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Es ist die Geschichte eines halben Lebens. Meines Lebens. Eine Geschichte, wie sie das Leben schreibt, mit Höhen und Tiefen und manchmal auch mit etwas dazwischen. Warum es genau diese Geschichte ist, die es Wert ist geschrieben, erzählt und gelesen zu werden? Weil sie nicht typisch ist. Nicht typisch, genau wie meine Familie und ich. Eine untypische Geschichte über Erlebnisse, den Weg durch Krankheit, Beziehung, Depression, Hoffnung, Lernen, Liebe und Verlust. Ein Kampf, gegen mich selbst, gegen die Depression und gegen das, was mir und meinem Bruder im Weg gestanden hat, um das zu erreichen, was wir nun sind. Bärenbrüder.
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Seitenzahl: 910
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Diese Zeilen widme ich meiner Mama, Bärbel, die mich mein Leben lang begleitet, geschützt und mit ihrem Wesen liebevoll geführt hat. Ich habe durch sie gelernt, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Dass die vielen Lebensfehler mit so viel Liebe erfüllt werden können, dass Wunder geschehen.
Stärke, Licht, Liebe – Im Herzen jetzt und für immer.
Für Bärbel – Bärbsche – Leuchtturm.
Außerdem schreibe ich diese Geschichte für meinen Bruder, Andreas, der mir das Wichtigste im Leben ist. Für dich bin ich und du bist der Grund für meine Kraft. Ich liebe dich von ganzem Herzen.
Für Andreas – Bärenbruder.
Über den Autor:
Christian Eller, geboren am 24. Mai 1990 in München, studierte Umweltingenieurwissenschaften in Darmstadt. Nun widmet er seine Zeit der Promotion. Seine Geschichte füllt die nächsten Seiten.
Vorwort
Sommer 2012
Herbst 2003
Sommer 2003
Winter 2003
Juli 2012
Weihnachten 2003
Sommer 2004
Winter 2004
Sommer 2005
Juni 2012
4-Uhr Woche-Sonntag
4-Uhr Woche-Montag
4-Uhr Woche-Dienstag
4-Uhr Woche-Mittwoch
4-Uhr Woche–Donnerstag
4-Uhr Woche–Freitag
Winter 2005
Sommer 2006
Herbst 2006
Das Jahr 2007
Das Jahr 2008
Frühling 2009
Sommer 2009
Herbst 2009
Frühling 2010
Sommer 2010
4-Uhr Woche-Wochenende
4-Uhr Woche-Montag
4-Uhr Woche-Dienstag
4-Uhr Woche–Mittwoch
Das Ende der 4-Uhr Woche
Herbst 2010
Winter 2010
Frühling 2011
Sommer 2011
Der 24 h-Trip
Herbst 2011
Winter 2011
Frühling 2012
August 2012
Herbst 2012
Winter 2012
Frühling 2013
Sommer 2013
Herbst 2013
Winter 2013
Das Jahr 2014
Alpenbärentour
Nachwort
Dies sind die ersten Zeilen einer Geschichte, meiner Geschichte. Viele Male habe ich begonnen und mir Gedanken über Inhalt, Formulierungen und Schreibstil gemacht. Zu guter Letzt war es die Vorstellung, beim Lagerfeuer zu erzählen, die es mir ermöglichte, diese Seiten zu füllen.
Ich möchte berichten und ich möchte die Erinnerung wahren. Es ist eine subjektive Wahrnehmung und dennoch war ich nie alleine. Jedes Kapitel beginnt mit den Worten meiner Mama, die sie in ihren Tagebüchern und Büchern für meinen Bruder und mich festgehalten hat. Es sind kurze Einblicke; Einblicke mit sehr viel Bedeutung für uns und in unsere Beziehung.
Ein vom Herzen gemeintes Dankeschön an alle, die mich zu dieser Arbeit ermutigt, die mir das Vertrauen geschenkt haben, dass es sich lohnt diese Zeilen zu tippen und dass es interessant ist, diese zu lesen. Ich danke für die Kritik, die ich erhalten habe, die mich nachdenklich gemacht und noch mehr geformt hat, was ich von diesem Buch will und mir wünsche. Wünsche von diesem Projekt und von dieser Art des Erzählens.
Besonders möchte ich Andreas, meiner Mama, Janine und Sarah danken, die für diese Geschichte die größten Begleiter sind. Sie sind die wichtigsten Personen in meinem Leben und kennen mich und mein Wesen in vielen Situationen besser als ich. Ich danke der Kommune, dass sie mir den Glauben an Lebensliebe wiedergegeben hat und in meiner Depression die Gitarre nicht verklingen haben lassen. Die Gelassenheit, das Lockere, das Ehrliche, das Unkomplizierte und Vertraute macht uns aus. Danke für die Kritik. Danke meiner Partnerin Sarah, für das Zuhören eines jeden Kapitels, das Kommentieren, Diskutieren und Einwerfen von Ideen. Danke für die aktive Gestaltung, Formen und Designen dieses Traumes. Es hat uns nähergebracht und vertrauter gemacht. Danke für die Umarmungen in den Momenten, als ich nicht mehr in die Tastatur hauen konnte und die Zuversicht, immer weiter zu machen. Vielen Dank Hannah, dass du voller Euphorie mich zum Schreiben gedrängt hast und das, obwohl wir uns bis zum ersten Drittel des Buches noch nicht einmal kannten oder gesehen hatten.
Ich schreibe, um zu verstehen, um verstanden zu werden und um zu Erzählen. Es ist mein Abenteuer, es mag nicht groß sein, nicht sehr spektakulär und dennoch ist diese Geschichte Wert, erzählt zu werden. Ihr seid eingeladen mit mir einzutauchen und mich zu begleiten durch Zeiten, die vergangen sind und die Gegenwart noch immer beeinflussen. Viel Freude beim Lesen.
„Du hast nun viel erlebt. Vieles war schwer. Du hast viel verloren.
Vieles hat sich verändert. Und vieles Neues wird kommen. Und eines wirst du behalten.
Deine Erinnerungen.“
– 11. August 2011 –
Zu. Das war der letzte. Der letzte Karton. Es waren nur kleinere Gegenstände, Krimskrams darin. Das, was am Ende halt so anfällt, wenn man vorher Bücher, Geschirr, Büromaterial, Bilder, CDs, Instrumente, Töpfe, Kleidung, Wäsche, Akten, und vieles mehr in Kartons eingepackt hat. Der schwerste Teil des Umzugs war damit geschafft. Zumindest, was das Psychische anging. Die Dunkelheit brach an, die letzten Sonnenstrahlen drangen durch die schmalen langen Fenster vom Esszimmer in die Wohnung herein. Sie war nun nahezu leer, es herrschte das geordnete Chaos. Überall Umzugskartons, die Möbel waren abgebaut und vom Leben in ihr war nichts mehr zu finden. Nur die Farben an den Wänden zeigten noch Spuren unserer Geschichte hier. Doch ähnlich wie die vielen ausgefransten Bohrlöcher und die sonnengebleichten Flecken, die die Wände schmutzig und kaputt wirken ließen, war diese Geschichte gebleicht, kaputt. Nein, viel mehr - sie war vorbei. Nicht nur ein Abschnitt, ein ganzes Leben. Vorbei.
Ich hatte nur zwei Glühbirnen in deren Fassungen gelassen. Im Bad, um mir nun ein vorletztes Mal die Zähne putzen zu können und in meinem Kinderzimmer, weil ich beschlossen hatte, dort meine letzte Nacht zu verbringen. Eigentlich war es nicht mehr mein Zimmer gewesen, es war nun Justus’ Kinderzimmer. Ich war bereits vor drei Jahren Hals über Kopf völlig übereilt kurz vor Weihnachten ausgezogen. Warum? Naja, einmal, weil ich endlich wissen wollte, wie es sein würde alleine zu leben, zum Zweiten, weil sich gerade jetzt die Chance für die günstige Wohnung ergeben hatte und zu guter Letzt, weil ich dachte, bis Weihnachten ist der Raum schön, Justus freut sich über ein neues Zimmer und mit diesem Abstand wären wir alle mehr in Weihnachtsstimmung. Das Ergebnis war aber ein halb möbliertes kahles Zimmer und ein großer Streit mit meiner Mutter, wodurch ich an Heiligabend einfach ging. Jetzt war es wieder kahl, noch kahler, die blaue Wandfarbe machte das Zimmer erdrückend kalt. Es standen nur wenige Kartons darin, aber zwischen diesen eine Isomatte und eine Decke. Mein Bett für diese Nacht. Die Letzte.
Da lag ich nun. Ganz alleine. In absoluter Stille. In absoluter Dunkelheit. Ich weinte. Ich schrie. Ich haute auf den kalten harten Boden.
