Die Albrechts - Martin Kuhna - E-Book

Die Albrechts E-Book

Martin Kuhna

4,7
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Jeder kennt den Schnäppchen-Discounter, der mit seinen günstigen Angeboten und seiner spartanischen Einrichtung berühmt, ja geradezu Kult geworden ist: Aldi. Die Gründer, Karl und Theo Albrecht, führten jahrelang die Liste der reichsten Deutschen an. Dennoch weiß die Öffentlichkeit so gut wie gar nichts über sie und ihre Familien. Martin Kuhna bringt in seinem Buch Licht ins Dunkel und begibt sich auf die Spur der Albrecht-Dynastie. Er bietet Einblicke in die Anfangszeiten von Aldi, berichtet, wie sich daraus das berühmte Discounter-Imperium entwickelte, und bietet darüber hinaus einen spannenden Ausblick auf die Zukunft, die nun, nachdem auch Karl Albrecht zuletzt verstarb, in den Händen der nächsten Generation liegt. Eine spannende Lektüre für all jene, die schon immer einmal mehr über die Gründer des berühmtesten Selbstbedienungsladens Deutschlands wissen wollten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 236

Bewertungen
4,7 (18 Bewertungen)
13
4
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2015

© 2015 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Monika Spinner-Schuch, Bad Aibling

Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt, München, unter Verwendung einer Illustration von Melanie Melzer, München

Satz: inpunkt[w]o

ISBN Print 978-3-86881-572-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86414-694-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86414-695-4

Inhalt

1. Die Suche nach den verschwundenen Brüdern

2. Die Vorgeschichte

3. Erste Erfolgsphase

4. Krise und Verwandlung

5. Die Entführung

6. Aldi nimmt Formen an

7. Charakterfragen

8. Aldi wird Kult

9. Ende einer Ära

Anhang

Über den Autor

Anmerkungen

1. Die Suche nach den verschwundenen Brüdern

Karl und Theodor Albrecht haben binnen weniger Jahrzehnte aus einem einzigen Tante-Emma-Laden im Essener Vorort Schonnebeck ein internationales Discount-Imperium gemacht – mit Tausenden von Läden, mit Milliardenumsätzen. Die Brüder sind dabei unglaublich reich geworden, galten jahrelang als die wohlhabendsten Deutschen und zählten sogar eine Zeit lang offiziell zu den zehn reichsten Menschen der Welt. Sie haben mit ihren Albrecht- und ­Aldi-Läden ein wichtiges Kapitel der deutschen Wirtschafts­geschichte geschrieben. Mehr als das: Sie haben unser Konsumverhalten verändert und damit unsere Art zu leben geprägt. Sie haben also auch Gesellschafts- und Kulturgeschichte geschrieben. Ein Einfluss, der in dem kritischen und doch staunend-bewundernden Wort von der »Aldisierung« gipfelte, Chiffre für die Verbreitung eines Lebensgefühls, das nach der Jahrtausendwende von einer anderen Firma mit dem Werbeslogan »Geiz ist geil« zynisch auf den Punkt gebracht wurde. Gründe genug, sich für Karl und Theodor Albrecht zu interessieren. Die aber verbargen sich wie Phantome vor der Öffentlichkeit, machten ein großes Geheimnis um sich und um Aldi. Sie haben ihrem Unternehmen eine unübersichtliche Struktur gegeben und es nach außen fast vollständig abgeschottet. Sie haben ihr Reich überdies in zwei Hälften geteilt, Nord und Süd, aus schwer verständ­lichen Gründen und entlang einer rätselhaft erratisch verlaufenden Grenze. Das alles ließ sie nur umso interessanter erscheinen. Doch die Spurensuche ist mühsam.

Die üblichen Verdächtigen

Vor etwa 20 Jahren, als man sich allgemein der Größe und der Bedeutung des Aldi-Imperiums so recht bewusst wurde, erwachte das öffentliche Interesse an den mittlerweile alten Herren erst richtig. Und man nahm staunend zur Kenntnis, dass Karl und Theo ­Albrecht nach 1953 nicht mehr mit der Öffentlichkeit gesprochen hatten, nicht über sich selbst und ihre Familien, nicht über ihr Geschäft. Es gibt nicht einmal richtige Fotos von ihnen. Sie haben ­ihre Firmen und ihre Mitarbeiter zu ebenso rigorosem Schweigen vergattert und sie haben erreicht, dass sich auch ihre Familien und ihr weiteres privates Umfeld – soweit man von einem solchen ­reden kann – an das Schweigekartell gebunden fühlen. Nur zwei ehemalige Manager haben ihre persönlichen und subjektiven Eindrücke von einem der Brüder und seinem Unternehmen veröffentlicht. Ihre Beobachtungen dienen seither zahlreichen Artikeln und einigen ­wenigen Büchern als leicht wiederzuerkennende Basis. Ansonsten bietet der Mangel an belastbaren Fakten weiten Raum für apokryphe Anekdoten und reine Mythen, manchmal leicht, manchmal schwierig und manchmal gar nicht zu verifizieren, aber jedenfalls immer wieder gerne abgeschrieben. Mal werden die Albrecht-Brüder und ihre Verdienste distanzlos gepriesen, mal werden sie ­unsachlich und in schnoddrigem Ton kritisiert. Der Rest ist frustrierte Klage über das eigene Scheitern am Schweigen der Zeitzeugen und an den schon sprichwörtlichen Antworten der Aldi-Firmenzentralen, die stereotyp »aus grundsätzlichen Erwägungen« eben keine Antworten waren. Noch Ende 2014 war das Dilemma in einer Art ­Doku-Drama des ZDF über die Albrechts zu besichtigen: Die Autoren ließen weitgehend »übliche Verdächtige« zu Wort kommen: die beiden Aldi-Manager und ein paar Journalistenkollegen, die sich zuvor schon an dem Thema abgearbeitet hatten. Dazwischen imaginierte Szenen aus dem Leben der Brüder, nicht ohne Scheu vor dem einen oder anderen bereits widerlegten Mythos. Im Norden, im Süden: nichts Neues.

