Deutsches Kaiserreich - Volker Ullrich - E-Book

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Volker Ullrich

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Beschreibung

FISCHER KOMPAKT. Verlässliches Wissen kompetent, übersichtlich und bündig dargestellt. Volker Ullrich bietet einen vorzüglichen Überblick über die Geschichte des deutschen Kaiserreichs. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Volker Ullrich

Deutsches Kaiserreich

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Inhalt

GrundrissVorbemerkungWirtschaft, Gesellschaft, Bildung, WissenschaftDie Ära BismarcksDas wilhelminische DeutschlandDer Weg in den WeltkriegDas Ende des KaiserreichsFazitVertiefungenDie VerfassungDer »Gründerkrach« 1873Parteien und InteressenverbändeFrauen und FrauenbewegungMilitarismusAntisemitismusNervöse ZeitenDer HererokriegDas »Augusterlebnis« 1914Die Julikrise 1917KriegsschuldfrageAnhangZeittafelGlossarLiteraturhinweiseAbbildungsnachweise:[Bildteil]

Grundriss

Vorbemerkung

In seinem Vortrag »Deutschland und die Deutschen«, gehalten nur wenige Wochen nach dem Ende der Nazi-Barbarei in der Library of Congress in Washington, hat Thomas Mann bemerkt: »Durch Kriege entstanden, konnte das unheilige Deutsche Reich preußischer Nation immer nur ein Kriegsreich sein. Als solches hat es, ein Pfahl im Fleische der Welt, gelebt, und als solches geht es zugrunde.« Dieses Urteil belegt, warum die Interpretation des deutschen Kaiserreichs von 1871 bis heute Gegenstand anhaltender Kontroversen ist. Es geht hier nicht nur um das Kaiserreich selbst, das 1918 mit dem Sturz der Hohenzollernmonarchie sang- und klanglos endete, sondern zugleich immer auch um den Ort, der ihm in der Vorgeschichte von Hitlers »Machtergreifung« 1933 zugemessen wird. Kaum eine Periode der deutschen Geschichte, mit Ausnahme der zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur, ist mittlerweile so intensiv erforscht worden. Ein wichtiger Anstoß für eine Neubewertung ging von dem großen Werk des Hamburger Historikers Fritz Fischer über die deutsche Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg, »Griff nach der Weltmacht« (1961), aus. Mit ihm war die Frage nach der Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland zwischen Bismarck und Hitler aufgeworfen. Die Vertreter der kritischen Sozialgeschichtsschreibung, die seit Ende der 1960er Jahre der traditionellen Politikgeschichte den Rang abliefen, nahmen diese Frage auf. Als Hauptmerkmal des Kaiserreichs (und damit als entscheidende Bedingung des deutschen »Sonderwegs«) galt ihnen die Kluft zwischen rasanter ökonomisch-gesellschaftlicher und ausgebliebener politischer Modernisierung. Diese These, die am prägnantesten Hans-Ulrich Wehler in seinem vielfach aufgelegten Buch »Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918« (1973) entwickelte, beherrschte für längere Zeit das Bild vom Kaiserreich, ist allerdings mittlerweile auch vom Bielefelder Historiker im dritten Band seiner »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« (1995) zwar nicht ganz aufgegeben, wohl aber deutlich abgeschwächt worden.

Mit der Ausweitung der Perspektiven und Methoden, unter anderem auf die Kulturgeschichte, hat sich das Urteil der Historiker über das deutsche Kaiserreich differenziert. Es sind die zum Teil frappierenden Widersprüche und Ambivalenzen, denen sie nun verstärkt ihre Aufmerksamkeit zuwenden. Die Geschichte des deutschen Kaiserreichs wird dadurch komplexer und vielschichtiger. Eine notwendig auf das Wesentliche beschränkte Einführung wie diese kann nicht alle Facetten der weitverzweigten Forschungsdiskussionen berücksichtigen. (Dazu verweise ich auf meine Darstellung »Die nervöse Großmacht 1871–1918«). Hier kommt es auf die Hauptlinien an. Das Kaiserreich war nicht von allem Anfang an auf Scheitern und Untergang abonniert; es lässt sich auch nicht auf eine bloße Vorgeschichte des »Dritten Reiches« reduzieren. Dennoch dürfen die Belastungen nicht aus dem Auge verloren werden, die Keime des kommenden Unheils in sich bargen.

