Die Bühne unter meinen Füßen - Mélinée Benamou - E-Book

Die Bühne unter meinen Füßen E-Book

Mélinée Benamou

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Beschreibung

In "Die Bühne unter meinen Füßen" erzählt die Sängerin Mélinée von den prägenden Momenten ihres Lebens. Mit Intensität und Humor schildert sie ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Liebe für die Cevennen oder ihre Reisen mit einem Bus und andere Abenteuer auf der ganzen Welt. Sie erzählt auch von der Kraft ihrer Freundschaften und Liebesgeschichten und von ihrer schwankenden Existenz, die von den depressiven und manischen Phasen ihrer bipolaren Störung geprägt ist. Berlin ist eine wichtige Figur in dieser autobiografischen Erzählung, ebenso wie der französische Sänger Renaud. Mélinée gibt auch dem Theater und dem Chanson Raum, die ihrer turbulenten Geschichte Farbe geben.

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Seitenzahl: 182

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Mélinée Benamou

Die Bühne unter meinen Füßen

Eine Sängerin erzählt von ihrem Leben,ihren Liebesgeschichtenund ihrer Bipolarität

Übersetzung aus dem Französischen:Mélinée Benamou und Katrin Schielke

Originalausgabe

© 2022 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin; [email protected]; http://www.hirnkost.de/

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Juni 2022

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung; [email protected]

Privatkunden und Mailorder: https://shop.hirnkost.de/

Layout: Conny Agel

ISBN:

PRINT: 978-3-949452-52-9

PDF: 978-3-949452-54-3

EPUB: 978-3-949452-53-6

Die Bühne unter meinen Füßen erscheint zeitgleich unter dem Titel Scène et sauve bei l’Harmattan, Paris.

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate. Unsere Bücher kann man auch abonnieren: https://shop.hirnkost.de/

Hirnkost versteht sich als engagierter Verlag für engagierte Literatur. Wir drucken nicht nur

Mehr infos unter https://www.hirnkost.de/der-engagierte-verlag/

Für Giorgia, die Frau, die auf den Pik genau kam,für meine Eltern und für meinen Bruder, für ihre Liebe und für meine Kindheit der tausend Sterne,für den Kleinen Wolf, der mein Berlin-Abenteuer möglich gemacht hat,für Corinne, Schutzengel meiner Wanderschaft,für Michael, für die Inspiration und das Unaussprechliche,für die Compagnie Pierre Debauche für ihre außergewöhnlichen Theatermomentefür Martin, für die Gegenwart und für die Zukunft,für Renaud, den spirituellen Vater vor dem Herrn,für Berlin.

Inhalt

Berlin

Gabriel

Kindheit

Die Cevennen

Jugend

Renaud

Abgründe

Badenweiler

Tsunamis

Reisen

Die Bühne unter meinen Füßen

Maxim

Diskografie von Mélinée

Berlin

Berlin, ich trage dich unter meiner Haut,

den Tiergarten in meinen Knochen 1

18. Juni 2010. Ich komme nach Berlin. Der „Ruf des 18. Juni“, so würde ich später scherzen. Dies ist mein dritter Besuch in der deutschen Hauptstadt. Das erste Mal kam ich vor ein paar Jahren, mit meiner großen Tasche auf dem Rücken. Ich begann damals meine deutsche Interrail-Tour. Ich war von Jana, einer hübschen deutschen Frau, empfangen worden, die mir für ein paar Nächte ihr abgewetztes Sofa in ihrer Lichtenberger Wohnung geliehen hatte. Mein erster Eindruck von Berlin: der graue, traurige, zubetonierte Osten, in dem die Spuren des jahrzehntelangen Kalten Krieges noch sichtbar waren, weit entfernt von der brummenden Gentrifizierung, die die Stadt bald heimsuchen würde. Ich entdeckte abgeblätterte Fassaden, die noch nicht in den Pastelltönen gestrichen waren, die die neuen bunten Bonbons des Prenzlauer Bergs überziehen würden.