Wer sich in den letzten paar Jahren recherchierend und schreibend mit den Albrecht-Brüdern auseinandersetzte, tat das wohl mit wachsender Resignation einerseits – und mit einer kleinen, verzweifelten Hoffnung andererseits. Resignation, weil eine größere Offenheit bei den Firmen, gar ein Zugang zu den Archiven durchaus nicht abzusehen war, weil potenzielle Zeitzeugen, zumal für die frühen Jahre, mit jedem Tag bedrohlich älter und weniger wurden. Solche Sorge betraf natürlich auch die beiden nahezu 90-jährigen Brüder selbst. Wären sie, den Willen vorausgesetzt, überhaupt noch in der Lage, zu erzählen, und wie lange noch? Die leise Hoffnung wiederum beruhte auf der bekannten Tatsache, dass verschlossene Männer im ­Alter manchmal zu einer gewissen Milde neigen und dann doch aus der Vergangenheit erzählen – zumal über Dinge, die sie sich mit einigem Recht als Erfolge anrechnen können. Der Autor vorliegender Zeilen gesteht offen, dass er den einen oder anderen Artikel geradezu appellativ hat ausklingen lassen mit einer kaum verhohlenen Aufforderung an die Brüder und ihre Familien, sich bitte doch noch irgendwann irgendwem zu öffnen. Nicht, um Sensationsgier zu befriedigen oder allzu indiskrete Fragen nach ihrem Reichtum, ihrem Privat­leben zu beantworten, sondern um die Leerstellen besonders in der Albrecht-Frühgeschichte zu füllen und die irritierend vielen Ungereimtheiten auszuräumen. Dazu der Hinweis, dass die Gesellschaft doch ein gewisses Recht habe, etwas über jene Männer zu erfahren, die unser Leben so beeinflusst haben. Goldene Brücken, den ­Albrechts vermutlich nie zu Gesicht gekommen. Der Autor gibt auch zu, sich in besonders kühnen Träumen vorgestellt zu haben, das Telefon werde irgendwann klingeln und eine Altmännerstimme am anderen Ende werde etwas ungehalten ungefähr so sagen: »Ja, Albrecht hier. Hören Sie, ich will Ihnen mal sagen, wie das alles damals wirklich war . . .« Das Telefon hat nicht geklingelt.

Karl Albrecht spricht – zu spät

Das heißt: Es hat doch geklingelt. Aber woanders, bei Mathias Müller von Blumencron, Online-Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Für ihn wurde der Traum aller frustrierten Albrecht-­Rechercheure wahr: Karl Albrecht wollte erzählen, endlich, und erklärte sich zu einer Reihe von Interviews bereit. Leider, auch das kommt eben vor bei alten Männern, die am Ende ihres Lebens ­Bilanz ziehen und Unerledigtes aufarbeiten wollen, leider hat Karl Albrecht seinen Entschluss zu spät gefasst. Nach dem ersten Gespräch in seinem Haus, es war wohl in erster Linie ein Vorgespräch »zum Aufwärmen«, ist Karl Albrecht schwer erkrankt und dann 94-jährig gestorben. So hat er, 61 Jahre nach einem inzwischen berühmten Fachvortrag vor Einzelhandelskollegen, nur mehr ein paar Tupfer und Striche am öffentlichen Bild vom Aldi-Aufstieg anbringen können. In den daraus entstandenen Artikel1 haben sich zudem leider ein paar Fehler und Vagheiten eingeschlichen, die einem mit der Albrecht-Story einigermaßen vertrauten Interviewpartner hätten auffallen müssen. Man darf dem Autor allerdings zugutehalten, dass dieses vorbereitende Gespräch wohl kaum geeignet war, bereits nachzuhaken oder Fakten im Detail zu klären. Das wäre sicher noch in den folgenden Interviews geschehen. Ärgerlicher ist, dass an verschiedenen Stellen des Artikels nicht deutlich wird, ob die jeweilige Schilderung sich tatsächlich aus dem Gespräch mit Karl Albrecht ergibt oder aus anderweitigen Recherchen oder Mutmaßungen.