Wirtschaft, Gesellschaft, Bildung, Wissenschaft

Im Jahr des Kriegsausbruchs 1914 bemerkte ein französischer Beobachter der deutschen Verhältnisse: »Das arme Deutschland, das 1870 auf der ökonomischen Landkarte kaum mehr als ein weißer Fleck war, ist in kaum mehr als 40 Jahren zu einer der großen Weltmächte aufgestiegen.« Tatsächlich konnte das deutsche Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs, was seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit anging, auf eine imponierende Erfolgsgeschichte zurückblicken. In den vier Jahrzehnten seit der Reichsgründung von 1871 hatte es sich zum dynamischsten Industriestaat Europas entwickelt. Zwischen 1871 und 1913 stieg die Industrieproduktion um das Fünffache. Bei der Förderung von Steinkohle und der Erzeugung von Stahl und Eisen war England, das Mutterland der Industriellen Revolution, vom ersten Platz verdrängt worden. Aber auch in den »neuen Industrien«, der Elektrotechnik und der Chemieindustrie, aus denen die Wachstumsdynamik ihre stärksten Impulse bezog, waren deutsche Unternehmen führend auf den Weltmärkten tätig, bei einigen Produkten, etwa bei synthetischen Farbstoffen und Pharmazeutika, hatten sie sich sogar eine monopolähnliche Stellung erobert. Allerdings steckte die Automobilindustrie, die Zukunftsindustrie des 20. Jahrhunderts, vor 1914 noch in den Kinderschuhen. Ein Auto zu besitzen, war ein Luxus, den sich nur wenige Wohlhabende leisten konnten.

Wie immer in kapitalistischen Industriewirtschaften verlief der Aufschwung nicht geradlinig, sondern in Zyklen. Auf die überhitzte Konjunktur der Gründerjahre folgte mit dem sogenannten »Gründerkrach« von 1873 zunächst ein scharfer Einbruch. Daran schlossen sich zwei Jahrzehnte eines verlangsamten, von Krisen und Störungen begleiteten Wachstums an. Doch seit Mitte der 1890er Jahre setzte eine beispiellose Hochkonjunktur ein, die, von zwei kurzen Unterbrechungen (1900/01 und 1907/08) abgesehen, bis zum Ersten Weltkrieg anhielt. In den Erinnerungen vieler Zeitgenossen lebte diese Phase einer Dauerprosperität fort als ein »goldenes Zeitalter«, in dem scheinbar nichts mehr den Aufstieg Deutschlands an die Spitze der Industrienationen bremsen konnte.