Lange Spaziergänge durch die Straßen Berlins führten mich manchmal an der Mauer entlang, diesem ursprünglichen Riss, der mich immer wieder bewegt. Manchmal ging ich die Karl-Marx-Allee mit ihrer noch intakten sowjetischen Architektur entlang und landete auf der Esplanade des Alexanderplatzes, wo es außer Shops mit Fashionklamotten und nichtigen Souvenirs nichts zu sehen gab. Das einzig Bedeutsame des Ortes war der majestätische Fernsehturm, der mich eines Tages zu einem Song inspirieren sollte. Er würde mein Kompass werden, derjenige, der nie den Kopf verlor, und der, im Gegensatz zu mir, nie neben sich stand. Er durchbohrte den Himmel mit seiner Spitze und stach in die Wolken, als wolle er seiner doppelten Identität entkommen. In seiner silbernen Kugel reflektierte das Sonnenlicht zwei geometrische Linien. Die Wessis sahen darin ein Kreuz, die Ossis ein Plus-Zeichen. Da oben schnitt der geteilte Himmel, der Christa Wolf lieb und teuer und nun wieder geeint war, Grimassen zu den Symbolen des deutschen Liberalismus. Die Kugel des Fernsehturms drehte sich unmerklich und der Himmel über Berlin offenbarte mir seine Engel, die wie unbewegliche Wächter ein Auge auf die Straßen hatten. Berlin, du würdest mein Schutzengel werden, die Stadt meines Lebens, und ich wusste es noch nicht.

Jorge hatte mich gewarnt: „Du wirst sehen, Berlin ist voller Engel.“

Jorge ist ein reizender Portugiese, was wahrscheinlich ein Pleonasmus ist. Er hatte mir bei meinem zweiten Aufenthalt die Schlüssel zu seiner Wohnung in Steglitz geliehen. Ich saß neben ihm im Flugzeug, das zum Flughafen Tegel flog. Ich hatte mich gerade von meinem Freund Baptiste getrennt, mit dem ich drei Jahre lang zusammen gewesen war. Als er sah, wie traurig und neben der Spur ich aussah, hatte Jorge mir sehr nett geschildert, wie gut Berlin mir tun würde. Er wollte auf Offshore-Plattformen in einem Meer arbeiten, dessen Namen ich vergessen habe, und bot mir während seiner Abwesenheit seine Bleibe an. Ein Wohltäter, auch ein Engel. Leider habe ich ihn nie wiedergesehen.

An diesem 18. Juni 2010 folge ich dem unbekümmerten und immer noch unvermuteten Ruf von Berlin. Ich begleite Studierende aus Toulouse, was mir eine deutsche Freundin, Lektorin an der Universität Mirail, angeboten hatte. Da weiß ich noch nicht, dass dieser Aufenthalt den ganzen Sommer und vielleicht mein ganzes Leben dauern wird.

Ich wohne in einem Zimmer in der Jugendherberge Pfefferberg mit einer jungen, freundlichen Deutschlehrerin. Tagsüber machen wir Sightseeing, besuchen den Reichstag, das DDR-Museum und andere ostdeutsche Sehenswürdigkeiten wie die East Side Gallery. Eine Schifffahrt auf der Spree, die Biere gut unter den T-Shirts versteckt, zeigt uns bald die Gebäude der Stadt, von der Museumsinsel bis zu den Konturen Charlottenburgs. Hätte man mir gesagt, dass ich ein paar Jahre später in der Nähe des Pergamonmuseums in einer Strandbar, die mein Tummelplatz werden sollte, Tango tanzen würde, und dass ich dort eines Abends in einem noch zögerlichen Deutsch die Strophen meines Liedes „Berline“ kritzeln würde, hätte ich es nicht geglaubt.

Ich wusste nicht, dass ich die ersten Jahre meines Lebens in Berlin in einer WG in Mitte wohnen würde und erst recht nicht, dass ich dort am 3. September 2010 mit meinem Koffer und meinen Kisten auf dem Arm einziehen würde. Ich wusste noch nicht, dass ich in Berlin bleiben und vielleicht dort sterben würde. Berlin die Zerrissene, Berlin die Bipolare. Wie ich. Meine Schutzblase, meine Aufmüpfige, meine Lässige, meine Freie, meine Verletzte. Das ist das Schönste, was ich in meinem Leben getan habe: zu dir zu kommen, meiner mich verzaubernden Stadt, deinem Ruf, deinem Geschrei zu folgen.

