Die Acht vom großen Fluss, Bd. 9 - Gabriele Kuhnke - E-Book

Die Acht vom großen Fluss, Bd. 9 E-Book

Gabriele Kuhnke

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Beschreibung

Die beiden Jungen verschwinden in der Finsternis. Ich will gerade aus dem Schatten der Fischerhütte hervortreten, als Heike mich plötzlich heftig zurückreißt. "Was ist denn?", frage ich erschrocken. "Siehst du den Typ, Sabine? Das ist doch der Skipper von der Poseidon."

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Seitenzahl: 147

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Die Acht:

Bastian, 12,

hat kurzes blondes Stoppelhaar und sehr abstehende Ohren. Ist der Anführer der Jungen. Intelligent. Manchmal muffelig.

Sabine, 12, schulterlanges, dunkles Haar, als einzige nicht blond; spitze, schmale Nase; dicke Ponyfrisur. Wittert dauernd spannende Fälle. Sehr pfiffig.

Heike, 12, und Heiko, 11, Geschwister, haben beide ganz kurz geschnittenes blondes Haar. Heiko weiß immer alles, Heike ist sehr tierliebend und weichherzig. Hilfsbereit sind beide. Die Geschwister besitzen zusammen eine kleine Segeljolle, da sie auf einer Insel wohnen.

Susanne (Su), 8, Sabines jüngere Schwester, die immer mit will. Hat dünne, widerspenstige, rotblonde Zöpfe, ist lustig, lacht und weint viel, hat Sommersprossen. Su ist eine Nervensäge, aber lieb.

Florian (Flo), 10, hat ganz dicke blonde Locken (um die ihn die Mädchen beneiden). Flo ist klein und dünn, ein bisschen ängstlich. Liest leidenschaftlich gern.

Goldhamster Husch ist Heikes Liebling. Er sitzt meistens unter ihrem Pullover und ist immer dabei. Sein Fell ist besonders seidig. Ein großer Nüsse-Hamsterer. Kommt auf Heikes Pfiff. Fürchtet Kater Bandit wie den Teufel, da er dessen Absichten kennt.

Kater Bandit wurde irgendwann von Sabine halb ertrunken gefunden und adoptiert. Die Familie liebt ihn. Bandit ist pechschwarz mit weißen Pfoten. Er hat nur ein Auge. Hofft, irgendwann Hamster Husch zu erwischen. Geht meistens mit den Kindern mit. Ist ein ganz besonderer Kater.

Inhalt

Eine tolle Nachricht

Treffpunkt: Ausguck

Das Schmuggler-Trio

Reisefieber

Zwei blinde Passagiere

Auf der Hamburg

Aufgelaufen

Husch sorgt für Aufregung

In der Schatzhöhle

Bandit ist verschwunden

Heimlich an Land

Nachts in der Schmugglerhöhle

In der Klemme

Bandit auf Abwegen

Gabriele Cecilia Kuhnke (geb. Ammermann;* 19. Juni 1946 in Olsberg) ist eine deutsche Schriftstellerin; sie hat sich vor allem durch ihre Kinder- und Jugendbücher einen Namen gemacht. Geboren im Sauerland, besuchte sie in Arnsberg das Mädchen-Gymnasium. Seit ihrer Kindheit fühlte sie sich zu Wasser und Schiffen hingezogen, arbeitete nach ihrer Schulzeit auf einem Rhein-Schleppkahn. Die zwölfbändige Reihe Die Acht vom großen Fluss erschien erstmals zwischen 1985 und 1991im Schneider-Buch-Verlag. Sie lebt in Sommerland zwischen Elmshorn und Glückstadt.

Eine tolle Nachricht

Ich starre trübsinnig aus dem Giebelfenster meines Zimmers. So eine Gemeinheit! Ausgerechnet am ersten Ferientag regnet es in Strömen.