Eine wesentliche Bedingung für die einzigartige Erfolgsbilanz war das enge Zusammenwirken von industrieller Produktion und wissenschaftlicher Innovation. Die großen Chemieunternehmen – die Badische Anilin und Soda Fabrik (BASF) in Ludwigshafen, die Farbwerke Hoechst bei Frankfurt am Main und die Bayer-Werke in Leverkusen – beschäftigten vor 1914 Hunderte von akademisch ausgebildeten Chemikern. Aus ihren Forschungslabors gingen die Erfindungen hervor, die ihnen gegenüber den Konkurrenten einen technologischen Vorsprung sicherten. Das auffälligste Merkmal der Unternehmensentwicklung vor 1914 war die Tendenz zum Großbetrieb. Mit mehr als 73000 Beschäftigten im Jahr 1913 war die Firma Krupp, die Rüstungsschmiede des Kaiserreichs, der Spitzenreiter, gefolgt von Siemens, dem Elektrogiganten mit knapp 43000 Beschäftigten. In Betrieben dieser Größenordnung ballte sich nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Macht, denn von den Entscheidungen ihres Managements hing das Schicksal von zehntausenden von Arbeitsplätzen ab. Von den 100 größten deutschen Industrieunternehmen waren 1907 bereits 77 als Aktiengesellschaften organisiert. Besonders in den wachstumsintensiven Branchen herrschte ein enormer Bedarf an Kapital; das stellten die deutschen Großbanken zur Verfügung. So beteiligte sich die Deutsche Bank, seit der Jahrhundertwende unbestrittener Branchenprimus, bei Auf- und Ausbau der Elektroindustrie, unter anderem durch ihr Engagement bei der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft (AEG) Emil Rathenaus. Durch eigene Vertreter in den Aufsichtsräten sicherten die Kreditgeber ihren Einfluss auf die Unternehmen ab. Die enge Kooperation zwischen Großindustrie und Großbanken trieb den Prozess der Konzentration mächtig voran. Damit verknüpft war die Bildung von Kartellen, die das Ziel verfolgten, Produkte und Preise einer Branche im Interesse ihrer Mitglieder zu regulieren. Besonders erfolgreich agierte hier das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat von 1893 unter Führung Emil Kirdorfs, des Generaldirektors der Gelsenkirchener Bergwerks-Aktiengesellschaft. Trotz des unaufhaltsamen Siegeszugs der Großunternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten war die überwiegende Zahl der Erwerbstätigen immer noch in Betrieben kleiner oder mittlerer Größe beschäftigt. Das Handwerk konnte sich, allen Untergangsprophetien zum Trotz, überraschend gut behaupten, wenn auch um den Preis schmerzhafter Anpassungsprozesse an gewandelte Bedürfnisse, Und auch die Landwirtschaft blieb ein wichtiger Zweig der Volkswirtschaft. 1913 fand hier immerhin noch jeder dritte Erwerbstätige im Kaiserreich eine Beschäftigung.

Montagehalle in der Großmaschinenfabrik der AEG in Berlin, um 1900.

Zwischen 1871 und 1913 wuchs die Bevölkerung von 41 auf 67 Millionen. Das deutsche Kaiserreich war damit nach Russland der bevölkerungsreichste Staat Europas. Diese außerordentliche Zunahme war vor allem zurückzuführen auf einen Rückgang der Sterblichkeit, sowohl bei Säuglingen als auch bei alten Menschen. Die Fortschritte in der medizinischen Versorgung spielten hier eine Rolle, aber auch gesündere Ernährung und verbesserte Hygiene. Hatte die durchschnittliche Lebenserwartung 1871 noch bei 38,5 Jahren für Frauen und 35,6 Jahren für Männer gelegen, so erhöhte sie sich bis 1910 auf 48,3 Jahre für Frauen und 44,8 Jahre für Männer. Noch bis in die frühen 1890er Jahre wanderten Jahr für Jahr Hunderttausende von Deutschen aus, ganz überwiegend in die Vereinigten Staaten, weil ihnen der deutsche Arbeitsmarkt keine ausreichenden Beschäftigungsmöglichkeiten bot. Doch mit der einsetzenden Hochkonjunktur seit 1895 trat anstelle der Auswanderung die Binnenwanderung – von den agrarischen Gebieten des Ostens in die expandierenden Industriegebiete des Westens. Sie verlangte den Menschen ein bislang nicht gekanntes Maß an Mobilität ab. 1871 war noch nicht einmal jeder zwanzigste Deutsche Großstädter, 1910 war es bereits jeder fünfte. An der Spitze rangierte die Reichshauptstadt Berlin mit 2,07 Millionen Einwohnern, gefolgt von Hamburg (932000) und München (596590). Besonders dramatisch vollzog sich der Prozess der Verstädterung im Ruhrgebiet. Eine Gemeinde wie Hamborn, die 1895 gerade 6000 Köpfe zählte, hatte sich bis 1910 in eine Großstadt mit mehr als 100000 Einwohnern verwandelt, darunter viele Polen aus den preußischen Ostprovinzen.