Alles beginnt im Tacheles, oder eher beginnt dort alles wieder neu.

Vor ein paar Jahren spielte ich auf den Straßen Berlins Akkordeon, sang meine Liedchen und bekam ein paar wohlwollende Euros von musikbegeisterten Passanten.

Einmal sprach mich zwischen zwei Liedern ein Typ am Hackeschen Markt an. Er trug eine Mütze, sah freundlich aus, mit einem gutmütigen Lächeln, und sprach Französisch mit einem leichten Schweizer Akzent.

„Kennst du das Tacheles? Du könntest dort spielen. Komm, ich zeige es dir.“

Mit meinem Akkordeon auf dem Rücken folgte ich ihm wie eine 1,80 Meter große Schildkröte bis in die Oranienburger Straße, wo schon die imposante grau-beige Fassade des Tacheles-Tempels zu sehen war. „HOW LONG IS NOW“ stand in großen schwarzen Buchstaben auf der tragenden Wand, der Slogan dieses chimärenhaften besetzten Hauses, dessen Existenz von Beginn an bedroht war.

Tacheles reden war angesagt. Die Menschen sprachen offen und ohne Umschweife in diesem neuen Turm zu Babel, in dem alle Nationalitäten des Planeten bunt gemischt ein- und ausgingen. Das Gebäude war ein altes Einkaufszentrum aus den 20er-Jahren, von dem nur noch ein Teil erhalten war.

Davor verkauften Künstler aus aller Welt Schmuck, verrückte Halsketten, ausgefallene Ohrringe, Silbergabeln als Armbänder.

Rechts war die Bar Zapata, in der die Band Rammstein ihre ersten Konzerte gegeben hatte, eine finstere Kaschemme, in deren feuchter Luft Rauchschwaden schwebten.

Im zweiten Stock herrschte im Kino und seiner Bar, die mein Wohnzimmer und mein erster Proberaum werden sollte, eine helle, leise und gedämpfte Atmosphäre. Die bordeauxroten Samtvorhänge umschmeichelten das schwarz-rote Leder der Sofas, die Bar war mit bunten Flaschen bestückt, das Klirren der Shaker kündigte neue vielversprechende Cocktails an. Die Kunden lagen träge auf den weichen Sofas, Kippe im Mund, ein Getränk in der Hand. Fetzen von Englisch, Deutsch, Französisch, Türkisch und anderen Sprachen formten ein Stimmengewirr, das von Rockmusik der 70er überdeckt wurde. Betrunkenes Gelächter und kindliches Gekicher begleiteten lautstark das Kreischen einer E-Gitarre oder das Brummen einer Basslinie.

Auf der linken Seite war ein kleines Dorf, die verrückte, scharfe Welt der Metallbildhauer. Bronzefarbene Tiere standen neben großen rostigen Buchstaben, Männer und sogar eine Frau, Aurélie, meine zukünftige französische Freundin, schlugen auf Bleche oder erhitzten Metallstücke mit einer Lötlampe.

Im Obergeschoss gab es weitere Künstlerateliers, darunter das des Holocaust-Zeichners Roman Kroke, in den ich mich einige Jahre später leidenschaftlich verlieben sollte.

Im Erdgeschoss befand sich ein eher spartanischer, aber recht großer Saal, in dem Theater- oder Bildkreationen, Konzerte oder Happenings stattfanden.

Die Treppen waren alle mit Graffiti besprüht und rochen nach Urin. Das gehörte zum schäbigen Charme des Ortes.

Ich fühlte mich wie Alice im Wunderland angesichts all der Schätze, die sich mir boten. Es gab hier auch einen verrückten Hutmacher, diesen Roman Kroke mit seiner ewigen schwarzen Melone, und gestreifte Katzen, die von irgendeiner Droge angetrieben wurden. Das Tacheles war ein Paradies für Drogendealer, die hierherkamen, um ihren Stoff an Touristen aus aller Welt zu verkaufen.