Vor dem Deich wälzt der breite Fluss seine schmutzigen grauen Fluten dem Meer zu. Der Bananensand – das ist eine Insel – mitten in der Elbe, die so heißt, weil sie die Form einer Banane hat, verbirgt sich hinter einem dichten Regenschleier. Ich kann kaum das Reetdach des großen Bauernhofes erkennen, in dem meine Freundin Heike mit ihrem Liebling, dem Goldhamster Husch, mit ihren Eltern, ihrem Bruder Heiko, zwanzig Kühen, einigen Schafen und Hühnern und dem Schäferhund Wotan wohnt.Was Heike jetzt wohl macht? Bestimmt hockt sie auch in ihrem Zimmer, spielt mit Goldhamster Husch und ärgert sich über das schlechte Wetter.

Missmutig blicke ich zum grauen Himmel auf. Leider sieht es nicht so aus, als ob es heute noch besser werden würde. Die Regentropfen prasseln laut gegen die Fensterscheibe. Unser Reetdach sieht ganz dunkel aus vor Nässe.

Im kleinen Hafen von Diekhusen ist ebenfalls nichts los. Einsam und verlassen schaukeln die Boote am Anlegesteg. Nicht einmal der alte Kuddel, dem doch sonst Wind und Regen nichts ausmachen, ist heute mit seinem Boot unterwegs.

Ich seufze laut.Vierzehn Tage Herbstferien – und so ein Mistwetter! Das sind ja trübe Aussichten. Plötzlich wird die Tür meines Zimmers ungestüm aufgerissen, und meine kleine Schwester Susanne platzt mit ihrer Babypuppe, die sie auf den komischen Namen Gerapita getauft hat, herein.

„Was willst du?“, frage ich unwirsch. Ich mag es nämlich nicht, wenn sie so aus heiterem Himmel in mein Zimmer stürzt, ohne vorher anzuklopfen.

„Sabine, ich habe solche Langeweile. Spielst du mit mir Mensch-ärgere-dich-nicht?“

Erwartungsvoll blickt sie mich an. Ich hebe abwehrend beide Hände. Mit Su Mensch-ärgere-dich-nicht spielen – das hält nur jemand mit starken Nerven aus, und die habe ich heute nicht. Su regt sich nämlich immer fürchterlich auf, wenn ihre Spielfiguren hinausgeworfen werden, so dass das Spiel meistens damit endet, dass sie alles durcheinanderfegt und wütend wegläuft. Sie kann einfach nicht verlieren, ohne sich zu ärgern.

„Dann eben nicht“, sagt Su schnippisch und setzt eine beleidigte Miene auf. „Kommst du wenigstens mit zum Ausguck?“

„Bei dem Regen?“ Ich stöhne und zeige zum Fenster. „Ohne mich.“

„Es regnet schon den ganzen Tag Bindfäden“, sagt Su und seufzt.

„Wieso Bindfäden?“, frage ich verdutzt.

„Der Regen sieht doch genauso aus“, erklärt meine kleine Schwester mit nachdenklichem Gesicht.

„Wie lauter lange, dünne Fäden, die vom Himmel fallen.“ Ich muss zugeben, dass sie mit ihrem Vergleich gar nicht so unrecht hat.

„Leider regnet es nur Fäden. Mir wären Lollis lieber.“ Su kichert glucksend über ihren Einfall.

Ich muss ebenfalls laut lachen, als ich mir bildlich vorstelle, wie lauter Lollis vom Himmel fallen. „Das wäre ja wie im Schlaraffenland.“

„Sieh mal, Sabine“, unterbricht Su meine Gedanken, „Bandit schleicht auf dem Deich herum.“

Neugierig presse ich meine Stirn gegen die Fensterscheibe. Tatsächlich, mein pechschwarzer Kater mit den weißen Pfoten und nur einem Auge, der nichts so hasst wie Wasser, steigt vorsichtig den Deich hinauf. Er hebt seine Pfoten dabei ganz hoch und schüttelt sie unwillig, wenn sie mit dem nassen Gras in Berührung kommen.

Ich klopfe an die Scheibe. Bandit bleibt überrascht stehen, hebt den Kopf und miaut freudig, als er mich hinter dem Fenster entdeckt. Mit Riesensätzen springt er den Deich hinunter und verschwindet in unserem Garten.

