Die Akte Tengelmann und das mysteriöse Verschwinden des Milliardärs Karl-Erivan Haub - Liv von Boetticher - E-Book + Hörbuch

Die Akte Tengelmann und das mysteriöse Verschwinden des Milliardärs Karl-Erivan Haub Hörbuch

Liv von Boetticher

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Beschreibung

Die Geschichte liest sich wie ein Hollywood-Thriller, ist aber wahr: Am 7. April 2018 verschwindet der deutsch-amerikanische Milliardär Karl-Erivan Haub im Gletschergebiet am Matterhorn. Der bestens trainierte Extremsportler hinterlässt keine einzige Spur, keinen Hilferuf, kein Zeichen eines Überlebenskampfes. Im Oktober 2018 wird die Suche nach ihm offiziell eingestellt, seine Leiche wird nie gefunden. Ein Bruder Haubs lässt den Unternehmer für tot erklären, was seine Macht in einem Firmenimperium sichert, zu dem unter anderem OBI, KiK und Teile von Zalando gehören. Die Investigativjournalistin Liv von Boetticher hat den Fall jahrelang recherchiert. Obwohl ihr jede Menge Steine in den Weg gelegt wurden, erhielt sie Zugang zu streng vertraulichen Akten privater Ermittler. Sie lassen den Schluss zu: Der Verschwundene könnte noch leben – und zwar in Russland. Viel spricht dafür, dass der frühere Chef des Tengelmann-Imperiums seit Jahren in äußerst dubiose Geschäfte in Russland verstrickt und vermutlich deswegen auf das Radar der amerikanischen Bundespolizei FBI und der CIA geraten war. Eine spannende Lektüre aus der Welt von Reichen, die sich mit den falschen Leuten eingelassen haben.

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Zeit:11 Std. 37 min

Sprecher:Katja Amberger

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LIV VON BOETTICHER

DIE AKTE TENGELMANN

UND DAS MYSTERIÖSE VERSCHWINDEN DES MILLIARDÄRS KARL-ERIVAN HAUB

Welche Rolle der russische Geheimdienst spielt und warum deutsche Behörden nicht ermitteln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe

2. Auflage 2023

© 2023 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

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Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: shutterstock.com/eugen_z; shutterstock.com/Mikolaj Niemczewski

Satz: ZeroSoft, Timisoara

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95972-705-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-355-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-356-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

Inhalt

Prolog

Vorwort

Kapitel 1 Wer sind die Haubs?

Kapitel 2 Whistleblower oder gerissener »Zuflüsterer«?

Kapitel 3 Die Informationen der Tengelmann-Ermittler

Kapitel 4 Der Einfluss Russlands auf die deutsche Politik und Wirtschaft

Kapitel 5 Blick über die Schulter: Die Arbeit des RTL-Investigativteams

Kapitel 6 Die Medien lassen sich nicht kontrollieren

Kapitel 7 Die RTL-Doku: Wir recherchieren weiter

Kapitel 8 Resignation, neue Projekte und eine Wendung im Fall Tengelmann

Kapitel 9 Kurz vor der Veröffentlichung dieses Buchs

Epilog

Danksagung

Quellen

Prolog

Am 7. April 2018 beginnt in Zermatt am Fuß des Matterhorns eine mysteriöse Geschichte, die sich liest wie aus einem Hollywood-Drehbuch. Es ist die Geschichte des Tengelmann-Chefs Karl-Erivan Haub, der an diesem Tag frühmorgens zu einer Skitour aufbricht und seitdem verschollen ist. Es ist eine Geschichte von Macht und Betrug, von Geheimdiensten und Oligarchen, von Gier und Größenwahn. Eine Geschichte, an deren Ende zwei Privatermittler tot sein werden.

Der breiten Öffentlichkeit sind bis zu jenem Tag weder der Name Karl-Erivan Haub noch sein Gesicht sehr präsent, die Milliardärsfamilie lebt äußerst zurückgezogen. Die Firmen ihres Familienimperiums kennt jedoch fast jeder. Bis zu seinem Verschwinden lenkte Karl-Erivan Haub die Tengelmann Warenhandelsgesellschaft KG. Zu ihr gehören über die Jahre nicht nur die Supermärkte Kaiser’s und Tengelmann, sondern auch große Ketten wie OBI, KiK, Netto, TEDi und Internetbeteiligungen wie Zalando, Westwing und viele mehr. Die Familie ist in der Wirtschaft ganz oben angekommen. Sie pflegt außerdem enge Kontakte zu den höchsten Kreisen der deutschen und amerikanischen Politik.

Unmittelbar nach dem Verschwinden in den Schweizer Alpen beginnt eine beispiellose Suche, finanziert aus privaten Mitteln der Familie und von Tengelmann-Mitarbeitern koordiniert. Im Verlauf der Jahre steigen die Kosten auf mehrere Millionen Euro und es werden weltweit Ermittlerteams beschäftigt. Denn schnell wird klar: In Zermatt wird man nicht fündig. Die Ermittler müssen ihren Fokus ausweiten – bis nach Russland.

Nach und nach kommt ans Licht: Karl-Erivan Haub, für viele bis dahin der Inbegriff eines »ehrbaren Kaufmanns«, pflegte offenbar über Jahre hinweg intensive Kontakte und Geschäftsbeziehungen in Russland. Seine dortigen Partner: mitunter dubiose Gestalten mit höchst krimineller Vergangenheit. Auch seine Beziehung zu einer jungen Russin wirft viele Fragen auf. Allem Anschein nach ist Veronika, so ihr Name, eine aktive Agentin eines russischen Nachrichtendienstes. Sie begleitet den Milliardär auf Reisen. Auch in der Nacht vor seinem Verschwinden hat sie mehrere Stunden mit ihm telefoniert.

In welche dunklen Machenschaften ist der deutsche Milliardär möglicherweise verstrickt? Ist er als eine Art Doppelagent für Russland tätig, was die internen Tengelmann-Ermittler inzwischen als Option in Betracht ziehen?

Warum waren kurz nach seinem Verschwinden sowohl der amerikanische Inlandsgeheimdienst FBI als auch der amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA in Zermatt vor Ort? Warum verschließen die deutschen Behörden bis heute ihre Augen?

Welche Rolle spielt Christian Haub, Karl-Erivans jüngster Bruder und der heutige Firmenlenker, in der ganzen Geschichte? Weiß er womöglich mehr, als er zugeben will?

Bis heute fehlt von »Charlie«, wie ihn seine Familie und enge Freunde nennen, offiziell jede Spur. Doch stimmt das wirklich? Oder soll die Öffentlichkeit dies glauben?

Investigativjournalisten konnten im Jahr 2021 einen umfassenden Einblick in die jahrelangen Nachforschungen der internen Tengelmann-Ermittler nehmen und die streng geheimen Dokumente auswerten. Auf dieser Grundlage wurde der Fall Karl-Erivan Haub in einer knapp zweijährigen journalistischen Recherche neu aufgerollt und durch eine Vielzahl von Ermittlungsergebnissen ergänzt: Offenbar ist der Aufenthaltsort des verschollenen Milliardärs innerhalb seiner Familie zeitweise bekannt. Doch warum wird er verheimlicht? Und welchen Zusammenhang gibt es zwischen den internen Tengelmann-Ermittlungen und dem plötzlichen Tod von zwei externen Privatdetektiven?

Vorwort

Ich glaube an das Schicksal. Und dass ich im Januar 2021 mehr oder weniger zufällig zu dieser Geschichte gekommen bin, hat sicherlich etwas damit zu tun. Zu diesem Zeitpunkt brauchte ich eine Aufgabe. Nicht nur dienstplantechnisch gesehen.

Im Herbst 2020 stehe ich vor der Entscheidung, die Mediengruppe RTL nach fünf Jahren zu verlassen und mich einem neuen Projekt zu widmen. Es zieht mich weg aus Leipzig, wo ich zwei Jahre lang Korrespondentin für RTL/n-tv gewesen bin. Mein Ziel: Berlin. Der Vertrag beim größten Mitbewerber von RTL liegt unterschrieben in meiner Wohnung, doch ich zögere ihn abzuschicken.

Mitte Oktober 2020 fasse ich mir dann ein Herz und teile der RTL-Chefredaktion mit, dass ich den Sender verlassen werde. Doch ein Mitglied der RTL-Chefredaktion »interveniert«, eine junge Frau. Sie will, dass ich bleibe und künftig für sie in der Primetime arbeite. Sie bietet mir an, ich könne dort zukünftig an großen, abendfüllenden Dokus arbeiten und in Berlin leben. Eine junge Frau als Chefin und Berlin als Wohnort – damit war die Entscheidung für mich gefallen.

Nicht so richtig klar war mir damals aber, was solche Themen sein könnten. Das RTL-Programm in der Primetime bestand, wie ich es zu diesem Zeitpunkt empfand, hauptsächlich aus Formaten wie »Wer wird Millionär?« und »Bauer sucht Frau«. Mein erklärtes Ziel waren Recherchen in Kriegs- und Krisengebieten sowie Hotspots weltweit. Aber wir würden sicherlich gemeinsam eine Lösung finden.

Zufrieden mit meiner Entscheidung ziehe ich vor Weihnachten 2020 erst mal von Leipzig nach Berlin und richte mich in meinem neuen Zuhause ein. Anfang Januar 2021 ruft mich meine Chefin dann an: »Es geht um diesen verschollenen Milliardär, der vielleicht in Russland lebt. Mach dich auf die Suche nach Karl-Erivan Haub und seiner russischen Geliebten.« Ich habe noch keine Ahnung, wer dieser Mann sein soll, und sprühe daher auch nicht vor Begeisterung.

Dass diese Recherche aber d i e Geschichte meines Lebens werden würde, hätte ich zu diesem Zeitpunkt nie gedacht. Dass ich noch Jahre später nachts auf dem Sofa in meiner Wohnung digitale Spuren in Russland überprüfen würde, weil mich diese Geschichte nicht mehr loslässt: In jenem Moment lag nichts ferner als das.