Trotz allmählicher Verbesserung der Lebensbedingungen war die Gesellschaft des Kaiserreichs durch ein hohes Maß an Ungleichheit gekennzeichnet. »Aufgang nur für Herrschaften« – solche Schilder an vornehmen Bürgerhäusern waren typisch: Scharf markierte Grenzen trennten die verschiedenen Klassen, Schichten und Milieus. Den obersten Platz in der sozialen Rangordnung nahm der Adel ein. Obwohl die Bedeutung der Großlandwirtschaft mit dem aufkommenden Industriekapitalismus nicht Schritt halten konnte, gelang es dem ostelbischen Junkertum erstaunlich gut, seinen privilegierten gesellschaftlichen und politischen Status zu verteidigen und die wichtigsten Positionen in Bürokratie, Diplomatie und Armee zu besetzen. Am deutlichsten machte sich das Übergewicht der preußischen Aristokratie im Offizierskorps bemerkbar. Dessen Sozialprestige war durch die drei erfolgreichen Einigungskriege von 1864, 1866 und 1870 spürbar aufgewertet worden. »Es gibt keine höhere Funktion als die des Offiziers«, beobachtete ein Besucher aus Norwegen im Jahr 1907, »sie überragt alle Zivilämter. Die Offiziere bilden die oberste Klasse der Gesellschaft.« Die Ausnahmestellung des Militärs spiegelte sich im Alltag unter anderem darin, dass Offiziere in Restaurants bevorzugt bedient wurden, Schaffner ihnen die besten Plätze anwiesen oder Zivilisten ihnen auf dem Bürgersteig bereitwillig Platz machten (Militarismus).

Zu den Spitzen der Gesellschaft zählten, nach der adligen Machtelite, die Repräsentanten des Wirtschaftsbürgertums – Fabrikanten, Bankiers, Großkaufleute, Manager. Ihrer Innovations- und Risikobereitschaft verdankte sich der fulminante Aufstieg der deutschen Industriewirtschaft; sie waren aber auch die gesellschaftliche Gruppe, die den größten materiellen Nutzen aus dem anhaltenden Boom seit Mitte der 1890er Jahre zog. Mit dem frisch erworbenen Reichtum wuchs die Versuchung, sich Statussymbole zuzulegen, die bislang mit der exklusiven Sphäre adligen Lebensstils assoziiert waren. Dazu gehörte der Erwerb eines Ritterguts, mit Schloss und ausgedehntem Grundbesitz. Eine Aufhebung der sozialen Trennlinien zwischen Adel und Bourgeoisie war damit nicht verbunden; die These von einer »Feudalisierung« des deutschen Großbürgertums, wie sie die Sozialgeschichtsschreibung der Bundesrepublik lange Zeit beherrschte, hat sich als nicht zutreffend erwiesen. Allerdings besaßen führende Vertreter der wirtschaftsbürgerlichen Oberschicht Zugang zur Berliner Hofgesellschaft, dem inneren Zirkel der Macht im Kaiserreich. Einige von ihnen, so der Ruhrindustrielle Friedrich Alfred Krupp oder der Hamburger Reeder Albert Ballin, pflegten freundschaftliche Beziehungen zu Kaiser Wilhelm II. Mit Orden und Auszeichnungen honorierte der monarchische Staat die loyale Gesinnung der großbürgerlichen Elite. Beliebt war unter Unternehmern und Spitzenmanagern der Titel »Kommerzienrat«, noch beliebter der »Geheime Kommerzienrat«.

Nicht nur, was das gesellschaftliche Prestige, sondern auch was das Einkommen betraf, konnte sich das Bildungsbürgertum im Kaiserreich mit dem Wirtschaftsbürgertum nicht messen. Zu dieser Schicht gehörten Universitätsprofessoren, Gymnasiallehrer, Pfarrer, Richter, Rechtsanwälte, Ärzte – also Berufsgruppen, die in der Regel das Gymnasium besucht und anschließend studiert hatten. Dem robusten Optimismus im Unternehmerlager entsprach um die Jahrhundertwende unter Bildungsbürgern ein Krisenbewusstsein mit stark kulturpessimistischem Einschlag – jene oft zitierte Fin-de siècle-Stimmung, die auch in Literatur und Malerei ihren Ausdruck fand (Nervöse Zeiten). Dabei war, wie so oft, die Lage besser als die Stimmung. Denn mit dem Ausbau des Bildungs- und Gesundheitswesens, von Verwaltung und Justiz, der Professionalisierung der freien Berufe eröffneten sich auch neue Berufschancen auf dem akademischen Stellenmarkt.