„Er will ins Haus, er ist ja pitschnass!“, rufe ich mitleidig und renne die Treppe hinunter, um ihn hereinzulassen.

Bandit kratzt bereits ungeduldig an der Haustür. Als ich öffne, schüttelt er sich unwillig, drängt sich rasch an mir vorbei in den warmen Flur und beginnt sogleich sein nasses Fell trocken zu lecken.

„Wo hast du dich nur wieder herumgetrieben, Bandit?“, frage ich kopfschüttelnd.

Bandit blinzelt mich mit seinem gesunden Auge kurz an und leckt dann ausgiebig weiter, mit einer Schnelligkeit, als hinge sein Leben davon ab.

Ich will gerade die Haustür schließen, als unser Kombiwagen in die Auffahrt einbiegt. Mein Vater kommt von seinem Dienst auf dem Zollkreuzer zurück. Er steigt aus dem Auto, springt rasch über die Pfützen zur Haustür und schüttelt sich genauso wie Bandit eben.

„Puh, ist das ein Wetter!“, stöhnt Papa und zieht seine nasse Jacke aus. „Jetzt freue ich mich auf eine Tasse heißen Kaffee. Wo ist Mama?“

„Mama ist zu Büntjes gegangen, um frischen Bienenstich zu kaufen.“ Ich blicke auf meine Armbanduhr. „Eigentlich ist sie schon recht lange fort. Sie muss jeden Augenblick zurückkommen.“

„Na“, meint mein Vater ahnungsvoll, „wenn Uta in den Laden gegangen ist, kommt sie so schnell nicht wieder zum Vorschein. Frau Büntje lässt sie nicht eher fort, bis sie ihr sämtliche Neuigkeiten aus Diekhusen erzählt hat.“

Da hat Papa recht. Obwohl nur neun Häuser zu unserem Dorf gehören, scheint es Frau Büntje an Gesprächsstoff nie zu mangeln. Sie weiß nicht nur alle Neuigkeiten aus Diekhusen, sondern auch alles, was in den umliegenden Bauernhöfen passiert ist.

„Frau Büntje ist eine lebende Tageszeitung“, ulkt Papa manchmal, wenn meine Mutter gar nicht mehr aus dem Laden kommt.

Weil ich sowieso nichts zu tun habe, folge ich meinem Vater in die Küche und sehe zu, wie er Wasser in die Kaffeemaschine füllt.

„Wie war 's denn heute auf der Elbe?“, erkundige ich mich gespannt. „Habt ihr Schmuggler gefangen?“

„Nein. Aber wir haben eine rund ein Komma acht Seemeilen lange und fünfzig bis hundert Meter breite Ölspur in der Elbmündung entdeckt.“

„So eine Gemeinheit!“ Ich bin empört. „Nur weil so ein kurzsichtiger Kapitän Geld sparen will, lässt er das Altöl seines Schiffes einfach ins Meer laufen.“

„Das Schlimme daran ist, dass nicht weit von der Stelle der Nationalpark Wattenmeer beginnt. Eilige Fischer haben berichtet, dass die Wattkante durch das Öl bereits in Mitleidenschaft gezogen worden ist.“

Ich balle die Fäuste. Über solche verantwortungslosen Umweltsünder kann ich mich immer furchtbar aufregen. Ob die gar nicht daran denken, welchen Schaden sie damit allein bei den Seevögeln anrichten, die durch die Ölpest zugrunde gehen? Ein Glück, dass mein Vater und seine Crew auf dem Zollkreuzer immer ein wachsames Auge haben. Aber sie können natürlich mit ihrem Schiff nicht an allen Stellen zugleich sein.

„Habt ihr die Übeltäter wenigstens geschnappt?“, erkundige ich mich eifrig.