Ich war gerade 22 Jahre alt geworden. War Student für Umweltingenieurwissenschaften und hatte gerade mein 5tes Semester absolviert. Wobei es schwer ist, das genau zu zählen. Die ersten zwei Semester hatte ich in München studiert. Allerdings wollte ich eigentlich nach dem Abitur mal raus aus meiner Heimatstadt, weg, selber was entdecken. Ich fühlte mich manchmal als würde ich in den alten Fußstampfen meiner Kindheit oder der Entdeckungen meiner Mama langlaufen. Doch hatte ich nicht den Mut dazu, zu gehen; den Mut, einfach die Möglichkeiten zu suchen. Aber nach zwei Semestern entschied ich mich dafür. Also wohnte ich nun seit Herbst 2010 in „Mainhattan“. Der Plan war, wieder zurückzukommen. Aber jetzt? Jetzt gab es kein Zurück mehr!
Der Schlaf kam nicht. Meine Gedanken kreisten in dieser Stille, in diesem Zimmer, in dem ich seit ich neun Jahre alt war, geschlafen hatte. Erst zusammen mit Justus, jeder mit seinem Bereich, getrennt durch den blauen langen Vorhang. Er mit seinem Hochbett an meinem flachen Bett, vor dem er so gerne Spielzeug runterwarf um mich zu ärgern oder am Wochenende an der Seite runterkletterte, um sich unter meine Decke zu kuscheln. Es waren viele Möglichkeiten um Höhlen zu bauen und das Zimmer in eine riesige stoffumhüllte Festung zu verwandeln. Das Hochbett wurde oft, mit Flagge ausgestattet, zu einem Piratenschiff. Aus der großen geflochtenen Spielzeugkiste wurden die Holzschwerter gezogen und gegen jede Art von Feind gekämpft. Immer Seite an Seite, gegen Monster oder Erwachsene, die unsere Unordnung wieder beseitigen wollten. Später wurde die Fläche für große Legobauten genutzt, der Luftraum war gesperrte Zone für die Raumschiffe, von denen Justus immer mehr besaß als ich. Mein Bereich war allerdings mit Schreibtisch und somit Arbeitsbereich immer der größere.
Als ich 16 Jahre alt wurde, wurde meine Mama von ihren Freundinnen überredet, dass ich ein eigenes Zimmer brauchte. Somit erhielt ich dieses Zimmer hier, während mein Bruder in unser Esszimmer zog. Es war die einzige aber auch schrecklichste Lösung. Das Esszimmer war das Durchgangszimmer vom Wohnzimmer zur Küche und als wäre dies nicht Strafe genug, hatte es zum Wohnzimmer nicht mal eine Türe. So lebte mein Bruder drei Jahre lang mit einem Vorhang als Verschluss in einem Raum, in dem er sich nicht ausbreiten konnte, da man immer in die Küche kommen musste. Der Kompromiss war, dass große Bauten in mein Zimmer verlagert wurden und ich so schnell wie möglich ausziehen wollte und musste. Allerdings durfte er in meinen pubertären Phasen oder bei Besuch von Freunden oder Freundin nicht rein. Es war eine sonst schöne Wohnung und mit 72 m2 auch groß genug für uns drei. Die Gegend mitten an der Isar und Parkanlage, mit drei Spielplätzen, Basketballplatz und Tischtennisplatten, war für eine so erlebnisreiche intensive Kindheit und Jugend, wie unsere es war, perfekt. Direkt in Bogenhausen; vom Esszimmer konnte man die reichen Villen sehen. Wir lebten im Sozialhaus für städtische Angestellte Münchens. Dort war es billiger.
Nun also nach 13 Jahren in dieser Wohnung waren die Sachen gepackt, am nächsten Morgen kamen Freunde und Möbelwagen und die Fahrt nach Frankfurt. Was für eine Geschichte.
Ich lag auf dem harten Boden. Ich weinte. Ich schlug auf den Boden. Ich schrie. Genau wie das letzte Mal vor neun Jahren.
„Ist es nicht gerade ein Fehler der Erwachsenen sich nur noch sehr wenig in die Welt des Kindes zu versetzen. Ein Kind bin ich in vielen Dingen noch und das wird negativ angesehen. Vielleicht stirbt es bei mir auch aus, irgendwann einmal!“
-17.08.1987–
Überall zierten Kürbisse mit hässlichen Fratzen die Wohnungseingänge und ich lief über die Sonnenblumenfelder zu Finn, meinem besten Freund. Wir waren Sandkastenfreunde. Hatten direkt nebeneinander gewohnt und jeden Tag zusammen gespielt und auch als er mit seinen Eltern wegzog, weil diese noch Zwillinge bekamen und eine größere Wohnung brauchten, hörte unsere Freundschaft nicht auf. Und heute im Herbst 2003 wollten wir gemeinsam spielen und die Zeit totschlagen bis es endlich Abend werden würde. Es war Halloween und unsere Eltern und viele Nachbarn und Bekannte hatten eine große Grillparty an der Isar geplant. In der Nähe des Stauwehrs gab es viele Grillplätze und im Sommer verbrachten wir viel Zeit dort mit Picknicken und Abenteuer erleben im Wasser und im Wäldchen. Für uns Kinder war es ein Traum und eine eigene Abenteuerwelt. Und heute Abend wollten wir dort ein großes Lagerfeuer entfachten und lange aufbleiben. Die Vorfreude war groß und da wir es kaum erwarten konnten, ging ich zu Finn um seine neuen GameBoy-Spiele auszuprobieren.
Der Weg zog sich heute, ich war müde. Fühlte mich nicht ganz so gut. Angekommen lagen wir gleich unten im Hobbykeller, der sein Jugendzimmer war und machten es uns im Bett und Sessel bequem und zockten. Oft hatten wir hier unten auch mit dem Teleskop, einer Magnettafeln und verschiedenen Stäben und Tüchern Raumschiffe gebaut und sind mit diesen ins All geflogen. Dabei haben wir immer wieder Freunde und Verwandte gerettet. Er war dabei der sportlich Starke, dem kein Weltallschurke was anhaben konnte, da er mit Karate, Judo und Kung-Fu alle Arten der Selbstverteidigung beherrschte. Ich dagegen war der Erfinder und konnte aus dem kleinsten Teilchen die größte und mächtigste Waffe schaffen. Es waren unendlich schöne und viele Stunden auf unseren Reisen vergangen.
Später verbrachten wir unsere Nächte dann damit, laut Musik von der EAV, Eminem oder den Ärzten zu hören und dabei Monopoly zu spielen. Wir suchteten es dermaßen, dass ich heute nur beim Anblick des Spieles ein komisches Bauchgefühl bekomme. Wir bastelten eigene Geldscheine, entwickelten neue Regeln mit einer imaginären Spielfigur Bank und funktionierten andere Kleinteile zu Luxushotels um, damit diese Spiele nie ein Ende nehmen würden. Nebenher tranken wir literweise Eistee, den wir aus dem nebenliegenden Vorratsraum nahmen. Wir haben oft Ärger bekommen, weil von den zwölf Litern am Morgen nichts mehr da war. Wir hätten sicher noch ewig gespielt, hätte Finn nicht einen Fernseher und eine Nintendo64 bekommen. Und obwohl wir natürlich nur begrenzte Zeit spielen durften, warteten wir auf den ersehnten Ton der schließenden Schlafzimmertüre der Eltern bis wir nachts den Fernseher anmachten und SuperSmashBros. oder SnowboardKids in die Konsole steckten und mit Link, Mario oder auf den Brettern kämpften beziehungsweise um die Wette fuhren. Es war aufregend, mit einem Ohr immer gespannt auf jedes Geräusch im Haus, und wir haben unzählige Male bei Fehlalarm den Fernseher schnell ausgemacht ohne zu speichern und durften die Spiele immer wiederholen.
Es war eine tolle Zeit, die wir miteinander verbrachten. In der Schulzeit aber auch in den Ferien. Finns Eltern hatten ein Ferienhaus in Kroatien und jeden Sommer durfte ich mitfahren. Anfangs war auch meine Mama dabei, doch später waren es nur noch Finn, seine Eltern, seine Geschwister Petra und Roman und ich. Jahre später war mir auch klar, warum. Ich genoss diese Urlaube, wir verbrachten die gesamte Zeit am Strand mit Schnorcheln. Wir suchten Krebsscheren und Muscheln, versuchten so tief wie möglich zu tauchen oder Fische zu beobachten. Unsere Funde sammelten wir und nahmen sie mit ins Haus. Es war ein ziemlich leeres und eher funktionelles Haus mit einem Stockwerk. Unten war die Küche mit Essenszeile, allerdings wurde sie nie genutzt, weil gegenüber ein Restaurant war. Außerdem war gleich beim Eingang ein kleines Bad mit WC und Dusche. Im ersten Stock befanden sich zwei Schlafzimmer. Eins für die Erwachsenen und eins mit zwei kleinen Betten für die Zwillinge. Finn und ich zogen immer hoch auf den ausgebauten Dachboden. Hier lagerten die Taucherutensilien seines Vaters. Es standen zwei Betten oben und der gesamte Boden war aus Kork. Wir schliefen aber nie in den Betten, sondern bauten uns um das einzige kleine Fenster mit zwei Brettern, einer Decke und den beiden Matratzen eine Betthöhle. Selbstverständlich durfte niemand anderes dort hinein. Dort schliefen wir und spielten GameBoy. Auf der restlichen Fläche hielten wir uns wenig auf, außer wir spiekerten gegen die Dartscheibe. Sie hatte Pfeile mit echten Metallspitzen und keine mit Kinderschutz. Um die Scheibe herum waren im Holz zahlreiche Spuren von unseren schlechten Wurffähigkeiten. Einmal kamen wir auf die total blödsinnige Schnapsidee, uns zu duellieren. Dafür stellten wir uns gegenüber auf und zielten mit dem Pfeil vor die Füße des anderen. Ziel war es, den Pfeil so nah wie möglich vor den Gegner zu werfen, sodass er im Korkboden steckenblieb. Der Andere musste dabei ganz stillstehen. Ich glaube, dreimal ging es gut, bis ich durch Finns Wurf den Pfeil in mein Schienbein bekam. Er steckte richtig fest darin und als wir ihn rauszogen, hatten wir so Angst vor dem Blut und dem Ärger, dass wir mein Bein erstmal mit dem Bleigürtel seines Vaters verbanden. Es hat kaum geblutet, aber wir waren schon zwei Schwachköpfe.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Sebastian, der Vater von Finn, auch ein kleines Motorboot gekauft. Mit diesem konnten wir nun an viele Orte und Strände, die vorher unerreichbar schienen. Unsere Muschelsammlung wurde dadurch erweitert und auch die Freude beim Fahren war unbeschreiblich. Allerdings mussten Finn und ich nach einer solchen Fahrt das Boot immer wieder mit Süßwasser reinigen und den Dreck entfernen, während sein Vater mit den Zwillingen im Hafenrestaurant ein Café und Eis zu sich nahmen. Das habe ich gehasst.