Bei allen Unterschieden der Lebensführung trafen sich Wirtschaftsbürgertum und Bildungsbürgertum doch in der gemeinsamen Bewunderung des Militärs (Militarismus). Das zeigte sich am deutlichsten in der Anziehungskraft, die das Patent des Reserveoffiziers als nutzbringendes Vehikel für die zivile Karriereplanung auf diese Kreise ausübte. »Wir müssen mit der Welt und dem Leben rechnen, wie es zur Zeit ist, und da steht fest, daß dir das Fehlen der Offiziersqualität schaden, der Besitz dieser Qualität nur nutzen kann«, mahnte der Hamburger Bürgermeister Johann Georg Mönckeberg im Jahr 1896 seinen dienstunwilligen Sohn.

Einem tiefgreifenden Wandel war vor 1914 das Kleinbürgertum unterworfen, und zwar in seinen beiden Kerngruppen, dem »alten« Mittelstand (Handwerker und Kleinhändler) und dem »neuen« Mittelstand (den Angestellten). Manche Handwerkszweige – etwa Schneider, Schuhmacher oder Tischler – wurden durch die Massenfabrikation verdrängt oder fristeten eine Kümmerexistenz; andere, zum Beispiel die neuen, auf Installation, Reparatur und Wartung technischer Geräte spezialisierten Branchen, zogen Nutzen aus Industrialisierung und Verstädterung. Viele Einzelhändler wiederum sahen sich seit den 1890er Jahren durch die neu entstehenden Warenhäuser in ihrer Existenz bedroht. Je realer die Ängste vor einem Abstieg waren, desto entschiedener grenzten sich Handwerker und Kleinhändler »nach unten«, von der Industriearbeiterschaft ab. Das galt auch für die neue Sozialformation der Angestellten, deren Zahl sowohl in Privatunternehmen als auch in staatlichen und kommunalen Behörden stark zunahm (von 5000001882 auf 1,7 Millionen 1907). Obwohl ihr Verdienst häufig nicht viel höher lag als der eines qualifizierten Arbeiters pochten sie auf den Statusunterschied und suchten das Modell bürgerlicher Lebensführung zu kopieren.

Von allen Erwerbsklassen verzeichnete die Industriearbeiterschaft den größten Zuwachs (Ihre Zahl stieg von 4,1 Millionen 1882 auf 8,6 Millionen 1907). Als soziale Gruppe war sie keineswegs homogen; Geschlecht, Alter, regionale Herkunft, berufliche Qualifikation und konfessionelle Zugehörigkeit sorgten für mancherlei Abstufungen und Differenzierungen. Andererseits schärften die Gemeinsamkeiten der proletarischen Lebenswelt das Bewusstsein der Zugehörikeit zu einer Klasse. Zwar sank die tägliche Arbeitszeit von durchschnittlich zwölf Stunden in den 1870er Jahren auf elf, schließlich auf zehn Stunden bis 1914. Da aber sechs Tage in der Woche gearbeitet wurden, blieb für Freizeit und Entspannung allenfalls der Sonntag. Urlaub war für Arbeiterfamilien noch ein Fremdwort. Obwohl die Reallöhne langsam, aber kontinuierlich stiegen – 1913 lagen sie um 25 Prozent über dem Niveau von 1885 –, war die Masse der Arbeiterschaft von einer gesicherten Existenz noch weit entfernt. Immer noch wurde der größte Teil des Einkommens von den Grundbedürfnissen – Nahrung, Wohnung, Kleidung – aufgezehrt. Und nach wie vor gab es für die Risiken des Arbeiterdaseins – Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit – keine soziale Absicherung. Ebenso bedrängend blieb des Problem der Altersarmut; sie drohte relativ früh, mit vierzig Jahren, wenn die physische Leistungsfähigkeit nachließ.