„Leider nicht. Inzwischen hat die Wasserschutzpolizei die Ermittlungen aufgenommen. Aber die werden natürlich durch den dichten Nebel erschwert.“

„Hoffentlich werden die Umweltsünder gefasst!“

„Das hoffe ich auch. Wie wär's Sabine, deckst du schon mal den Tisch? Der Kaffee ist gleich fertig.“

Ich öffne die Schranktür und hole zwei Tassen und Untertassen heraus.

„Was habt ihr denn am ersten Ferientag unternommen?“, erkundigt sich mein Vater.

„Gar nichts“, sage ich missmutig. „Endlich sind die Herbstferien da, und was ist? Es gießt in Strömen! Das werden öde Ferien“, füge ich düster hinzu. „Es ist zum Ausrasten.“

„Ihr armen Kinder“, spottet mein Vater. „Wenn das so ist, muss ich schnell Abhilfe schaffen.“ Er zwinkert mir zu. „Ich habe eine gute Nachricht für euch, Sabine.“

Erwartungsvoll blicke ich Papa an. Für gute Nachrichten bin ich immer zu haben.

„Was denn?“, frage ich gespannt.

„Ihr könnt morgen früh mit der Hamburg in See stechen!“

„Wirklich?“ Jetzt lasse ich beinahe vor Überraschung die Zuckerdose fallen. Im letzten Moment kann ich sie geistesgegenwärtig auffangen. Sie bleibt zum Glück heil, nur der Zucker liegt auf dem Boden.

Wir warten schon so lange darauf, dass wir mit der Hamburg, dem neuen Zollkreuzer, auf Seestreife fahren dürfen, dass wir kaum noch daran glauben. Weil wir vor einigen Wochen die Glückstadt, das alte Zollschiff, auf dem mein Vater Kapitän ist, gerett haben, wurde uns als Belohnung eine Fahrt nach Helgoland versprochen. „Ja, wirklich.“ Mein Vater nickt. „Wie du weißt, Sabine, liegt die Hamburg in Cuxhaven. Meine Männer und ich übernehmen morgen das Schiff. Wir sind zwei Tage unterwegs. Jetzt in den Herbstferien versäumt ihr wenigstens nichts in der Schule, und wenn wir die Fahrt noch länger hinausschieben, wird es zu kalt werden. Morgen ist ja bereits der erste Oktober.“

„Super, Papa!“ Ich fliege meinem Vater an den Hals. „Das muss ich sofort den anderen sagen! Die werden Augen machen.“

Ich könnte glatt von der Erde abheben, so sehr freue ich mich. Endlich passiert mal etwas! Dieser Tag, der so langweilig begann, endet also doch nicht so öde.

Ich stürze die Treppe hinauf und in mein Zimmer, reiße die Schranktür weit auf, falle auf die Knie und wühle ein knallrotes Tischtuch hinter meinen Sweatshirts hervor. Misstrauisch blicke ich mich um, aber meine Furcht ist unbegründet. Su hat mein Zimmer inzwischen verlassen. Ich atme erleichtert auf. Sie darf unseren Geheimcode nicht erfahren, Das ist ausschließlich das Geheimnis von mir und meiner Freundin Heike.

Das rote Tischtuch bewahre ich für den Notfall immer in meinem Schrank auf. Meine Mutter hat es sowieso nie benutzt, weil sie die Farbe viel zu schreiend fand. Ich glaube, sie hat das Tuch inzwischen ganz vergessen.

Ich öffne das Fenster und schwenke das rote Tischtuch hastig hin und her. Es stört mich nicht, dass mir der Regen dabei ins Gesicht klatscht und auf den Teppichboden pladdert. Falls Heike sich in ihrem Zimmer aufhält und dabei ab und zu aus dem Fenster schaut, muss sie das leuchtend rote Tuch einfach bemerken. In dem Fall wird gleich das Telefon läuten, denn das rote Zeichen bedeutet in unserer Geheimsprache: Alarmstufe eins! Sofort anrufen!

Ich lausche gespannt. Wirklich klingelt plötzlich das Telefon. Hastig ziehe ich das Tuch ins Zimmer zurück, knalle das Fenster zu und stürze zur Treppe.

