Fotografisches Gedächtnis - Lo Jakob - E-Book

Fotografisches Gedächtnis E-Book

Lo Jakob

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Beschreibung

Die Kölner Boutiquebesitzerin Tülya Metin hat ihre erste eigene Modekollektion entworfen und engagiert die renommierte Modefotografin Ellis Mönchberg, um erstklassige Fotos davon zu schießen. Aber wer hätte gedacht, dass sich Ellis in Sachen freundschaftlicher Annäherung als solch ein harter Brocken herausstellen würde, dass selbst Tülya mit ihrem umwerfenden Charme auf Granit stößt. Aber die ehemalige Kriegsfotografin hat ihre Gründe, warum sie so zurückgezogen ist: Ihr Herz ist versteinert. Das redet sie sich zumindest ein. Da ist so eine lebensfreudige Tülya nur ein Ärgernis. Ellis will ihren Auftrag erledigen und sich wieder in ihr Schneckenhaus zurückziehen. Aber so ein- fach geht das alles natürlich gar nicht ...

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Lo Jakob

FOTOGRAFISCHES GEDÄCHTNIS

Roman

© 2017édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-234-3

1Negativentwicklung

Was Ellis zuerst sah, war ein wilder Lockenkopf, der an der Kasse über irgendetwas gebeugt war. Dann hob sich der dunkle Wuschel, und ein strahlendes Gesicht kam dazu. Wie von der Feder losgesprungen eilte die äußerst schick gekleidete Person ihr entgegen. Bevor Ellis Details wahrnehmen konnte, stand die Schwarzgelockte schon vor ihr.

»Hallo! Ich bin Tülya, und du musst Ellis sein.«

Ellis fiel als Allererstes auf, dass die Stimme eine ganz eigene, raue Qualität hatte. Eine graziöse Hand wurde ihr hingestreckt, die sie automatisch ergriff. Kurz umschloss ein fester Händedruck ihre Hand, die ihr in dem Moment fast unförmig groß vorkam, obwohl sie nach objektiven Maßstäben ganz normale Hände für eine Frau ihrer Größe hatte.

Bevor sie mehr als »Hallo« murmeln konnte, drehte sich der feingliedrige Wirbelwind von ihr weg und rief in die Tiefen der Boutique hinein: »Aynur! Du musst jetzt übernehmen. Die Fotografin ist da.«

»Jaha. Du brauchst nicht so zu schreien. Bin ja da.« Eine Frau, die der Boutiquebesitzerin sehr ähnlich sah, aber im Gegensatz zu ihr spaghettiglatte, lange Haare hatte, kam um die Ecke und schenkte Ellis ein Lächeln und ein konspiratives Augenrollen. Schwestern, vermutete Ellis.

»So, ich zeig dir erst einmal den Laden und meine Kollektion. Dann können wir bei einem Espresso alles besprechen«, wandte sich die quirlige Boutiquebesitzerin wieder an Ellis und zog sie praktisch mit sich, obwohl sie sie gar nicht berührte. Aber dem Energiewirbel, den sie ausstrahlte, konnte man sich nicht entziehen. Ellis folgte also brav, nickte interessiert zu sämtlichen Erklärungen und musterte aufmerksam ihr Gegenüber. Gern hörte sie dieser Stimme zu, die so gar nicht zu der Gestalt passen wollte – das Reibeisen bildete einen starken Kontrast zur Zartheit. Und am liebsten hätte sie sofort ihre Kamera gezückt und diese grazile Person mit der erstaunlich mitreißenden Energie fotografiert. Ihre Lockenpracht schien unter Strom zu stehen, so wie der ganze Mensch. Und gleichzeitig hatte sie auch etwas Zerbrechliches wie eine Porzellanpuppe. Ellis hatte es schon lange nicht mehr so in den Fingern gekribbelt, ein Foto zu schießen. Nein, am besten eine ganze Serie, um die Boutiquebesitzerin Tülya in ihren dynamischen Bewegungen einzufangen.

Sie war über sich selbst erstaunt und gleichzeitig erfreut. Das letzte Mal, dass sie jemanden einfach so fotografieren wollte, ohne Auftrag, ohne Anliegen, war Jahre her. Genau drei Jahre, sieben Monate und dreiundzwanzig Tage, um exakt zu sein. Das dazugehörige Datum würde sie niemals vergessen, und jeder Tag, der seither verstrichen war, häufte sich in ihrem Innern nur einfach oben auf den bereits entstandenen Berg. Aber hier war jetzt das erste Mal eine Frau – sogar eine Frau! –, die sie sofort knipsen wollte. Und nicht konnte. Weil diese Frau schließlich eine Auftraggeberin und sie selbst auf Empfehlung ihrer ältesten Freundin hier war.