Im Hof war ein alternativer Punk-und-Beatnik-Strand. Sand, Barwagen, Hütten. Unter dem Pflaster liegt der Strand. Das Tacheles war keine Utopie geblieben. Ich, das Mädchen aus Toulouse, bestaunte das künstlerische Universum dieses mythischen, weltweit bekannten besetzten Ortes.

Gegenüber von uns war eine Hütte in einem Garten mit sandigem Boden und einem Teich als einzigem Meer gebaut worden. Dort gab es eine grüne Oase, die von Wänden mit riesigen Fresken überragt wurde. „La maison près de la fontaine“ 2, sang Nino Ferrer, dessen deutsch-französischen Botschafter ich treffen sollte, Franck, Cowboy der modernen Zeiten, Musiker, Sänger, Gründer der Beat-Organisation, Liebhaber von Schmetterlingen, Fröschen, Reptilien … ein Verteidiger der Natur und ihrer Bewohner, mehr als der menschlichen Spezies. Er zeigte mir sein Biotop. Ich ging zu einem der Beat-Konzerte, mit seinen Rhythmus- und Bluesklängen und dem zitronigen Duft des Cuba Libre. Eines Nachts küsste er mich wild, und der Mond war der einzige Zeuge.

Dieser Cowboy war es, den ich im Juni 2010 wieder im Tacheles besuchen kam. An diesem Abend feierte Jenny, sein Cowgirl, Geburtstag. Eine schöne braunhaarige Deutsche mit Revolveraugen und einem 70er-Jahre-Look wie ihr Cowboy.

Er lud mich ein, mich an den Grill zu setzen, ein Lagerfeuer, das nach Fisch roch.

„Willst du ein paar calmar3?“, sagte er mit seiner tiefen, von Zigaretten und Rum gebrochenen Stimme.

Franck sprach mit mir auf Französisch, seine Mutter stammte aus Tourcoing. Zu dieser Zeit konnte ich nur ein paar Brocken Deutsch. Wie ich es bereut habe, statt dieser Sprache lieber Italienisch in der Mittelstufe gewählt zu haben.

„Man sagt calamar“, erwiderte ich amüsiert.

„Nein, man sagt calmar“, beharrte er.

Um dieses linguistische Streitgespräch abzukürzen, rief er in einem Grölen, an das ich mich für den Rest meines Lebens erinnern werde: „Nathaaaaaaaaaan!“

Und da trat dann Nathan, ganz unauffällig daherkommend, in mein Leben. Wie ein Glücksfall, oder eher wie ein Wink des Schicksals. Ich glaube gerne an das Schicksal und erinnere mich oft an diesen Satz von Zafon in Der Schatten des Windes : „Zufälle sind nur die Narben des Schicksals“, aus dem später in meinem Lied „Héroïne“ wurde: „Die Narben des Zufalls im Schicksal unserer Erinnerungen.“

Nathan. Mein erster Bassist, mein Freund, mein Beschützer, mein Geliebter. Der Hüter dieses magischen Ortes, der mich neben anderen Liedern zu „Tares Laisse“ inspirieren würde.

Nathan war ein kleiner bärtiger Mann mit langen lockigen braunen Haaren. Er trug eine Brille und Kleidung, die ihm zu groß war. Er war Informatiker, aber seit ein paar Jahren arbeitete er an der Bar des Tacheles-Kinos. Das Kino, mein neues Hauptquartier.

Anton, der Filmvorführer, spielte Filme auf die altmodische Art mit Filmrollen ab, brauchte dazu keinen Computer. Er war ein Norddeutscher, groß, witzig, ein bisschen wild und asi. Er hatte Dreadlocks, die ihm bis unter den Po gingen und roch wie eine Ziege. Ein echter Rastamann, Vegetarier und Kiffer. Er spielte Gitarre, Nathan spielte Bass.

„Wir können dich begleiten, wenn du willst“, sagte Nathan an diesem Abend im Biotop zu mir, während er mich mit kostenlosem Cuba Libre, „mit Liebe gemacht“, versorgte.

Von da an habe ich nie wieder für ein Getränk im Tacheles bezahlt. Mit Nathan hatte ich meinen Stamm-Barkeeper kennengelernt. Ich wusste so wenig über das Nachtleben und die Welt der Bars, trotz meiner sechsundzwanzig Jahre in Toulouse.