Weder von Karl-Erivan Haub noch vom Rest seiner Familie habe ich bis dato gehört. Doch ich erinnere mich dunkel daran, dass einige Jahre zuvor von einer großen Such- und Rettungsaktion in Zermatt berichtet wurde. Bilder von Hubschraubern, die vor der Matterhorn-Kulisse starten und landen, kommen mir wieder in den Sinn. Dass es sich bei dem vermissten Skifahrer von damals um den Tengelmann-Chef handelte, hatte ich schon wieder vergessen.

So richtig begeistert bin ich von der neuen Aufgabe nicht. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich durch Moskau stapfen und auf der Suche nach der vermeintlichen Geliebten an fremden Türen läuten.

Doch es hilft ja nichts, meinen ersten Auftrag im neuen Job kann ich schließlich nicht sofort verweigern. In den ersten Januartagen lese ich mich also erst mal in die Familiengeschichte der Haubs ein und gewinne einen Überblick über die Geschäftsstruktur. Schnell wird mir klar: Hinter der Fassade der sympathischen Milliardärsfamilie muss sich noch eine andere Realität verbergen. Allem Anschein nach gibt es erhebliche Missstimmungen zwischen den drei Brüdern Karl-Erivan, Georg und Christian Haub. Karl-Erivan soll seinen Bruder Georg für mehrere Millionen Euro beschatten lassen haben. Jedenfalls steht es so in der Presse. Ich kann mir das Ganze zwar nur schwer vorstellen, doch so langsam ist meine Neugierde geweckt.

Im Laufe der darauf folgenden zwei Jahre sammeln meine Kollegen und ich genügend Fakten und Indizien, die einen ungeheuerlichen Verdacht erhärten: Der aktuelle Aufenthaltsort von Karl-Erivan Haub in Russland ist im Umfeld der Familie (zeitweise) bekannt und es wird alles unternommen, um ihn vor der Öffentlichkeit und vor den Institutionen und Behörden zu verschleiern. Dieses Buch lässt tief eintauchen in eine Welt aus Gier und Verrat, aus Lügen und verletzten Eitelkeiten, Verstrickungen zu verschiedenen Geheimdiensten, Beziehungen bis in die höchsten Kreise der Macht, die Machenschaften dubioser Geschäftspartner, darunter Geldwäsche. Das alles liest sich wie ein Krimi und macht auch deutlich: Es geht um viel mehr als um eine reiche Familie, ihr Unternehmen und die dunklen Seiten ihres Privatlebens. Nicht nur einmal werden wir Journalisten Ziel von Überwachungsmaßnahmen und von verschiedenen Seiten gewarnt, nicht zu viele Fragen zu stellen. Und als wir uns mit Hinweisen an die deutschen Behörden wenden, reagieren sie nicht.

Viele haben ein großes Interesse daran, die Umstände des mysteriösen Verschwindens des Tengelmann-Milliardärs Karl-Erivan Haub verdeckt zu halten. Doch die Geschichte ist so groß und umfangreich und sie weist so viele Bezüge zu Skandalen auf, dass es mir sehr am Herzen liegt, sie zu veröffentlichen. Ich habe nicht aufgehört zu recherchieren, und nach zwei weiteren Jahren gelingt nochmals ein spektakulärer Durchbruch. Nach wie vor und sogar jetzt erst recht besteht ein öffentliches Interesse daran, den Fall aufzuklären. Nicht zuletzt hoffe ich, mein Buch wird die Behörden endlich dazu veranlassen, in diesem Fall zu ermitteln.

Kapitel 1

Wer sind die Haubs?

Die Familie und das Unternehmen

Der Name Haub sagt vielen Menschen, so wie auch mir zu Beginn der Recherche, vermutlich erst mal wenig. Und doch kaufen die meisten von uns regelmäßig in einem ihrer Geschäfte ein. Die Haubs sind eine der reichsten und einflussreichsten Familien des Landes, denn sie sind die Herrscher über die Tengelmann-Unternehmensgruppe. Zu diesem Großkonzern gehören mehr als 70 Beteiligungen, darunter die Baumarktkette OBI, der Textilhändler KiK und der Onlineshop für Baby- und Kinderartikel Babymarkt1 sowie bis zu ihrem Verkauf auch die Billigkette TEDi,2 die Supermärkte Netto,3 Tengelmann,4 Kaiser’s5 und PLUS67. Außerdem hält das Unternehmen Beteiligungen im E-Commerce, zum Beispiel an Zalando8 und Westwing,9 sowie an Uber, Klarna und Delivery Hero,10 um nur einige zu nennen.

Die Haubs mischen also in so ziemlich jedem Bereich des Einzelhandels mit, sowohl stationär als auch online. Kaum eine Unternehmerfamilie genoss über die vergangenen Jahrzehnte hinweg so großes Ansehen und Anerkennung.11 Gleichzeitig betont kaum ein anderer Akteur der deutschen Wirtschaft seine Tradition als Familienunternehmen und die damit verbundenen Werte so gern und so oft wie die Haubs. Die Familiengeschichte füllt seitenweise die Tengelmann-Geschäftsberichte.12 Die Öffentlichkeit soll die Haubs in der Tradition der ehrbaren Kaufleute aus dem Ruhrgebiet wahrnehmen. Und bis zum mysteriösen Verschwinden von Karl-Erivan Haub am 7. April 2018 gelang das auch einigermaßen gut. Doch hinter der Fassade taten sich offenbar bereits seit vielen Jahren Abgründe auf.

In der Familie, so berichtet es mir die renommierte Wirtschaftsjournalistin Ursula Schwarzer vom Manager Magazin, sei es »nie besonders liebevoll zugegangen«.13 Schwarzer hat die Familie mehr als 20 Jahre lang begleitet und mehrfach persönlich getroffen. Der Druck auf die Söhne Karl-Erivan, Georg und Christian sei enorm. Es entwickelte sich offenbar ein echter Bruderstreit um die beste Position innerhalb der Familie und die Gunst der Eltern. Der älteste Sohn, Karl-Erivan, sei der Lieblingssohn von Mutter Helga Haub.14

Der mittlere Sohn, Georg, sei aufgrund häufiger gesundheitlicher Probleme laut Schwarzer das Lieblingskind des Vaters,15 der sich offenbar in ihm wiedererkennt und ihn »verhätschelt«.16 Christian, der jüngste Bruder, sagt von sich selbst, dass er eigentlich »nie so richtig gemocht wurde«.17 Die Brüder halten weder zusammen noch ziehen sie an »einem Strang«.18 Außerdem sollen die Eltern mit ihren drei Söhnen hadern, die Schwiegertöchter kommen obendrein offenbar nicht miteinander aus.19 Diese Einschätzung wird im Verlauf der Recherche so auch von den internen Tengelmann-Ermittlern bestätigt20 und Christian Haub, der aktuelle geschäftsführende Gesellschafter, hat sich dazu mittlerweile mehrfach öffentlich geäußert.21

Bei den Haubs, so beschreibt es mir die Journalistin Schwarzer im Interview weiter, sei »immer alles eine Fassade«.2223 Auf den ersten Blick scheine die Familie nahbar, da sie sehr freundlich auftrete und auch immer versucht habe, auf jede ihrer Fragen eine Antwort zu geben. Auf rein menschlicher Ebene jedoch käme man nicht an sie heran.24

Nicht die Leistung zählt, sondern der Name

Nicht nur in der Familie, auch in der Firma ist die Rangfolge klar geregelt: Karl-Erivan war als Erstgeborener quasi von Geburt an als Nachfolger bestimmt. Er ist so zusagen der Kronprinz und soll als Firmenlenker auf seinen Vater folgen. Der mittlere Sohn, Georg, ist geschäftlich »nicht voll einsatzfähig«25 und spielt daher immer eine Sonderrolle. Der jüngste Sohn, Christian, fühlt sich offenbar von der Familie unterdrückt und nicht ernst genommen.26 Neid und Missgunst untereinander scheinen die Brüder zu zerfressen.27 Doch von all diesen familiären Zerwürfnissen bekommt die Öffentlichkeit lange nichts mit. Die Haubs, so scheint es, sind eine Vorzeigefamilie der deutschen Nachkriegszeit: ehrbare Kaufleute, die durch harte Arbeit ein riesiges Imperium aufgebaut haben.

Natürlich: Hier und da ist das Unternehmen in die Bredouille geraten.28 Ob und wie dramatisch die finanziellen Schwierigkeiten des Konzerns jedoch sind, kann von außen kaum jemand abschätzen. Liegt in dieser Konstellation eine mögliche Ursache für das, was die Familie später heimsuchen wird? Für die unfassbare Geschichte, die Sie auf den folgenden Seiten lesen werden?

Haben die zwischenmenschlichen Zerwürfnisse, gepaart mit einer teils existenziellen Schieflage des Unternehmens, das Tor zu einer – sagen wir mal – anderen Geschäftswelt geöffnet? Ein Tor, das sich nicht mehr schließen lässt? Wie ist es zu erklären, dass einzelne Mitglieder dieser deutschen Vorzeigefamilie offenbar sehenden Auges mit Akteuren aus dem Spektrum der russischen Organisierten Kriminalität und Geldwäsche in Kontakt gekommen sind? Wie lassen sich die mutmaßlichen russischen Geheimdienstverbindungen des bis in die höchsten Ebenen der deutschen und amerikanischen Politik und Wirtschaft vernetzten Karl-Erivan Haub erklären?

In was ist die Familie Haub hineingeraten? Wer hat sie möglicherweise beeinflusst und von wem haben sie sich möglicherweise abhängig gemacht?

Dazu betrachten wir die Unternehmensgeschichte und die Familiengeschichte näher.

