Die Bürgermeisterin, ihre Reitlehrerin, deren Pferde und die ganze Feuerwehr - Lo Jakob - E-Book

Die Bürgermeisterin, ihre Reitlehrerin, deren Pferde und die ganze Feuerwehr E-Book

Lo Jakob

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Beschreibung

Weiler hat eine neue Bürgermeisterin. Timm Anderl ist karriereorientiert und zielstrebig. Außerdem verdammt gutaussehend, fragt man Claudia Monreal, die den Pferdehof im Dorf betreibt. Und mit Sicherheit hetero. Das glaubt zumindest das ganze Dorf. Aber dass Dinge nicht immer so sind, wie sie scheinen, weiß Claudia nur zu gut. Ihr zweites Standbein ist nicht einmal legal, das würde hinter der Reitlehrerin auch niemand vermuten. Und wieso ist Gertrud Schneck eigentlich plötzlich so gut gelaunt?

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Lo Jakob

DIE BÜRGERMEISTERIN, IHRE REITLEHRERIN, DEREN PFERDE UND DIE GANZE FEUERWEHR

3. Teil der Serie»Die Feuerwehrfrau«

© 2022édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-359-3

Coverillustrationen: iStock.com/Dmytro Beridzer

1. Akt

1

Claudia

»Bürgermeisterin, dein Holzstapel brennt.« Claudia bekam die wenigen Worte kaum heraus, weil ihr Mund so trocken war vor Aufregung. Und sie hörten sich selten bescheuert an. Ihr rechtes Augenlid zuckte. Natürlich tat es das. Verdammt.

»Was?«, fragte die Frau, die ihr zum ersten Mal direkt gegenüberstand und so aussah, als ob sie gar nichts verstanden hätte.

Claudia zeigte nach rechts, weil der Mut sie in dem Moment verließ. Sie hatte sich das alles anders vorgestellt. Ganz anders. In bunten Farben, mit viel romantischer Musik unterlegt und passend für den kitschigsten Lesbenliebesfilm aller Zeiten.

Aber so war es gar nicht. Es stand nur ihr altes linkisches Selbst hier vor dem kleinen ehemaligen Pförtnerhaus und sah aus wie die Vollidiotin, die sie war, wenn sie verknallt in eine tolle Frau war.

Die glatte, kluge Stirn der Bürgermeisterin runzelte sich, und sie schaute dahin, wo Claudia hinzeigte. An den Rand des Grundstücks in Richtung Kurpark von Weiler, wo ein Holzstoß aus verwittertem Material schon seit Jahren windschief gestanden hatte und vor sich hinrottete. Jetzt brannte das alte Holz lichterloh und erleuchtete den trüben Wintermorgen. Eine fette Rauchsäule stieg in den Himmel über dem Dorf.

Die Bürgermeisterin starrte ungläubig auf das kleine Inferno. Eine Gelegenheit, sie aus der Nähe zu betrachten, die sich Claudia nicht entgehen ließ.

Seit Timm Anderl vor einem Dreivierteljahr als Nachfolgerin des alten Bürgermeisters gewählt worden war, hatte Claudia sich mit jedem Tag mehr in sie verschossen. Es war schrecklich pubertär von ihr, das wusste sie, aber sie konnte es trotzdem nicht sein lassen.

Die junge neue Bürgermeisterin war ein Fixstern an ihrem Horizont.

Leider beruhte das nicht auf Gegenseitigkeit.

Timm Anderl hatte sie bisher noch nicht einmal wahrgenommen, obwohl Weiler nun wirklich nicht so groß war und bei plus/minus fünftausend Dörflern jede jeden kannte.

Deshalb heute auch die Nothilfe mit dem Holzstapel. Claudia hatte ihn höchstpersönlich in der Nacht präpariert und dann vor ungefähr fünfzehn Minuten beim Vorbeilaufen mit Conchita schnell und unauffällig angezündet. Gewartet und gewartet, gebibbert und gezittert, bis das teilweise sehr modrige Holz richtig Feuer fing und nicht einfach wieder ausging, wie es lange Minuten ausgesehen hatte.

Währenddessen hatte sie immer mit Blick auf den Holzstoß eine kleine Runde nach der anderen durch den Park gezogen.

Auch diese Spaziergänge hatte sie nur angefangen, um am Gelände des heruntergekommenen Schwesternhauses vorbeizukommen, wo die Bürgermeisterin seit drei Monaten im ehemaligen Pförtnerhaus wohnte.

Das Schwesternhaus war ein Gebäudeensemble, das schon seit Jahren leer stand, und mindestens genauso lange wurde schon nach einer Lösung für die eigentlich schöne alte Anlage gesucht. Warum jetzt die neue Bürgermeisterin in das einzige noch bewohnbare Gebäude gezogen war, wusste Claudia nicht, aber sie hatte Tag eins des Einzugs fett im Kalender stehen.

Denn genauso lange kam sie schon zufällig jeden Tag mit Conchita vorbei. Die arme Conchita wusste nicht, was ihr geschah, aber ihr Großpudelmischling fand es trotzdem gut.

Normalerweise machten sie ja keine Spaziergänge wie andere Leute, die mit ihren Hunden an der Leine durchs Dorf zogen. Normalerweise waren sie in Wald und auf Wiesen unterwegs, Claudia auf einem Pferd und Conchita vollkommen leinenfrei. Leinen waren etwas für unerzogene Stadthunde.

Aber im Park musste auch Conchita eine Leine tragen. Sie nahm es mit erstaunlich viel Gleichmut. Ein Gleichmut, der Claudia auch gerade guttun würde.

Jetzt war es also soweit. Sie stand Timm Anderl gegenüber. Sie tat aber nichts anderes, als die Bürgermeisterin anzustarren, während die inzwischen ziemlich entsetzt in Richtung flammenden Holzstoß starrte.

Timm Anderl war deutlich kleiner als Claudia mit ihren ein Meter dreiundsiebzig. Ziemlich klein sogar nach durchschnittlichen Maßstäben. Sie hatte Teile ihrer üblichen Bürgermeisterin-Uniform an. Ihre übliche Tracht, so nannte das Claudia bei sich. Timm Anderl trug stets eine Abwandlung davon: dunkelblaue oder schwarze Damenbusinessanzüge, mal mit Rock und mal mit Hose. Lediglich die Farbe der Bluse darunter variierte immer. Heute war es eine dunkelrote. Aus Seide, wie es aussah.

Die braunen, halblangen Haare der Bürgermeisterin sahen so aus, als ob sie gerade erst aufgestanden war, denn sie waren noch nicht so gestriegelt wie sonst. Sonst tanzte kein einziges Haar aus der Reihe. Aber sie sah trotzdem umwerfend gut aus, wie Claudia fand. Manche im Dorf hielten sie für streng und unnahbar. Irgendwie kalt und emotionslos.

Aber das störte Claudia gar nicht. Weil sie fand, dass es Timm Anderl extrem gutstand. Die weit auseinanderstehenden dunklen Augen in dem scharfkantigen Gesicht strahlten mit durchdringender Intelligenz. Die etwas zu große römische Nase betonte diesen Eindruck von Klugheit noch. Darunter ein Mund, wie ihn Claudia noch an niemandem gesehen hatte. Nicht an einer echten, wahrhaftigen Person.

Dieser Mund mit seinem sinnlichen Schwung war in seiner Schönheit etwas für Fotomodelle oder griechische Statuen, wie sie sie mal im Urlaub gesehen hatte. Dieser herrliche Mund machte das ganze Gesicht weicher und deshalb fand Claudia auch, dass die ganze Strenge nicht wirkte. Das machte der Mund unmöglich.

Auf diesen Mund starrte sie jetzt, weil er mit nur etwas mehr als zwei Meter Abstand noch unwiderstehlicher war als von Ferne.

Sie vergaß sogar den brennenden Holzstapel darüber. Bis sie in ihrer vernebelten Anbetung wahrnahm, dass die Bürgermeisterin das Handy in der Hand hatte und hektisch irgendeine Nummer suchte.