In diesem Sommer 2010 würde ich zum ersten Mal in meinem Leben tagsüber schlafen, nachts leben, viele Cocktails trinken, Joints rauchen und zwei Monate lang die Liebe mit Nathan erleben.

Anton und ich schliefen bei Nathan, frühstückten nachmittags mit ein paar Gläsern Fruchtsaft im Tacheles-Kino, zu dem meine beiden Freunde die Schlüssel hatten, und dann gingen wir los, um in den Straßen von Mitte oder Friedrichshain meine Lieder zu spielen.

Die B. B. Band war geboren. Die Berliner Biker Band. Nathan am Bass, Anton an der Gitarre, ich am Akkordeon und Gesang. Wir fuhren mit unseren Fahrrädern durch die Straßen der Stadt, unsere Instrumente an einem behelfsmäßigen Wagen befestigt, der von Anton auf zwei Rädern gezogen wurde. Wir verdienten genug, um unsere vietnamesischen Reisnudeln, libanesischen Falafel und indischen Currys zu bezahlen. Dann begann die Nacht, aromatisiert mit Cuba Libre, Mojitos, Hefeweizen. „Flüssiges Brot“, wie Nathan immer sagte. Der Geschmack Deutschlands für meine französischen Geschmackspapillen.

In der Morgendämmerung wanderten Nathan und ich manchmal auf den Wegen des Tiergartens, des Waldes im Herzen der Stadt, der uns eine märchenhafte Kulisse bot. Kaninchen flitzen bei unseren Schritten davon. Die riesigen Bäume bewegten sich in der Morgenbrise und die Rasenflächen, zahlreiche Lichtungen, waren wie ein Seidenteppich unter unseren nackten Füßen. Unter einem dieser Bäume werde ich eines Tages mein Lied „Nous sommes rien“ 4 schreiben.

Am späten Nachmittag waren wir wieder Straßenmusiker. Mit Birkenstocks an den Füßen und einer roten herzförmigen Brille auf der Nase sang ich meine Lieder, die wie ein exotisches Flüstern in der teutonischen Stadt klangen. Auch in der Nähe der Mauer, oder was von ihr übrig war.

Jahrelang hatte ich Gänsehaut, wenn ich vor der Mauer, am Fuß der Mauer stand. Berlins Kaiserschnitt. Sie hatte die geschundenen Seelen der DDR hervorgebracht, zerstörte Leben, Fluchtversuche, Todesfälle, zerrissene Familien … diese Geister schwangen spürbar vor den Fresken der East Side Gallery oder den grauen Betonstücken der Bernauer Straße.

Berlin, ich würde dich zähmen, deine Eingeweide entdecken, deinen Untergrund, deine Gebäude, deine Bunker … deine Geschichte. Und die deiner Bewohner. Ich würde den Fernsehturm lieben, mir einen Reim auf ihn machen, ihn besteigen, mich in seiner Kugel drehen, eine riesige Stadt unter meinen Füßen. Berlin, ich würde dich lieben, wie ich deine Männer, deine Deutschen, deine nach Freiheit dürstenden Ossis leidenschaftlich lieben würde. Ich würde dich zu meiner machen, mich vermählen mit dir, dir Treue schwören. Ich würde mich in deinem Schoß so wohlfühlen wie an keinem anderen Ort der Welt. Ich würde mit meinem Fahrrad in dir herumfahren, all deine Winkel entdecken, deine urbane Poesie, mich davon inspirieren lassen. Ich würde aufblühen, mehrere Alben zur Welt bringen, deine Sprache sprechen, die mich so sehr zum Träumen brachte. Die Sprache meiner großen Liebe, die ich acht Jahre zuvor in meinem Gymnasium in Toulouse kennengelernt hatte.

Gabriel

Es ist der Vollmond mit Gnadenfrist

am Firmament der Unverstandenen

das Unmögliche, das jedoch bleibt

König des Elends, aber auch der des Herzens 5

Er sieht mich in der Mensa an. So eindringlich wie mich noch nie ein Junge angesehen hat. Ich schaue von meinem Teller auf, er sieht mich immer noch an. Er ist verwirrend. Dieses „Spiel der Blicke“, wie ich es nenne, wird mehrere Monate dauern. Auf dem Schulhof, in der Bibliothek, in der Mittagspause … Wir haben unsere stillschweigenden Blick-Verabredungen.