»Das hier sind die ersten Stücke meiner Kollektion. Der Rest liegt noch bei der Schneiderin. Aber so kannst du dir schon mal ein Bild machen, in welche Richtung das Ganze geht.«

Eine Hose, ein Oberteil und ein ärmelloses Top wurden in Windeseile auf einem Holztisch ausgebreitet. Sah ganz nett aus – schöne Stoffe, ausgefallene Muster. Aber Ellis war mehr darin bewandert, Kleidungsstücke in ihrer Wirkung am lebenden Objekt zu beurteilen. Sie konnte nicht mehr als die Farben abschätzen und versuchen, den Stil einzuordnen, um Ideen für ein mögliches Fotoshooting zu entwickeln. Denn das war es ja, wofür sie gebucht worden war: Modefotografien einer neuen Kollektion. So wie sie ihre Freundin Yve Hagen verstanden hatte, war das die erste Kollektion überhaupt, die ihr Gegenüber entworfen hatte. Die sollte entsprechend mit einem Knall an den Start gehen. Ellis hatte sich vorgenommen, schon allein für Hagen und weil sie wusste, dass Tülya deren beste Freundin hier in Köln war, ihr absolut Bestes zu geben und aus der Kollektion alles herauszuholen. Selbst wenn es die letzten Fetzen sein sollten. Was ja schon mal nicht der Fall war, Gott sei Dank.

»Wie viele Stücke umfasst denn die Kollektion? Und hast du auch Accessoires dazu?«

Die Boutiquebesitzerin grinste sie an. Es wirkte erfreut. Die goldbraunen Augen glitzerten voller Übermut. »Natürlich hab ich Accessoires. Was wäre ich wohl für eine Modedesignerin, wenn ich nicht an die kleinen Kinkerlitzchen denken würde. Das macht doch am meisten Spaß.«

»Wenn du das so sagst«, erwiderte Ellis mit einer skeptisch hochgezogenen Augenbraue.

»Aber hallo!« Ein Zwinkern blitzte zu ihr herüber, dem sie nicht widerstehen konnte. Ausnahmsweise musste sie ganz leicht zurücklächeln. Diese Person war wirklich ansteckend in ihrer Lebensfreude. Kein Wunder, dass Hagen mit ihr befreundet war. Die Persönlichkeit dieser quirligen Modeexpertin war diametral zu Hagens eher unterkühlter und zurückhaltender Art. Das würde sich in einer Freundschaft sicher gut ergänzen. Eigentlich war es erstaunlich, dass sie sich bisher nie getroffen hatten, denn sie selbst war bestimmt schon genauso lange Jahre mit Hagen befreundet. Aber da sie bis vor ein paar Monaten noch in Berlin gelebt hatte, war es eben nie zu einer Begegnung gekommen. Den Namen hatte sie in Erzählungen schon oft gehört, aber mehr auch nicht. Und im Grunde wusste sie auch nichts über Tülya. Nicht mehr als die groben Fakten: war seit fünfzehn Jahren mit Hagen befreundet – hatte vor Urzeiten eine kurze Affäre mit ihr gehabt – war Besitzerin einer erfolgreichen Boutique in Köln – Deutschtürkin – für Hagen neben ihrer Frau Amelie der wichtigste Mensch – fertig. Mehr hatte sie im Laufe der Jahre nicht abgespeichert, und sie hoffte, dass ihr Gegenüber genauso wenig über sie wusste. Aber Hagen war kein Plappermaul. Sie wusste, dass es Ellis nicht recht war, wenn Menschen, mit denen sie es zu tun hatte, zu viel von ihrer Geschichte wussten. Es war ihr lieber, ein unbeschriebenes Blatt zu sein. Gut, wenn sich jemand die Mühe machte, ausführlich über sie zu recherchieren, war alles irgendwo im Internet zu finden. Aber warum sollte Tülya das tun? Ellis kam auf Empfehlung ihrer besten Freundin; ihre Mappe an Modefotografien, die sie die letzten drei Jahre gemacht hatte, hatte sie ihr gemailt; sie hatte von ihr ein mehr als gemäßigtes Honorar gefordert – das sollte ausreichen, alle weiteren Fragen und auch aufkeimende Neugierde zu befriedigen. Ellis wollte einfach nur arbeiten, damit die Zeit schneller herumging und sie nicht so viel nachdenken musste.

Mit Freundinnen von Freundinnen hatte sie bisher noch nicht beruflich zu tun gehabt, aber sie hoffte, das würde ganz genauso ablaufen wie sonst: distanziert und professionell. Auch wenn die momentane Auftraggeberin sie über die ersten Stücke ihrer Kollektion hinweg mit einem forschend-frechen Ausdruck bedachte.

»Willst du einen Espresso? Wir könnten uns nach hinten ins Lager setzen. Ich will nicht, dass die gesamte Kundschaft mitkriegt, was ich so plane.« Das Letzte wurde geflüstert und nach einem Blick über die Schulter auf die zwei, drei Kundinnen, die sich an diesem Nachmittag im Laden befanden, mit einem verschwörerischen Blinzeln kommentiert.