Vom Kolonialwarenladen zum Weltkonzern

Die Geschichte des milliardenschweren Großkonzerns Tengelmann beginnt ganz bescheiden im Jahr 1867 mit der Gründung eines kleinen Kolonialwarenladens durch Wilhelm Schmitz-Scholl in Mülheim an der Ruhr. Gehandelt werden unter anderem Kaffee und Tee, zur damaligen Zeit eine Sensation. Der kleine Laden wächst schnell, unter der Führung der zweiten Generation, den Söhnen des Gründers, Wilhelm junior und Karl Schmitz-Scholl, werden kleine Verkaufsstände eröffnet. Ihr Prokurist Emil Tengelmann ist Namensgeber für das darauf aufbauende Unternehmen, das 1893 gegründete »Hamburger Kaffee-Import-Geschäft Emil Tengelmann«. Ein riesiger Erfolg, eine Filiale nach der anderen wird eröffnet. Bis zum Ersten Weltkrieg sind es rund 560 in ganz Deutschland. Sogar eine Schokoladenfabrik kommt hinzu. Im Jahr 1933 übernimmt die dritte Generation die Leitung der Geschäfte: die Kinder von Karl Schmitz-Scholl, seine Tochter Elisabeth Haub und sein Sohn Karl Erivan Schmitz-Scholl junior. Sie sind die Großmutter und der Großonkel des verschollenen Karl-Erivan Haub.

In dieser Zeit beginnt aber auch ein dunkles Kapitel der Tengelmann-Geschichte, denn die Firma und ihre Eigentümer pflegen enge Kontakte zu Nazis in hohen Positionen und profitieren wirtschaftlich enorm: Unter anderem produziert das Unternehmen in dieser Zeit Spezialnahrung für die Wehrmacht.29

Karl Erivan Schmitz-Scholls Ehe bleibt kinderlos und nach seinem Tod wird sein Neffe Erivan Karl Haub, der Sohn von Elisabeth Haub, in vierter Generation der neue Chef des Familienunternehmens. Unter seiner Regie wächst Tengelmann zu einem Weltkonzern.

Stammbaum der Familie Haub

Warum heißen alle Erivan?

Spätestens an dieser Stelle verliert man ein wenig den Überblick, denn alle handelnden Akteure heißen gleich. Selbst der Sohn des verschollenen Karl-Erivan Haub heißt ebenfalls Erivan. Hinter der Namensgebung verbirgt sich jedoch mehr als eine einfache Familientradition: In einem Interview äußerte sich der verschollene Karl-Erivan Haub einmal, diese Tradition deute auf die Herkunft des Familienstamms aus Armenien hin, dessen Hauptstadt Jerewan oder anders geschrieben Eriwan ist.30 Interessant ist diese Äußerung allemal, da im Verlauf der Recherche immer wieder geschäftliche und nachrichtendienstliche Bezüge zu Armenien aufgetaucht sind. Und: Mit der Namensgebung wird quasi schon bei der Geburt bestimmt, wer einmal die Verantwortung für das Familienunternehmen tragen soll.

Die Patriarchen: Erivan Karl und Helga Haub

Erivan Karl Haub, der Vater des verschollenen Karl-Erivan, führt die Unternehmensgruppe Tengelmann zusammen mit seiner Frau Helga von 1969 bis ins Jahr 2000. Er denkt groß und kauft Konkurrenten auf, zum Beispiel das Kaffeegeschäft Kaiser’s. Er gründet den Markendiscounter PLUS und übernimmt 1979 in den USA die Mehrheit an A&P, einem echten Schwergewicht der Branche.31 Als Lebensmittelhändler wird Tengelmann das größte Unternehmen in Deutschland und in Europa.32 Haub expandiert, gründet neue Filialen, kauft unablässig Firmen hinzu, so die Baumarktkette OBI und den Billighändler KiK.

Der Konzern besitzt Kaffeeröstereien und eine Süßwarenfabrik. Aber der europäische Markt reicht dem ehrgeizigen Kaufmann nicht mehr, er will auch im Osten wachsen. Das war in den 1970er- und 1980er-Jahren, einer Zeit, in der es »nur bergauf ging und man im Handel gar nichts falsch machen konnte«33. Zeitweise wird Tengelmann zum größten Lebensmittelhändler der Welt. Zunächst funktioniert das Konglomerat prächtig, die Geschäfte florieren. Mitte der 1990er-Jahre erwirtschaftet das Unternehmen mehr als 50 Milliarden Mark an Umsatz und beschäftigt rund 200.000 Mitarbeiter. Erivan Karl Haub ist gesellschaftlich hoch angesehen, eine schillernde Größe der deutschen Wirtschaft. Er wird zu einem der reichsten Männer des Landes.

Doch der Patriarch ist nicht innovativ. Er entwickelt keine neuen Vertriebstypen.34 Erivan Karl Haub übernimmt sich und verliert den Überblick:35 Das Konglomerat ist kaum noch zu steuern, es ruht auf zu vielen einzelnen Säulen – und der Alte weigert sich, sich von Verlustbringern zu trennen. Und so steht das Familienunternehmen Ende der 1990er-Jahre kurz vor der Pleite.36 Der Patriarch hat »sich finanziell übernommen und mit 24 Geschäftsfeldern total verzettelt«.37 Er muss immer mehr Geld aus eigenen Mitteln nachschießen, zum Schluss spricht man von 500 Millionen Euro aus seinem Privatvermögen.38 Dass die Tengelmann-Geschichte nicht an dieser Stelle endet, ist Haubs Ehefrau Helga zu verdanken, einer »sehr, sehr klugen Frau«, wie Ursula Schwarzer sie mir beschrieb.39 Helga Haub kennt den ehemaligen Chef des Darmstädter Kosmetikunternehmens Wella, Peter Zühlsdorff, und holt ihn Anfang 199840 gegen den Willen ihres Mannes zu Tengelmann.

Nachdem der neue Manager bei Tengelmann angefangen hat, räumt er erst mal auf. Offenbar erweist er sich sogar als »wahrer Segen«41. Er kann den Senior »mit wohldosiertem Druck«42 davon überzeugen, Teile des Unternehmens zu verkaufen. Mehrfach droht der neue Manager zu kündigen, wenn sich der Patriarch seinen Ideen nicht beuge.43

Ende 1999 übergibt der Senior schließlich das operative Geschäft und damit das »marode Konglomerat«44 an seine beiden Söhne: Sein ältester Sohn Karl-Erivan leitet von nun an die Geschicke des Großkonzerns, seinem jüngsten Sohn Christian vertraut er das US-Geschäft an. Der mittlere Sohn Georg leitet offiziell das Immobiliengeschäft. Inoffiziell ist es jedoch eher so, dass man ihm nicht mehr zutraut,45 er gilt als das »schwarze Schaf«46 der Familie. Die Söhne, so schreibt es in dieser Zeit das Manager Magazin, seien mit den Hinterlassenschaften ihres Vaters »offenkundig überfordert«. »Der fünften Generation« sei »das Unternehmer-Gen abhandengekommen«.47 Nach der Übergabe der Macht bleiben Vater und Söhne jedoch noch zusammen in einem Beirat des Unternehmens.48

Am 6. März 2018 stirbt der Patriarch im Alter von 85 Jahren auf seiner Ranch in Wyoming. Wie sich erst später bei der Auswertung der Telefondaten seines verschollenen Sohns herausstellt, bringt der Tod des Vaters offenbar irgendetwas ins Rollen: Einen Monat und einen Tag später, am 7. April 2018, verschwindet Karl-Erivan Haub unter mysteriösen Umständen spurlos in Zermatt.

Angst vor Erpressung, RAF-Entführung und Bürgerkrieg

Schon in den 1950er-Jahren kaufen Erivan Karl Haub und seine Frau Helga eine riesige Ranch im US-Bundesstaat Wyoming, wo er später auch Bisons züchtet.49 Später hält sich die Familie häufig in ihrer Zweitheimat USA auf, nicht zuletzt, weil sie es in Deutschland zunehmend ungemütlich finden.

Die 1970er-Jahre sind durch die spektakulären Entführungen des Aldi-Mitbegründers Theo Albrecht (1971) und des Unternehmersohns Richard Oetker (1976) geprägt. Viele Familienunternehmer bekommen Angst, es könne sie als Nächstes treffen. So auch Haub Senior, der sogar auf einer Liste der Rote Armee Fraktion (RAF) steht.50 Die Sicherheitsvorkehrungen werden hochgefahren, erste gepanzerte Autos und Begleitfahrzeuge eingesetzt. Die tägliche Fahrstrecke wechselt. Der Unternehmer fürchtet, ausgehend von den Anschlägen der RAF, einen linken, kommunistischen Umsturz der Gesellschaft. Es ist die Zeit des Kalten Kriegs und Erivan Karl Haub hat Angst vor Russland.

Für den Fall, dass es in Deutschland zu einem linksgerichteten Bürgerkrieg käme, sollen die Vereinigten Staaten der Zufluchtsort der Familie sein. Alle drei Söhne kommen daher in den USA zur Welt und besitzen neben der deutschen auch die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Diese Tatsache ist eine wichtige Information für die weitere Recherche, denn sollten amerikanische Staatsbürger in dubiose oder gar kriminelle Machenschaften mit Russland verwickelt sein, liegt es im Interesse der amerikanischen Geheimdienste, darüber Bescheid zu wissen.

Wahlkampfwerbung und CDU-Spendenaffäre

Erivan Karl und Helga Haub genießen ihren gesellschaftlichen Status in vollen Zügen und knüpfen enge Kontakte auf höchster politischer Ebene in Deutschland, aber auch in ihrer zweiten Heimat, den USA. Bilder zeigen den Patriarchen Haub 2011 in vertrauter Runde mit dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl.51 Auch politisch gilt der Senior als großer Unterstützer der CDU. Er gehört zu Kohls Beraterstab, als die Mauer fällt, und unterstützt ihn 1994 mit Wahlwerbung. Nur zwei Tage vor der Bundestagswahl schaltet er in 30 Tageszeitungen ganzseitige Anzeigen, in der die Supermarktkette mit damals 200.000 Mitarbeitern die Wahlempfehlung »Im Zweifelsfall für Kohl« ausspricht. Kohl gewinnt die Wahl.