Natürlich war die Vorstellung, dass Karl Albrecht irgendwann doch noch erzählen würde, stets gemischt mit der Ahnung, dass er dazu mit über 90 Jahren vielleicht intellektuell doch nicht mehr in der ­Lage sein könnte. FAZ-Mann Müller von Blumencron mag ähn­liche Zweifel gehegt haben. Man kann schwerlich zum Interview mit einem unbekannten Mann von 94 Jahren gehen und dabei nicht in Erwägung ziehen, dass das Gespräch möglicherweise am Ende keine Basis für eine Veröffentlichung sein wird. Alles andere wäre journalistisch fahrlässig und unverantwortlich dem Interviewpartner gegenüber. Aber Müller von Blumencron scheint in der abgeschirmten Essener Villa einen nicht nur höflichen, freundlichen, sondern auch klar denkenden Karl Albrecht angetroffen zu haben, durchaus Herr seiner Erinnerungen und endlich selbst davon überzeugt, dass sein Leben und das seines Bruders sowie der Aufstieg ihres Unternehmens ein Stück Nachkriegsgeschichte seien und das Interesse daran legitim. Er wollte, er konnte erzählen. Umso trauriger, dass er zu dieser Erkenntnis oder diesem Entschluss nicht ein, zwei Jahre früher gekommen ist. Traurig – das mag unangemessen emotional klingen, wenn man nicht die natürliche Neigung des ­Autors teilt, seinem Objekt eine gewisse Empathie entgegenzubringen. Denn man kann die Brüder Albrecht nicht ohne eine gewisse Berechtigung für durchaus farblose Persönlichkeiten halten, deren grotesker Geheimhaltungskult nur darüber hinwegtäuschte. Aber selbst dann ist es traurig, festzustellen, dass eine Chance für immer vertan ist und eine zweifellos interessante Geschichte nun in Teilen unerzählt bleiben wird. Denn nachdem die beiden Protagonisten der Albrecht/Aldi-Geschichte verstummt sind, ist so recht keine adäquate Quelle mehr in Sicht.

Offizielle Verwirrung

Auf die Firmen mag man in der Hinsicht kaum Hoffnung setzen. Als Theo Albrecht am 24. Juli 2010 im Alter von 88 Jahren gestorben war, schalteten Gesellschafter, Verwaltungsrat und Geschäftsführungen der Unternehmensgruppe Aldi Nord eine große Todesanzeige. Durchaus ungewohnt für das verschwiegene Unternehmen. Der überdies recht ausführliche Text wirft auch einen Blick ­zurück auf die Anfänge des Unternehmens. Darin heißt es: »Nach ­einer Lehre im elterlichen Feinkostgeschäft in Essen-Schonnebeck übernahm er [Theo Albrecht] gemeinsam mit seinem Bruder Karl 1946 das Geschäft«2 Theo Albrecht hat seine Ausbildung in der Tat im elterlichen Geschäft gemacht, aber dass das ein Feinkostgeschäft gewesen wäre, hat sonst noch nirgends jemand behauptet. Karl Albrecht war es, der seine Lehre in einem Essener Feinkostgeschäft absolviert hat. Mit anderen Worten: Die oberste Führungsspitze des Unternehmens hat die Biografie ihres Seniorchefs mit der seines Bruders vermengt. In der Todesanzeige für einen Mann, der keineswegs überraschend aus dem blühenden Leben gerissen worden war. Und dieser peinliche Lapsus geschah, obwohl in den unterzeichnenden Gremien Familienmitglieder und langjährige Vertraute Theo Albrechts saßen. Man hat nicht den Eindruck, dass die frühe Geschichte in Familie und Firma je von besonderem Interesse war. Vielleicht haben sich die Beteiligten da mit ihrer Schweige­politik selbst ein Bein gestellt. Drei Jahre später brachte Aldi Nord immerhin zum 100-jährigen Jubiläum auf acht bebilderten Seiten eine kleine Firmenchronik heraus.3 Darin Daten zur Gründung des ersten Albrecht-Geschäfts 1913/14, die in irritierendem Widerspruch zu entsprechenden öffentlichen Angaben von Karl Albrecht junior stehen und höchstwahrscheinlich falsch sind. Details, gewiss, aber grundlegende. Und es verwundert doch sehr, dass die beiden Firmen und Familien nicht imstande zu sein scheinen, sich wenigstens auf ein paar grundsätzliche Fakten zu verständigen. Karl Albrecht junior hat vor fünf Jahren angekündigt, dass er an einer Firmen- und Familienchronik arbeite, die vielleicht auch einmal veröffentlicht würde.4 Man hört in Essen, dass ein professioneller Historiker sich durch örtliche Archive arbeite – im Firmen- oder Familienauftrag. Das lässt hoffen. Es ist indes zu befürchten, dass ausführliche und halbwegs sachkundige Gespräche mit den beiden Brüdern nur sehr schwer zu ersetzen sein werden. Nicht durch Akten und nicht einmal durch Überlieferung aus dem engsten, aber womöglich wenig informierten Familienkreis. Es müssten schon zahlreiche berufliche Wegbegleiter ihr Schweigen brechen, um das endgültige Schweigen der Albrecht-Brüder zu kompensieren.