Das war ganz anders geplant! Sie wollte den Holzstapel selbst löschen!

Sie hatte sich sogar anfangs überlegt, extra deshalb in die Freiwillige Feuerwehr einzutreten, aber den Plan hatte sie ganz schnell wieder aufgegeben. Was brachte es ihr, mit zwanzig anderen ein Feuer zu löschen und in der Uniform in der Masse unterzugehen? Nichts.

Deshalb stand sie ja jetzt hier, mit Conchita im Schlepptau und dem festen Vorsatz, allein die Heldin zu spielen. Um die Bürgermeisterin so zu beeindrucken, dass sie sie kennenlernen wollte. Pubertärer Plan. Aber sie hatte keinen anderen.

»Verdammt, wie lautet die Nummer der Feuerwehr?«, murmelte die Bürgermeisterin vor sich hin und Claudia glaubte nicht, dass sie angesprochen war.

Wenn sie jetzt nichts sagte, war alles dahin. Dann hatte sie ganz umsonst die Brandstifterin gegeben und sich damit strafbar gemacht. Als ob sie das noch auf ihrer Liste obendrauf bräuchte. Noch strafbarer.

Claudia räusperte sich vernehmbar. »Ich lösche das. Kein Problem«, sagte sie so laut und deutlich, wie es ihr möglich war.

Auf dem Reitplatz hatte sie kein Problem damit, zehn kichernde und kreischende Mädchen quer über den Hof zu übertönen und ihnen noch Respekt einzuflößen. Aber hier hörte sich ihre Stimme dünn und unsicher an. Nicht wie eine Frau, die ein Ziel hatte, einen großen Plan verfolgte.

Jetzt endlich fixierten sie diese interessanten Augen, aber der Blick war ganz und gar nicht so, wie ihn Claudia gern gehabt hätte. Da lag keine Heldinnenverehrung darin, keine Dankbarkeit für ihren angebotenen Einsatz. Nein, diese Augen blickten sie fast schon zornig an.

»Seien Sie doch nicht albern«, sagte die Bürgermeisterin mit der ihr nachgesagten Strenge. »Dafür ist doch die Feuerwehr da, Frau . . .?«

»Einfach Claudia«, sagte Claudia. Gesiezt hatte die Bürgermeisterin sie auch noch. Vielleicht half es, wenn sie ihr gleich den Vornamen anbot. So war das doch im Dorf sowieso üblich. Wer siezte sich hier schon?

»Frau Einfach, vielen Dank, aber Sie brauchen nicht selbst zu löschen.«

Das war ja eine Katastrophe! Wie peinlich. Claudia hätte sich am liebsten vor Scham irgendwohin verzogen und eingesponnen wie eine Raupe. Oder mit einem Ein-Personen-Raumschiff in die Tiefen des Weltalls geschossen.

Sie merkte, wie sie rot wurde und es ihr insgesamt unangenehm heiß wurde. Wenigstens fiel das auf ihrer ganzjährig leicht gebräunten Haut nicht so auf wie bei so weißen Hauttönen wie die der Bürgermeisterin. Das war ihr einziger Trost.

»Nein«, erwiderte sie schnell, bevor es noch schlimmer werden konnte. »Ich heiße nicht ›Einfach‹. Ich bin die Claudia.«

Kurz starrte die Bürgermeisterin sie an. Ihr Gesichtsausdruck war für Claudia schlicht nicht zu deuten. Sah Timm Anderl so aus, wenn sie neutral aussehen wollte und es sich verbot, irgendeinen Ausdruck zu zeigen, weil der zu negativ gewesen wäre? War das der Ausdruck, den die Dörfler emotionslos nannten? Dann passte es tatsächlich.

»Okay«, sagte die Bürgermeisterin schließlich gedehnt. »Claudia. Ich rufe jetzt Dieter, den Feuerwehrkommandanten, an.«

Auch den Moment, in dem die Bürgermeisterin zum ersten Mal ihren Namen sagte, hatte Claudia sich besser vorgestellt. Zumindest nicht so abgründig.

Claudia stand da wie ein begossener Pudel. Wie Conchita, wenn sie im Bach planschte. Aber die schüttelte sich dann einfach. Das war bei ihr keine Lösung.

Der schöne Plan, vollkommen danebengegangen.

Die Erkenntnis schlug ein wie ein Blitz in Claudias von unerwiderter Vernarrtheit verknoteten Gehirnwindungen. Ihr Plan war von Anfang an bescheuert gewesen. Und hochgradig kriminell, nicht nur so ein kleines Kavaliersdelikt, wie sie es sich eingeredet hatte. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war. Viel schlimmer in ihrer eigenen Moralhierarchie in Bezug zu ihren anderen heimlichen Straftaten.

Sie war eine Idiotin gewesen. Das alles hatte sie sich eigentlich wunderbar zurechtgelegt: dass das Risiko ja minimal gewesen wäre. Dass der Holzstoß ja viel zu weit weg vom Haus wäre und maximal einen oder zwei der Parkbäume beschädigen könnte. Pah!

»Mit einem Eimer könnte ich schon mal Wasser draufschütten, damit es nicht um sich greift.« Claudia versuchte es noch einmal. Irgendetwas in ihr wollte noch nicht ganz die Segel streichen.

Sie hätte gleich einen Eimer deponieren sollen. Aber das wäre maximal auffällig gewesen, wenn die Brandstifterin gleich die Ausrüstung zum Löschen mitbrachte. So dämlich war sie in ihrer Vernarrtheit in die Bürgermeisterin dann doch nicht gewesen.

Doch so, wie der Wind gerade dabei war zu drehen und Funkenflug in Richtung eines Schuppens auf dem Nachbargrundstück trieb, war an ihrer Argumentation sogar etwas dran.

Das hatte sie so auch nicht geplant. Sie hatte gedacht, alle Risiken einkalkuliert zu haben, aber sie hatte einfach keine Ahnung von der potenziellen Entwicklung eines solchen Brandes.

Jetzt wurde es Claudia doch so richtig mulmig. Ihr pubertärer Scheißplan entpuppte sich gerade als solcher und mutierte zum Albtraum. Und das alles für eine Frau, die Claudia selbst jetzt, da sie vor ihr stand, nicht wirklich wahrnahm.

Eine Frau, die noch dazu vierzehn Jahre jünger war als sie. Timm Anderl sah zwar aus wie Anfang vierzig, war aber erst vierunddreißig, wie Claudia im Internet nachgelesen hatte.

Das hatte sie für ein paar Tage so konsterniert, dass sie die Vernarrtheit beiseiteschieben konnte, aber dann kam das Gefühl massiv zurück, als sie die Bürgermeisterin kurz beim Bäcker Schneck gesehen hatte. Sie hatte sich ein Eclair gekauft. Eines mit Kaffeegeschmack, das der Bäcker Schneck wie kein anderer im Umkreis von dreihundert Kilometern oder vielleicht in ganz Deutschland hinbekam.

Da ein Eclair auch Liebesknochen genannt wurde, hatte es Claudia sich zusammengereimt, dass ihre erneut ausbrechende Gefühlswallung damit zusammenhing. Sie konnte gar nicht anders, als beim Anblick der gutaussehenden jungen Bürgermeisterin mit einem Liebesknochen in der Hand in Liebe für sie zu entbrennen.

Lichterloh wie der Holzstoß, der so langsam außer Kontrolle geriet. Genauso außer Kontrolle musste sie gewesen sein, als sie ihn angezündet hatte. Als sie das hier geplant hatte. Es musste eine Form von Wahnsinn gewesen sein. Liebeswahn, falls es das gab.

Die Erkenntnis schlug noch einmal massiv wie ein Blitz ein. Sie konnte es nicht länger ignorieren. Sie musste akzeptieren, was für einen kolossalen Bockmist sie verbrochen hatte.