Als im Jahr 1999 die CDU-Spendenaffäre ins Rollen kommt, gibt Kohl die angeblichen Spender nicht preis. Gerüchte halten sich bis heute, Erivan Karl Haub könne einer von ihnen gewesen sein. Auch Beatrice Herbold, die ehemalige Geliebte von Helmut Kohl, gibt in ihrem Buch einen interessanten Hinweis:52

»Ich zählte also diese drei Namen auf: erstens, zweitens, drittens. Ich sprach noch, da fiel Kohl das schwere Messer aus der Hand. Das Silber krachte auf den Porzellanteller. Es schepperte gewaltig, was Kohl kaum wahrnahm. Er schaute mich erschrocken an, presste die Lippen aufeinander, die Augen verengten sich zu Schlitzen – eine ungewohnte Mimik. Ich hatte diesen Gesichtsausdruck bei ihm noch nie bemerkt. Wenn sie diese Namen errät, dann wird es nicht mehr lange dauern, las ich in seinem Gesicht. Helmut Kohl nickte nachdenklich, sagte aber kein einziges Wort. (…) Erivan Haub – diesen Namen hatte ich als zweiten genannt. Der Eigentümer und Chef der Mühlheimer Tengelmann-Gruppe war einer der reichsten Deutschen.«53

Mit dem Ausscheiden von Erivan Karl Haub als Konzernlenker Ende der 1990er-Jahre endet die außerordentliche Nähe des Konzerns zur CDU nicht. Auch unter seinem Sohn Karl-Erivan hat es immer wieder deutliche Wahlkampfehlungen für die Christdemokraten gegeben: 2005 mit dem Slogan »Im Zweifel für eine Frau«. Damals wird Angela Merkel das erste Mal Bundeskanzlerin. Von 2013 ist der Slogan »Im Zweifel für die Raute«.54 Tengelmann hatte auf dem Bild schon das Kreuz unter der berühmten »Merkel-Raute« gesetzt. Die Anzeige erscheint ganzseitig im Handelsblatt. Auch dieses Mal gewinnt Merkel die Wahl.

Der Star: Karl-Erivan Haub – Bruch mit der Familie

Karl-Erivan Haub wurde am 2. März 1960 in Tacoma im US-Bundesstaat Washington geboren. Seit 1989 ist er mit seiner Ehefrau Katrin verheiratet. Seine Karriere beginnt der Milliardärssohn zunächst außerhalb des Familienunternehmens, bei Nestlé Foods in der Schweiz und später bei der Unternehmensberatung McKinsey in Düsseldorf. Doch mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 tritt er in das zu diesem Zeitpunkt schon strauchelnde Familienunternehmen ein und leitet den Aufbau Ost, also die Expansion in die neuen Bundesländer. Er sei »1990 gleich rübergegangen« und habe »in einem Wohnwagen gelebt«, so Haub in einem Interview. Offenbar wollte er dort Standorte für Tengelmann-Läden finden.55 Anfang der 2000er-Jahre übernimmt er schließlich die komplette Firmenleitung von seinem Vater, es ist eine unternehmerisch sehr herausfordernde Zeit:56 Zwar gibt es einige gesunde Unternehmensteile, doch das Konglomerat ist viel zu groß, um wirtschaftlich zu sein.

Haub versucht Ordnung in das Chaos zu bringen: Jahrelang doktert er am eigentlichen Kerngeschäft herum, dem Lebensmitteleinzelhandel. Zusammen mit dem neuen Top-Manager, der sich langsam zu einem engen Vertrauten und einer fast väterlichen Figur entwickelt, muss Karl-Erivan Haub nun das Unternehmen radikal umbauen und sich von Altlasten trennen. Anders ist es nicht mehr zu retten. Schritt für Schritt zieht sich Tengelmann aus dem Lebensmittelhandel zurück, zunächst mit dem Verkauf der PLUS-Filialen in Deutschland. Im Jahr 2013 beschließt Haub dann, Kaiser’s Tengelmann an Edeka zu verkaufen. Es folgt ein zwei Jahre währender Übernahmekampf, den Haub als »Höllenritt«57 beschreibt.

Der Tengelmann-Chef will die Supermärkte geschlossen an den Konkurrenten Edeka übergeben, doch der Rivale Rewe blockiert diesen Schritt. Das Kartellamt interveniert, aber Karl-Erivan Haub schafft es, die Politik für sich einzuspannen:58 Am Ende entscheidet der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel und erteilt eine sogenannte Ministererlaubnis. Die meisten Filialen gehen an Edeka, ein kleiner Rest an Rewe.59 Wie eng und gut das Verhältnis des SPD-Spitzenpolitikers zu den Haubs ist, zeigt die Tatsache, dass Sigmar Gabriel nach dem Verschwinden von Karl-Erivan Haub zu der nur kleinen und sehr exklusiven Zahl an geladenen Gästen der Trauerfeier gehört.

Nach dem Verkauf von Kaiser’s Tengelmann ist der ganze Lebensmittelbereich weg, der den Konzern einst groß gemacht hat und in dem die DNA des Familienunternehmens liegt. Wie immens die Verluste sind, zeigt ein Blick in die Finanzen: Der Konzern schrumpft unter Karl-Erivan Haub gewaltig: 2003 lag der Umsatz bei 27 Milliarden Euro, 2016 sind es nur noch circa 6,5 Milliarden Euro.60 Einer der größten Verlustbringer ist dabei das US-Geschäft, das der jüngste Sohn Christian leitet: A&P muss Insolvenz beantragen und Karl-Erivan Haub macht seinen jüngeren Bruder Christian dafür verantwortlich.61 Ein Bruch geht durch die Familie, es entstehen zwischenmenschliche Verletzungen, die offenbar zu tief sind, um zu heilen.

Von jetzt an besteht Tengelmann nur noch aus der Baumarktkette OBI, dem Billig-Kleiderhandel KiK, aus Immobilien und diversen Internetbeteiligungen. In diesem letzten Punkt beweist der junge Firmenlenker aber den richtigen Instinkt und investiert in den boomenden Online-Handel.

Karl-Erivan Haub, so scheint es, macht endlich alles richtig. Er ist der neue, strahlende Stern an der Spitze des Familienunternehmens.

Spitzelaffäre: Karl-Erivan lässt Bruder Georg beschatten

Im Jahr 2016 erfährt die Öffentlichkeit erstmals, was hinter der Fassade der ehrbaren Kaufmannsfamilie noch so passiert: Offenbar hatte Karl-Erivan Haub seinen Bruder Georg, dessen Familie, einen Bodyguard und diverse Geschäftspartner über Jahre hinweg für rund 8 Millionen Euro durch die Detektei Adato beschatten und bespitzeln lassen.62 Ein riesiger Skandal: So etwas hat es in der deutschen Wirtschaft – und dann auch noch bei einer angesehenen Familie wie den Haubs – noch nie gegeben. Und doch muss man heute rückblickend sagen: Dieser Skandal war nur ein winziger Vorgeschmack für die Abgründe, die sich in den folgenden Jahren auftaten.

Im Verlauf der Recherche gelingt es meiner Redaktion und mir erstmals, direkt mit einer damals unmittelbar mit der Sache betrauten Person63 zu sprechen. Was wir erfahren, wirft ein völlig neues Licht auf den Skandal und Karl-Erivan Haubs Rolle. Nach allem, was wir heute wissen, handelt es sich bei dem sogenannten Adato-Komplex weniger um einen hinterlistigen Akt innerfamiliärer Spionage als vielmehr um präventive Schutzmaßnahmen, da Karl-Erivan Haub möglicherweise eine ernstzunehmende Bedrohung für seine Familie und das Unternehmen identifiziert hatte. Eine Sorge, die ich nach heutiger Datenlage teile und für begründet halte. Die Spur führt nach Russland.

Um die Hintergründe zu verstehen, muss man auch die psychische Struktur von Karl-Erivan Haub kennen: Die Wirtschaftsjournalistin Ursula Schwarzer traf ihn über Jahre mehrfach persönlich und beschreibt ihn als einen äußerst misstrauischen Mann, der in allen Bereichen des Lebens auf größten Erfolg und höchste Leistung setzt – sowohl als Unternehmer als auch im Extremsport.64 Die Journalistin charakterisiert Haub als sehr machtorientiert. Er sei jemand, der niemanden neben sich dulde. Seine Eitelkeit paare sich mit dem Wunsch, immer der Beste zu sein: vor den Eltern, vor den Brüdern, vor der Öffentlichkeit, vor seiner Frau.65

Einmal sei Haub sogar bei einem Marathon fast bewusstlos gegen eine Wand gelaufen. Offenbar hatte er sich einfach übernommen. Der Milliardär nimmt an den schwierigsten Skirennen der Welt teil.66 Dafür trainiert er (zumindest offiziell) auch am Tag seines Verschwindens am 7. April 2018 in Zermatt. Gegen sich selbst geht Haub hart vor: Er ist ein Asket und Perfektionist, bereitet sich akribisch auf Dinge vor, geht im Sport über seine Grenzen hinaus. Rückblickend scheint es, als versuche er ständig, die Grenzen des Machbaren zu verschieben. An der Spitze kann es offenbar nur einen geben: ihn.

Doch der Milliardär kann auch ausgesprochen charmant sein, ein guter Redner, ein Frauenheld. Er gilt als jemand, der sehr auf seine Außenwahrnehmung bedacht ist. Es sei ihm wahnsinnig wichtig, als »ehrbarer Kaufmann« dazustehen und dabei »die Familie in den Vordergrund zu stellen« sowie »immer die Fassade zu erhalten«.67

Und um diese Fassade aufrechtzuerhalten, sei der verschollene Milliardär auch zu lügen bereit: Immer wieder habe der Tengelmann-Chef beispielsweise behauptet, ein »gutes Verhältnis« zu seinen Brüdern zu haben. Tatsächlich erklärt sein jüngster Bruder nun in aller Öffentlichkeit: »Wir konnten überhaupt nicht miteinander!«68 und er sei unterdrückt worden. Auch sei der mittlere Bruder Georg fünf Jahre lang bespitzelt worden. Aus Sicht der Wirtschaftsjournalistin Schwarzer habe das »nichts mit einer intakten Familie zu tun«.69 Außerdem, so berichtet sie mir, könne der inzwischen verschollene Tengelmann-Chef auch unwirsch und hart werden, nämlich dann, wenn es nicht so laufe, wie er es sich vorstelle.70 Charaktereigenschaften, die jedoch am meisten hervorstechen, seien sein Misstrauen71 und sein extremes Sicherheitsbedürfnis72.