Auf den folgenden Seiten wird versucht, den aktuellen Stand der Spurensuche zusammenzufassen: Informationen aus Büchern, Artikeln, eigenen Archivrecherchen und Interviews. Dabei konnte ein wenig mehr Klarheit in die Vor- und Frühgeschichte des Albrecht-Unternehmens gebracht werden. Es zeigt sich, dass dessen Entwicklung zum Aldi-Imperium keineswegs so geradlinig verlaufen ist, wie das immer wieder gern dargestellt wird. Das gilt vor allem für die ersten 20, 30 Jahre nach 1946. Angesichts vieler Halbwahrheiten und ungesicherter Spekulationen beim Thema Albrecht/Aldi schien es dem Autor an verschiedenen Stellen sinnvoll, die unterschiedlichen und einander teils widersprechenden Versionen gegenüberzustellen und, soweit möglich, auf ihre Plausibilität abzuklopfen. Nicht immer ist das, angesichts der schwierigen Quellenlage, mit klarem Ergebnis möglich. Auch einige sehr unwahrscheinliche oder einigermaßen klar widerlegte Erzählungen werden nicht unterschlagen, weil die Existenz und Langlebigkeit zahlreicher Mythen einfach Teil der Geschichte sind. Wo der Autor selbst auf – hoffentlich gut begründete – Mutmaßungen zurückgreift, ist das kenntlich gemacht. Süffig zu lesende, aber keiner Überprüfung standhaltende Behauptungen sind zur Genüge im Umlauf. Die umfassende Biografie der Brüder Albrecht bleibt ohnehin noch zu schreiben, wenn Archive sich öffnen und Zeitzeugen zu sprechen beginnen. Wenn an vielen Stellen des folgenden Textes Karl und Theo Albrecht nur bei ihren Vor­namen genannt werden, so ist das nicht als plumpe Vertraulichkeit gemeint. Aber am Nachnamen sind sie nun mal nicht zu unterscheiden; die ständige Wiederholung des ganzen Namens aber klänge an manchen Stellen ermüdend.

2. Die Vorgeschichte

Museumsreif

Im Essener Stadtteil Schonnebeck träumen sie neuerdings von einem Museum. Thema: Aldi. Einen passenden Standort haben sie auch schon im Visier: jenes unscheinbare Geschäft in der Huestraße 89, das seit einiger Zeit in den Medien ehrfurchtsvoll, aber nicht ganz korrekt als »erster Aldi-Laden« bezeichnet wird. Da steht nach wie vor Aldi drauf und ist auch Aldi drin, aber es kursieren Schließungsgerüchte. Schließlich hat Aldi Nord 2012 begonnen, seine jahrzehntelang fast unveränderten Geschäfte zu modernisieren oder gleich durch neue zu ersetzen – schöner, größer, freundlicher, geradezu schick. Das aber wäre mit dem Traditionsladen in der Huestraße nur sehr begrenzt möglich. Deshalb, so war in der Lokalzeitung zu lesen, sollte ein paar Hundert Meter entfernt ein ganz neues Aldi-Gebäude entstehen. Die klassisch aldisparsame und unsentimentale Lösung für die alten Räume wäre dann natürlich schleunigste Vermietung an irgendeinen zahlenden Nachfolger. Dagegen setzten Schonnebecker Politiker und Geschäftsleute die Idee vom Aldi-Museum.

Allerdings hat das alte Geschäft kürzlich erst neue, größere Fenster erhalten, mit dezent und fast elegant eingraviertem Firmen­logo wie bei den neuesten Vorzeige-Filialen von Aldi Nord. Das sieht ­also erst mal nicht nach baldiger Schließung aus. Für die Freunde der Museumsidee dürfte das eher eine gute Nachricht sein. Denn auf diese Weise hätten Aldi und Albrecht, Firmen und Familien, noch etwas Zeit, sich für den Vorschlag zu erwärmen, sich auf ein gemeinsames Konzept zu einigen, gemeinsam Fakten zu sortieren und Ausstellungsgegenstände zu suchen. Beide Firmen und beide Familien, wohlgemerkt, denn ein Museum allein über Aldi Nord, mit winzigem Hinweis auf die Südler irgendwo am Ausgang, das entspräche zwar der zwischen den Unternehmen bislang üblichen Praxis, wäre aber an dieser Stelle doch zu grotesk. Immerhin: In der näheren Zukunft erscheint so ein Museum wenigstens denkbar. Bis in die jüngste Zeit aber haben die Firmen und Familien offensichtlich kaum einen Gedanken an solch eine Idee verschwendet.