Claudia ließ die Bürgermeisterin stehen und rannte in den verwilderten Garten des Schwesternhauses. Es musste doch hier irgendwo einen Wasseranschluss geben. Einen alten verbeulten Blecheimer hatte sie schon im Gebüsch entdeckt.

Conchita sprang neben ihr her, als ob das das beste Abenteuer seit Langem wäre, das sie machten. Sie ließ sich auch von dem brennenden Holzstoß nicht beeindrucken. Der Pudelmischling war wirklich gut abgehärtet. Das hatte Claudia schließlich so mit ihr trainiert. Beim Ausreiten wäre ein unkontrollierbarer Hund, der auch noch vor allem Möglichen Angst hatte oder wild jagen gehen wollte, eine riesige Gefahr. Für sich selbst aber auch für die Pferde und alle anderen.

Gleich um die Ecke wurde Claudia fündig. Ein antik aussehender Wasserhahn schaute aus der Backsteinmauer des angrenzenden Gebäudes hervor.

Mit etwas roher Kraft ließ der verrostete Knauf sich drehen und es spratzte Wasser in den Blecheimer. Zuerst furchtbar rostig und unregelmäßig, dann immer klarer und in einem gleichmäßigen Strom, der den Eimer im Nu füllte.

Wie gut, dass sich hier niemand um etwas kümmerte und das Wasser nicht abgestellt war. Und auch nicht eingefroren, wie es im Februar durchaus hätte sein können.

Claudia rannte mit dem gefüllten Eimer los in Richtung Flammenmeer. Sie schaffte es, nur wenig unterwegs zu verschütten, und konnte mit Sicherheitsabstand die ersten zehn Liter Wasser schwungvoll ins Feuer gießen.

Ohne zu schauen, ob es eine Wirkung hatte, rannte sie wieder zurück zum Wasserhahn und füllte den Eimer erneut. Der Blicke der Bürgermeisterin war sie sich bewusst. Die hielt sie wahrscheinlich für wahnsinnig oder seltsam oder beides zusammen.

Willkommen im Klub. So wie der Rest des Dorfes auch. Das war sie gewöhnt. Nichts Neues. Es gab ihr einen kleinen Stich, dass das ausgerechnet die Frau, die sie beeindrucken wollte, auch tat, aber der Gedanke an das, was sie angestellt hatte, löschte das sofort.

Claudia war geheilt von ihrer Vernarrtheit. Manche Dinge musste man kauterisieren. Ausbrennen, wie der lodernde Holzstapel. Auch da würde hoffentlich nur eine hässliche verbrannte Narbe zurückbleiben und nicht mehr.

2

Timm

Timm beobachtete die Frau, die in ihrem Garten hin- und herflitzte wie eine hilfreiche, aber irre Elfe. Borgdrohne oder der Roboter R2-D2 aus Star Wars passten nicht bei solch einer großen, schmalen und anmutigen Person. Und andere hilfreiche oder weniger hilfreiche Außerirdische fielen ihr gerade nicht ein.

Sie war sich nicht sicher, ob sie sie abhalten sollte von ihrem Versuch, das Feuer zu löschen, um sie vor sich selbst zu schützen. Oder ihr helfen sollte. Diese Verwirrung führte zu für sie ungewohnter Entscheidungsschwäche. Sie blieb einfach an ihrer Haustür stehen und ließ die schlaksige Elfe machen.

Timm war nicht gerade groß. Mit ihren ein Meter einundsechzig war sie eher klein im Verhältnis zu anderen Leuten.

Als die Frau vor ihr gestanden hatte, waren sie ungefähr auf Augenhöhe gewesen, aber nur weil Timm die zwei Stufen am Eingang nicht heruntergestiegen war.

Trotz ihrer Größe sah die Frau zierlich aus. Als ob Timm sie sich unter den Arm klemmen könnte und sie davontragen.

Diese Claudia schleppte jedoch die vollen Wassereimer, als ob sie nichts wiegen würden, und war von dem Gerenne mit den Eimern auch gar nicht außer Atem. Ihr wunderhübscher rotbrauner Hund immer an ihrer Seite.

Timm beobachtete nicht nur die Frau, sondern auch den Holzstoß. Das Feuer war ihr ganz und gar ungeheuerlich. Es sah so aus, als ob es durchaus überspringen könnte auf den Schuppen der Nachbarn, und von dort aus war es nicht weit bis zum Nachbarhaus selbst. Außerdem fragte sie sich wirklich, wie das Holz überhaupt hatte Feuer fangen können. Das war ihr vollkommen schleierhaft.

Die Bemühungen dieser ›Einfach Claudia‹ sahen nicht so aus, als ob sie viel bewirken würden. Wenn sie ihren Eimer auf das Feuer kippte, wurde es an der Stelle etwas dunkler im Flammenmeer und es dampfte gewaltig in den Morgenhimmel, aber immer nur für einen kurzen Moment. Sobald das Wasser verdampft war, loderte das Feuer mit gleicher Kraft weiter.

Sie hoffte, dass die Feuerwehr bald käme. Die Zeit kam ihr ewig vor, aber vermutlich waren es nur Sekunden und keine Minuten, die sie jetzt schon hier in der Kälte stand und das Inferno beobachtete.

Während die Frau wieder gekonnt einen Eimer mitten ins Feuer schüttete, schlich sich der absurde Gedanke ein, dass hier genau das falsche Ding brannte. Wenn schon ein Brand, warum konnte dann nicht dieses verdammte Schwesternhaus abfackeln? Das hätte so viele ihrer Probleme gelöst. In Luft aufgelöst sozusagen. In Rauch und Asche. Brandsanierung nannte man das.

Und das war ja genau das, was ihrem Vorgänger den Posten gekostet hatte. Dass er Pläne hatte, genau das zu tun. Wenn nicht irgendeine Schriftstellerin aus dem Dorf eingestiegen wäre – aus Gründen, die sich Timm bis heute noch nicht erschlossen – und dann im Schwesternhaus einen Unfall gehabt hätte, wäre der Plan wohl nicht aufgeflogen.

Aber so waren eine Aluleiter und noch andere überführende Dinge wie Brandbeschleuniger und Brennmaterial gefunden worden. Inklusive einer Amazon-Rechnung an die Adresse ihres Vorgängers. Bescheuerter konnte man nicht sein. Das fand Timm ganz ehrlich aus tiefstem Herzen. Er hatte verdient, was danach kam. Wenn man so etwas tat, musste man es ganz anders angehen. Sodass es nicht nachgewiesen werden konnte. So würde sie das machen.

Sie beäugte den brennenden Holzstoß. Wie groß standen die Chancen, dass das Feuer noch auf das Schwesternhaus übersprang? Timm konnte das mit einem Blick abschätzen. Sie gingen gegen null. Nein, sie lagen sogar im Negativbereich. Äußerst unwahrscheinlich, lautete das Ergebnis.

Wenn diese Claudia nicht geklingelt hätte, sie das Feuer rechtzeitig selbst entdeckt hätte, hätte sie es womöglich so aussehen lassen können, als ob das Schwesternhaus ganz zufällig auch mit in Flammen aufgegangen wäre. Aber alles nichts. Und wenn sie ganz ehrlich mit sich selbst war, dann war sie gar nicht der Typ für solche Sachen. Sie hätte wahrscheinlich auch einfach so die Feuerwehr gerufen.

Die Elfe namens ›Einfach Claudia‹ hatte das mit ihrem Helfersyndrom nur schneller in die Wege geleitet. Bevor hoffentlich etwas Schlimmeres passierte.

Inzwischen blieb der Hund an der Hausecke sitzen und lief nicht mehr mit bis zum Feuer. Das lag bestimmt an der Hitze, die mittlerweile bis zu Timm an die Haustür strahlte und die Februarkälte vertrieb. Oder an den Funken, die in alle Richtungen stoben.