Eher noch schlechter war es um die Lage der Landarbeiter – Knechte, Mägde, Tagelöhner – bestellt. Die meisten von ihnen wohnten auf den Höfen der Arbeitgeber und erhielten neben Kost und Logis ein bei Dienstantritt vereinbartes schmales Entgelt. Zu Erntezeiten war die Arbeitszeit faktisch unbegrenzt. »Wir arbeiteten, wir aßen, wir schliefen – und arbeiteten wieder, ganz so wie Ackerpferde: hüh, hott und prr«, so beschrieb Franz Rehbein in seiner Autobiographie »Leben eines Landarbeiters« von 1911 den ewig gleichen Tagesablauf. Außerdem waren auf dem Lande noch Gesindeordnungen in Kraft, die dem Dienstherrn unter anderem ein »Züchtigungsrecht« einräumten. Das macht verständlich, warum viele Landarbeiter bald den Wunsch verspürten, diesen Zwängen zu entkommen und einen Arbeitsplatz in den expandierenden Industriestädten zu suchen. Seit der Jahrhundertwende schloss sich eine wachsende Zahl von Tagelöhnerinnen und Mägden dem Zug der Männer in die großen Städte an, um sich hier als Dienstmädchen zu verdingen (Frauen und Frauenbewegung). »Landflucht« war so auch eine Form des Sozialprotests, den die ostelbischen Gutsbesitzer damit beantworteten, dass sie eine immer größere Zahl von ausländischen Saisonarbeitern anheuerten.

Die gesellschaftliche Ungleichheit im Kaiserreich wurde reproduziert durch ein Bildungssystem, das den Unterschichten nur wenig Aufstiegschancen bot. Dennoch war auch hier manches in Bewegung. Die Fortschritte in Wissenschaft und Technik, Bevölkerungswachstum und Mobilität erzwangen Korrekturen, die Verbesserungen mit sich brachten. Vor 1914 war die Volksschule tatsächlich noch eine Schule des Volkes. Für 90 Prozent aller schulpflichtigen Kinder blieb sie das einzige Tor zur Bildung. Um 1890 lag die Zahl der Analphabeten bereits unter einem Prozent – eine auch im internationalen Vergleich bemerkenswerte Errungenschaft. Allerdings blieb der traditionelle Unterschied zwischen Stadt- und Landschulen bestehen. Während in der Stadt durch Vermehrung der Lehrerstellen die Klassenfrequenzen allmählich gesenkt werden konnten, war auf dem Lande die einklassige Dorfschule immer noch die Regel. Das heißt, dass ein Lehrer alle Kinder zwischen 6 und 14 Jahren in einem Raum unterrichten musste. Das Gymnasium mit seiner starken Betonung der alten Sprachen Griechisch und Latein büßte bereits vor der Jahrhundertwende sein Monopol auf das Abitur als Voraussetzung für das Universitätsstudium ein. Daneben gewannen das Realgymnasium (mit Latein, aber ohne Griechisch) und die Oberrealschule (ohne Latein, mit Schwerpunkt auf den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern) zunehmend an Bedeutung. Allerdings blieb das Gymnasium mit einem Anteil von 60 Prozent der Abiturienten im Jahr 1914 nicht nur die am häufigsten frequentierte, sondern auch prestigeträchtigste höhere Schule. Sie rekrutierte ihre Zöglinge nach wie vor vor allem aus dem Bildungsbürgertum, während Realgymnasium und Oberrealschule von Kindern aus dem Wirtschaftsbürgertum und dem »alten« Mittelstand favorisiert wurden. Unverkennbar war auch eine Tendenz zur sozialen Öffnung der Gymnasien für aufstiegsorientierte Schichten, insbesondere für Söhne von Volksschullehrern, kleinen Beamten und Bauern. Doch Kinder aus Arbeiterfamilien waren vor 1914 an höheren Schulen noch kaum zu finden. Der Klassencharakter des Schulsystems blieb somit im Wesentlichen unangetastet.