Der Schock der Oetker- und Aldi-Entführungen der 1970er-Jahre sitzt bei Karl-Erivan Haub offenbar tief: Er prägt ihn in seiner Kindheit und im Erwachsenenalter. Haub entwickelt ein deutlich »erhöhtes Sicherheitsbedürfnis«73: Sein Fahrer müsse beispielsweise abwechselnde Routen von seinem Wohnsitz in Köln zum Firmengelände nach Mühlheim an der Ruhr fahren, es gibt kaum öffentliche Fotos. Sein Wohnhaus und seine Fahrzeuge werden mit Panzerglas ausgestattet. Haub lässt sogar seine Personenschützer darauf schießen, um zu prüfen, ob die Scheiben tatsächlich einem Feuergefecht standhalten.74 Bei diversen Anlässen begleiten den Milliardär bis zu 18 (!) Personenschützer.75

Wie lässt sich unter Berücksichtigung dieses allseits bekannten Sicherheitsbedürfnisses erklären, dass Karl-Erivan Haub im Frühling 2018 offenbar alle seine sonstigen Gewohnheiten über Bord wirft und sich ganz allein in eines der gefährlichsten Gletschergebiete der Welt begibt?

»Schwarzes Schaf«76 mit vielen Frauen: Georg Haub

Georg Haub wird als mittlerer Sohn im Jahr 1962 geboren. Im jungen Erwachsenenalter diagnostizieren die Ärzte bei dem gelernten Schreiner eine Krankheit, was seinen weiteren Lebensweg stark beeinflusst. Er ist geschäftlich »nicht voll einsatzfähig«77 und lässt sich auf Gesellschafterversammlungen regelmäßig vertreten. Seine Gesundheit ist im familiären Umfeld kein Geheimnis, mehrere Personen7879 haben mit mir darüber offen gesprochen. Außerdem bekomme ich im Rahmen meiner Recherche Zugang zu den Adato-Akten. Sie enthalten auch mehrere ärztliche Gutachten sowie interne Korrespondenzen zwischen Georg Haub, seiner damaligen Ehefrau und behandelnden Ärzten. Die Wirtschaftsjournalistin Ursula Schwarzer berichtete, dass Georg Haub aufgrund seiner Krankheit im Unternehmen »wenig sagen« dürfe,8081 eine »Nebenrolle, die seinem Selbstbewusstsein nicht gerade zuträglich«82 sei.

Georg Haub führt zudem ein höchst unbeständiges Liebesleben, das viel Zündstoff und eine Menge Drama bietet. Es ist ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse und damit wohl ein Dorn im Auge der öffentlichkeitsscheuen Familie. Die Haubs befürchten, dass eine von Georgs Frauen ihn in erster Linie finanziell ausnehmen wolle.83 Man glaubt offenbar, dass der mittlere Sohn nicht richtig abschätzen könne, mit welcher Absicht sich Menschen in seinem Umfeld aufhalten.84

Aktuell ist Georg Haub in vierter Ehe mit einer Berliner Masseurin verheiratet, die er in ihrem Massagesalon kennengelernt hat.85 Für sie verließ er seine dritte Ehefrau, die angeheiratete Preußen-Prinzessin Anabel Ternès.86 Als besonders interessant erweist sich im Rahmen der Recherche jedoch seine zweite Ehefrau.

Sie tauchte laut Aussagen der Familie um das Jahr 2009 auf und findet in den Adato-Akten besonders viel Beachtung. Es besteht bis heute der Verdacht, Personen aus dem Umfeld der russischen Organisierten Kriminalität könnten die hübsche Frau bewusst im Umfeld von Georg Haub platziert haben, um über sie den gesundheitlich angeschlagenen mittleren Sohn zu steuern,87 dem immerhin ein Drittel des Milliarden-Konzerns gehört. Offenbar ist diese Sorge gerechtfertigt, denn im Jahr 2010 betritt plötzlich ein dubioser Banker die Bühne – und Georg Haub erteilt ihm eine Generalvollmacht.88 Die Vollmacht bedeutet nichts anderes, als dass der bis dahin unbekannte Banker quasi über Nacht ein Drittel von Tengelmann kontrollieren kann. Sein Name: Francisco Guadamillas Cortes.89 Karl-Erivan Haub ist offenbar höchst alarmiert, denn dem ehemaligen JP-Morgan-Banker Cortes werden unbewiesene Verbindungen zur russischen Mafia,909192 zu Drogenkartellen in Kolumbien,93 Geldwäsche949596 und Wladimir Putin979899100 nachgesagt. Auch dem Bundeskriminalamt ist der Mann wegen des Verdachts auf Geldwäsche und Verbindungen zur russischen Organisierten Kriminalität bekannt.101102103 Aus den Adato-Akten geht die Befürchtung hervor, es sei »eine Struktur geschaffen worden«, »die das Unternehmen zunächst infiltriert«, um so von innen heraus nach und nach an das Vermögen der Familie zu gelangen.104

Der Adato-Komplex: »Operation Sissy«

Die Spitzelaktion durch die Detektei Adato kommt im Jahr 2016 ans Licht, es platzt eine mediale Bombe:105 Das bisherige Saubermann-Image der Familie Haub wird schwer beschädigt. Dass die Öffentlichkeit überhaupt davon erfährt, was sich hinter den Kulissen der »ehrbaren Kaufleute« abspielt, ist der Tatsache geschuldet, dass ein ehemaliger Adato-Mitarbeiter versucht hatte, Karl-Erivan Haub zu erpressen. Der Mann forderte mehrere Zigtausend Euro Schweigegeld pro Monat bis an sein Lebensende, ansonsten würde er das kompromittierende Material an die Presse geben106107. Doch Karl-Erivan Haub lehnte ab und das Material gelangte aktenweise an den Springer-Verlag108. Im Laufe der Recherche habe ich den Erpresser von damals ausfindig gemacht: Bis heute versucht er, mit seinem Wissen Geld von der Familie zu erpressen.

Die Berichte der diversen Überwachungsaktionen füllen bis zu 80 Leitzordner,109 wobei der weit überwiegende Teil der Ordner die Überwachungen von Georg und dessen Umfeld betrifft. Diese sind laut einem Protokoll, das mir eine Quelle mit Zugang zu höchst vertraulichen Informationen im Verlauf der Recherche zukommen lassen wird, »in einem separaten Raum verwahrt worden und auf Anweisung von GH [Georg Haub] nach dem Verschwinden von KEH [Karl-Erivan Haub] geschreddert worden«.110 Auch Katrin Haub soll einem Bericht des Manager Magazins zufolge nach dem Verschwinden ihres Mannes mehrere dieser brisanten Dokumente an sich genommen haben.111

Die Überwachungsaktion vom mittleren Haub-Bruder trägt den Namen »Operation Sissy«, weil sich einer der Hauptakteure, der Banker Francisco Guadamillas Cortes,112 hauptsächlich in Österreich und der Schweiz aufgehalten haben soll.113 Im Zuge unserer Recherche gelingt es meinen Kollegen und mir unter Wahrung des Quellenschutzes, erstmals mit einer Person zu sprechen, die direkt mit der ganzen Sache betraut war und daher über Insiderwissen verfügt.

Georg Haubs gesundheitlicher Zustand ist innerhalb der Familie ein großes Thema. Die Familie hat offenbar das Gefühl, »auf Georg Haub besonders Acht geben zu müssen«. Und in dieser Situation betritt nun im Jahr 2010 der ehemalige JP-Morgan-Banker Francisco Guadamillas Cortes die Bühne: mit einer Generalvollmacht über den gesundheitlich angeschlagenen Georg Haub.114 Karl-Erivan Haub war »sehr erschrocken und sehr schockiert«,115 denn Cortes war in der Vergangenheit mehrfach Vorsitzender und im Beirat von Firmen, die dem Umfeld der russischen Organisierten Kriminalität zuzurechnen sind.116117118119120

Unter anderem war der Banker bis 2002121 Aufsichtsratsvorsitzender der Sankt Petersburger Immobilien AG (SPAG), sesshaft im südhessischen Mörfelden-Walldorf, in welcher der russische Präsident Wladimir Putin Beiratsvorsitzende war. Dem Unternehmen wurde damals vorgeworfen, »im großen Stil Schwarzgelder der russischen Mafia, insbesondere aus Sankt Petersburg gewaschen zu haben«,122 ein Vorwurf, auf dessen Grundlage schließlich das Bundeskriminalamt seine Ermittlungen aufnahm.123124125126127128 Einem Gründungsaktionär der SPAG werden zudem Verbindungen zu südamerikanischen Drogenkartellen und damit zusammenhängender Geldwäsche nachgesagt.129130 Cortes fühlte sich jedoch offenbar zu Unrecht beschuldigt und erhob eine entsprechende Schadensersatzklage gegenüber der Bundesregierung.

Das Verfahren wurde schließlich wegen Verjährung eingestellt, die Vorwürfe blieben unbewiesen und Cortes nahm seine Schadensersatzklage gegen die Bundesrepublik Deutschland zurück.131 Außerdem war Cortes ehemaliger Vorsitzender des Direktorenrats der Snamenskaja AG,132 welche die SPAG als Gesellschafterin hat, aber ebenfalls unter dem Verdacht der Geldwäsche steht.133 Außerdem soll die Snamenskaja AG personell und finanztechnisch134135136 mit der St. Petersburger Tambow-Bande verbunden gewesen sein, einer einflussreichen Gruppierung der russischen Mafia. Der Kopf der Tambow-Bande Wladimir Kumarin war 1994 Vorstandsmitglied der Snamenskaja AG137 und gut bekannt mit Wladimir Putin (genau wie der heutige Kopf der Tambow-Bande, Gennadi Petrow138). Durch die Ermittlungen des Bundeskriminalamts wurde Cortes bei JP Morgan wegen seiner Verbindung zur SPAG wegen »Rufschädigung« gekündigt.139 Doch die SPAG ist nur eines der Unternehmen, das in Verbindungen mit Geldwäsche steht: Cortes war auch bis 2009 Aufsichtsratsmitglied140141142 der litauischen Snoras Bank.