So war Finn mein bester Freund und ich war an diesem Halloween bei ihm. Es war ziemlich dunkel in seinem Kellerzimmer, da die kleinen Fenster durch die Bodengitter nur sehr wenig Licht durchließen. Das machte mich ziemlich müde und ich schlief oft und schnell ein. Immer wenn ich anfing mich zu drehen, stach mein Oberschenkel und ich schaute mehrmals in meine Hose, ob ich nicht irgendein Etikett oder so darin hatte, was mich nervte. Ich fühlte mich einfach nicht besonders. Ziemlich matschig, müde und k.o. Schlief immer wieder ein, ging aufs Klo, bei dem Weg stach mein Bein mehr. Und als es Abend wurde und ich nochmal zu Hause vorbeigehen sollte, war mir echt elend. Kurzerhand beschloss meine Mama mich in die Badewanne zu stecken, um mein Fieber, das ich mittlerweile wohl oder übel erhalten hatte, zu vertreiben. Sie wollte nicht, dass es noch schlimmer wurde. Allerdings durfte ich somit nicht auf die Party, was ich erst absolut ungerecht und schrecklich fand, dann aber mit dem Geruch, der aus dem heißen Bad kam, alle Proteste fallen ließ.
Ich habe diesen Teil der Geschichte schon oft erzählt, wurde oft gefragt, doch es fiel mir ungemein schwer, die richtigen Worte zu finden und es aufzuschreiben. Ich habe nichts vergessen, die Erinnerung hat sich eingebrannt, eingemeißelt und auch jetzt in diesem Moment kann ich es spüren.
Meine Mama und mein Bruder waren gegangen und ich lag vollkommen erledigt in der Badewanne. Es war ein schön heißes Bad, es duftete fein und ich schloss die Augen. Es dauerte nicht lange und ich schlief ein. Ich weiß nicht, wie lange ich schlief, doch nach nicht allzu langer Zeit wurde ich geweckt. Geweckt von Etwas, das nun mein ständiger Begleiter ist, ein Fluch, ein Freund, eine zweite Stimme. Es zu beschreiben ist schwer. In diesem Moment war es ein Messer, ein Dolch, der in mein linkes Bein gestoßen, nach einer vollständigen Drehung mit einem Ruck runter, Richtung Knie gezogen und dort wieder herausgezogen wurde, um sofort oben wieder hineingestoßen zu werden. Der Schmerz breitete sich in Ästen am Bein aus, welche sich immer weiter verzweigten und verästelte um mein Bein, meinen Bauch vollständig zu lähmen. Ich kann das so beschreiben, weil ich viel Zeit damit verbringen musste, den Schmerz genau zu fühlen, aber ich weiß nicht, ob der Vergleich passt, da ich noch nie ein Messer in mir hatte. Ich schrie. Und ich schrie bis der Schmerz mir den Atem stahl. Er lähmte mich, mein Bein. Ich schlug ins Wasser, fing an zu weinen, krallte meine Finger in das Fleisch. Das spürte ich nicht - der Schmerz war zu groß. Es waren Wellen. Ein Messer, zwei, drei… Pause, dann fünfmal, dann nur zwei. Es war die Hölle, dieser Schmerz, der mich so kontrollierte und nicht nachließ. Ich verließ die Badewanne um meine Schreie in meinem Bett fortzuführen. Meine Hand umklammerte das Telefon, aber ich wollte meine Mama nicht anrufen, wollte ihr den Abend nicht verderben, wollte groß sein. Hatte Angst, dass ich mir das nur einbildete. Der Schmerz fesselte mich, erschöpfte mich und ich schlief mit ihm und meinem verheulten Gesicht ein.
Am nächsten Morgen war mein Fieber weg, ich fühlte mich wesendich besser und nur ziemlich erschöpft von der Anstrengung. Meine Mama war überzeugt, dass das Bad geholfen hatte und ich war mir nun vollkommen sicher, dass ich mir die Heftigkeit des Schmerzes nur eingebildet hatte. Doch auch jetzt trat beim Bewegen dieser leichte Stich vom Vortag auf. Vorsichtig erzählte ich meiner Mama davon, auch wenn ich den Abend davor nicht so detailliert erwähnte. Sie erklärte mir, dass es sich sehr nach Wachstumsschmerzen anhörte, womit ich vorerst zufrieden war. Es wurde Mittag, es wurde Nachmittag an diesem vorletzten Herbstferientag und das Fieber stieg. Ich fühlte mich wieder genauso erschöpft wie Tags davor. Mit dem Fieber stieg der Schmerz. Ich lag im Bett und bewegte mein Bein kaum, ich hatte das Gefühl, dass es sich für jede Bewegung rächte und mich lähmte. Mein Bruder lag im Zimmer und ich wollte leise sein, aber als der Schmerz zu groß war, ging ich zu meiner Mama. Ich weinte, sie nahm mich in den Arm. Beruhigte mich, erklärte, dass das Fieber den Schmerz einfach ein wenig größer machte. Sie versicherte mir, dass es mir bald bessergehen würde. Ich bekam Paracetamol, um gegen das Fieber vorzugehen. Außerdem sollte ich bis übermorgen erstmal zu Hause bleiben. Wieder in meinem Bett, fühlte ich mich alleine. Der Schmerz kam, nicht ganz so heftig wie gestern, aber genug um mir die Tränen in die Augen zu treiben. Ich wollte, dass es aufhörte. Ich fluchte leise, ich rief heimlich um Hilfe und ich betete in alle Richtung, dass ich brav wäre, wen es nur aufhören würde. Ich weinte mich in den Schlaf.
Der Sonntag und gleichzeitig letzte Ferientag verlief wie der Samstag: ruhig, erst schmerzfrei und dann, mit steigendem Fieber kamen die Schmerzen. Damit war es sicher, dass ich den nächsten Tag nicht in die Schule gehen sollte und erstmal den grippalen Infekt, wie es meine Mama nannte, auskurieren sollte.
Der nächste Morgen brachte wieder die gewünschte Schmerzfreiheit. Das Fieber war weg und übrig blieb nur ein kaputter, müder Peter. Ich verbrachte den Morgen mit fernsehen und schlafen bis meine Mama von ihrer Halbtagsstelle als Krankenschwester vom Krankenhaus Bogenhausen mit meinem Bruder vom Kindergarten nach Hause kam. Sie fragte mich wie es mir ginge und ich sagte noch „viel besser“. Dieses Stichwort war der Einsatz für meinen Körper, das Fieber erneut steigen zu lassen. Am Abend hatte ich 39,5°C und mein Bein stach mich zur Unbeweglichkeit. Im Nachhinein sagte meine Mutter, dass sie sich bereits da Sorgen gemacht hatte, allerdings merkte ich in dieser Zeit nichts davon. Ich trank stattdessen viel Tee und nahm Paracetamol zu mir. Jeden Tag bekam ich frische Bettwäsche, da die alte durchgeschwitzt war. Meine Mama hatte mir eine Wärmflasche für das Bein gemacht, da sie meinte, das könnte helfen. Alle gingen schlafen, sie mussten früh raus. Ich nicht, ich bekam wieder schulfrei. Und der Schmerz, der Schmerz, der hielt mich wach. Er stieß zu, breitete sich in seiner Aststruktur aus, verkrampfte mich. Es war der Oberschenkel, an dem es begann. Links außen und dann hindurch nach innen und über die Haut und Muskeloberfläche in diesen Ästen bis zum Knie und den Zehen. Auch nach oben bis zum Bauchnabel. Manchmal ging es ganz schnell – Messer rein, Drehung, runter, raus und der Ast. Manchmal ging es ganz langsam, ich konnte es „beobachten“, die Äste langsam wachsen sehen und versuchte sie mit gezieltem Druck von meinen Fingernägeln oder kräftigen Schlägen aufzuhalten. Aber dies störte den Schmerz nicht, er glitt vorbei und erfüllte seine Pflicht.
