funktioniert es nicht. Jeder Mensch muss das Wunderbare für sich allein entdecken. Ich kann bloß erzählen, wie ich das Wunderbare fand, als die Welt und ich aufeinandertrafen, und wie dieses Wunderbare immer größer und heller wurde, obwohl meine Welt seitdem kleiner und dunkler geworden ist.

Ich kann meine Kindheitserinnerungen ausbreiten wie eine Patchworkdecke. Meine Decke ist ganz bunt, aus verschiedenen Stoffen, eine Mischung aus Bekanntem und Unbekanntem. Schon von klein auf haben mir meine Eltern die Welt gezeigt, und die Auseinandersetzung damit – das faszinierte Staunen – hat mich zu der gemacht, die ich heute bin. Deshalb wachen die »Ohren meiner Ohren auf und jetzt sind die Augen meiner Augen offen«, wie E. E. Cummings das ausgedrückt hat.4 Als ich ungefähr vier war, sah ich am Creek in Dubai einen Mungo eine Schlange fressen. Freitagabends sind wir oft in die Stadt gegangen, um ein Curry zu essen. Das kleine, schmuddelige Restaurant hatte einen Garten, in dessen Ecke ein großer Käfig stand. Und in dem Käfig lebte ein Mungo, der mit Schlangen gefüttert wurde. Nach dem Essen gingen wir noch in eine Bar, die von netten Indern geführt wurde, und tranken einen frisch gepressten Obstsaft. Die Inder zwickten mich immer liebevoll in meine dicken, hellhäutigen, sommersprossigen Wangen. Ich erinnere mich auch an unsere Wochenendausflüge an den Strand, wo wir unter dem riesigen Sternenhimmel schliefen. 1986, als ich siebendreiviertel war, lag ich zusammen mit meiner Freundin Georgia auf dem kalten Sand, und wir beobachteten den Halleyschen Kometen. Damals schworen wir uns feierlich, dass wir ihn bei seinem nächsten Erscheinen wieder gemeinsam betrachten würden. Georgia wird dann über achtzig sein, und mich wird es schon längst nicht mehr geben. Während dieser heißen, wolkenlosen Tage bliesen wir unsere Luftmatratzen auf und paddelten auf dem klaren Wasser des Persischen Golfs hinaus, um wie in den Narnia-Büchern »das äußerste Ende der Welt« zu erreichen. Unter den Steinen der flachen Bucht versteckten sich Stachelrochen und Tintenfische. Abends im Zelt erzählten wir Kinder uns Geistergeschichten, während die Hitze des Tages langsam der kalten Wüstennacht wich und unsere Eltern mit einem kühlen Bier am Lagerfeuer saßen.

Ich bin in der Ferne aufgewachsen, an einem Ort, wo man sich in unserem blauen Toyota meist wie in einem Backofen fühlte. England kam mir ziemlich fremd vor. Die Sommer, die wir auf dem Land in Wiltshire verbrachten, waren genauso faszinierend wie alles, was ich im Ausland erlebte, denn was eine ganz normale englische Kindheit ausmachte, war für mich, die das Leben auf der Arabischen Halbinsel gewohnt war, etwas sehr Exotisches. Ich erinnere mich noch an die Sonne und das üppige, weiche Gras, ganz anders als der kratzige Kunstrasen in unserem Garten in Dubai. Weiche Grashügel, von denen man herunterrollen, auf denen man Rad schlagen und bockspringen konnte. Zarte, pastellfarbene Blumen, die nur darauf warteten, dass ich sie abschnitt und in meine Blütenpresse steckte; Blumen, die so aussahen, als würden Feen darin wohnen, ganz anders als die riesenhaften, ungezügelten Blüten der Pflanzen im Nahen Osten. Fragile kleine Schmetterlinge, die auf den Fliedersträuchern vor dem Rathaus in unserem kleinen Dorf Bishopstone landeten, sodass ich nur noch mein Netz zu zücken brauchte. Die Paddeltouren in eiskalten Bächen, mit hochgerollten Hosenbeinen; unsere Versuche, einen Damm in den Fluss zu bauen.