Ihre ungewollte Helferin würde womöglich den einen oder anderen abbekommen. Sie war allerdings dick angezogen in der winterlichen Morgenkälte. Eine Seemannsmütze saß ihr inzwischen schief auf dem Kopf, blonde kurze Locken schauten darunter keck hervor. Ihre dunkelblaue zweireihige Seemannsjacke würde bestimmt hinterher nach Rauch stinken. Sie war ein Naturtyp mit sonnengebräunter Haut selbst im tiefsten Winter. Wie alt sie wohl war? Sie strahlte eine gewisse Alterslosigkeit aus, die das schwer schätzen ließ. Timm vermutete ein paar Jahre älter als sie, aber nicht mehr als fünf.

Diese ›Einfach Claudia‹ war ein ausgewachsener Tomboy, aber irgendwie vermischt mit schlaksiger Elfe. Ein Typus Frau, der garantiert in der öffentlichen Verwaltung auffallen würde wie ein bunter Hund und schon gar keine Karriere machen würde. Für diese Mitglieder der Buchstabensuppe der LGBT und so weiter inklusive Sternchen und Gedöns gab es keinen Platz, wo Timm arbeitete, und schon gar nicht, wo sie hinwollte. Das war so sicher, wie die Kirchenglocken in Weiler jeden Morgen um fünf Uhr anfingen zu läuten. Todsicher.

Die John-Lennon-Brille rundete das Bild ab, das diese ›Einfach Claudia‹ abgab. Von den schweren Stiefeln mal ganz abgesehen. Aber ganz privat musste Timm zugeben, dass die Frau süß aussah. Und irgendwie war sie auch wirklich eine Heldin im Alltagsformat, wie sie sich da reinstürzte in den aussichtslosen Kampf, den Holzstoß löschen zu wollen mit dem alten verbeulten Wassereimer. Das würde Timm nur hier im Dorf niemals wagen zu äußern oder auch nur ansatzweise zu erkennen zu geben. Hier trug sie ihre beste neutrale Miene zur Schau. Denn Timm wollte ganz nach oben.

Endlich hörte sie von Weitem die Sirene der Feuerwehr sich nähern. Einmal quer durchs Dorf würden alle Einwohner mitbekommen, dass es irgendwo brannte. Kurz ärgerte sie sich darüber. Denn es gab ja wohl in Weiler morgens um halb sieben keinen Grund, die Sirene anzuschmeißen. Wer war denn da schon unterwegs und verstopfte die Straßen? Sie konnte höchstpersönlich die drei Personen mit Vor- und Nachnamen nennen und zur Not sogar die dazugehörige Adresse.

Ihre Helferin hätte jetzt ja aufhören können, weiter Wasser zu schleppen, aber sie machte gar keine Anstalten dazu.

»Die Feuerwehr kommt!«, rief Timm ihr zu, als sie ihren Eimer erneut geleert hatte.

›Einfach Claudia‹ sah kurz zu ihr und dann gleich wieder weg. Ignorierte sie und rannte wieder in den Garten. Sie musste doch inzwischen von dem frostigen Wasser eiskalte Hände haben. Wer lief denn im Februar bei der Kälte ohne Handschuhe umher und planschte dann auch noch mit Wasser herum?

Außerdem war Timm es nicht gewohnt, so ignoriert zu werden. Sie war hier die Bürgermeisterin. Wenn die Leute sie auch nicht besonders mochten, sie wussten ihre Kompetenz zu schätzen, und man begegnete ihr mit dem nötigen Respekt. Doch offensichtlich zählte ihr Wort nicht bei allen hier etwas. Das ärgerte sie ein wenig und sie ertappte sich dabei, wie sie ihren neutralen Gesichtsausdruck verlor und die Stirn runzelte.

Das große Feuerwehrfahrzeug kam in diesem Moment bereits in die kleine Seitenstraße eingebogen und fuhr rasant an den Autos ihrer Nachbarn vorbei, die dicht am Straßenrand parkten.

Innerhalb von Sekunden wimmelte es vor dem Schwesternhaus an Feuerwehrleuten. Schläuche wurden entrollt und andere Ausrüstung hervorgeholt.

Das war ihre Truppe. Sie war als Bürgermeisterin in Weiler automatisch auch im Vorstand der Freiwilligen Feuerwehr. Sozusagen Feuerwehrfrau Nummer eins hier im Ort. Sie hatte ja keine Ahnung vom Löschen eines Feuers, aber sie hatte darüber zu entscheiden, ob es ein neues Feuerwehrfahrzeug gab oder nicht.

Wenn sie eines in ihrer Ausbildung zu Verwaltungswirtin gelernt hatte bei ihrem alten Chef, dann dass man die Feuerwehr immer großzügig behandelte und mit der Truppe stets auf gutem Fuß stehen musste. Das war ihr bisher in Weiler geglückt.

Hier war ein gutes Übungsfeld, denn garantiert würde sie nicht in diesem kleinen Kaff versauern. Timms Pläne beinhalteten nicht so einen kleinen Ort wie Weiler. Sie war noch jung und wollte noch was reißen. Größere Städte schwebten ihr vor. Sie musste es nur geschickt anstellen, sich nichts zu Schulden kommen lassen und dann bei passender Gelegenheit den Absprung einfädeln.

Sich nichts zu Schulden kommen zu lassen, war wahrscheinlich der schwierigste von den drei Punkten. Denn das war sehr schwammig, was darunter zu verstehen war. Deshalb lebte sie in Weiler auch nicht offen. Hier in Weiler ging jeder davon aus, dass sie strunzheterosexuell war und noch nie in ihrem Leben einen queeren Gedanken hatte. Und dabei war sie so was von queer!

Heimlich lachte sie darüber. Für sich. Und ganz ausgeschlossen war es ja auch nicht, dass sie noch einen Mann treffen würde, bei dem sie in der Lage dazu wäre, ihn pro forma zu heiraten. Obwohl sie eindeutig nur auf Frauen stand, sollte das doch möglich sein. Für ihre Karriere jedenfalls wäre das das Beste.

Schneller als Timm gucken konnte, gab das Feuer klein bei unter einem Schwall professionell eingesetzten Wassers. Die kläglichen Überreste des Holzstoßes tropften vom Löschwasser.

Der Kommandant Dieter kam endlich zu ihr und erstattete Bericht. Er war dazu natürlich nicht verpflichtet, aber die Neuanschaffungen hatte sie zu genehmigen – das war eine auch ihm bewusste Tatsache. So tickte die Welt. Ein Austausch an Gefälligkeiten, Verbindungen schaffen, sich mit den richtigen Leuten gutstellen. So einfach war das. Und Timm wollte definitiv einen Teil vom großen Kuchen abhaben. Und was war daran verkehrt? Gar nichts. Die ganzen Gutmenschen, die aus irgendwelchen Gründen so taten, als ob das falsch wäre, verstand sie nicht. Damit konnte sie nichts anfangen. Das war nicht sie.

»Alles unter Kontrolle, Frau Anderl«, sagte der Kommandant bereits im Heranlaufen.

Sie mochte, wie respektvoll sich das anhörte. Er drückte deutlich aus, dass er wusste, wer von ihnen beiden in der Rangordnung höher stand. Nämlich die Frau Bürgermeisterin. Das gefiel ihr, war sie deshalb ein schlechter Mensch? Timm fand nicht. Sie war nur ehrlich mit sich.

»Sehr gut. Was hat denn das Feuer ausgelöst? Ich meine, es ist Ende Februar, es ist kalt und nass, wie kann da etwas aus dem Nichts heraus Feuer fangen?«, fragte Timm mit ernster Stimme.

»Tja, das fragen wir uns auch. Ich werde einen Sachverständigen kommen lassen, der sich das anschauen soll. Aber meine erste Vermutung ist Brandstiftung.«

»Brandstiftung an einem Stoß aus altem Abfallholz? Ergibt das einen Sinn?« Das kam Timm sehr absurd vor.

»Keine Ahnung. Es gab schon Seltsameres. Vielleicht Jugendliche?«, erwiderte der Kommandant mit einer blödsinnigen Mutmaßung.