Bisher war und ist dem Aldi-Laden Huestraße 89 weder von außen noch im Innern anzusehen, dass er in der Geschichte des Unternehmens eine besondere Rolle gespielt hat. Kein Hinweis, nirgends. Und wer auf die Idee kommt, das Personal darauf anzusprechen, wird mehr oder minder freundlich abgewiesen. Hinweise auf ein gewisses minimales Traditionsbewusstsein im Unternehmen kann man nur mit einigem Spürsinn entdecken. Dann findet sich zum Beispiel ein Laufzettel auf einem noch nicht ausgepackten Warenbehälter im Gang des Ladens: Er zeigt nicht nur die Adresse dieser Filiale, sondern auch das Kürzel »VST 001«. Und das kann man getrost als »Verkaufsstelle Nummer eins« interpretieren. Das ist doch schon mal was – und mit Bezug auf die Brüder Karl und Theo Albrecht sogar korrekt. Die Vorgeschichte ihres Unternehmens begann allerdings nicht in diesem Haus, sondern nebenan.

Schonnebeck

Schonnebeck liegt im Nordosten Essens, an der Grenze zu Gelsenkirchen. Mitten im »Ruhrpott«. Wer über Aldi und Albrecht schreibt, nennt Schonnebeck gewöhnlich einen vom Bergbau geprägten »Arbeiterstadtteil«. Das ist nicht falsch, aber auch nicht ganz treffend. »Arbeiterstadtteil« ruft falsche Bilder hervor – vor allem, was jene Zeit betrifft, in der die über 100-jährige Albrecht/Aldi-­Geschichte ihren Anfang nahm. Um die Wende zum 20. Jahrhundert (und bis 1929) ist Schonnebeck nämlich erstens gar nicht Teil der Stadt Essen, sondern eine kleine Gemeinde in der Bürgermeisterei Stoppenberg. Zweitens ist Schonnebeck um 1900 stark landwirtschaftlich geprägt und recht dünn besiedelt. Diesen Charakter spiegelt noch das ­heutige Bild des Stadtteils. Und innerhalb der amtlichen Grenzen Schonnebecks hat es zu keiner Zeit eine Schachtanlage gegeben oder ein anderes schwerindustrielles Werk. Keine Abraumhalde. Das für ­andere Arbeiterviertel des Ruhrgebiets so typische Gewirr aus Staats- und Zechenbahngleisen tangierte Schonnebeck nur ganz am Rande. Auch die charakteristischen frühen Zechensiedlungen findet man nicht.

Allerdings wird der Ort am Ende des 19. Jahrhunderts von Zechenanlagen eng umzingelt: »Zollverein 1/2/8«, »Zollverein 6/9« und »Friedrich Ernestine« in Stoppenberg, »Zollverein 3/7/10« in Katernberg, »Friedrich Joachim« und »Bonifacius« in Kray, »Dahlbusch« in Rotthausen. Parallel steigt Schonnebecks Einwohnerzahl zwischen 1860 und 1900 von gut 300 auf über 6000 und bis 1914 weiter auf fast 11.000 (erst Anfang der 60er-Jahre wird das Maximum mit 17.000 erreicht werden). Viele der neu Zugezogenen ­arbeiten um 1913 tatsächlich auf den expandierenden Zechen. Besonders ­prägend für Schonnebeck wird »Zollverein 3/7/10«. Das Bergwerk liegt unmittelbar nördlich der Schonnebecker Grenze. Unter den vier ursprünglichen »Zollverein«-Anlagen – die heute als »Weltkulturerbe« berühmte Zentralschachtanlage 12 geht erst 1932 in Betrieb – entwickelt es sich in den Jahren nach 1900 besonders gut. Der leistungsfähige Schacht 10 wird zwischen 1909 und 1914 niedergebracht; außerdem wird eine neue Kokerei gebaut. Zwei Bergarbeitersiedlungen entstehen, aber auf Katernberger Gebiet. Doch wächst unmittelbar südlich der Zeche so etwas wie ein Schonnebecker Ortskern heran, mit mehrgeschossigen Häuserzeilen im Gründerzeitstil, entlang einiger weniger Straßen. Der »Pütt« thront etwas oberhalb dieser Häuser, wie sonst im Dorf die Kirche, auf einem Hügel; die verbliebenen Zechengebäude mit dem wuchtigen Fördergerüst über Schacht 10 vermitteln diesen Eindruck noch heute.

Die neue zentrale Straße des heranwachsenden Ortes wird »Mittelstraße« genannt und führt nordwärts bergauf bis zum höchsten Punkt Schonnebecks. Dort oben entstehen in jenen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zwei repräsentative Kirchen, sodass Katholiken und Protestanten nicht mehr kilometerweit zum Gottesdienst in Nachbarorte laufen müssen. Etwa auf halbem Weg zwischen ­Zeche und Kirchen wird 1911 eines der neuen mehrgeschossigen Häuser fertiggestellt: Mittelstraße 87. In diesem Haus beginnt 1913 die ­Aldi-Geschichte. Auftritt Karl Albrecht senior.