An diesem Abend fing es an, besonders zu werden. Eine andere Art von Schmerz. Ja, dieser Schmerz war schlimmer als alle, die ich bis dahin hatte und auch heute sage ich nach zahlreichen Brüchen, Verbrennungen, Prellungen, Stauchungen, Stichen und Platzwunden - es ist der schlimmste Schmerz gewesen. Mit der Zeit merkte ich, dass Wärme und massieren ein wenig halfen. Doch hat dieser Schmerz eine zweite Komponente, eine Komponente, die ich noch nicht kannte. Wenn ich diese erklären soll, vergleiche ich es immer mit Liebeskummer. Liebeskummer ist ein Schmerz, der keine körperliche Ursache hat, dennoch brennt das Herz, fühlt sich schwer an und macht, dass man schwer atmet und keinen Hunger hat und man sich wie von tausend Nadeln durchstoßen schmerzvoll krümmt. Es ist ein Schmerz, der einen fertigmacht und den man nicht loswird; dem nicht mit Tabletten, Pflastern, Gegenschmerz oder anderen Mitteln entgegen zu wirken oder zu betäuben ist. Es ist ein Schmerz, der sich in einen bohrt, einen ins tiefste Innere sticht. Er kommt plötzlich und lähmt, macht traurig. Die Äste meines Beines wuchsen mit den Messerstößen und gelangten immer tiefer in mich, in meine Gedanken, in meine Gefühle und in meine Seele. Dieser Schmerz drückte sich in mich rein und zwang mich, nach seinem Willen zu denken. Ich bettelte, auf der Stelle sterben zu dürfen, in der Hoffnung, dass es in diesem Moment einfach aufhören würde. Es waren Stimmen, die der Schmerz erzeugte. Eigentlich waren es keine Stimmen, es waren Gedanken in mir, geschaffen von einem dunklen Schatten, der sich an mich haftete, an meine Seele. Ein Nichts, das alles Gute in mir nahm, es nichtig machte. Es zog an mir, es zog mich runter, rief mich. Verschlang alles Schöne in mir. Ich bettelte, dass es aufhören sollte. Justus erkläre ich es mit dem Fluch der Dementoren von Harry Potter, die einem jeden glücklichen Gedanken aus dem Gedächtnis vernichteten. Ich schlug wie wild auf mein Bein, bohrte die Finger in meinen Schädel, in meine Brust. Dort, wo der körperliche Schmerz nicht war, drang der andere ein. Es zerfleischte mich auf beiden Seiten. Es war schlimmer als die erste Nacht. Und als ich am Morgen wach wurde und das Fieber erneut weg und der körperliche Schmerz auf ein Minimum reduziert war, blieb der Schatten. Dieser Schatten ist bis zum heutigen Tag geblieben. Ein ständiger Begleiter.
Wenn ich zurückblicke, ist das der zweitschlimmste Abend meines Lebens gewesen.
Es folgten noch mehrere Tage, mit demselben Ablauf, demselben Rhythmus. Allerdings konnte ich mich gegen diesen Schatten nicht mehr wehren, ich ließ ihn gewähren, hatte keine Hoffnung. Hatte Angst vorm Schlafengehen, bettelte, bettete jeden Abend, dass es mich in Ruhe lässt. Dass ich auf der Stelle gehen will – Hauptsache, es würde aufhören. Meine Mama, der ich alles mit einer gewissen Vorsicht erzählte, weil ich es irgendwie nicht glauben wollte, meinte erst auch, dass es eine kindliche Übertreibung sei. Doch das Fieber, das nun am Abend Werte von 42°C erreichte, brachte auch meine Mama dazu, den für sie so ungeliebten Schritt zu gehen und mit mir zum Arzt zu laufen. Auf dem Weg zum Kinderarzt, dachte ich erst wieder wie überflüssig das Ganze war, da es mir doch wieder gut ging. Aber im Wartezimmer fing das Fieber wieder merklich an zu steigen. Zuerst wurde mir Blut abgenommen und sofort im Labor untersucht. In der Zwischenzeit musste ich dem Arzt alles erzählen. Daraufhin ordnete er einen Ultraschall an, bei dem aber nichts festgestellt werden konnte. Es dauerte noch ein wenig und wir wurden wieder ziemlich rasch zum Arzt gerufen. Ich kann mich noch an seine Worte erinnern. „Ich will ehrlich sein. Ich habe keine Ahnung und Idee, was ihr Sohn hat, aber die Blutwerte sind so gefährlich niedrig, er muss sofort ins Krankenhaus“.
Das war der erste Schock für mich. Weil meine Mutter, wie in ihrem gesamten Leben, keine Umstände machen wollte, hat sie dem Arzt den Anruf für einen Rettungswagen untersagt und wir sind mit der U-Bahn zum Krankenhaus Schwabing gefahren. Es war das Einzige in München mit einer Kinderabteilung. Als kleines Kind war ich bereits zweimal hier gewesen. Einmal durch eine Verbrühung am gesamten Körper, die ich mir im Alter von einem Jahr durch einen Unfall zuzog.
Mit der Überweisung vom Arzt erhielt ich ein Bett, allerdings war das Krankenhaus so überfüllt, dass ich die erste Nacht im Flur schlafen musste. Es war schrecklich, dauernd lief jemand an mir vorbei und ich konnte noch weniger schlafen. Außerdem schmerzte mein Bein und es gab aufgrund der Verbrühungsgefahr keine Wärmflaschen im Krankenhaus. Die Schwester bot mir ein warmgemachtes Kissen an. Doch habe ich in der gesamten Woche, in der ich im Krankenhaus war, ein solches nur zweimal erhalten. Sonst waren sie immer kalt, da die Schwestern wegen der vielen Arbeit das Kissen vergessen hatten.
Da nun Wochenende war, wurde nicht viel getan, außer einem weiteren Mal ein Ultraschall, sowie ein Röntgenbild. Ich bekam Antibiotika gegen das Fieber, die niedrigen Blutwerte und die unbekannte Krankheit. Das Antibiotika bekam ich in riesigen Spritzen, die an einer Maschine über eine Infusion an mich angeschlossen war. Die Maschine bewegte ganz langsam die Spritze, sodass innerhalb einer Stunde der gesamte Inhalt gleichmäßig in mich abgefüllt wurde. Jedes Mal, wenn sie damit fertig war, tat mein Arm weh, weil sie wie eine leere Infusion das Blut aus mir raussaugte. Und nachdem ich diese Spritze viermal am Tag erhielt und eine davon nachts, wurde ich, nachdem ich endlich eingeschlafen war, nochmals geweckt, um mich meinen Gedanken erneut stellen zu müssen. Es war eine Qual und noch dazu kam die Peinlichkeit, dass in einem Krankenhaus, die Pubertät keinen Raum hat. Ich hatte meinen Stimmbruch schon erfolgreich überstanden und mit diesem mein Schamgefühl vollständig ausgeprägt. Doch schon beim Röntgen tauchten erste Probleme auf. Da meine Hüfte und der Oberschenkel unter die Kamera durften, musste mein Hoden besonders geschützt werden. Aus diesem Grund wählte, die für mich attraktive Krankenschwester, aus einem Sammelsurium eine Bleischale aus und stülpte es mir über mein Glied. Sie drehte und ruckelte die Schale und meinte noch mich freundlich anlächelnd: „Na, passt das?“ und ich dachte nur, während ich versuchte, nicht unendlich rot zu werden, „Wenn du weitermachst, dann garantiert nicht mehr!“.
Im Laufe der Woche wurden weitere Untersuchungen in Form von EKG, MRT, CT und Dinge, deren Namen ich gar nicht mehr kenne, vollzogen. Ich habe unter Röhren gelegen, habe Löcher in der Decke gezählt, wurde mit dem Bett in den Gängen rumgeschoben und wartete ewig vor den verschiedensten Räumen. Die Freude des Tages war und Justus, die mich jeden Tag besuchten. Justus ging immer ganz schnell an meinen Nachtisch, um sich seinen GameBoy zu schnappen und neben mir im Bett zu spielen. Meiner ging gerade nicht, deshalb hatte Mama Justus gebeten, ihn mir für die Zeit hier zu leihen. Ironisch, den in dieser Woche hatte ich kein einziges Mal gespielt. Ich habe generell nichts getan, weder gelesen, obwohl ich das liebte, habe nichts für die Schule gemacht - an die ich nicht mal dachte - und auch nicht ferngesehen. Ich war ständig mit mir und meinen Gedanken beschäftigt, stundenlang in dieser anderen schwarzen Welt gefangen, die sich immer mehr auf die Realität ausbreitete. Mich traurig machte.