Meine Familie ist schon immer viel gereist. Die Neugier auf fremde Länder liegt bei uns in den Genen, genau wie unsere Kurzsichtigkeit. Wir sind süchtig nach dem Geruch von »Woanders«, der einem in die Nase steigt, sobald sich die Flugzeugtür öffnet. Nach dem aufregenden Erlebnis, Milch in einem ausländischen Supermarkt einzukaufen. Mein Großvater diente während des Kriegs beim Nachrichtendienst in Indien und Burma und kehrte später für die BBC nach Indien zurück. Meine Mutter erinnert sich noch gut an die Geschenke, die er mit nach Hause brachte: exotische Seidenstoffe und Schnitzereien – und Geschichten von einem Ort, der ihn fesselte. Mit sechs Jahren sah ich in Katmandu die lebende Göttin, ein Mädchen, das ungefähr in meinem Alter war. Man hatte ihr die Augen mit Kajal geschminkt, ihr ein feierliches rotes und goldenes Kleid angezogen und sie in ein Holzhaus mit prächtigen Schnitzereien gesperrt. Damals beneidete ich sie, denn man hatte sie ja als Göttin auserwählt. Andererseits wirkte sie traurig. Sicher hätte sie gern so ungezwungen gespielt wie ich. In Thailand hatte ich den unangenehmen Geruch der Durianfrüchte in der Nase, während wir die Khlongs von Bangkok hinabglitten. Schmetterlinge von unglaublicher Größe und Farbe umflatterten mich, als wir durch den Dschungel wanderten. Beim Queren von riesigen Pfützen und überquellenden Flüssen saugten sich schwarze Blutegel auf unseren Füßen fest, während von oben sturzbachartiger Regen auf uns niederprasselte. Für mich, die in der Wüste aufgewachsen war, war das die erste Begegnung mit den vielen verschiedenen Grüntönen der Tropen. Als Studentin ging ich dann während der Semesterferien auf Entdeckungsreisen, und mein Staunen über die Wunder dieser Erde hörte niemals auf.

Es gibt so viele Orte, die ich meinen Jungs gerne gezeigt hätte. Orte, an denen ich gewesen bin, die ich gesehen habe. Aber auch Orte, die ich nicht besuchen konnte. Zum Beispiel Indien, um Coracle-Boote im Fluss Hampi treiben zu sehen und Geschichten über die älteste Zivilisation zu hören. Vietnam, um bei einer Garküche Butterkrebse zu essen, während die Zukunft in Form von Hochstraßen und Wolkenkratzern um einen herum Gestalt annimmt. Kalifornien, wo alles super-sized ist, auch der Optimismus und das Selbstbewusstsein der attraktiven, mit Gel frisierten Einheimischen. Afrika, um die nebelumflorten tausend Berge Ruandas zu sehen und nachzuvollziehen, wie ein Volk sich selbst zerstören und innerhalb einer Generation wiederauferstehen kann, weil Geschichte kein Todesurteil ist. Ägypten oder vielleicht auch Marokko, um Souks, Pyramiden, Riads und die klaren, aber faszinierenden Formen der islamischen Kunst zu bewundern. Hohe Berggipfel, um das Glück der Einsamkeit zu spüren, während man mit dem lautlosen Sessellift über tiefe Schneeverwehungen gleitet. Glasklare tropische Seen, um unter Wasser eine andere Welt zu erkunden, in der Schildkröten und Rochen durch Schwärme fantastisch bunter Fische gleiten.

Ich werde all diese Orte nicht mit meinen Kindern besuchen können. Aber ich male mir oft aus, wie und wo sie den Zauber spüren werden, der sie die Welt noch einmal ganz anders erleben lässt. Vielleicht ist der Moment ja schon vorbei, vielleicht geschah es damals im Botanischen Garten von Cambridge. Dort liefen wir um den See, stiegen auf Berge, erforschten Dschungel und überquerten Flüsse auf Trittsteinen – und waren doch nur eine Meile von unserem Haus entfernt. Oder vielleicht passierte es an einem anderen Ort, etwa, als wir die Füße vorsichtig auf die glitschigen Steine des Giant’s Causeway in Nordirland setzten, während die Sagen von Finn McCool noch in uns nachhallten. Oder in dem magischen Haus in Frankreich, das mein Vater einst gebaut hat. Dort regnet es nie, der Swimmingpool ist immer blau, und unter der Veranda lebt eine Schlange namens Oliver Cromwell.

Was ich damit sagen will: Ich weiß nicht, wie sie die Welt erleben werden, jedenfalls werde ich sie nicht mehr dabei begleiten können. Ich hoffe aber, dass sie die unglaubliche Vielfalt der Welt genauso aufregend finden werden wie ich. Aber auch zu Hause ist es toll. Sie sollen wissen, dass sie keinen Reisepass brauchen, um den Zauber dieser Welt zu erleben. Sie brauchen nur die Augen aufzumachen. Mein Vater ist das beste Beispiel dafür. Wie ich reist er leidenschaftlich gern. Einmal erzählte er mir, er habe den Zauber der Welt an den wilden Klippen von St. David in Wales gefunden, als er noch ein langhaariger, kiffender Student gewesen sei (das war in den Siebzigerjahren). Aber das stärkste Gefühl von Ehrfurcht empfindet er immer in der kleinen Welt, die ihn umgibt. Denn er hat die Gabe, in den winzigsten Details etwas Besonderes zu entdecken. In dem Schwung des weißen Blütenblatts einer Tulpe, in der Krümmung eines Asts über einem See, in der perfekten Anordnung der grünen Hügel und der Kalksteinplateaus in der Nähe des Hauses, das er in Frankreich gebaut hat. Wie bei Emily Dickinson besteht seine Heilige Dreifaltigkeit aus der Biene, dem Schmetterling und der Brise.5 Er ist ein Mensch, der Glück aus seiner unmittelbaren Umgebung bezieht, jemand, der sich wie Thomas Hardy als einen Mann sieht, der solche Dinge zu bemerken pflegt.6

Wie merkwürdig, wie wunderbar ist es, dass diese Fähigkeit, sich verzaubern zu lassen, dieses Gefühl für das Erhabene, so eng mit dem Fortschreiten meiner Krankheit verwoben ist. Wie erstaunlich, dass sich Ruskins »Pflicht zur Freude« an der Welt in mir verstärkt hat, während mein Körper gleichzeitig schwächer geworden ist.