Bäcker, nicht Bergmann

Bergmann soll er gewesen sein, Bergmann mit Staublunge, so invalide, dass er für miesen Lohn in einer Brotfabrik schuften und seine Frau schließlich aus purer Not zum Überleben ihren ersten »Tante-Emma-Laden« gründen musste. 40 Jahre lang haben Aldi-Autoren das so oder ähnlich voneinander abgeschrieben – eine Legende. Bis 1971 hatte man es in den wenigen Presseartikeln über Albrechts noch besser gewusst; dann hat jemand in die Welt gesetzt, was so gut zum »Bergarbeiterstadtteil« Schonnebeck zu passen schien, obwohl der 27-jährige Karl Albrecht ein ungewöhnlich junger Staublungen-Invalide gewesen wäre. Die Story blieb unwidersprochen, weil Familie und Unternehmen eben nie etwas sagten über sich und ihre Geschichte. Und Zeitzeugen waren sich da, 60 und mehr Jahre später, ihrer Erinnerung wohl nicht mehr sicher genug, um der verbreiteten Medienversion zu widersprechen. Erst 2010 stellte Enkel Karl Albrecht gegenüber Spiegel-Journalisten klar, was denen auch ein Blick ins eigene Archiv verraten hätte: Sein Großvater Karl war Bäcker.

Er kommt wohl von außerhalb Schonnebecks. 1908 ist im Essener Stadtteil Altenessen ein Bäckerlehrling Karl Albrecht regis­triert. Das könnte er sein. Als Geselle arbeitet er bei der »Brotfabrik« Stauffenberg. Vielen Kunden ist die Firma als – Anfang 2015 in die Insolvenz getaumelter – Gelsenkirchener Aldi-Brotlieferant bekannt; allerdings ist es vor über 100 Jahren noch ein kleiner handwerklicher Betrieb im Schonnebecker Nachbarort Katernberg, nur dass er seine Produkte auch über Geschäfte im näheren Umkreis vertreibt. Bei welcher Gelegenheit Karl Abrecht Anna Siepmann aus Schonnebeck trifft, ist nicht überliefert. Dass er sie heiraten kann, ist durchaus bemerkenswert. Alte Schonnebecker, so hört man im Viertel, registrieren bis heute selbst Zuzügler aus Nachbarvierteln als Auswärtige – die 5-Millionen-»Metropole« Ruhrgebiet kann sehr kleinteilig sein. Karl Albrecht also ist erstens nur ein Bäcker­geselle und kommt zweitens von außerhalb. Anna Siepmann dagegen gilt sicher als gute Partie im Ort. Das neue Haus Mittelstraße 87 gehört ihrer Familie. Dort findet das junge Paar nach der Heirat 1913 eine Wohnung und dort kann Karl im selben Jahr ein neues kleines Brotgeschäft einrichten: Start in die berufliche Selbstständigkeit. Es sieht also danach aus, als ob die in Schonnebeck eingeses­sene Schwiegerfamilie Siepmann dem jungen Unternehmen wohlwollenden Anschub gewährt hat – vielleicht Jahre später Anlass dafür, dass Multimillionär Karl Albrecht II. sein Vermögen in ein Konstrukt namens »Siepmann-Stiftung« einbringt.

»Karl Albrecht, Schonnebeck, Mittelstraße 87 – Spezialgeschäft in sämtlichen Brotarten und besseren Backwaren, Kaffee und Konfi­türen« – so steht es auf einer Rabattkarte, die sich aus den ersten Tagen des kleinen Unternehmens erhalten hat. Ein wenig später geht der junge Geschäftsmann mehr ins Detail, so stolz, dass er ein paar werbliche Redundanzen produziert: »Spezialgeschäft in sämtl. Brotarten und besseren Backwaren, Kaffee und Konfitüren – Kaffee, Tee und Weingebäck – Frische Brötchen täglich frisch – Nieder­lage der Kaffee Gross-Rösterei Ferd. Fueser in Dülken – ff. Süßrahm-Naturbutter, Süßrahm-Margarine – Schocolade, Cacao, Biscuits, Cakes, Bonbons, Confitüren etc. – Bestellungen für alle festlichen Gelegenheiten werden auf das Beste und Prompteste ausgeführt«. Klein mag das Geschäft sein; ein »Tante-Emma-Gemischtwaren­laden« soll es offensichtlich nicht sein. Bäcker Karl Albrecht ist bei seinem Leisten geblieben und verkauft nicht einfach irgendetwas; wie ein ­kleiner Krämer möchte er nicht aussehen. Das eigens für sein kleines Geschäft gedruckte Rabattmarkenheft beweist, dass er sich nebenher bemüht, einen Kundenstamm auch über Preisnachlässe zu gewinnen – erstes Vorzeichen späterer Aldi-Strategien. Dass er auch die Sparsamkeit seiner Söhne vorwegnimmt, zeigt der etwas ernüchternde schriftliche Zusatz am Ende des Werbetextes: »Für die Rabattkarte werden 5 Pfg. vom Rabatt abgezogen.« Man will die Freigebigkeit nicht übertreiben und beteiligt den Kunden lieber an den Investitionskosten der Sparerei.