So verging die Woche, jeden Tag gespannt auf irgendwelche Ergebnisse. Jeder Tag wieder nichts. Bis eine Woche später, ich glaube es war der Montag, der Arzt und eine junge Schwester zu mir reinkamen. Meine Mama war in der Arbeit und bis heute kann ich nicht verstehen, warum man so etwas ohne die Anwesenheit der Eltern eröffnet. Schließlich war ich gerade dreizehn Jahre alt. Der Arzt schaute mich an und sagte: „Wir haben den Grund für deine Krankheit gefunden. Du hast einen Tumor – Krebs. Aber wir können das schon wieder heilen.“ Ohne eine weitere Erklärung ging er aus dem Raum.
„Du bist so tapfer und musst das meiste aushalten – von allen. Ich kann kaum noch schreiben, alles ist so anstrengend. Auf jeden Fall will ich Dir sagen wie doll lieb ich dich habe!“
-06. Dezember 2011 –
Die Sommerferien begannen und ich hatte ein großartiges Jahr hinter mir. Die Schule war gut gelaufen und ich hatte beim Schwimmen endlich mein Ziel und noch mehr erreicht. Als mich meine Mama mit neun Jahren beim Schwimmen anmeldete und ich regelmäßig jede Woche im Becken plantschte, bekam ich mit wie immer wieder Jugendliche beim Trainer vorbeikamen. Sie redeten über Wettkämpfe und von Leuten die jeder im Verein kannte. Damals wollte ich unbedingt auch, dass jeder meinen Namen kennen sollte. Und so kam es, dass ich nach einer langen Zeit beim gleichen Trainer, irgendwann in die bessere Gruppe und ein größeres Schwimmbad durfte. Dort war ich nur kurz bis mich die Wettkampforganisatoren ansprachen und mich fragte, ob ich nicht für den Verein Wettkämpfe schwimmen wollte. Ich kam zum Wettkampftraining und bei meinem ersten Wettkampf belegte ich Platz 1. In diesem Jahr war es nun soweit, dass mich alle kannten im Verein, ich mit einer Mannschaft und Einzeln schwamm. Ich war gut, hatte Talent und wurde sogar von einer Sportschule angesprochen, um dort schwimmen zu gehen. Das war ein Traum ganz groß rauskommen und das obwohl ich schon so alt war und so spät angefangen hatte. Ich freute mich und ich genoss die Beliebtheit im Verein, da diese mir in der Schule versagt blieb.
Ich war eher als Streber bekannt, auch wenn meine Noten wie durch die gesamte Schulzeit immer gut nicht sehr gut waren. Aber ich war ein Lehrerliebling, machte brav das Geforderte und konnte schon sehr früh mit meiner Art die Lehrer um den Finger wickeln. Später konnte ich das zu meinem Vorteil nutzen, wenn ich zu spät kam, Stunden schwänzte oder sogar manchmal um vorab Prüfungsfragen zu erfahren. Aber von den Schülern wurde ich eher gemieden, war ein Außenseiter und mit diesen auch gemeinsam in den unbeliebten Ecken der Schule. Aber nun waren Ferien und ich würde zu meinem Vater fahren.
Mein Vater lebte mit seiner Familie, dass waren seine Frau und meine Schwester Alisa in Meran. Meine Eltern waren nie zusammen gewesen und ich habe meine Lebensberechtigung einer Pizza und Semesterferien zu verdanken.
Ach, ich erzähle einfach die nette Geschichte. Meine Mutter kommt ursprünglich aus der Gegend von Bingen in Rheinland-Pfalz. Dort hat sie ihre Ausbildung gemacht und ist dann aufgrund einer Wette und der Flucht vor einem psychisch labilen Exfreund nach München gegangen. Ursprünglich war nur eine kurze Zeit dafür eingeplant, aber mehr als drei Monate, um die Wette zu gewinnen. Allerdings freundete sie sich sehr schnell mit ein paar Mädels an. Meine Mama arbeitete im Krankenhaus Bogenhausen und lebte in der Effnerstraße. Eine Gegend, die für die Krankenhausangestellten gebaut wurde. Auf jeden Fall, machte meine Mama sich zum Essen Pizza. Sie hatte allerdings viel zu viel gebacken und sah vom Balkon, erblickte dort meinen Vater und einen Freund. Kurzerhand rief sie runter und lud beide auf ein Stück ein. Aus dem Essen wurden mehrere Treffen und aus diesen wurde ich.
Naja, nach seinen Ferien ging mein Vater wieder nach Bozen, um sein Matura abzuschließen und in Wien zu studieren. Er hätte seinen Studiengang auch in München an einer renommierten Universität studieren können, aber entschied sich dagegen. Er entschied sich gegen mich. So lebte ich alleine mit meiner Mutter, ohne die Unterstützung des jungen Studenten und nur mit einem Anruf pro Jahr. Mit neun Jahren habe ich dann all meinen Mut zusammengenommen und meinem Vater bei einem unserer wenigen Treffen – ich zähle sieben bis zu diesem Tag – und Aktivitäten, angesprochen und gesagt, dass ich mir einen Vater wünsche, der mich mehr als einmal im Jahr anruft. Ich forderte mindestens zwei Anrufe, da ich ansonsten nicht mehr wollte, dass er mein Vater ist und aus meinem Leben verschwinden sollte. Es war das erste von sechs oder sieben solcher Gespräche. Damals nahm er es sich sehr zu Herzen, meldete sich genau zwei Mal im Jahr und mit elf gingen wir zusammen zelten. Erst alleine, dann mit Familie, beide Male am Wagginger See in Bayern. Meine Schwester konnte ich damals nicht sehr leiden, sie war unendlich eifersüchtig und wollte meinen Papa nur für sich. Und er, er mochte sie immer lieber, konnte ihr nie etwas abschlagen, nie Nein sagen. Und so versprach er mir jeden Tag, nachdem Alisa schlafen gehen musste mit mir einen Männerabend zu machen. Jeden Abend freute ich mich tierisch darauf, vertröstete meine Eifersucht unter Tags damit. Doch immer wenn mein Vater mit Alisa ins Zelt ging, schlief er ein, kam ewig nicht und, wenn ich ihn weckte, meinte er immer „Wir machen das morgen.“ Bis zum Ende des Urlaubs ist es nie dazu gekommen. Aber ich fand die Zeit trotzdem schön, war zelten und entdeckte die Liebe zur Hängematte. Konnte den ganzen Tag baden und im Wasser meine Zeit verbringen. Manchmal schwamm ich mit meinem Vater auf die andere Seite, aber selbst mit Flossen war ich ihm immer mindestens 30 Meter voraus. Es war ein Freiheitsgefühl, was mein Vater verkörperte, eine Unbeschwertheit, die ich sehr beneidete.
Dennoch beschäftigte mich das Verhältnis zu meinem Vater sehr. Ich verstand nicht, warum er ein so geringes Interesse an mir, so wenig Zeit für mich hatte und seine Versprechen nicht hielt. Es waren meist nur kleine Dinge, dennoch hatte er seine Art, sie nicht zu erfüllen. Mich beschäftigte seine Geschichte und warum er so zu mir war, wie er. Deshalb schrieb ich ihm einen Brief, um zu fragen, ob er sich interessiert, warum er so war und ich stellte Forderungen, meine Familie kennen zu lernen, ihn kennen zu lernen. Ich wollte seine Sichtweise auf mich erfahren und wohl wie jeder Junge, der langsam ein Mann wurde, verstehen, warum ein Vater nicht da war. Dies ist die Antwort, die ich am 17. Juli 2003 einmal handschriftlich geschrieben und am PC abgedruckt für die bessere Lesbarkeit erhielt:
„Lieber Peter!
Habe deinen Brief heute gelesen. Du willst deine Geschichte –im Sinne deiner Herkunft- erfahren. Du verlangst nach ehrlichen Auskünften. Deine Entstehungsgeschichte ist lange her, sie begann vor 14 Jahren, das war das Jahr 1989. Die „Wahrheit“ von der Vergangenheit wiederzugeben erscheint mir schwierig. Ich versuche meine Erinnerungen, so ehrlich wie mir möglich ist, zu beschreiben. Das wird dir zum Teil, mit dem was Bärbel dir erzählt hat, widersprüchlich vorkommen. Meiner Ansicht liegt das daran, dass jeder Mensch anders empfindet und wahrnimmt. Deine Herkunft ist mit meiner „Geschichte“ eng verbunden und meine Erinnerung ist folgende:
Ab dem Zeitpunkt meiner Pubertät, mit ca. 13, 14 Jahren, entwickelte sich das Verhältnis zu meinem Vater zusehends schlechter. Ich fühlte mich unverstanden und missbraucht. […]
Im Jahre 1989, ich war 17 Jahre alt, hatte ich die Schnauze voll und die Kraft in den Sommermonaten einmal nicht mehr für meinen Vater zu arbeiten. Ich wollte endlich mal etwas Taschengeld verdienen und etwas Freiheit haben dürfen. Zusammen mit meinem Jugendfreund Fridolin organisierten wir einen Sommerjob in München. […]
Fridolin hatte in der Nachbarschaft Bekanntschaften gemacht und Bärbel lud uns zum Pizza-Essen ein. Ich war total hingerissen: das eigenständige Leben das Bärbel führte, die eigene Wohnung, liebe Freunde, usw…. dass alles faszinierte mich sehr und ich wünschte mir auch, so leben zu können. Bärbel verkörperte für mich Freiheit, Eigenständigkeit, Zu Hause, Frieden… und dass waren lauter Dinge, die ich in meinem Elternhaus zu wenig fand. Eingehüllt in diesen wunderbaren Eindrücken entstandst du, was ich damals natürlich weder wusste, noch ahnte. Ich genoss das „neue“ Leben in München und war glücklich, dass mein Leben hier anders als Daheim sein konnte. Irgendwann rückte das Ende des München–Aufenthaltes näher und ich musste wieder zurück nach Bozen fahren. Ich wusste, dass ich unbedingt auf alle Fälle noch ein Jahr und zwar das Jahr 1998/1990 in meinem Elternhaus überstehen musste, damit ich meine Schulausbildung beenden kann. Das war mir äußerst wichtig […]. Bärbel spielte für mich die Rolle der Erinnerung, da mich nicht das Gefühl der Liebe mit ihr verband.