Diese Bank wurde 2011 überraschend vom Staat übernommen und notverstaatlicht, nachdem bekannt wurde, das drittgrößte Finanzinstitut des Landes sei in kriminelle Geschäfte verwickelt,143 unter anderem Bilanzfälschung und Geldwäsche.144 Der Mehrheitseigentümer Wladimir Antonow145146 wurde von Interpol gesucht und schließlich 2011 festgenommen. Woher sein Vermögen ursprünglich kommt, lässt sich nicht feststellen. Auch taucht Cortes als Managing Director einer Bank im Steuerparadies Andorra auf, bei der Crédit Andorrà.147 In dieser Funktion tritt er als Speaker beim Moscow International Financial Forum 2012 auf.148 Andorranische Banken kamen in der Vergangenheit immer wieder mit Geldwäsche für die Organisierte Kriminalität in Russland sowie mit ausländischen Korruptionsgeschäften149150 in Verbindung.

Wie aber war der mittlere Haub-Bruder mit diesem Mann in Kontakt gekommen? Nicht weiter verwunderlich, dass Karl-Erivan Haub darüber erschrocken war. Zunächst forderte der Tengelmann-Chef seinen jüngeren Bruder auf, die »Beratertätigkeit« mit Cortes unverzüglich aufzukündigen.151 Dem kommt Georg Haub offenbar auch nach, die Sache sei »offiziell erledigt« gewesen.152 Doch inoffiziell wird die »Operation Sissy« fortgesetzt. Karl-Erivan Haub hat offenbar den Wunsch, der »Sache auf den Grund zu gehen«,153 notfalls Maßnahmen ergreifen zu können, um die Firma und seinen Bruder zu schützen. Haub und seine Sicherheitsleute von Adato wollen wissen, wie der Kontakt zu Cortes zustande kam und welche möglichen Interessen der Banker an Georg Haub haben könnte.154 Der Insider, mit dem wir gesprochen haben, betonte mehrfach, diese Ermittlungen hätten nicht der Überwachung gedient, sondern als »präventive Schutzmaßnahmen«. Auch Georg Haub scheint es später so empfunden zu haben, wie aus den Adato-Akten hervorgeht, die ich im Laufe der Recherche zugespielt bekam.

Karl-Erivan Haub und sein Beraterteam befürchteten, dass »weitere Personen (…), die diesem Umfeld von Cortes zuzuordnen sind, auf ihn Einfluss nehmen« könnten.155 Es herrschen »große Sorge und Ängste, dass Georg möglicherweise Opfer einer anderen Straftat« werden könnte:156 zum Beispiel »Entführung oder Tötung«157. Oder geht es eher darum, an das Geld des Milliardärssohns heranzukommen? Im Laufe der Recherche stoße ich auf eine Firma in Großbritannien, in der sowohl Cortes als auch Georg Haub als Direktoren registriert sind. Offenbar handelt es sich dabei um nicht viel mehr als eine Adresse auf einem Briefkasten.158

Sowohl das Bundeskriminalamt als auch der Bundesverfassungsschutz werden im Zuge der Adato-Ermittlungen über Cortes informiert und teilen die Befürchtung, Cortes könne über Georg Haubs zweite Ehefrau gezielt im Umfeld vom mittleren Haub-Sohn platziert sein worden. Die Fahnder empfahlen daher ebenfalls präventive Schutzmaßnahmen.159

Das ungeliebte Kind: Christian Haub

Der jüngste Sohn Christian Haub, am 22. Juli 1964 in Tacoma im US-Bundesstaat Washington geboren, hat mit seiner Frau Liliane vier Kinder. Im Jahr 1989 geht er in die USA, wo er als Investmentbanker tätig ist. Doch bei seiner Rückkehr nach Deutschland schlägt ihm offenbar wenig elterliche Liebe entgegen: Als er nach drei Jahren zurück nach Deutschland will, um im Unternehmen mitzuarbeiten, hätten seine Eltern das »abgelehnt«160, wie er im Interview berichtete.

Doch von den Dramen und Skandalen in der Familie bleibt Christian Haub zunächst verschont – oder besser: Die Öffentlichkeit bekommt lange nicht mit, wie sehr er offenbar über all die Jahre hinweg unter seiner Familie leidet. Erst nach Karl-Erivan Haubs mysteriösem Verschwinden spricht Christian Haub öffentlich darüber. Es ist eine späte Revanche.

Die Zurückweisung der Eltern muss sich für Christian Haub wie eine Missbilligung seiner Person und eine Degradierung angefühlt haben. Die Familie schiebt ihn mehr oder weniger ins Ausland ab: Er soll in den USA die amerikanische Tengelmann-Tochter A&P leiten. Doch die Firma steckt schon bei seiner Ankunft tief in den roten Zahlen, ist nicht gesund und lässt sich nicht mehr retten. Im Jahr 2010 muss Christian Haub für das Unternehmen Insolvenz beantragen. Für die Familie steht der Schuldige fest: Er. Seit diesem Moment ist der jüngste Sohn offenbar »endgültig unten durch«161 und das, obwohl auch sein ältester Bruder Karl-Erivan im gleichen Zeitraum mit dem Mutterkonzern Tengelmann ins Straucheln gerät.

Christian Haub rechtfertigte sich in einem seiner seltenen Interviews: Er habe »alle wesentlichen Entscheidungen« laufend mit seinem Bruder abstimmen müssen. Trotzdem hätten die Eltern die Schuld am A&P-Ende ihm in die Schuhe geschoben. Mutter Helga Haub habe ihm »nie eine echte Chance gegeben«, sondern »Charlie als ihren Lieblingssohn immer bevorzugt«,162163 während er »in Deutschland nicht existent war«.164 Und schlimmer noch: Bei der Trauerfeier seines Bruders habe sich Mutter Helga sogar zu der Bemerkung hinreißen lassen, der »falsche Sohn« wäre gestorben.165 Christian Haub sagt heute, die Familie habe »nie gut harmoniert«. Sein Vater habe nicht von der Macht lassen können. Diesen »Machtanspruch« hätten die Eltern »Karl-Erivan eingeimpft«, er habe ihn »verinnerlicht und perfektioniert.«166 Selbst nach dem mysteriösen Verschwinden seines Bruders habe seine Mutter »vergeblich versucht, Christian als neuen CEO zu verhindern«.167

Macht und eine tiefe innere Verletzung – sie scheinen die zentralen Elemente in Christian Haubs Leben zu sein. Vor allem, weil ihm beides offenbar so lange von der Familie verwehrt wird. Doch mit dem Verschwinden seines Bruders ändert sich über Nacht alles. Nach und nach sickern immer mehr Details über eine völlig zerrüttete Familie an die Öffentlichkeit. Christian Haub und seine Frau Liliane, so liest man heute, hätten »manche Demütigung über sich ergehen lassen müssen«.168 Der jüngste Sohn sei »nur unterdrückt worden«169 und habe sich in der Familie nie wirklich wohl gefühlt.

Die Wirtschaftsjournalistin Ursula Schwarzer beschreibt mir eine Situation aus dem Jahr 2009, in der sie die beiden Brüder zu einem gemeinsamen Interview getroffen hat. Sie hätten gemeinsam an einem langen Tisch gesessen und es sei ganz klar gewesen, »dass Karl-Erivan Haub hier der Macher ist. Alle Dinge werden von ihm erledigt. Der jüngere Bruder (…) durfte zwar auch mal was sagen, aber der Chef war er.« Es sei eine »sehr angespannte Atmosphäre« gewesen. Obwohl nach außen offenbar der schöne Schein gewahrt werden sollte, habe man die innerfamiliäre Abneigung »regelrecht spüren« können.170

Seit dem Verschwinden seines ältesten Bruders geht Christian Haub offen damit um, wie sehr er unter dessen Dominanz gelitten hat. Privat habe es »keine Kontakte« gegeben. Und geschäftlich habe man nur gut zusammenarbeiten können, solange der jüngste Bruder die Entscheidungen des ältesten Bruders »nicht hinterfragt« habe.171 Doch nicht nur Christian, auch seine Frau Liliane leidet sehr unter der hervorgehobenen Stellung von Karl-Erivan und Katrin Haub. Bis heute sind sich die Ehefrauen nicht grün.172

Katrin Haub gilt innerhalb der Familie als First Lady, ihr wird ein sehr gutes Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter Helga Haub nachgesagt. Zusammen mit den Patriarchen Erivan Karl und Helga Haub sind sie und ihr Mann das öffentliche Gesicht von Tengelmann. Man sieht sie zu viert gemeinsam auf großen Bällen und bei öffentlichen Anlässen. Katrin Haub ziert Titelseiten in der Klatschpresse: immer wunderschön und toll gestylt. Auf eine Homestory über ihr luxuriöses Anwesen in der Karibik sei sie besonders stolz gewesen.173 Die ganze positive Öffentlichkeit für den Familienstamm von Karl-Erivan muss ein wunder Punkt für den jüngsten Bruder Christian und seine Frau Liliane gewesen sein.174

Doch das Verhältnis zwischen den Brüdern ist so oder so unterkühlt, auch ohne dass die Ehefrauen sticheln. Es sei schlicht »grottenschlecht« gewesen:175 »Geschäftspartner und die Öffentlichkeit wussten kaum, dass Charlie auch noch zwei Brüder hatte.«176 An Christian Haub bleibt der Makel des weniger begabten Kinds haften. Doch dann kommt der 7. April 2018 und Karl-Erivan Haub, der ewige Konkurrent, verschwindet spurlos in den Bergen.