Partnerin, nicht Chefin

Wenig spricht für die verbreitete Lesart, dass eigentlich Ehefrau ­Anna Albrecht fast von Anfang an den Laden im Namen ihres Mannes betrieben hätte. Die Mutmaßung geht wohl weitgehend auf die Annahme zurück, dass der staublungeninvalide Exbergmann ­Albrecht nur mehr röchelnd am Ofen sitzen konnte – ein Irrtum, wie wir jetzt wissen. Viel wahrscheinlicher ist, dass der 28-jährige Karl Albrecht, freiwillig oder nicht, 1914 als Soldat in den Ersten Weltkrieg zieht und dass deshalb seine 26-jährige Frau, noch ohne Kinder, die Geschäfte übernehmen muss. Wenn aber der Bäcker und Kaufmann Karl ­Albrecht Kriegsdienst leisten kann, ist das ein weiterer Grund, die Geschichte vom Staublungeninvaliden als ­Legende abzuhaken. Auch Enkel Karl hat 2010 dem Spiegel erzählt: »Als mein Großvater 1914 eingezogen wurde, hat meine Großmutter das junge Geschäft weitergeführt.« Doch obwohl er damit die ohnehin wahrscheinlichste Abfolge der Ereignisse bestätigt hat, verbreitet ­Aldi Nord noch in einer Jubiläumsbroschüre 2013 und in seiner mageren Online-Chronik 2014 die schiefe und Verwirrung stiftende Version, dass ein Jahr nach Installation des Backwarenhandels Anna Albrecht 1914 »ihren ersten Lebensmittelladen eröffnet« hätte, als »Keimzelle« für den späteren Aldi-Erfolg. Das klingt wenig überzeugend, und es hat sich in den städtischen Dokumenten auch keine Bestätigung dafür gefunden.

Karl Albrecht jedenfalls überlebt den Krieg 1914 bis 1918. Er wird erst während des nächsten Krieges sterben, 1943. So kommt es, dass Anna Albrecht in den Anfangsjahren des Geschäfts die Zügel in der Hand hält – und dann noch einmal, ehe ihre Söhne 1946 die Regie übernehmen können. Dieser Umstand hat vermutlich dazu geführt, dass Karl Albrecht senior in den gängigen Albrecht/Aldi-Geschichten bestenfalls ein Schattendasein fristet, als hätte er 30 Jahre lang zum Geschäft kaum mehr als seinen Namen beigetragen, als hätte er, untätig und hinfällig, die ganze Zeit von der Arbeit seiner tüchtigen Anna gelebt. Häufig wird nicht einmal sein Tod mit einer Zeile vermerkt.

Ein neuer Anfang

Wie war es wirklich? Es spricht einiges dafür, dass der Erste Weltkrieg die Lebens- und Familienplanung der gut katholischen ­Albrechts nur unterbrochen hat – und dass das Paar kurz nach dem Krieg ­gemeinsam und zielstrebig neu ansetzt. Denn schon 1919 zieht das Albrecht-Geschäft um und wird beträchtlich erweitert. 1920 und 1922 bringt Anna Albrecht – nach damaligen Begriffen als Spätgebärende – ihre beiden Söhne zur Welt, und man darf wohl bei einer traditionell katholisch gesinnten Mutter ihres sozialen Umfelds in jener Zeit unterstellen, dass sie sich um ihre Babys selbst gekümmert hat, später auch um die Erziehung der Kinder Karl und Theodor. Dann aber ist es kaum vorzustellen, dass Frau Albrecht in den schwierigen Nachkriegsjahren auch noch den Umzug, die Vergrößerung und den Betrieb des erneuerten Geschäfts allein geleistet hat – während ihr Ehemann sich auf die seltsame Doppelrolle als passiver Strohmann und Erzeuger ihrer Kinder beschränkt hätte. Viel wahrscheinlicher ist, dass Karl und Anna Albrecht ihren geschäftlichen Aufbruch 1919 gemeinsam anpacken, dass Karl sogar, zeitgemäß und der familiären Situation entsprechend, die Hauptrolle spielt.

Natürlich ist Bäcker Karl Albrecht nicht der einzige Händler, der sich im aufstrebenden, gleichsam neu entstehenden Schonnebeck nach 1910 etabliert. Im Gegenteil: Noch heute zeugen die ­überlebenden Altbauten von der damaligen Prosperität des Dienstleistungssektors. Allein an der Zahl typischer Eckhäuser mit noch existierenden oder zu Wohnraum umgewandelten Gewerberäumen im Erdgeschoss lässt sich ablesen, wie viele Geschäfte, Gaststätten und Kneipen damals eingerichtet wurden, um den Lohn der vielen Bergleute abzuschöpfen – oder freundlicher gesagt: um die Schonnebecker mit allem zu versorgen, was sie brauchten und vielleicht auch nicht so dringend brauchten. Zu den vielen neuen Geschäften, ob an Ecken oder entlang den Häuserzeilen in Schonnebecks »Neuer Mitte«, gehört eines in unmittelbarer Nachbarschaft zu Karl Albrechts Brot­geschäft: Mittelstraße 89. Und damit kommt der angeblich »erste Aldi-Laden« ins Spiel.