Umso überraschter war ich, als im Herbst 1989 – ich glaube es war September - ein Brief von ihr eintraf. Was in dem Brief enthalten war, ist leicht zu erraten: deine Anreise. Ich war total „überrumpelt“ und wusste nicht was ich denken sollte und schon gar nicht mit wem ich darüber sprechen könnte. Zwar habe ich schon mal davon gehört, dass die Kinder nicht der Storch auf die Welt bringt und dass die Spermien Eier befruchten können, aber das mit dem „Kinder Kriegen“ war mir eine Nummer zu steil. So saß ich mit Bärbels Brief in meinem Zimmer und wusste nicht, was ich machen sollte.
Fridolin war der erste, der es erfuhr. Seine Reaktion war, dass er es nicht korrekt findet, wie ich mit Frauen umgehe… das half mir auch nicht weiter. Meine Eltern wollte ich es auch nicht mitteilen und vor allem nicht meinem Vater. Der Grund warum ich diese „Neuigkeit“ meinem Vater vorenthalten musste, war, dass ich meine Existenz im Elternhaus gefährdet sah und ich auf keinen Fall meinen Schulabschluss in Gefahr bringen wollte. Unsere Vater-Sohn Beziehung bestand ohnehin nicht mehr und empfand daher auch keine moralische oder freundschaftliche Verpflichtung gegenüber meinem Vater, Gegebenheiten aus meinem persönlichen Leben zu erzählen. Inwieweit meine Haltung „feige“ ist/war, kann ich dir nicht beantworten. Jedenfalls glaube ich sagen zu können, hat sie meinen Schulabschluss ermöglicht.
[…] Meine Mutter erfuhr von dir – in Bärbels Schwangerschaft – durch eine anonyme Anruferin. Ich weiß bis heute noch nicht, wer es war. Meine Mutter freute sich über dich und fragte oft nach dir, sie schaffte es nicht – genauso wenig wie ich – deine Existenz in die Welt zu posaunen.
Nach der Matura im Sommer 1990 freute ich mich, von zu Hause gehen zu können und versuchte die unangenehmen Erinnerungen an zu Hause zu vergessen. Daher reduzierte sich mein Kontakt zu meinem Elternhaus auf ein Minimum und ich stellte fest, dass ich in all den Jahren wo ich in Wien lebte sehr wenig von meinem Elternhaus mitbekommen habe.
Du schreibst in deinem Brief, ich hätte dich nicht gewollt. Das stimmt einerseits, anderseits doch wieder nicht. Wie ich schon schrieb, wusste ich nach Bärbels Benachrichtigung nicht, was ich denken bzw. was ich davon halten sollte, mit 18 Vater zu werden. Ein „geplantes“ Kind bist du genauso wenig wie Alisa. Ich versuchte deine Ankunft vorurteilslos anzunehmen und es war mir immer klar, dass ich dein Vater bin. Allerdings war ich unzureichend imstande, mit meiner Rolle verantwortungsbewusst umzugehen. Im Gegenzug demonstrierte Bärbel sehr viel Reife und Verantwortungsbewusstsein und organisierte das Familienleben alleine. Ich glaube, dass ich heute mit meinem 31 Jahren, das nicht so gut schaffen würde wie Bärbel damals.
Du äußerst in deinem Brief den Wunsch, deine Großeltern kennenlernen zu wollen. Das kann ich gut verstehen und ich an deiner Stelle würde auch auf den Augenblick brennend warten, sie kennenzulernen.
[…] Du bist jetzt 13, in meinen Augen bist du jetzt groß genug, um für dich selbst zu entscheiden, ob du meine Eltern kennenlernen möchtest. Ich akzeptiere deinen Wunsch bzw. das was du willst, Hauptsache ist, dass es dir gut dabei geht.
Dein Dennis“
Damals war eine Antwort von ihm das Größte, was ich erwarten konnte. Auch empfand ich den Brief als sehr ehrlich und konnte alles irgendwie verstehen und nachvollziehen bzw. akzeptieren. Heute sehe ich es mit anderen Augen und sehe dort sehr viele Ausreden und unbeantwortete Fragen, die er sehr geschickt umgeht und sich selbst in die Hauptrolle bringt ohne dabei konkret zu werden. Zu dieser Zeit genügte es mir, war eine offene Antwort und ich war voller Hoffnung, dass ich es nun mit ihm besser haben konnte. Nun, da ich groß war und er mit mir was anfangen konnte. So fuhr ich nach Italien. Es war immer ein großes Abenteuer nach Meran zu fahren, in die schöne Eigentumswohnung und ich freute mich. Ich sollte drei bis vier Wochen bleiben, solange wie noch nie zuvor. Ich kam an, und bekam auf der Fahrt von Bozen erklärt, dass ich nun noch ein zweites Geschwisterchen bekommen würde und Selina, seine Frau, bereits im siebten Monat war. Es ist eine sehr typische Situation, denn obwohl diese Nachricht keine Schlimme war, hat mein Vater die Angewohnheit Dinge im Letzt möglichen Moment zu sagen beziehungsweise zu erklären. Dies ist praktisch, da diese dann unausweichlich sind und kein Raum für Diskussionen oder Kompromisse vorhanden ist. Das war nicht das erste und würde nicht das letzte Mal bleiben.
In Meran angekommen eröffnete er mir auch sogleich, dass er mit seiner Frau nach Innsbruck auf eine Hochzeit gehen würde und ich nicht mitkönne und stellte mich wieder vor vollendete Tatsachen. Das empörte mich doch sehr, da es schließlich auch mein erster Abend mit ihm war. Sein schon beschlossener Lösungsvorschlag waren Bekannte mit drei Töchtern, bei denen ich bleiben sollte. Er hatte immer ein Hang, mich verkuppeln zu wollen. Versuchte mich immer mit Mädchen und Frauen zusammenzubringen und wollte immer wissen, was der aktuelle Stand meines Liebeslebens war. Ich war dreizehn und klar interessierten mich bereits Mädchen, aber gleich bei fremden Menschen in einem fremden Land zu schlafen, empfand ich als sehr beängstigend und schlimm. Mein Vater fuhr schnell wieder und die Zwillinge eröffneten mir, während wir in der offenen großen Küche standen, als sie irgendwelche Sachen zusammentrugen, dass wir die Nacht allerdings nicht hier, sondern mit ein paar Freunden an einem See verbringen würden. Na super, noch mehr fremde Leute. Wir wurden von den Eltern hingefahren und suchten mit ein paar weiteren Mädels, die zum Teil schon erwachsen waren, eine große glatte Steinfläche auf. Hier legten wir alles hin und bereiteten ein Picknick vor, während einige Jonglierten. Das Besondere an diesen Mädels war nämlich die Tatsache, dass sie alle in einem Zirkusverein waren. Mein Vater war der Vorsitzende dieses Vereins und fuhr selber Einrad, jonglierte und führte Kinderkurse. So war ich also unter den Artistinnen und aß für mich auch viele unbekannte Aufstriche und Früchte und freundete mich ganz schnell an. Sie sprachen alle Deutsch, wenn auch mit dem typischen Südtiroler Dialekt, den ich mittlerweile sehr liebe. Sie sind herzlich und nahmen mich schnell auf. Nachdem ich warm geworden war, war es ein super schöner entspannter Abend. Direkt an einem hohen Vorsprung mit Blick auf einen See und ein Hotel oder ähnliches, dessen Licht sich im Wasser spiegelte. Von hinten drang klassische Musik und ich saß mit einer von Ihnen da und betrachtete die Sterne und Spiegelungen. Es wurde spät, es wurde Nacht und ich genoss die Zeit mit dem Gespräch. Immer wieder strichen wir uns über Bein, Hand oder Schulter. Erst als es sehr spät war gingen wir zurück zu den Isomatten und in die Schlafsäcke. Morgens von der Sonne geweckt, ging es heim, wo wir sofort auf dem Sofa einschliefen.