„Das ist für mich.“ Ich schiebe Su beiseite, die bereits vor mir an der Treppe ist, um als erste am Apparat zu sein.

„Hier ist Sabine Rehder“, keuche ich atemlos in den Hörer.

„Sabine, was ist passiert?“, höre ich Heikes aufgeregte Stimme.

„Warum hast du Alarmstufe eins signalisiert?“

„Heike, wir müssen uns sofort auf dem Ausguck treffen. Wichtige Neuigkeiten. Könnt ihr kommen?“

„Ich glaube schon. Aber Heiko wird kaum begeistert sein, wenn er bei dem Schmuddelwetter mit der Jolle nach Diekhusen hinüberfahren soll.“

„Es ist äußerst wichtig. Große Superüberraschung.“

„Große Überraschung?“ Heike pfeift erregt. „Dann kommen wir natürlich sofort.“

„Okay, bis später. Flo und Bastian müssen auch noch benachrichtigt werden.“

Ich knalle den Hörer auf die Gabel und blicke Su an, die auf dem Treppenabsatz hockt, an ihren Zopfenden dreht und neugierig die Ohren spitzt.

„Was ist los, Sabine?“, fragt sie gespannt. „Vorhin war dir's noch so langweilig.“

„In wenigen Minuten kann sich viel ändern!“ Ich grinse gutgelaunt und streiche meine nassen Ponyfransen aus der Stirn. „Su, lauf rasch zu Flo hinüber und sag ihm, dass wir uns sofort auf dem Ausguck treffen müssen.“ Su macht ihre großen, erstaunten Kulleraugen. „Am Ausguck, bei diesem Regen?“, fragt sie überrascht. „Vorhin hattest du doch keine Lust, zum Ausguck zu gehen.“

„Jetzt habe ich eben meine Meinung geändert.“

„Was ist denn los? Irgendwas muss doch passiert sein.“

Meine kleine Schwester kann es vor Neugierde kaum noch aushalten. Aber es macht mir Spaß, sie etwas zappeln zu lassen.

„Das erfährst du alles auf dem Ausguck. Los, beeil dich, es ist wichtig!“

„Na, wenigstens passiert mal wieder was.“ Su springt auf.

„Sabine“, bettelt sie, „kannst du mir nicht schon ein bisschen verraten?“

Ich schüttele den Kopf.

Aber Su gibt nicht so schnell auf. „Nicht ein klitzekleines bisschen?“ „Nein“, sage ich streng. „Du erfährst alles auf dem Ausguck. Also, zieh ab, und vergiss dein Abzeichen nicht.“ Su zieht zwar einen Flunsch, aber sie läuft folgsam mit mir nach oben, um ihr Abzeichen zu holen. Unser Abzeichen besteht aus einem viereckigen blauen Stück Stoff, auf das Heike mit viel Mühe eine gelbe Acht gestickt hat. Die blaue Farbe soll den großen Fluss versinnbildlichen, und die Acht, das sind natürlich wir: mein Vetter Bastian, Heike und Heiko, Flo, Su und ich und – nicht zu vergessen – Kater Bandit und Hamster Husch.

Ich stecke das Abzeichen mit einer Sicherheitsnadel an mein Sweatshirt, denn ohne Abzeichen darf niemand den Ausguck betreten. Als Su und ich unsere gelben Gummistiefel anziehen und in die Regenjacken schlüpfen, kommt Mama gerade vom Einkaufen zurück. Sie schüttelt die Regentropfen von ihrem Schirm.

„Wo wollt ihr beide denn hin, bei dem Wetter?“, fragt sie entgeistert, als sie uns in unseren Regenjacken sieht.

„Wir haben eine wichtige Besprechung, Mama“, erklärt Su mit geheimnisvoller Miene.

„Jetzt draußen herumzulaufen ist unvernünftig. Ihr holt euch nur einen Schnupfen. Eure Besprechung könnt ihr doch auch hier im Haus abhalten.“

Ich schüttele heftig den Kopf. Wenn wir etwas Wichtiges zu bereden haben, treffen wir uns immer auf dem Ausguck. Dort kann uns garantiert keiner stören oder belauschen, weil niemand von den Erwachsenen etwas von unserem geheimen Treffpunkt weiß.