Bevor ich aber fortfahre, erzähle ich zunächst einmal die Geschichte des Krebses in meinem Innern, jener Bestie, die ich den »Plagegeist« nenne. Er ist der Rahmen für alles, was noch folgt.

Ich hatte schon immer eine empfindliche Verdauung. Wahrscheinlich Reizdarmsyndrom, dachte ich mir. Und mein Aufenthalt in Indien, wo ich nach der Uni ein paar Monate unterrichtete, hat es nicht gerade besser gemacht. Schon nach wenigen Wochen lebte ich praktisch nur noch von Gulab Jamun, einer klebrigen indischen Süßspeise. Alles andere, was es in der Mensa gab, auch das zunächst unverdächtig scheinende Fladenbrot Paratha, hatte zur Folge, dass ich stundenlang über dem Stehklo hockte oder fluchtartig aus der Schulversammlung rannte, um mich in die Blumenbeete zu übergeben. Bald hatte ich irgendeinen Parasiten im Verdacht, sich in meinen Innereien herumzutreiben. Als ich wieder zu Hause war, gab ich ihm eine volle Ladung Antibiotika, aber irgendetwas schien sich da drinnen festgesetzt zu haben. Auf typisch britische Art ignorierte ich das Problem dann jahrelang tapfer. Ich hatte ohnehin keine Zeit, mich damit zu befassen, denn inzwischen bastelte ich fleißig an meiner Karriere und hatte mich obendrein verliebt.

Erst als ich eine berufliche Pause einlegte und aus London wegging, nahm ich mir vor, mich einmal durchchecken zu lassen. Wir waren nach Cambridge gezogen, wo Billy sein Technologie-Start-up aufbaute; er hatte es in dem Monat gegründet, in dem wir unser allererstes Date hatten. Das war 2004. Jetzt war ich an der Reihe, nach London zu pendeln, aber ich hatte keine Lust darauf, genauso wenig wie auf das wahre Leben. Darum schrieb ich mich wieder an der Uni ein und machte meinen Master. Als Studentin hatte ich wieder viel mehr Zeit und konnte mich endlich um meine Gesundheit kümmern. Meine Hausärztin überwies mich ins Krankenhaus, wo sie mir eine kleine Kamera in den Hintern schoben. Der Facharzt fand aber nichts Beunruhigendes und riet mir lediglich, in Zukunft mehr Ballaststoffe zu essen, um meine Verdauung in den Griff zu bekommen. Damals war ich allerdings noch nicht die Expertin in Sachen Darmgesundheit, die ich heute bin, und wusste daher nicht, dass ich nur eine »kleine« Darmspiegelung bekommen hatte. Das heißt, die Kamera wurde nur ein Stück weit in meinen Darm eingeführt, nicht bis ganz oben. Hätte die Kamera ein bisschen weiter gucken können, hätte der Arzt vermutlich ein Adenom entdeckt, einen Polypen in meinem Darm, der eine Krebsvorstufe darstellte. Er hätte ihn herausgeschnitten, eine große Darmspiegelung durchgeführt – und das Leben wäre weitergegangen wie geplant. Aber so ist es eben nicht gelaufen. Dummerweise habe ich dann allen Ärzten, die danach kamen, voller Überzeugung mitgeteilt, ich hätte eine große Darmspiegelung ohne Befund gehabt, und alles da drinnen sei total in Ordnung.

Die darauffolgenden Jahre verliefen turbulent, wenn auch aus anderen Gründen. Da ich (vermeintlich) wieder ganz fit war, wurde ich 2008 schwanger. In der zwölften Woche verriet der Ultraschall, dass zwei kleine Schwimmer in meiner Gebärmutter herumplanschten. Zwillinge. Billy und ich waren sprachlos. In unseren Familien hatte es noch nie Zwillinge gegeben – genauso wenig wie Krebs. Was sagen die Statistiker zum Thema Zwillinge? Die Chance auf eine Zwillingsgeburt beträgt eins zu achtzig, das ist erheblich wahrscheinlicher, als im Alter von vierunddreißig die Diagnose Darmkrebs zu bekommen – da beträgt die Quote nur eins zu zwanzigtausend. Aber zurück zu unserer Geschichte. Im Mai 2009 wurden die kleinen Schwimmer geboren, gesund und genau zum berechneten Datum. Ich war Mutter mit Leib und Seele, ganz, wie die Natur es vorgesehen hat. Auf einer Welle von Oxytocin dahingetragen, fühlte ich mich – bis auf den ständigen Schlafmangel – glücklicher und gesünder denn je.

Das Leben als Mutter war anstrengend, und die Energie, die mir blieb, steckte ich in meinen Job. Noch mitten in meinem Masterstudium hatte ich die African Governance Initiative