Es war eine tolle Nacht und ich bin froh, dass mein Vater mich ins kalte Wasser geschmissen hatte. Diese Nacht und folgenden drei Wochen prägten mich sehr. Ich lernte gemocht zu werden, ohne eine Leistung vollbracht zu haben, nicht in einer Familie zu sein, aber so behandelt zu werden und ohne mich und meinen Charakter zu verstellen. Einfach wie ich war. Ich lernte, offen auf Menschen zu zugehen. Und genau, dass ist der Grund warum ich davon erzähle und noch erzählen möchte. Jede Geschichte hat seinen Sinn.
Ich wollte gar nicht zurück zu meinem Vater und der eifersüchtigen Schwester, aber in der kommenden Woche nahm ich an den reichlichen Trainingsstunden des Zirkus teil. Grund dafür war eine gemeinsame Jugendfreizeit in Kroatien, wo wir die nächsten zehn Tage hinfahren würden. Dort war geplant zu zelten und gemeinsamen Urlaub zu genießen. Das Geld dafür verdienten wir indem wir abends in Pula oder umliegenden Städten auf der Straße eine großartige Zirkusshow darboten. Es gab einen richtigen Zirkusvorhang, Kostüme, Zirkusmaterial und eine richtig geplante Show. Ich konnte Einrad fahren und durfte mitmachen. Also ging es nach der Trainingswoche gemeinsam nach Kroatien. Es war einer der schönsten Urlaube und Jugendfreizeiten, die ich besuchen durfte. Es war so frei, ich war sehr unbeschwert. Lernte Menschen kennen, die mich so sehr prägten und an die ich noch jahrelang dachte und hoffte sie irgendwann wieder zu sehen. Der Urlaub war voller Sonne, Wasser, Klippenspringen, Zirkus, Nummern üben, Hängematte schaukeln, Draußen schlafen und Sonnenuntergängen genießen.
Ich kam aus diesen Ferien als ein wenig anderer Mensch zurück, wollte auch in der Schule anders sein, mehr ich. Wollte im Verein nicht nur für meine Schwimmleistung gemocht werden. Ich wollte mir die Art und Lebensweise, die die Menschen in Südtirol verkörperten, mitnehmen. Dieser offene Umgang mit Menschen, die Gestik und der freundschaftliche Austausch von kleinen netten Zärtlichkeiten. Ich war glücklich. Glücklich mit mir, mit meinem Zuhause und meiner Familie. Desto härter traf mich die Diagnose ein paar Monate später.
„Ich werde immer bei Dir und mit Dir sein. Meine Kraft und Energie fließen in Dir und ein Stück von mir ist in Dir und doch bist Du ein ganz eigener Mensch und gehst deinen Weg.“
-19. Juni 2012 –
Ich war total geschockt, zitterte und nahm erstmal den Hörer vom Telefon ab. Meine Mama hatte es mir extra ans Bett gebracht, damit ich anrufen konnte, falls ich einsam war, denn ein Handy hatte ich noch nicht. Ich wählte die Nummer ihrer Arbeit und fragte nur, ob ich meine Mama sprechen könnte. Ohne meinen oder ihren Namen genannt zu haben. Man wusste, wer ich war. Sie kam und ich weiß noch, dass ich bewusst zu diesem Zeitpunkt meine Mama das erste Mal weinen gehört habe. Sie kam augenblicklich und ihre Haltung, gab mir das Gefühl, das ich sterben müsse.
Ich wurde entlassen. Mein Fieber war weg und die Klinik wollte operieren. Allerdings war meine Krankheit wohl aufgrund meines Alters ungewöhnlich und es gab wenig Erfahrung im Krankenhaus. Sie waren unsicher, deshalb sollte ich in der Universitätsklinik Rechts der Isar weiter untersucht und operiert werden. Ich ging also nach langer Fehlzeit wieder in die Schule, in der ich wenig mitbekam. Sie war mir egal. Der Schatten in meiner Seele, ließ alles so unwichtig erscheinen. Das Unverständnis, das Mitleid der Mitschüler machte mich einsam, ließ es wirken, als wäre ich woanders. Sie verstanden nicht. Ich verstand es nicht.
Ich kann mich an diese Zeit kaum erinnern, nur an die Momente mit meiner Tiefe, mit meiner Dunkelheit. Sie waren prägend. Die nächsten Wochen wurden weitere Untersuchungen in Rechts der Isar und Schwabing durchgeführt. Immer wieder fehlte ich in der Schule, im Training, fühlte mich nicht wohl, hatte große Schmerzen. Die Krankenhäuser waren sich nicht einig, weder über die Diagnose, noch über die Therapie und Vorgehen. Es setzte typische Therapien an. Nur kurz. Dann waren sie wieder weg. Wie eine Maschine mit Flüssigkeit vollgepumpt zu werden, war schrecklich. Dieser Schmerz war schrecklich. Ich wollte nur operiert werden. Nur das dieses bösartige Ding endlich rausgeschnitten wird. Ich hoffte mit diesem würde auch der Schatten weichen, einfach rausgeschnitten. Die Krankenhäuser konnten sich nicht einigen. Es gingen ständig Briefe hin und her und wir hingen in der Luft. Es gab viel Streit meine Noten wurden schlechter, mir war es egal. Es hatte schon vorher oft Streit wegen Vokabel lernen, Hausaufgaben machen gegeben. Schon davor, aber jetzt mit meiner Unlust war es noch schlimmer. Die Pubertät machte die Situation schlimmer, der Schatten machte es schlimmer. Jetzt sage ich, es war das erste Mal eine Depression. Meiner Mama meinte immer, dass es vielleicht falsch war, dass ich auf das Gymnasium gegangen war und, dass ich sicher durchfallen würde. Ironisch, denn genau die Aussage war später meine pubertäre Motivation diese Klassenstufe auch zu bestehen und somit während den gesamten dreizehn Schuljahren nicht sitzen zu bleiben.
Es war ein Hin und Her mit der Krankheit, mit der Therapie. Die Krankenhäuser und Ärzte waren sich nicht einig, was sie tun wollten. Ich fühlte mich ein wenig zwischen den Fronten und die Unsicherheit verunsicherte mich, machte mich zum Gummiball in diesem Spiel. Meine Mama konnte mir nicht viel dazu sagen, wenig erklären, obwohl sie angefangen hatte, alles nachzuschlagen. In allen möglichen Büchern las sie nach, wollte begreifen und verstehen, was hier das Beste wäre. Die Bücher lagen rum und immer wen, ein neuer Brief, ein neuer kurzer Anruf kam, las sie nach. Es kamen wenige Informationen, die Krankenhäuser verwiesen immer auf die Akten, die gerade unterwegs zum jeweils anderen Krankenhaus sein sollten. Es gab wenig elektronisch und was es gab, besorgte sich Mama. Sie verstand das medizinische Zeug, die eigene Sprache. Meine Mama erklärte mir die Dinge. Doch wollte ich es nicht wirklich wissen, hörte nicht immer zu oder nahm es nicht auf. Ich war so beschäftigt mit dem Schatten, dass mich Theorien irgendwie kalt ließen und ich irgendwann meinte, dass ich nicht alles wissen möchte. An einem Abend, Justus war bereits im Bett, redeten wir noch. Es war nach einem Krimi, den wir zusammen auf dem Sofa gesehen hatten. Wir schauten oft zusammen fern. Ein „Fall für Zwei“ oder ein „Starkes Team“. In dieser Folge ging es um die Verzweiflung einer krebskranken Frau, deren Familie deswegen ein Verbrechen beging. Wir redeten über krank sein, Gerechtigkeit, was man alles tun würde. Sie fragte mich offen, wie ich zu einer OP stehen würde. Ich erzählte ihr, dass ich es unbedingt wollte, ich hoffte, dass sie damit den Schmerz rausschneiden würden und den Schatten mit. Es war das erste Mal, dass ich ausführlich von dem Schatten sprach. Ich versuchte ihn zu erklären, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt nicht immer die passenden Worte zur Beschreibung fand. Die Dunkelheit, die Gedanken, die einen runterziehen. Der Schmerz, der ins Fleisch und in die Seele schneidet, der einen in eine unbekannte Tiefe zieht. In ein tiefes Innere, das einen frisst und Gedanken weckt, die das Handeln bestimmen und den Körper lähmen. Sie hörte still zu. Ich schaute starr nach vorne, knetete meine Hände und erzählte von meiner Angst vorm Schlafen, von meinen Spaziergängen und dem Schatten, der mich ergriffen hatte. Sie schaute mich an, ließ ihre Hand durch meine Haare hinab auf meine Schultern streifen, drückte sich an mich. Dann sagte sie etwas, was mich von ihr trennte, mich von ihr entzweite und mich dennoch tröstete und mir Hoffnung gab. „Ich versuche dich zu verstehen. Ich kenne Schmerz, körperlich, seelisch. Ich kenne das Schmerz tief ist, einen lähmt, aber ich verstehe nicht, was du beschreibst. Kann es nicht vollständig nachvollziehen. Aber ich respektiere, was du erzählst und glaube dir. Wir werden alles tun, damit es aufhört.“
Dann am 20ten Dezember abends kam ein Anruf. Ich war nicht drangegangen, aber ich hörte meine Mama. Es waren die Ärzte und der Professor aus Rechts der Isar. Sie hatten bei Ihren Ergebnissen festgestellt, dass die dringende Gefahr bestand, dass es zu einer Ausbreitung kommen könnte. Sie erklärten mir, dass ich diese Krankheit wohl schon an die sieben Jahre in meinem Oberschenkelknochen trug. Dieser hatte sich langsam im Knochen durchgefressen und war nun an der nervenumströmten Knochenhaut angelangt, was diese schrecklichen Schmerzen auslöste. Nun bestand also die Gefahr, dass mein Knochen durch diese Instabilität plötzlich brach und durch die Blutungen sich die Zellen weiterverbreiten würden. Deshalb ordneten sie eine augenblickliche OP an. Termin war der 22te Dezember. Am Abend setzte sich meine Mama zu mir. Sie erklärte, sie weinte. Sie versuchte mir klar zu machen, dass die Ärzte versuchen würden so wenig wie möglich tun zu müssen, um alles zu entfernen, aber dass es einige Ungereimtheiten in den Ergebnissen gab. Dadurch sei durch die Ärzte nicht auszuschließen, dass man das ganze Bein entfernen müsse. Ich weinte die ganze Nacht. Nicht nur, dass ich aufgrund dieser Geschichte mein Schwimmangebot verlor, vielleicht verlor ich mein Bein ganz und damit in diesem Moment für mich alles. Sport, Lebensgefühl und Qualität.