Das Haus Nr. 89 ist ebenso neu wie das Nebenhaus Nr. 87 der Siepmanns. In Nummer 89 hat sich vor dem Krieg das »Kaufhaus F. W. Judt« etabliert. In einer Anzeige nennt es sich »Billigste Bezugsquelle für Lebensmittel« – und wer dächte da nicht an die ­späteren Billigläden unter dem Aldi-Signet. Weiter heißt es in der ­Anzeige: »Spezialität: Versand von Kaffee, Thee und Kakao in nur anerkannt feinen Qualitäten. Postpakete franko. Reichhaltiges Lager in ff. Obst- und Gemüse-Conserven, Weine, feinen Bonbons und Schoko­laden.« Am Schluss heißt es »Reelle Bedienung« und etwas rätselhaft: »Grösstes Entgegenkommen zugesichert« – vielleicht weist das diskret auf die Möglichkeit hin, »anschreiben zu lassen«, also auf Pump zu kaufen. Oder auf die Bereitschaft des Kaufhaus­inhabers, bei größeren Käufen die Preise noch ein wenig nach unten zu korrigieren. Als Verkaufsstellen sind die Mittelstraße 89 und die Friedrichstraße 15 angegeben. Dazwischen liegen nur ein paar Gehminuten.

Sprachlich ist anzumerken, dass »billig« damals noch nicht den heutigen Beiklang von »schäbig« oder »minderwertig« angenommen hatte. Man muss daher, trotz des zeitüblich werbenden Superlativs »billigst«, im Geschäft des Herrn Judt keinen spartanisch eingerichteten frühen Discount-Laden vermuten. Andererseits ist natürlich auch der Begriff »Kaufhaus« irreführend. Nach heutigen Maßstäben wäre Judts Geschäft als Tante-Emma-Laden einzustufen. Damals zählt es zu den größeren. Mit 100 Quadratmetern ist es fast dreimal so groß wie Karl Albrechts Brotgeschäft nebenan.

Ob Anfänger Karl Albrecht das Unternehmen seines direkten Nachbarn mit Argwohn, Furcht oder Neid betrachtet, ist nicht überliefert. Bei »Kaffee, Thee, Kakao und Schokoladen« betätigt Judt sich ja immerhin als direkter Konkurrent. Wie dem auch sei: Der ­Erste Weltkrieg kommt dazwischen, und dem einige Jahre älteren F. W. Judt ergeht es nicht anders als Karl Albrecht: Auch er wird Soldat. Doch anders als bei Albrechts gibt es für die Familie Judt nach dem Krieg keinen Neuanfang: Der Kaufhausinhaber fällt 1918 als Soldat; im folgenden Jahr verkauft seine Witwe Geschäft und Haus. Und Käufer sind – so vor einigen Jahren die Auskunft des Essener Stadt­archivs gegenüber der Regionalzeitung WAZ(Westdeutsche Allgemeine Zeitung) – die Albrechts.5 Die Familie übernimmt das größere Geschäft und bezieht auch eine neue Wohnung im Haus Mittelstraße 89. Natürlich liegt die Frage nahe, wie der kleine Brothändler ­Albrecht, zumal in der Nachkriegskrisenzeit, das Geld für diesen Kauf hat aufbringen können. Wahrscheinlichste Erklärung ist wohl, dass wiederum die etablierte, bereits Haus und Grund besitzende Familie Siepmann dabei im Spiel ist.

Jedenfalls sind Karl und Anna Albrecht 1919 an jenem Ort angekommen, der heute »Aldi-Laden Nummer eins« oder firmenintern »VST 001« genannt wird. Tatsächlich ist es weder das erste ­Albrecht-Geschäft noch der erste Aldi-Laden. »VST 001« stimmt nur für Karl und Theodor Albrecht. Für ihre Eltern ist der Laden in Nr. 89, wie wir gesehen haben, in Wahrheit die »VST 002« – oder besser »VST 001A«, denn der kleine Brotladen nebenan wird nicht weitergeführt. Ebenso wenig scheint Judts Filiale in der Friedrichstraße übernommen worden zu sein. Das Geschäft in Nummer 89 präsentiert sich auf den Rabattkarten nun als »Karl Albrecht – Kaufhaus für Lebensmittel«. Geworben wird so: »Karl Albrecht, Schonnebeck, Otto-Hue-Str. 89, Kolonialwaren, Eier – Butter – Käse – ff. Wurstwaren – Kaffee stets frisch geröstet – Margarine nur in bester Qualität – ff. Süßrahmbutter – Tabak, Cigarren, Cigaretten – Niederlage in sämtlichen Brotarten – Täglich frische Brötchen«. Den Brothandel hat Karl Albrecht also nicht aufgegeben.