»Wenn man keinen anderen Schuldigen findet, sind es im Zweifelsfall anscheinend immer Jugendliche. Gute Ausrede.« Timm konnte es nicht leiden, dass Jugendliche immer als Sündenböcke herhalten mussten. Erwachsene bauten ihrer Erfahrung nach meist den gefährlicheren Unsinn. Und auch häufiger.

»Na ja, aber wer soll es sonst gewesen sein?«, fragte der Kommandant ein bisschen kleinlaut.

»Das weiß ich doch nicht. Finden Sie es heraus. Wo ist die Polizei?« Timm hatte sich gewundert, dass sie nicht schon längst hier war.

»Wieso Polizei?«, fragte Dieter, der Kommandant, und Timm zweifelte plötzlich an seiner Eignung für diese Stellung.

»Wenn man nicht alles selbst macht . . .« Dieser Satz entfuhr Timm ungewollt. Sie kramte ihr Smartphone heraus und ließ den Kommandanten stehen. Wenn die Polizei kam, würden sie eine Aussage von der elfenhaften Helferin aufnehmen wollen, die das Feuer entdeckt hatte.

Timm stapfte mit dem Handy am Ohr durch den verwilderten Vorgarten des Schwesternhauses und versuchte, sie unter den Feuerwehrleuten und Schaulustigen ausfindig zu machen. Ziemlich schnell wurde ihr jedoch klar, dass sie verschwunden war. Ein Duo wie Tim und Struppi war doch gar nicht zu übersehen. Aber keine Spur von der Frau in ihrer Matrosenjacke und ihrem hübschen lockigen Hund.

Als der Anruf zur zuständigen Polizeidienststelle durchgestellt wurde, wo sie die Polizisten sehr gut kannte, verpasste sie es erst einmal zu antworten. So sehr irritierte es sie gerade, dass sie die Frau nicht finden konnte. Warum und weshalb war ihr selbst unklar. Sie hatte lediglich gehofft, diese ›Einfach Claudia‹ noch mal zu sehen. Nicht erfüllte Erwartung – das war alles.

Timm fing sich wieder, schob jeden Gedanken an ihre frühmorgendliche Helferin beiseite und ging ihren Pflichten nach. So wie jeden anderen Tag im Jahr auch. So wie ihr ganzes restliches Leben. Timm funktionierte immer zu hundertfünfzig Prozent. Auch wenn gerade ein Brand ihren Morgen erhitzt hatte. Nur eine weitere Erledigung auf einer ihrer endlosen Listen, die sie mit der Energie einer startenden Weltraumrakete anging.

3

Claudia

Der Drache von Weiler saß in ihrem Reiterstübchen.

Claudia hatte sich gerade nach dem morgendlichen Ausmisten – und vor allem nach dem morgendlichen Brandlegen und dann wieder löschen – einen Kaffee machen wollen.

Nichtsahnend hatte sie den kleinen Raum neben dem Stall betreten und schon beim Öffnen der Tür bemerkt, dass da jemand saß, was jedoch nicht ungewöhnlich war. Aber erst beim Stiefelabtreten hatte sie gesehen, wer es war.

Niemand aus dem Dorf hasste Claudia und ihre Tiere so wie diese Frau. Daher hatte sie Claudia bisher mit höchster Missachtung gestraft. Hetzerisches Intrigieren im Geheimen und abschätzige Blicke. Claudia direkt angesprochen hatte sie noch nie.

Aber sie hatte auch noch nie so ausgesehen wie jetzt. Die normalerweise in Form betonierte Frisur hatte sich in ein Krähennest verwandelt. Die sonst so perfekt gebügelten mausfarbenen Kleider waren verkrumpelt und fleckig. Das Gesicht aschfahl und um Jahre gealtert. Das war eine andere Version des Drachen. Aber vermutlich nicht weniger gefährlich, sondern eher mehr.

Das bestätigte sich sofort, als Conchita in ihrer freundlichen Art zu der Frau hinlief, die am ersten Stuhl des Tisches saß, und sie begrüßen wollte.

»Nimm sofort dieses dreckige Viech von mir weg!«, fauchte der Drache und stieß eine warnende Rauchsäule aus.

Zumindest interpretierte Conchita das so. Denn Claudias übertrieben freundlicher Hund, der in allen zuerst einmal Freunde sah und nie, aber auch wirklich gar nie, bellte, biss oder knurrte, fletschte die Lefzen und ließ einen drohenden grollenden Ton von tief aus der Brust erklingen. Plötzlich glich sie eher einem Wolf als einem Pudelmischling mit süßen Locken.

»Conchita«, sagte Claudia leise und klopfte sich an den Schenkel. Das reichte und Conchita war sofort an ihrer Seite.

Sie hatte sie allerdings nicht zurückgepfiffen, wie der Drache wohl vermutete, sie hatte ihr lediglich gesagt, dass ihr Platz an ihrer Seite war. Das konnte man so oder so interpretieren. Conchita wusste aber sehr wohl, dass es hieß, dass sie den Drachen im Zweifelsfall gemeinsam bekämpfen müssten.

Eigentlich wollte sie sich von der Frau nicht in ihrem eigenen Reiterstübchen vorschreiben lassen, was sie zu tun und zu lassen hatte, aber gleichzeitig konnte Claudia sich nicht vorstellen, jetzt eine Tasse Kaffee zu trinken, als ob nichts wäre.

Also blieb sie einfach stehen und wartete. Sie sah die Frau an und sagte nichts. Das war auch gar nicht nötig. Die meisten Menschen redeten eh viel zu viel und dachten, sonst würden sie nicht verstanden werden. Was aber nicht ganz stimmte, denn die Körpersprache brachte mindestens genau so viel zum Ausdruck wie das gesprochene Wort. Ein Wissen, das man im Umgang mit Pferden jeden Tag brauchte. Es funktionierte aber nicht nur bei Pferden und anderen Tieren wunderbar, Menschen reagierten intuitiv auch darauf. Selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst waren.

Jetzt drückte Claudia mit ihrem breitbeinigen Stand, aufgestützten Armen und ihrem festen Blick aus, dass sie sich hier auf ihrem Terrain befanden, dass sie den Ton angab und dass sie auf jede Bedrohung massive Maßnahmen folgen ließe. Sie hoffte nur, ihr Tick am rechten Augenlid würde sich nicht in diesem Moment bemerkbar machen. Das passierte immer, wenn sie unter Druck stand oder nervös war. Aber jetzt gerade glücklicherweise nicht.

Der Drache von Weiler konnte ihrem festen Blick nicht standhalten und schaute weg. Auf ihre Schuhe hinunter.

Sehr gut: gesenkter Blick. Sie hat meine höhere Stellung in diesem Moment akzeptiert, analysierte Claudia. Sie, der Drache, der eigentlich Schneck hieß, und das war vielleicht auch das bessere innere Bild, das Claudia verwenden sollte, räusperte sich. Eigentlich war diese Frau doch wirklich nicht viel gefährlicher als eine Schnecke. Denn was konnte sie Claudia schon antun? Ihren Ruf hatte sie in Weiler vermutlich eh schon erfolgreich ruiniert.

»Ich will etwas kaufen«, sagte Frau Schneck und zog aus ihrer Handtasche eine Verpackung heraus.

Claudia war so geschockt, dass sie fast vergaß, ihren festen Stand aufrechtzuerhalten. Conchita neben ihr knurrte wieder ganz leicht. Von wegen, die Frau konnte ihr nichts antun. Offensichtlich nämlich sehr viel. Sie könnte sie sogar ruinieren. Aber das durfte sie sich auf keinen Fall anmerken lassen.

»Was denn kaufen?« Claudia würde so schnell gar nichts zugeben. So viel stand fest. Ihr Auge zuckte verräterisch.

»Das, was hier drin war.« Der Drachenschneck hob die kleine Schachtel hoch.