Für Christian Haub scheint das beruflich eine glückliche Fügung zu sein: Unmittelbar nach der Schreckensnachricht übernimmt er den Chefposten bei Tengelmann. Er, der immer im Schatten gestanden hat, ist nun die Nummer 1. Seine Stunde ist gekommen. All die Schmach, all die Verletzungen sind Vergangenheit. Der übermächtige Vater ist tot, der übermächtige Bruder ist verschollen. Nun sitzt er auf dem Chefposten.

Und er will unbedingt eigene Impulse setzen: Jede Spur seines Bruders soll offenbar verschwinden. Christian Haub räumt radikal auf. Die großen Unternehmensbeteiligungen OBI und KiK agieren selbstständig und brauchen wenig Aufmerksamkeit. Das Firmengelände in Mühlheim an der Ruhr ist daher mit rund 50.000 Quadratmetern viel zu groß. Der neue Firmenchef kappt alle Verbindungen, bricht mit der Familientradition und verlegt die Zentrale von NRW nach München. Sogar den Namen ändert er: Aus der Tengelmann Warenhandelsgesellschaft KG wird die Tengelmann Twenty-One KG.177 Alle Spuren der Vergangenheit verschwinden nach und nach.

Auch alte Berater, darunter ein Top-Manager und enger Vertrauter von Karl-Erivan Haub, der im Zuge der Recherche noch sehr wichtig werden wird, werden gnadenlos entmachtet.178 Aus dem Handelskonzern wird eine Investment-Gesellschaft, die sich ausschließlich um die Verwaltung des Familienvermögens in Höhe von schätzungsweise rund 5 Milliarden Euro kümmert.179

Und auch die gesamte Familie von Karl-Erivan, also dessen Ehefrau Katrin und die Zwillinge Viktoria und Erivan, sollen in ihrem Einfluss als Gesellschafter beschnitten – ja am besten ganz entfernt – werden. Alles, wirklich alles, was mit den Verletzungen der Vergangenheit zu tun hat, soll offenbar raus. Zu diesem Zweck setzt Christian Haub den Beirat neu zusammen und geht eine strategische Allianz mit seinem Bruder Georg ein. Er beruft den mittleren Bruder in den Beirat.180 Seine wenig geschätzte Schwägerin Katrin und ihre Kinder Viktoria und Erivan bleiben draußen.

Der Kampf ums Erbe beginnt.

Der Kampf ums Erbe

Bis zum Tod des Patriarchen Erivan Karl Haub am 6. März 2018, gehörte das Familienunternehmen vier Männern: den drei Brüdern Karl-Erivan, Georg und Christian jeweils zu 31,3 Prozent, dem Vater Erivan Karl zu 6,1 Prozent. Nach seinem Tod werden diese 6,1 Prozent jedoch nicht durch drei geteilt, sondern Karl-Erivan und Christian Haub erhalten jeweils die Hälfte. Georg Haub geht leer aus.

Doch mit dem plötzlichen Verschwinden von Karl-Erivan bleibt sein Anteil in »gewisserweise herrenlos«181. Katrin Haub will unbedingt vermeiden, ihren Mann für tot erklären zu lassen. Neben der Hoffnung, er könne doch noch gefunden werden, steckt zu diesem Zeitpunkt vermutlich vor allem eine finanzielle Sorge dahinter: In dem Moment, wo ihr und den gemeinsamen Kindern die Unternehmensanteile zufallen, wäre ein »mittlerer dreistelliger Millionenbetrag an Erbschaftssteuer fällig«.182183

Selbst für eine Milliardärsfamilie sind solche Summen nicht leicht zu stemmen. Das Vermögen ist nicht liquide vorhanden, sondern in Unternehmensanteilen und Immobilien langfristig investiert. Auf Christian Haubs Mitleid braucht der Kölner Familienstamm in dieser Situation nicht zu hoffen. Im Gegenteil: Christian Haub setzt die Erbschaftssteuer offenbar nun als Druckmittel ein. Er will seine Macht weiter ausbauen und Karl-Erivans Firmenanteile von dessen Kindern übernehmen – und zwar zu einem guten Preis.184

Doch Katrin Haub und ihre Kinder denken nicht daran, klein beizugeben. Sie weigern sich fast drei Jahre lang, den Ehemann und Vater für tot erklären zu lassen185 – denn die Erbschaftssteuer muss erst dann bezahlt werden, wenn jemand für tot erklärt wurde. Und da es keine Leiche gibt, gibt es auch keinen Toten. So einfach ist das.

Kapitel 2

Whistleblower oder gerissener »Zuflüsterer«?

Während ich im Januar 2021 gerade erst beginne, mich in die Welt der Familie Haub einzulesen, tobt bereits seit rund zwei Jahren ein erbitterter Kampf um das Erbe. Katrin Haub und ihre Kinder weigern sich vehement, Karl-Erivan Haub für tot erklären zu lassen. Und die fehlende Todeserklärung stellte für Christian Haub ein Problem dar. Solange »Charlies« Schicksal nicht offiziell geklärt ist, kommt er nicht an das Drittel der Unternehmensanteile heran, das sein Bruder innehat. Die fehlende Todeserklärung blockiert alle Entscheidungen.186

Ich lese alle Artikel, die ich über die Familie finden kann. Wegen Corona müssen wir von zu Hause aus arbeiten, doch eines der Fenster in meiner neuen Wohnung schließt nicht richtig, und durch den Zehn-Zentimeter-Spalt kommt Luft von draußen. Es ist fürchterlich kalt und wirklich ungemütlich. Und so bedrückt mich alles, was ich lese, noch mehr. Ich frage mich, ob es wirklich sein kann, dass ein Familienvater, Ehemann und Chef eines so großen Familienunternehmens seine ganze Verantwortung über Bord wirft und mit einer jungen Russin durchbrennt? »Nur« um ein neues Leben in Moskau oder St. Petersburg zu beginnen? Oder ist das innerfamiliäre Zerwürfnis noch schlimmer als gedacht? Es fühlt sich irgendwie für mich nicht stimmig an. Doch dass durch die Familie eine riesige Kluft geht und dass diese Frau im Leben von Karl-Erivan Haub existiert, daran scheint es keine Zweifel zu geben.

Seit dem Moment des mysteriösen Verschwindens in Zermatt im April 2018 hatten die Medien ausführlich über die Tragödie berichtet. Doch irgendwann im Jahr 2020 kippte die Berichterstattung hin zum Skandalösen: Es soll eine Russin im Leben von Karl-Erivan Haub gegeben haben, eine geheime Geliebte. Ist der Milliardär heimlich abgetaucht, um ein neues Leben in Russland zu beginnen? Von diesem Zeitpunkt an hat die Geschichte alles, was ein gutes Komplott braucht: viel Geld, schöne Frauen und Betrug. Es ist eine Geschichte, wie sie sich Hollywood nicht besser hätte ausdenken können.

Wer lässt meinen Kollegen, die über den Fall bis dahin berichtet haben, eigentlich diese höchst privaten Informationen zukommen? Es muss jemand aus dem engsten Umfeld der Familie sein, da sich die Familie selbst so gut wie gar nicht öffentlich äußert. Die Informationen müssen in irgendeiner Form überprüfbar und nachweisbar sein, denn sonst hätte die Familie bestimmt ein Heer von Anwälten geschickt, um die Veröffentlichungen zu unterbinden. Gerade schmeichelhaft sind sie für die Familie ja nun wirklich nicht. Als Journalistin weiß ich, wie hoch die Hürden sind, bevor eine reißerische Geschichte gedruckt oder gesendet werden kann: Die Angst vor Klagen ist in den Redaktionen groß. Bei solchen Storys sitzt die hauseigene Rechtsabteilung immer mit am Tisch. Die Haubs sind Milliardäre, sie könnten mit ihren unbegrenzten finanziellen Mitteln die Verlage in den Ruin treiben. So etwas riskiert eine Chefredaktion nur, wenn die Beweislage eindeutig ist.

Was also wissen Haubs Ehefrau Katrin und die Zwillinge über »Charlies« Verbleib? Geht es wirklich nur um die Erbschaftssteuer oder wähnen sie ihn am Ende selbst in Russland? Ist das der Grund, warum sie ihn partout nicht für tot erklären lassen wollen? Seit seinem mysteriösen Verschwinden hat seine Ehefrau die Rolle der sogenannten Abwesenheitspflegerin übernommen. Das heißt, für die Dauer seiner Abwesenheit kontrolliert sie das Vermögen und die Geschäfte ihres Mannes. Im Moment ist sie die Herrin über ein Drittel der Firmenanteile von Tengelmann.

Während der Recherche fällt mir auf, dass gut informierte Personen aus dem Umfeld von Christian Haub sehr häufig zitiert werden, das Umfeld von Katrin Haub jedoch fast gar nicht. Es scheint logisch, denn Christian Haubs Seite hat ein größeres Interesse, etwas an der aktuellen Situation zu ändern, als die Seite von Katrin Haub.

Ich muss irgendwie an diese Menschen herankommen. Am liebsten würde ich natürlich direkt mit den beteiligten Parteien Christian und Katrin Haub sprechen. Am 12. Januar 2021 kontaktiere ich daher zunächst eine Person, von der ich ausgehe, dass sie einen sehr guten Draht zu Christian Haub hat und die zu einer unserer wichtigsten Quellen werden und uns viele Türen öffnen wird. Nach einer kurzen Recherche ist mir klar: Der Mann spielt im Unternehmen eine sehr große Rolle und hat eine machtvolle Position inne, auch wenn er nicht direkt bei Tengelmann angestellt ist. Er scheint Christian Haub jedoch nicht nur sehr gut zu kennen, er darf sich auch offenbar (wahrscheinlich nach Absprache) in dessen Namen äußern. Außerdem nimmt der Mann im gerade stattfindenden Erbschaftsstreit eine wichtige Funktion ein. Leider bleibt es mir an dieser Stelle aus Gründen des Schutzes der Persönlichkeit verwehrt, diese Person beim Namen zu nennen. Ich bedauere dies zutiefst, denn bei dieser Person handelt es sich meiner Wahrnehmung nach um einen der skrupellosesten Akteure der ganzen Geschichte.