Nach 1871 nahmen die Versuche zu, die Schulen in den Dienst einer »vaterländischen Erziehung« zu stellen. Im Unterricht sollten die Verdienste der Hohenzollerndynastie ins rechte Licht gerückt, Gehorsam, Disziplin und Respekt vor den Autoritäten als oberste Tugenden den Kindern von früh an eingebläut werden. Vor allem sollten sie gefeit werden gegen die »den göttlichen Geboten und der christlichen Sittenlehre widersprechenden Lehren der Sozialdemokratie«, wie Kaiser Wilhelm II. in einer Kabinettsordre 1889 forderte. Die wilhelminische Schule ist daher auch nicht zu Unrecht als eine Dressuranstalt für Untertanen bezeichnet worden. An der Volksschule regierte noch vielfach der Rohrstock, und in den Gymnasien erschöpfte sich die »humanistische Bildung« allzuoft in einem sturen Paukbetrieb. »So waren Ovid, Vergil, Cicero, Homer nichts als lästige Schullektüre, für den nächsten Tag mühselig mit dem Wörterbuch vorzubereitende Satzkonstruktionen, die seelenlos an uns vorüberzogen«, erinnerte sich ein Gymnasiast aus der oberschlesischen Stadt Gleiwitz an seine Schulzeit am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Gewiss, es gab auch Gegenströmungen, etwa in Gestalt reformpädagogischer Konzepte, die um die Jahrhundertwende aufkamen und in den Landerziehungsheimen von Hermann Lietz oder der Freien Schulgemeinde von Gustav Wyneken praktisch erprobt wurden. Doch das blieben interessante Experimente, die bis zum Ende des Kaiserreichs noch keine Breitenwirkung entfalteten.

Alte Bäuerin aus Zäckericker Loose/Oderbruch, um 1910.

Die Universitäten des Kaiserreichs genossen auch international einen ausgezeichneten Ruf. Sie galten als Modell für die geglückte Verbindung von Forschung und Lehre. Von den 42 Nobelpreisen für Physik, Chemie und Medizin, die zwischen 1901 und 1914 vergeben wurden, entfielen allein 14 auf deutsche Wissenschaftler. Unter der Ägide Friedrich Althoffs, von 1897 bis 1907 Leiter der Unterrichtsabteilung im preußischen Kulturministerium, wurde der Ausbau des Hochschulsystems forciert. Zu den bereits bestehenden Universitäten kamen drei weitere (Straßburg, Münster, Frankfurt am Main), dazu elf Technische Hochschulen, die sich der besonderen Förderung Wilhelms II. erfreuten. Der Kaiser hatte erkannt: »Das neue Jahrhundert wird beherrscht durch die Wissenschaft, inbegriffen die Technik, und nicht wie das vorige durch die Philosophie. Dem müssen wir entsprechen.« So war er auch gegenüber der Idee aufgeschlossen, eine außeruniversitäre Einrichtung zu schaffen, die vor allem der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung dienen sollte. Die 1911 gegründete Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft in Berlin-Dahlem wurde zum Vorbild für eine neue Form der Kooperation zwischen Wirtschaft, Staat und Wissenschaft. Ihre Institutionen zogen hervorragende Gelehrte an, darunter Fritz Haber, den Entdecker der Ammoniaksynthese, und Albert Einstein, den Schöpfer der Relativitätstheorie.

Dem hohen Ansehen von Wissenschaft und Forschung im Kaiserreich entsprach das hohe Sozialprestige der Professoren. Allerdings war die akademische Laufbahn nicht nur unsicher, sondern auch kostspielig, sodass sie eigentlich nur für Söhne aus dem wohlhabenden Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum infrage kam. Das erklärt die relative Homogenität der deutschen Hochschullehrerschaft, was die soziale Herkunft, aber auch was ihre politischen Präferenzen betraf. Der Typ des entschieden liberalen Gelehrten, wie ihn etwa der Althistoriker Theodor Mommsen in der Tradition der »politischen Professoren« der 1848