Ich kenne seinen Vornamen nicht. Pierre, Manuel … Ich versuche zu raten. Ich gebe ihm einen Vornamen. Meine Freundinnen lachen.

„Geh und rede mit ihm“, sagen sie mir.

Ich kann nicht. Bin verloren in meiner Schüchternheit. Ich, die ich Theater gespielt habe und seit meiner Kindheit vor Menschen singe … Ich kann nicht zu ihm gehen, ich kann das Eis nicht brechen. Ich liebe die Romantik dieser scheuen, vielversprechenden, stillen Blicke.

Léo findet mich verklemmt. „Er ist doch nur ein Typ! Stell ihn dir beim Scheißen vor!“ Ich kichere. Gute alte Léo.

Ich bestehe mein Abitur und komme in eine Vorbereitungsklasse, die hypokhâgne6. Er ist immer noch in der Abiturklasse. Seit acht langen Monaten schauen wir uns nun gegenseitig an, mustern uns, starren uns an.

Eines späten Nachmittags, auf dem Schulhof von Saint-Sernin, höre ich: „Mélinée!“ Eine schöne Stimme mit einem leichten ausländischen Akzent. Ich schaue auf: Da ist er. Vor mir. Ganz nah. Ich frage ihn nach seinem Vornamen. Gabriel. Das stand nicht auf meiner Liste. Ich bin ein bisschen enttäuscht. Er fragt mich, ob ich Französin bin. Was für eine seltsame Frage. Er sagt mir, dass ich eher nach „Griechenland, Zypern“ aussehe. Wegen meiner langen lockigen Haare.

„Und du? Bist du Bretone?“, frage ich ihn.

Wie dumm ich bin, mit meinem Mythos von den schönen blonden Bretonen mit großen blauen Augen.

„Deutsch“, antwortet er.

Zweite Enttäuschung.

„Ah … Deutschland mag ich nicht so“, sage ich zu ihm.

Dumme Antwort eines Mädchens, das durch seinen Vater jüdischer Herkunft ist, traumatisiert durch die Shoah und die von der Mutter auferlegte Pflicht zur Erinnerung. „Bei uns waren die Deutschen die boches! Dein Großonkel war Mitglied des Widerstands“, sagte meine Mutter mir immer wieder.

Ich zeige Gabriel Toulouse und die Orte, die ich mag. Ein sehr romantischer Spaziergang, mit einem Deutsch-Franzosen, der auch sehr romantisch ist.

Sein Vater ist Franzose, Deutschlehrer an der Universität von Mirail und ein berühmter Grammatiker. Gabriel ist direkt einem Goethe-Roman entsprungen. Ein junger Werther. Einzelgänger, unruhig, sensibel, atypisch. Mein fremder Fremder, wie ich ihn in mir nenne. Er ist schön wie ein klarer Himmel, den man umarmen möchte. Blasse Haut, kurze blonde Haare, blaue Augen, ein gerader und gleichzeitig verträumter Blick, ein muskulöser Körper. In meiner Vorstellung ist er das männliche Ideal. Einfach perfekt. Er hat die Farben meines Idols Renaud und ähnelt dem Porträt, das der Sänger vom Liebhaber seiner Tochter malt. Er ist Musiker, Rebell, Bücherliebhaber, trägt einen dicken Wollpullover, keinen Ohrring in der Nase und nicht mal eine Lederjacke, also ein ziemlich normal aussehender Typ.7 Ah, wie ich besessen bin von den Blonden mit blauen Augen …

Er spielt Gitarre, Bass und Klavier. Er improvisiert wunderbar. Er macht Theater mit seinem Vater, in der Truppe des Goethe-Instituts. Er ist alles, was ich liebe. Schauspieler, Musiker. Allmählich entdecke ich, dass er auch viel liest und mehrsprachig ist. Neben Deutsch und Französisch spricht er auch den bayerischen Dialekt, denn er ist in Passau aufgewachsen, im Süden von Deutschland. Er spricht bereits sehr gut Englisch, das er an der Universität studieren wird. In diesem Fach wird er die agrégation8 mit Bravour bestehen.