„Das geht nicht, Mama!“, erklärt Su energisch. „Und wer soll den ganzen Bienenstich essen?“ Meine Mutter deutet auf ihren Einkaufskorb, aus dem

herrlicher Kuchenduft steigt.

Su und ich zögern unwillkürlich. Ein leckeres Stück Bienenstich wäre nicht zu verachten. Da fällt mir eine rettende Lösung ein.

„Kann ich für jeden von uns ein Stück mitnehmen, Mama?“

„So viel Zeit, um mit Papa und mir Kaffee zu trinken, werdet ihr doch wohl noch haben“, empört sich Mama. Aber als sie sieht, dass wir wie auf heißen Kohlen stehen, lenkt sie seufzend ein: „Gut, wenn es unbedingt sein muss.“

Sie packt die verlockend duftenden Kuchenstücke in Folie ein und legt sie sorgfältig in eine Plastiktüte. Inzwischen suche ich Opas alten, schwarzen Regenschirm. Das Tolle daran ist, dass er riesige Ausmaße hat und beinahe so groß ist wie ein Sonnenschirm.

„Bandit, willst du mitkommen?“

Mein Kater hört auf, sich zu lecken, und blickt mich so vorwurfsvoll an, als wollte er sagen: Noch mal in den Regen? Nein, danke, ohne mich.

„Dann eben nicht.“ Ich nehme die Plastiktüte mit den Kuchen unter den rechten Arm, Opas Schirm unter den linken und knalle die Haustür hinter Su und mir zu.

Treffpunkt: Ausguck

Auf der Straße ist niemand zu sehen. Nur eine leuchtend gelbe Kugel rast über den Gehweg in Richtung Haus Nummer 1. Das ist meine kleine Schwester in ihrer zitronengelben, vom Wind aufgeblähten Regenjacke. Sie will Florian, der von uns Flo genannt wird, Bescheid sagen.

Ich laufe zu unserem Nachbarhaus, dem letzten Haus von Diekhusen. Nicht ein einziges Auto steht auf dem Parkplatz. Das Café im ersten Stock ist leer; kein Wunder bei dem Nieselregen. Wer verspürt da schon Lust, einen Ausflug an die Elbe zu machen? Außerdem ist heute Montag, und in der Woche haben nur die Rentner Zeit zum Spazierengehen, und selbst die sind zu Hause geblieben.

Ich renne über die Auffahrt und klopfe an Bastians Fenster. Sein Zimmer liegt zu ebener Erde. Mein Vetter findet das äußerst praktisch. Er kann zu allen Nachtzeiten das Haus verlassen, indem er einfach aus dem Fenster steigt, ohne dass seine Eltern etwas merken.

Bastian legt das Flugzeugmodell beiseite, an dem er gerade herumbastelt, und öffnet das Fenster. Seine kurzen Stoppelhaare stehen wie die Stacheln eines Igels in die Höhe, und seine ab stehenden Ohren sind vor Eifer gerötet.

„Was willst du denn bei dem Sauwetter, Sabine?“, fragt er nicht gerade höflich. Er ist unwillig, weil ich ihn beim Basteln störe.

„Wichtige Neuigkeiten. Treffpunkt: Ausguck. Zeit: sofort!“, platze ich heraus, drehe mich auf dem Absatz um und renne davon.

„Halt, warte mal, Sabine!“, schreit Bastian hinter mir her. „Ich baue gerade die Tragflächen von dem Airbus zusammen und habe jetzt keine Zeit. Ist was passiert?“

Ich tue so, als ob ich ihn nicht höre, und laufe durch die Lücke im Deich zum Hafen. Bastian wird jetzt zwar wütend herumschimpfen, aber schließlich wird er doch zum Ausguck kommen, weil er viel zu gespannt ist, was ich Neues zu berichten habe.