Dass ich über diesen machtvollen »Zuflüsterer« von Christian Haub überhaupt jemals schreiben werden würde, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Damals, im Januar 2021, hoffe ich lediglich, dass zumindest er zu einem Hintergrundgespräch bereit ist.

»Sehr geehrte Damen und Herren,

mein Name ist Liv von Boetticher, ich bin Journalistin im Investigativbereich der Mediengruppe RTL.

Ich recherchiere zum Verschwinden von Herrn Karl-Erivan Haub und möchte daher gerne ein Hintergrundgespräch mit (…) anfragen.

Ich freue mich auf Ihre Rückmeldung!

Mit freundlichen Grüßen,

Liv von Boetticher«187

Etwa drei Stunden später klingelt mein Telefon und der Mann ist am Apparat. Meine Handynummer steht zwar in der Signatur der E-Mail, trotzdem bin ich über seinen Anruf ziemlich überrascht. Es passiert eher selten, dass so hochrangige Personen aus dem direkten Umfeld der Geschäftsleitung freiwillig den Kontakt zur Presse suchen. Dieser Mann ist da jedoch offensichtlich anders gestrickt. Am Telefon erscheint er mir wie ein fröhlicher, sehr von sich selbst überzeugter Mensch. Mehrfach betont er, dass er glücklicherweise auf der »richtigen« Haub-Seite steht, nämlich der, die am Ende als Gewinner vom Feld ziehen würde.188 Wie ich der Presse bereits entnommen hatte, strebt die Seite von Christian Haub an, die Anteile von Katrin Haub zum bestmöglichen Kaufpreis zu übernehmen.189

Doch um den Verkauf anvisieren zu können, muss der Verschollene ja erst für tot erklärt werden. Und das, so mein Gesprächspartner am Telefon, sei nur noch eine Frage der Zeit. Er scheint sich seiner Sache sehr, sehr sicher zu sein. Zu meiner allergrößten Überraschung aber nicht, weil die Familie inzwischen davon ausgeht, dass Karl-Erivan Haub tatsächlich einen tragischen Unfall in den Alpen hatte, sondern ganz im Gegenteil: Jetzt, so erzählte es der Mann, lägen genug Hinweise vor, dass Karl-Erivan Haub sein Verschwinden bewusst herbeigeführt habe und sich wahrscheinlich in Russland aufhalte. Diese Hinweise seien so gewichtig, dass man nun anstreben könne, ihn als Gesellschafter der Firma Tengelmann auszuschließen. Während der Mann mit mir spricht und ohne Scheu die intimsten Informationen über die Familie Haub ausbreitet, frage ich mich, warum er das macht. Ist er ein Whistleblower, der aus einer inneren Überzeugung heraus handelt? Oder teilt er diese belastenden Informationen eher, weil er der Presse etwas »zuflüstern« soll – damit sich das Blatt im Erbschaftsstreit zugunsten von Christian Haub wendet? Ich beschließe, bei ihm vorsichtig zu bleiben. Sein Motiv ist mir in diesem Moment nicht klar.

Doch die Sache mit dem Gesellschafterausschluss ist interessant. Während meine Quelle mit mir spricht, krame ich in meinen Erinnerungen: Das Ganze kommt mir bekannt vor. Ich hatte über einen möglichen Ausschluss »wegen gesellschaftsschädigenden Verhaltens«190 bereits in einem Artikel gelesen. Doch damals hatte ich nicht verstanden, auf welcher Grundlage man diesen gravierenden Schritt und das durchaus komplizierte gesellschaftsrechtliche Verfahren herbeiführen könnte. Offenbar stehen die Chancen für einen Ausschluss von Karl-Erivan Haub und seiner gesamten Familie jedoch sehr gut. Und bevor das geschehe, so die hochrangige Quelle, würde Katrin Haub einer Todeserklärung bestimmt zustimmen, denn dies sei für sie lukrativer.

Um jemanden als Gesellschafter auszuschließen, so erklärt mir der Mann, müsse man der Person ein Fehlverhalten nachweisen, das schädlich für das Unternehmen sei. Außerdem müsse man herausarbeiten, dass die Person ihren Verpflichtungen als Gesellschafter nicht nachgekommen sei. Und ein Ausschluss von Karl-Erivan Haub als Gesellschafter würde dann in Folge dazu führen, dass man sein Drittel der Unternehmensanteile für eine im Gesellschaftervertrag festgesetzte Summe ablösen könne: ein für Katrin Haub höchst unattraktiver Deal, denn das Unternehmen dürfte deutlich höher bewertet sein als die Summe, die im Gesellschaftervertrag genannt ist.

Katrin Haub, so die Quelle, würde daher schon bald der Todeserklärung zustimmen, da die Hinweise, dass ihr Mann noch am Leben sei, so erdrückend seien, dass sie aus Sorge vor dem finanziellen Schaden eines Gesellschafterausschlusses diesen Weg wählen »müsse«.

Ich kann es kaum glauben: Erzählt mir dieser enge Vertraute von Christian Haub gerade ernsthaft, Karl-Erivan Haub habe sein Verschwinden absichtlich herbeigeführt und sei möglicherweise in kriminelle Machenschaften verstrickt? Und wenn das alles stimmt: Warum sollte mir der Mann das erzählen? Einer Pressevertreterin? Einfach so, ohne Hintergedanken?

Mein Gesprächspartner stellt mir in Aussicht, mir noch viel mehr Informationen zu Karl-Erivan Haubs mysteriösem Verschwinden liefern zu können. Dafür müsse ich aber persönlich zu ihm kommen, denn das, was er mir zu sagen habe, sei zu delikat, um darüber am Telefon zu sprechen.

Christian Haubs Vertrauter residiert im Winter zeitweise in seinem Anwesen im Luxus-Skiort Sankt Moritz in der Schweiz. Dort sei er im Moment, und dorthin könne ich kommen.191

Nach dem etwa einstündigen Telefonat rufe ich meine Chefin an. Ich erzähle ihr von diesem außergewöhnlich offenen Gespräch. Uns beiden ist klar, dass es einen guten Grund geben muss, warum diese wichtige Person aus Christian Haubs direktem Umfeld solche äußerst brisanten Informationen mit der Presse teilt und darüber hinaus anbietet, bei einem persönlichen Treffen noch mehr Informationen preiszugeben. Meine Kollegin und ich sind uns sehr sicher, dass er kein Whistleblower mit ehrvollem Antrieb ist, sondern eher jemand, der die Presse für seine Zwecke benutzen will, und wir vermuten, dass dadurch der Druck auf Katrin Haub im Erbschaftskrieg erhöht werden soll.

Aber wie dem auch sei: Über mögliche Hintergründe können wir uns später Gedanken machen. Für den Moment nehmen wir es, wie es ist: Der Mann ist ein möglicher Informant. Wenn das, was er mir am Telefon erzählt hat, auch nur ansatzweise stimmt, dann ist es eine unglaubliche Geschichte. Ich muss zu ihm nach Sankt Moritz und meine Chefin stimmt der Fahrt zu.

Besuch in Sankt Moritz

Die Reise in die Schweiz findet in der letzten Januarwoche statt. Zusammen mit einem Kameramann möchte ich zuerst nach Sankt Moritz fahren und dann von dort aus weiter nach Zermatt reisen. In den Wochen zuvor habe ich schon versucht, mit der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Bergrettern in Zermatt in Kontakt zu kommen, bin jedoch auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Niemand, wirklich niemand, will mit mir über den verschollenen Milliardär sprechen. Warum nur? In Deutschland würde man in so einem Fall an einen Pressesprecher verwiesen werden, der einem im schlimmsten Fall sagt, dass er nichts sagen kann. Aber man hätte zumindest diese Aussage. Da ich selbst an der Schweizer Grenze aufgewachsen bin, wundere ich mich sehr, dass die Schweizer offenbar ein völlig anderes Verständnis von der Zusammenarbeit mit der Presse haben. Irgendwie kommt mir das alles komisch vor.

Am 25. Januar machen mein Kameramann und ich uns mit dem Auto auf den Weg nach Sankt Moritz. Die Schweizer Alpen um uns herum liegen unter einer dicken Schneedecke, der Winter hat zu diesem Zeitpunkt seinen Höhepunkt erreicht. Es ist bitterkalt. Mit unserem ganzen Kamera-Equipment fahren wir über den Julierpass. Wir folgen blind dem Navi, im Nachhinein wirklich eine unkluge Idee, denn trotz Allradantrieb ist es eine einzige Rutschpartie. Wir kriechen mit dem Audi bei starkem Schneefall im Schritttempo die Serpentinen hoch und werden nur ab und an von Einheimischen in bergfesten Geländewagen überholt. Spät in der Nacht kommen wir endlich in Sankt Moritz an.

Das Treffen mit dem Informanten ist für den nächsten Tag gegen 14 Uhr geplant.192

Die Stimmung in Sankt Moritz ist in diesem Januar 2021 ganz eigenartig. Aus früheren Jahren kenne ich den kleinen Ort als vibrierende Mini-Metropole der Schönen und Reichen. Privatjets landen mehrfach täglich auf dem nahen Engadin Airport. Frauen in langen Pelzmänteln flanieren an den Boutiquen und Juweliergeschäften vorbei. Doch jetzt beherrscht die Corona-Pandemie auch die Schweiz. Es sind fast nur Einheimische in dem Alpendorf, die Straßen liegen wie ausgestorben in der verschneiten Landschaft. Eigentlich eine herrliche Ruhe.

Der Mann hat ein Apartment in der Nähe des weltberühmten Badrutt’s Palace Hotels, einem imposanten Gebäude mit Türmchen und Blick über den zugefrorenen Sankt Moritzersee. Eine bessere und teurere Adresse gibt es wohl in der Schweiz nur an der Goldküste des Züricher Sees. Über WhatsApp gibt er mir die genaue Adresse sowie Anweisungen durch, wie ich den Eingang am besten finden könne.193 Gegen 14 Uhr soll ich noch mal kurz anrufen, damit er mir aufmachen kann.

Den Vormittag des 26. Januars verbringen mein Kameramann und ich damit, Bilder von Sankt Moritz, den Bergen und dem See zu drehen.194