Claudia sah die Schachtel an und ließ sich Zeit mit der Antwort. Aber auch nicht zu viel, um nicht so auszusehen, als ob sie sich eine Lüge ausdenken würde. Was sie ja tat.

»Ich habe keine Ahnung, was das gewesen sein könnte«, antwortete sie schließlich. Wieder zuckte ihr Auge und sie verfluchte innerlich ihren Tick, der sie sonst nicht störte, aber gerade immens lästig war.

»Du weißt genau, wovon ich spreche.«

Jetzt hielt die Frau, die so heruntergekommen aussah und anscheinend irgendeine Art von Zusammenbruch hatte, wenn Claudia das richtig einschätzte, den Blickkontakt aufrecht. Ihr schien es wirklich sehr ernst zu sein.

Aber Claudia konnte ihr nicht trauen. »Das tue ich nicht. Ich gebe Reitunterricht und Therapiereiten. Bei mir kann man allerhöchstens ein Stallhalfter kaufen, aber ansonsten ist das hier nicht der Bäcker Schneck.«

Claudia machte eine ausgreifende Geste in ihr Reiterstübchen, bezog damit die vielen Trophäen auf den Regalen ein, die Fotoahnengalerie ihrer Pferde, die Kinderzeichnungen von Pferden an den Wänden. Die etwas ramponierte Küchenzeile mit den zusammengewürfelten Tassen neben der Kaffeemaschine und dem verkalkten Wasserkocher. Und die günstigen Ikeastühle, die um den abgeschabten Tisch standen, ebenfalls.

Sogar die braunen Bodenfliesen, stets dreckig von den vielen Reitstiefeln, die jeden Tag direkt aus dem Stall hier ihre Spuren hinterließen, selbst bereits fünf Minuten nach dem Wischen.

Nein, es sah hier nun wirklich nicht nach dem aus, was die Frau von ihr wollte.

Aber natürlich täuschte der Anblick. Durch die Pandemie war sie gezwungen gewesen, kreativ zu werden, um ihre Pferde und sich ernährt zu kriegen. Im Schlösschen, wo sie die Servicechefin gewesen war, bis ihre Chefin Adelheid von Gemseck sie nicht länger halten konnte, hatte die Pandemie fast sämtliche Hochzeiten und anderen Veranstaltungen unmöglich gemacht. Und der Hof hatte sich noch nie allein tragen können. Dafür war er einfach zu klein. Sie hatte zu wenige Pferde dafür. Aber sie hatte andere Ressourcen und die hatte sie genutzt.

Nun war das Ganze aber irgendwie außer Kontrolle geraten. Wenn jetzt schon diese Frau Schneck hier saß und zum ›Einkaufen‹ kam. Meine Güte, wie hatte das nur passieren können, fragte sich Claudia innerlich leicht panisch.

Claudia hatte ursprünglich eine Ausbildung zur Hotelkauffrau in Bad Worich gemacht und dann irgendwann nach einigen Stationen im Schlösschen angefangen.

Pferde waren schon immer ihr Traum gewesen. Sie wollte schon als Jugendliche Pferdewirtin oder Pferdebereiterin werden, aber ihre Eltern ließen das absolut nicht zu. Sie musste alles mit Kursen nachholen neben der Ausbildung und der Arbeit. Sie war stolz darauf, dass sie alles aus eigener Kraft geschafft hatte. Sie war Bereiterin, Reitlehrerin und Reittherapeutin, außerdem hatte sie den Fahrschein für Kutschen. Sie bot Wanderritte an und ihr Hof war eine Wanderreitstation.

Claudia fand sich auf ihre Art ganz schön erfolgreich. Sie hatte normalerweise keine Probleme, zusammen mit ihrem Job ausreichend Einnahmen zu erwirtschaften – unter normalen Umständen. Sie hatte es geschafft, sich ihren Traum zu erfüllen, auch wenn das ihre Eltern überhaupt nicht so sahen. Und auch sonst sehr viele Leute das nicht verstanden.

Oft wurde sie unterschätzt. Die Bedienung, die als Hobby ein paar Pferde hielt. So wurde in Weiler über sie geredet. Und das waren die, die positiv sprachen.

Das kam ihr aber ausnahmsweise zugute. Denn niemand traute ihr das zu, was diese Frau von ihr wollte. Und so sollte es auch bleiben. Da konnte sie noch so aufgelöst aussehen, sie würde nicht dem größten Tratschmaul von Weiler etwas verkaufen, damit die herging und sie bei nächstbester Gelegenheit anzeigte, wenn es ihr in den Sinn kam.

Wer hatte dieser erzkonservativen Spinatwachtel überhaupt eine Schachtel mit ihrem Premiumprodukt gegeben? Das war ja wohl der Skandal an sich. Sie müsste sich mal sehr vorsichtig umhören, wer das gewesen sein könnte.

»Mein Sohn wollte mir zuerst nicht sagen, woher er das hat, aber er war mir wirklich etwas schuldig. Oh ja. Das kann man so sagen. Seit Monaten wusste er es schon. Seit Monaten! Wusstest du es auch, Claudia?«

Claudia erschrak über diesen Redeschwall, der sich plötzlich über sie ergoss. Die Frau war doch ziemlich durchgeknallt oder kurz vorm Nervenzusammenbruch. Claudia wusste gar nicht, dass die Frau sie duzen durfte, und wer war der Sohn? Was sollte sie wissen? Und die Frage aller Fragen: Wie bekam sie diesen durchgedrehten Drachenschneck von ihrem Hof runter, bevor ihre Pferdemädchen und Reitschülerinnen kamen?

»Ich habe keine Ahnung. Was soll ich denn gewusst haben?« Sie versuchte es vorsichtig mit einer ausweichenden Antwort, da ihr gerade nichts Besseres einfiel.

»Dass mein Klaus eine Affäre mit so einem jungen Flittchen hat. Das weiß doch inzwischen das ganze Dorf. Ich war die Letzte, die es erfahren hat. Seit Monaten! Und jetzt ist das Miststück angeblich auch noch schwanger.«

Jetzt wurde Claudia so langsam klar, warum die Frau ihr Premiumprodukt nachkaufen wollte. Denn unter normalen Umständen hätte sie wohl einen weiten Bogen darum gemacht, es niemals gegessen, geschweige denn in ihrem nach Pferden riechenden Reiterstübchen nachkaufen wollen.

Mit der Information des fremdgehenden Gatten fiel Claudia auch endlich ein, welchem Zweig der hiesigen Schneckfamilie der Drachenschneck angehörte. Wenn ihr Mann Klaus war, dann war ihre Tochter die Dorfärztin, ihr Sohn war Wilhelm, einer ihrer besten Kunden, und das hier war die notorische und allseits verhasste Gertrud Schneck. Wie hatte sie den Namen nur vergessen können?

»Das wusste ich nicht.« Claudia versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, dass sie jetzt im Bilde war. Denn gemeinerweise wollte ein Lachen aus ihr herausbrechen. Sie verkniff sich aber die innere Häme, denn das war gemein und keine gute menschliche Regung. Auch wenn diese Frau hier es einem nicht leicht machte, nicht zu denken, dass es ihr ein Stück weit recht geschah.

Das ganze Dorf wusste, dass sie ihre Tochter mies behandelte, obwohl die wirklich ein herzensguter Mensch und eine sehr gute Ärztin war. Dass sie Gerüchte in Umlauf brachte und gegen alles hetzte, was nicht in ihr DIN-normiertes Weltbild passte. Dass sie Tiere nicht ausstehen konnte und ihr Garten geradezu eine Todesfalle für Vierbeiner jedweder Größe war. Sechsbeiner und Achtbeiner vermutlich sowieso.

»Alle wussten es! Alle! Er hat mich verlassen, der Dreckskerl. Mit vierundsechzig Jahren hat das Schwein mich für eine sechsunddreißigjährige Nutte verlassen.«

Claudia bezweifelte, dass die Geliebte der Prostitution nachging, was wieder einmal mehr zeigte, wie diese Gertrud Schneck tickte. Sie war wirklich das Paradebeispiel eines Menschen, der oder die von einem ihrer Produkte nur profitieren konnten. Sie würde ihr trotzdem nichts verkaufen. Niemals.