Am 22te war ich im Krankenhaus. Ich hatte vorher nichts gegessen, sollte nüchtern sein, hatte aber auch keinen Hunger. Bin oft in der Nacht rumgelaufen. Im Kreis, hin und her im Zimmer. Vielleicht war es das letzte Mal, dass ich das so tun würde. Den Schmerz unterdrückte ich. Spannte oft alles an, krallte die Finger in den Oberschenkel. Verfluchte das Leben, diesen Schmerz. Ich hatte einfach riesige Angst. Im Krankenhaus bekam ich ein Zimmer und ein Bett. Ich musste mich ausziehen und ein offenes Hemd tragen.
Außerdem musste ich zu meiner Entrüstung eine Netzunterhose tragen. Dies ist eine einfache Unterhose bestehend aus einem weißen Faden, der ein Netz spannt. Die Löcher sind riesig und ich fühlte mich unendlich unwohl in dieser durchsichtigen Hose. Wie gesagt für Pubertät gibt es keinen Raum in Krankenhäusern, erst recht nicht in der Uniklinik. Meine Mama ging und ich war alleine im OP-Saal, vorher hatte ich noch zwei runde Aufkleber auf meine linke Handfläche und rechte Innenseite des Ellenbogens erhalten. Diese speziellen Pflaster sollten meine Haut betäuben, dass das Legen der Infusion für die Betäubung nicht schmerzte. Der Professor sollte mich höchstpersönlich operieren und ich kam in den kalten Operationssaal, in dem viele Geräte standen und ein Tisch mit verschiedenen Messern und Metallgegenständen, die ich nicht definieren konnte. Ein junger Mann, gefolgt von einer Schwester, trat ein. Sie erklärten mir, dass sie mir die Betäubung geben würden. Eine halbe Minute später wurde mir warm und ich war weg. Weg in einem tiefen Schlaf.
„Heute war ein sonniger lauwarmer Tag. Ich fühle mich gut, ein leichtes rollen im Bauch, gestern wurde genug geweint.
Ich fühle, Ich atme, Ich lebe!“
-05. März 2012–
Ich wachte auf dem Boden zwischen den Kartons auf. Zog mich schnell an, besorgte frische Brezeln für die Hilfsmannschaft. Dann kamen die Freunde und die zwei großen Sprinter. Bereits vor zwei Tagen kam ein Bekannter meiner Mutter und brachte nochmals Umzugskartons und half mir, die gesamte Küche auseinander zu schrauben. Die Schrauben einzutüten, Türen zu beschriften und das Prinzip des Aufbaus zu verstehen. Ich hatte noch nie eine Küche abgebaut, geschweige denn wieder aufgebaut und ich hatte ein wenig die Befürchtung, dass in Frankfurt nicht zu schaffen. Doch halfen mir die Beschriftung und die Erklärung. Er war einer der Bojen, wie ich sie nenne. Eine Boje, die im Wasser treibt, einem hilft, die Richtung zu finden, ohne zu erwarten, dass ich an ihr halte und etwas tue. Er war ein Bekannter meiner Mutter und nachdem er von der Geschichte erfahren hatte und wusste, dass ich in Frankfurt wohnte, bot er sich und sein Umzugsunternehmen sogleich an. So war er nun mit fünf Möbelpackern gekommen. Außerdem hatte ich einigen Freunden Bescheid gesagt. Es waren viel zu viele gekommen. Ich bewegte keinen Karton, wies oben nur an und innerhalb von zwei Stunden war die gesamte Wohnung leer. Einige fegten durch die Wohnung, ein paar andere fuhren die drei vollen Ladungen zum Sperrmüll. Ich konnte nicht alles mitnehmen. Die Möbel aus Mamas Zimmer, meine alten Kindermöbel, die bereits damals fast zerfielen, die mussten weg. Man muss Dinge loslassen.
Die kleine Sechsmann-Armee lud unten die zwei Sprinter systematisch ein, damit die Wohnzimmermöbel, Küche, an die sechzig Kartons, Stühle, Tische, Autoreifen, Gartentöpfe und vieles mehr mitgenommen werden konnten. Ich durfte nicht helfen. Das tat gut, Abstand zu den Gegenständen zu haben; die Verantwortung abgeben zu können. Die letzten zwei Wochen hatte ich mir jeden Gegenstand angeschaut, jede Kiste und Schublade geöffnet und entschieden, ob dieser Gegenstand, diese Geschichte, mit nach Frankfurt, ob er an einen Freund oder Bekannten von meiner Mutter oder mir gegeben werden sollte, ob er verkauft, er weggeschmissen werden oder ich ihn in die Verbrennungskiste legen sollte.
Angefangen hatte ich in Mamas Zimmer. Meine Großeltern waren bereits wieder nach Hause in die Nähe von Wiesbaden gefahren, weil ich meinte, dass ich ein wenig Zeit für mich und Justus brauchte. Außerdem waren auch sie froh, ein wenig Zeit zu haben, um zu verstehen. Ich war also mit Justus alleine in der Wohnung. Offiziell hatte er noch Schule, aber meine Mutter hatte bereits vorher die Situation erklärt, so wie sie vieles vorher vorbereitet hatte und so rief ich nur an und sagte, Justus komme heute nicht und sie verstanden es. Die letzten Wochen und Tage vor den Sommerferien durfte er täglich selber entscheiden, ob er gehen wollte oder lieber etwas Anderes tat. Diese Freiheit stand ihm zu. Das Leben ist mehr als Schule. Alle Noten waren gemacht oder egal und ich sah nichts dagegensprechen. Allerdings ging er oft hin, wegen seiner Freunde. Er wusste, es waren die letzten Wochen mit ihnen. Während er in der Ganztagsschule saß, weinte ich in dem Zimmer meiner Mama. Ich schaute mich um, atmete nicht, spannte die Muskeln an, schrie.
Dann fing ich an Schubladen zu öffnen, mir die Geschichten anzuschauen. Die Gedanken gingen weiter, sie mussten weiter. Ich überlegte, was ich mit den Möbeln machen sollte, was mit den Bildern, den Büchern, den Klamotten. Ich holte die Kleidung aus dem Schrank, legte mich rein. Wollte ihr nah sein. Ich weinte. Es war ein tiefer Schmerz, es war ein Sträuben, dass ich ihre Sachen nicht anfassen wollte, nicht entscheiden wollte. Die Erkenntnis, die mich erfüllte, dass ich es tun würde, tun musste und dass es das Ende bedeutet. Der Schmerz verband sich mit meinem Schatten, der im letzten Jahr weitergewachsen war, sie lähmten mich. Sie füllten mich auf, rissen an meinem Herzen, an mir und pflanzten sich in meine Seele. Aber ich hatte es versprochen, drei Jahre hatte ich ihr versprochen. Dass ich ihm alles gebe, was ich bin und habe, hatte ich versprochen. Ich stand auf, tat, funktionierte. Nur, weil ich es versprochen hatte.
Es begann das Packen: Kiste für Müll, Kiste für Mitnehmen, Kiste für die Verbrennung. Das Zimmer leerte sich. Ich baute das Bett ab und zerlegte den Kleiderschrank, nachdem Judith, eine Freundin meiner Mama, alle Klamotten abgeholt hatte. Ein Teil sollte gespendet werden, ein anderer verkauft. Sie übernahm diese Arbeit. Dafür bin ich dankbar, nicht nur wegen der Arbeit, auch weil ich das Loslassen nur einmal für alles tun und nicht für jedes Einzelne wiederholen musste. In ihrem Zimmer waren die ersten Schätze, die ich finden sollte. Jetzt war es soweit, ich öffnete die Kästchen und fand Briefe. Briefe an mich, an Justus. Es waren Schätze, Worte die mich berührten, die ich immer wieder las. Worte, die meine Schatten weckten.