Er ist ein Jahr älter als ich und hat viele Mädchen kennengelernt. Ich bin Jungfrau und habe Angst. Völlig asexuell. Mit Gabriel entdecke ich die ersten Aufregungen der Liebe. Ich hatte noch nie einen Freund, obwohl ich schon achtzehn bin. Ich schäme mich dafür. Ich habe mir immer gesagt, dass mir das nie passieren würde. Gabriel ist der erste, der keine Angst hat, in mich verliebt zu sein. Und doch werden wir nie miteinander schlafen. Das werde ich lange Zeit am meisten in meinem Leben bedauern.

Gabriel verlässt mich nach zwei Monaten. Für eine dumme Geschichte von Eifersucht und Verrat, die er mir nie verzeihen wird. Und die ich mir immer noch nicht verzeihen kann. Gabriel, ich habe ihn zehn Jahre lang geliebt und ein Teil von mir wird ihn immer lieben. Vielleicht ist es das, was wahre Liebe ist. Sie ist ewig. Und eine Trennung ist uns unverzeihlich. Ich hätte jeden für ihn verlassen. Er brauchte nur mit den Fingern zu schnippen und ich gehörte ihm. War mit ihm. Die Seine war ich ja schon. Ich gebe ihm zu verstehen, dass sein Verlust für mich sehr schmerzhaft ist. Ich gehe sogar so weit, dass ich mittags bei ihm auflaufe, um ihm meine Liebe zu gestehen. Er empfängt mich im Pyjama. Im Halbdunkel sehe ich seinen bedrückten Gesichtsausdruck. Mit verzweifelter Stimme sage ich ihm, dass ich ihn liebe. Es ist das erste Mal, dass ich das zu jemandem sage. Er antwortet, dass Liebe nicht aus Worten, sondern aus Taten besteht. Ich traue mich nicht, ihn zu umarmen, aus Angst, er würde mich zurückweisen. Ein anderes Mal wird er zu mir sagen: „Wenn man einen Ring am Finger hat, achtet man nicht darauf, aber wenn man ihn verliert, sagt man: ‚Scheiße, wo ist mein Ring?‘“ Ich antwortete, dass man einen Ring nur dann vermisst, wenn man wirklich daran hängt.

Jahrelang sehen wir uns im gechlorten Wasser des Schwimmbads von Léo-Lagrange. Ich halte Ausschau nach seinem leuchtend rosafarbenen Fahrrad vor dem Gebäude. Ich warte am Eingangstor auf ihn und tue so, als würde ich ihn zufällig treffen, wenn ich ihn rausgehen sehe. Ich erkenne sein langsames Kraulschwimmen schon von Weitem, wenn ich mich dem Becken nähere. Wir reden stundenlang im Wasser, ohne auch nur ein bisschen zu zittern. Das war schon immer so, im Schwimmbad, auf den Straßen von Toulouse, am Telefon. Bei ihm bleibt die Zeit stehen. Es gibt nur uns beide. Dieses Gefühl habe ich noch nie bei jemand anderem erlebt. Wir reden stundenlang, aber es ist, als hätte es nur zehn Minuten gedauert. Wir reden über alles, nichts, Musik, Literatur, Leben, Buddhismus, Tod, Selbstmord. Gabriel denkt oft daran. Die Melancholie verlässt ihn nie, dieselbe Melancholie, die mich an dem Tag überkam, als er mir sagte, dass es vorbei ist. Ich konnte es nicht glauben. Ich war im Wahn. Dann sank ich in ein bodenloses Loch, in eine melancholische Depression, von der ich weder den Namen noch die Existenz kannte.

Mit dem Verlust von Gabriel habe ich die Ära der Bipolarität betreten. Die kenne ich auch nicht. Ich weiß nicht, dass die Depressionen und die manischen Krisen, wie sie genannt werden, jahrelang aufeinander folgen werden. Dass ich Wahnsinn, Wahn und Verstimmungen erleben werde, bis ich mir wünsche, daran zu sterben.