»Er kommt bestimmt zurück.« Das sagte Claudia nur, weil sie dachte, dass das Gertrud Schneck hören wollte und dann vielleicht endlich ihr Reiterstübchen räumte.

»Der kann mir gestohlen bleiben. Den nehme ich nicht mehr zurück. So viel Stolz habe ich noch, dass ich solch einen Mann nicht mehr in mein Haus lasse.«

Sie schauten sich einen Moment an. Fast verspürte Claudia so etwas wie Mitleid mit diesem Drachenschneck. Das war gar nicht gut. Denn dann ließe sie sich womöglich irgendwann erweichen.

»Was ist jetzt mit dem Verkauf?«, fragte die Frau in einem herausfordernden Ton, der Claudia jede Anwandlung von Mitgefühl austrieb. Außerdem sah sie durchs Fenster, wie ein Polizeiauto auf den Hof fuhr und parkte.

Der Drachenschneck sah es ebenfalls und fuhr vom Stuhl hoch. »Jetzt geht es dir an den Kragen«, zischte sie schadenfroh.

Diese miese Hexe, dachte Claudia. Entschuldigung an alle Hexen da draußen, dachte sie eine Sekunde später.

Sie war nicht sonderlich beunruhigt wegen der beiden Polizisten, die gerade ausstiegen und sich umsahen. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie wegen des Brandes hier waren. Und auch nur, weil sie ihn entdeckt und der Bürgermeisterin gemeldet hatte. Claudia war sich fast zu hundert Prozent sicher, dass ihr weder der Brand noch ihr zweites finanzielles Standbein nachgewiesen werden konnten. Und fast hundert Prozent musste gerade reichen.

»Du gehst jetzt besser, Gertrud.«

Der Drachenschneck sah für einen Augenblick so aus, als ob sie ihr Ärger machen wollte, trollte sich dann aber doch zur Tür des Reiterstübchens hinaus. Claudia ging hinter ihr her, um die beiden Polizisten zu begrüßen.

»Ich komme wieder«, knurrte der Drachenschneck zum Abschied.

Das stand zu befürchten. Aber ein Problem nach dem anderen.

4

Timm

Timm hatte den Termin eigentlich nur mit der Dorfhausärztin vereinbart. Aber jetzt standen in ihrem pompösen Vorzimmer im Weilerer Rathaus, das ehemals das Schloss der Herren zu Weiler war, drei Frauen, die sie erwartungsvoll anschauten.

Im ersten Moment war Timm überrascht, dann schlagartig verärgert und schließlich verwirrt. Auf die exakte Reihenfolge konnte sie sich nicht festlegen, vielleicht war es auch alles gleichzeitig. Sie mochte solche Überfälle nicht. Ganz und gar nicht. Da kam meist nichts Gutes dabei heraus.

Aber da standen nun drei auffällige Exemplare der Gattung Frau vor ihr auf dem ausgetretenen dunkelroten Perserteppich, und es ließ sich nicht umgehen, dass sie sich ihnen stellte. Doch am schlimmsten war: Timms Gaydar schlug maximal aus.

Von der Dorfärztin Willa Schneck wusste sie ja, dass sie lesbisch war und mit der Schriftstellerin zusammen, die indirekt ihren Vorgänger zu Fall gebracht hatte. Durch den zuverlässigen Dorfklatsch wusste sie so ziemlich alles, was es über die Beziehung der beiden Frauen zu wissen gab. Ihre Sekretärin Frau Klettke sorgte auf unauffällige Art dafür.

Die beiden anderen Frauen in ihrer Begleitung weckten in ihr aber gleichermaßen die Vermutung, dass hier eine Abordnung des hiesigen Lesbenkränzchens bei ihr vorstellig wurde. Bestimmt waren das auch noch Feministinnen, die dachten, sie als Bürgermeisterin müsste automatisch auch eine sein, und damit gewisse Erwartungen verbanden.

Das konnte sie gerade noch gebrauchen. Der Brand vor ihrem Haus war an Aufregung vollkommen ausreichend für die nächsten paar Wochen. Zumal die Polizei absolut nichts herausbrachte, außer dass der Brand vermutlich gelegt wurde. Vermutlich!

Sich jetzt diese Frauen vom Hals zu halten – was auch immer sie wollten, war im Grunde egal –, würde mit Sicherheit nicht einfach werden. Vor allem nicht, wenn Timm berücksichtigte, welche Macht die Ärztin im Dorf hatte. Niemand hatte das Ohr der Dörfler so ungeteilt wie die Ärztin. Außerdem war sie über alle Maßen beliebt. Sie wurde fast schon verehrt. Da müsste Timm sehr diplomatisch sein mit einer Abfuhr und dem schnellstmöglichen Abwimmeln. Sie wollte so wenig wie irgend möglich mit diesem Lesbenkränzchen zu tun haben.

»Hallo Frau Doktor Schneck und Begleitung, kommen Sie doch bitte herein.« Timm gratulierte sich wieder einmal dazu, wie gut sie schauspielern konnte. Niemand käme auf den Gedanken, dass sie sich gerade innerlich übergab.

Sie selbst fand, dass sie sich superfreundlich und offen anhörte. Wenn auch etwas abrupt und einige Höflichkeitsrituale überspringend wie Vorstellung, Small Talk und dergleichen. Da kam ihr aber ihr Ruf als schnörkellose Bürgermeisterin zugute, die rein sachlich ihr Amtsgeschäft durchzog. Niemand erwartete von ihr Bauchpinselei.

Die Dorfärztin folgte ihr mit den beiden unbekannten Frauen im Schlepptau in ihr stattliches Amtszimmer. Das war einer der Vorteile in Weiler. Das Rathaus war wirklich unglaublich edel.

Das ehemalige Schloss befand sich in einem exzellenten Zustand und die Räumlichkeiten, die die Bürgermeisterin nutzte, waren entsprechend großzügig geschnitten und hochherrschaftlich ausgestattet. Glänzende Parkettböden, hohe Räume, historische Fenster. Der Ausblick aus ihrem Amtszimmer war sogar sehr hübsch, wenn man auf solche Dinge stand. Der Blick aus einem Raumschiff wäre ihr lieber gewesen.

Timm war es ansonsten relativ einerlei, da sie eh so gut wie nie die Zeit hatte, aus dem Fenster zu starren und das Panorama zu genießen. Sie nutzte lediglich den Effekt, den das ganze Ambiente auf die Besucher in ihrem Amtszimmer hatte.

Die Ärztin kannte das Schloss ja, auch wenn es ein Stockwerk tiefer in ihrer Praxis nicht ganz so hochherrschaftlich-bombastisch zuging.

Die dunkelhaarige Frau, die sie dabeihatte, sah allerdings recht unbeeindruckt aus, als ob solch ein Anblick für sie alltäglich wäre, und das erstaunte Timm etwas.

Die Rothaarige mit den üppigen Kurven hingegen hielt sich nicht zurück, ihre Bewunderung kundzutun: »Heilige Göttin, das ist ja wohl ein luxuriöser Schuppen hier.«

So konnte man das auch ausdrücken. Innerlich grinste Timm darüber, äußerlich reagierte sie überhaupt nicht darauf. Sie war auf ein schwieriges Treffen eingestellt. Denn es galt, kein bisschen zu zeigen, dass sie im Grunde dem gleichen Verein angehörte wie diese drei Frauen. Ein Verein, dem sie nicht wirklich angehören wollte.

Es wäre fatal, sich hier zu verplappern. Sie musste möglichst großen Abstand halten, wenn sie ihr Langzeitziel erreichen wollte. Oberbürgermeisterin einer Großstadt. Sie würde also kalt wie eine Hundeschnauze sein. Sie würde den Terminator geben. Nur cleverer. »Unsere Gemeinde Weiler hat sehr viel zu bieten und wir sind stolz darauf. Was kann ich also für Sie tun?«

Sie bedeutete den drei Frauen, sich auf die bereitstehenden Stühle vor ihrem Schreibtisch zu setzen. Timm wusste, dass sie sich spröde anhörte. Plattitüden von sich zu geben, war ihr mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen, aber manchmal fiel es ihr immerhin noch auf.

Sie bemerkte auch den versteckten Blick, den die Dorfärztin im Hinsetzen der Dunkelhaarigen bei ihren Worten zuwarf. Ein leichtes Augenrollen, das wohl dezent sein sollte, sie aber trotzdem sehr wohl wahrnahm. Auch das sarkastische Augenbrauenhochziehen, das die Dunkelhaarige erwiderte, als sie sich auf einem der historischen Stühle mit den gedrechselten hohen Lehnen niederließ, die so unbequem waren, dass sich Gespräche allein deshalb auf das Minimum reduzieren ließen. So hoffentlich auch dieses.

Timm musste verdammt aufpassen. Diese Frauen waren hintertrieben und schienen eine bestimmte Meinung über sie zu haben. Sie wollte nicht wissen, was die alles beinhaltete.

»Reden wir nicht lange um den heißen Brei. Weiler ist ein Kaff, aber es hat etwas, das andere Käffer nicht haben«, verkündete die üppige Rothaarige laut, die in der Mitte saß und sich auf dem unbequemen Stuhl drapierte wie eine Queen auf ihrem Thron.

Oh, wie recht diese Frau in einem Punkt hatte. Weiler war ein verdammtes Kaff. Aber was sollte das sein, was Weiler angeblich hatte? Timm hatte es bisher noch nicht entdecken können.

»Carolina, echt jetzt? Du wolltest diplomatisch sein.« Die Dorfärztin protestierte zwar, schien sich allerdings auch über die üppige Person zu amüsieren, deren Vornamen Timm immerhin jetzt schon mal wusste.

»Diplomatie ist was für Pussys«, fuhr diese unbeeindruckt im gleichen Stil fort. »Und obwohl ich eine habe, bin ich keine.« Ein markerschütterndes Lachen ließ Timms Amtszimmer vibrieren.

Timm konnte ein erheitertes Zucken ihres Mundwinkels nicht verhindern und auch die beiden anderen Frauen grinsten über diese politisch vollkommen inkorrekte Aussage.

Timm unterdrückte diese Erheiterung sofort wieder und faltete die Hände auf ihrem Schreibtisch. Sie versuchte, vollkommene Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen. Als ob dieser Besuch hier das übliche Tagesgeschäft wie die restlichen 364 Tage im Jahr wäre und nicht eine absolute Ausnahme.

»Und was ist das, was Weiler hat?«, fragte sie ruhig in das abflauende Gelächter hinein.

Sie teilte natürlich die Ansicht über Diplomatie und Pussys. Von ganzem Herzen. Aber auch das war etwas, das sie für sich behielt. Man durfte absolut nicht zu viel von seinen Ansichten, Meinungen und persönlichen Vorlieben herauslassen, wenn man ans Ziel kommen wollte. Zumindest, wenn das Ziel ein öffentliches Amt sein sollte. Eine der Lehren ihres alten Chefs und Mentors, die sehr wertvoll waren.

»Weiler hat ein Baudenkmal, das es hier in der Gegend kein zweites Mal gibt und das bisher brachliegt, obwohl man daraus etwas Herausragendes machen könnte.«

Timms Blick schwenkte nach rechts. Denn diese sachliche Aussage kam unvermittelt von der Dunkelhaarigen, die sich bisher äußerst zurückgehalten hatte.

Die Frau streckte ihr über den Schreibtisch die Hand zur Begrüßung hin. »Adelheid von Gemseck. Ich besitze und betreibe Das Schlösschen in Bad Worich.«

Ausgesucht korrekt, ausgesucht höflich und auch ausgesucht professionell. Die Besitzerin des Schlösschens? Davon hatte Timm sogar schon gehört, obwohl sie nicht direkt hier aus der Gegend stammte.

Die ganze Aussage bereitete ihr etwas Sorgen. Solche professionellen Leute waren gefährlich. Weil man die normalerweise nicht einfach abwiegeln konnte.

Aber noch wusste sie nicht, was die drei Frauen wollten. Timm zwang sich wieder zu Gelassenheit und einem neutralen, abwartenden Gesichtsausdruck.

»Genau. Und weil wir etwas daraus machen wollen, sind wir hier.« Endlich sagte die Dorfärztin auch etwas mit ein bisschen Substanz, aber Timm wurde nicht schlauer daraus.

»Wollen Sie mir etwa das Rathaus abkaufen?«, fragte sie mit einem ganz leichten Hauch von Humor, denn das war das einzige Baudenkmal, das Timm einfiel. Aber das war schließlich absurd.

»Nein, viel besser«, erwiderte die Rothaarige und grinste einmal in die Runde.

»Besser? In Weiler? Das ist das einzige ehemalige Schloss, das wir haben. Ansonsten haben wir keine Baudenkmäler.«

Timm hasste es, so im Dunkeln zu tappen. Sie hasste es auch, dass sich diese drei Frauen gerade in einer überlegenen Position befanden, weil sie offensichtlich irgendetwas nicht kapierte. Normalerweise war es umgekehrt. Timm war sonst anderen stets einen Schritt voraus.

»Doch, haben wir. Das Schwesternhaus«, erklärte die Dorfärztin ernst und erwischte Timm damit vollkommen auf dem falschen Fuß.

»Das bezeichnen Sie als Baudenkmal?«, fragte Timm konsterniert.

Aber natürlich hatten die Frauen rein formal recht. Das Schwesternhaus war ja aus einem einzigen Grund noch nicht einfach dem Erdboden gleichgemacht. Weil es vom Denkmalamt als schutzwürdig eingestuft worden war. Warum, war ihr schleierhaft. Natürlich war es mal ein stattliches Anwesen gewesen. Irgendwann vor ungefähr hundert Jahren oder mehr. Aber jetzt stellte es nur noch ein Ärgernis dar.

»Sie wollen mir diese alte Bruchbude abkaufen? Was wollen Sie denn mit dem Schwesternhaus?«

Jahrelang hatte die Gemeinde versucht, das Gebäudeensemble loszuwerden. Jahrelang stand es leer und gammelte vor sich hin, ohne dass auch nur irgendjemand Interesse daran gezeigt hätte. Selbst zu einem noch so geringen Preis.

Und jetzt, da Timm endlich eigene Pläne hatte – von denen natürlich in Weiler noch niemand etwas wissen durfte –, kamen diese drei Frauen daher. Das fehlte ihr gerade noch. Das könnte ihren Plan – nun ja, es war ja eigentlich gar nicht ihrer – zunichtemachen, denn er basierte darauf, dass es keine Alternative gab.

Am besten wäre es natürlich gewesen, wenn es nichts mehr gegeben hätte, über das es eine Entscheidung zu fällen gab. Wenn das bescheuerte Gebäudeensemble mit dem Holzstoß zusammen abgebrannt wäre bis auf die Grundmauern.

Die Frau, die sich als Adelheid von Gemseck vorgestellt hatte, holte zu einer Antwort aus, die Timm in ihrer Professionalität das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Wir haben die Idee, eine Art Ärzte- und Kulturzentrum daraus zu machen. Das fehlt hier in der Gegend. Mein Schlösschen in Bad Worich stellt da keine Konkurrenz dar. Es ist weit genug weg, sodass es eine Synergie erzeugen würde. Genauso verhält es sich auch mit der medizinischen Versorgung. Das Kurzentrum in Bad Worich deckt nur einen begrenzten Teil ab, ebenso Willas Praxis im Dorf und die übrigen Landärzte. Die richtige Mischung würde die Versorgung in der Region sowohl im Kulturbereich als auch im medizinischen Bereich perfekt ergänzen.«