»Danke, nein. Ich trinke keinen Kaffee. Aber ein Wasser würde ich nehmen, falls du es hast.«

»Was?! Keinen Kaffee? Wie geht das denn? Kann man überhaupt leben ohne Kaffee? Wenn Yve mir gesagt hätte, dass du keinen Kaffee trinkst, hätte ich dich nie engagiert. Das geht ja gar nicht.«

Ellis wusste nicht, was sagen auf diesen Ausbruch. Sie musste Tülya wohl reichlich konsterniert angeschaut haben, denn die brach in ein rauchiges Lachen aus und legte ihr für eine flüchtige Millisekunde die Hand auf den Ellenbogen.

»Schau doch nicht so entsetzt. Das war ein Scherz«, lachte sie. »Ich hol dir dein Wasser und mir einen Espresso. Bin gleich wieder da.«

So quecksilbrig, wie ihr ganzer bisheriger Auftritt gewesen war, verschwand sie hinter den diversen Kleiderständern und ließ Ellis, noch immer ziemlich von der Rolle, mitten im Laden zurück. Sie rieb sich den Ellenbogen, an dem Tülya sie berührt hatte. Sie wurde nicht oft berührt. Wollte es auch gar nicht. Nicht mehr. Es erinnerte sie nur daran, was einmal gewesen war. Was sie verloren hatte. Und eigentlich schien sie das auch auszustrahlen. Kaum jemand wagte es, sie so ungezwungen anzufassen, wie Hagens Freundin Tülya das gerade wie selbstverständlich getan hatte. Hoffentlich kam das nicht öfter vor. Ein letztes Mal rubbelte sie über die Stelle, die immer noch zu prickeln schien.

Tülya warf einen Stapel Jeanshosen von einem Stuhl in eine bereits überquellende Kiste und deutete für ihren heutigen Gast im Lagerraum mit einer schwungvollen Geste auf die freie Sitzgelegenheit. Eigentlich hatte es galant aussehen sollen, missglückte aber und wirkte auf sie selbst lediglich fahrig. »Setz dich«, fügte sie deshalb mit einem schiefen Grinsen hinzu.

Warum diese Ellis mit ihrer stoischen Miene und ruhigen Art sie so aus dem Konzept brachte, konnte sie sich gar nicht erklären. Je weniger die andere sagte, machte, reagierte, desto aufgedrehter wurde sie selbst. Dabei gab es gar keinen Grund zur Nervosität. Ellis Mönchfeld war eine sehr gute Freundin von Yve. Sie waren also über eine Ecke sozusagen auch Freundinnen. So hielt es Tülya zumindest immer. Freunde und Freundinnen von Verwandten – und Yve war so gut wie ein Familienmitglied – genossen einen Vertrauensvorschuss und wurden von ihr ebenfalls wie Freunde oder Freundinnen behandelt. Es sei denn, sie benahmen sich daneben. Aber das war von Ellis wohl nicht zu erwarten, so herzlich, wie Yve von ihr geredet hatte.

Tülya befreite den zweiten Stuhl von den darauf angesammelten Modeprospekten und setzte sich Ellis gegenüber. Ihr Lagerraum musste des Öfteren für ein ungestörtes Gespräch während der Öffnungszeiten herhalten. Wie oft hatte sie hier auch schon mit Yve gesessen und gequatscht, mitten zwischen ihren Beständen der aktuellen und kommenden Mode. Die französischen Bistrostühle waren mal Teil einer Dekoration gewesen, hatten sich aber als Sitzgelegenheit abseits der Kundschaft als viel nützlicher erwiesen.

»Ich soll dir einen Gruß von Yve ausrichten. Sie wird erst eine Woche später zurückkehren und sich dann gleich bei dir melden.« Das musste sie loswerden, bevor sie es vergaß. Außerdem war Yve ja sozusagen ihr verbindendes Element, es konnte also nicht schaden, das Gespräch mit ihr einzuleiten.

»Ist beim Dreh etwas schiefgelaufen?«, fragte Ellis Mönchfeld mit mehr Besorgnis, als wegen dieser Ankündigung notwendig war. Eine gerunzelte Stirn zeigte übertriebene Angst. Aber wovor nur? Yve war doch nur auf einer Dienstreise. Sie war Fernsehmacherin, Regisseurin und Dokumentarfilmerin. Zurzeit weilte sie für ein Filmprojekt in Budapest, und vor Ort lief wohl alles nicht so reibungslos wie im Vorfeld geplant. Kleine Verzögerungen hier und da, der ganz normale Arbeitsalltag. Nichts Beunruhigendes.

Tülya schüttelte den Kopf und merkte selbst, dass sie es übertrieben hatte, denn ihre Locken flogen ihr um den Kopf bei der Geste. »Nur das Übliche. Außerdem haben sie wohl die Gelegenheit ergriffen, mit Amelie noch einen kurzen Dreh anzuhängen.«

Yves Frau Amelie Brügge war Fernsehmoderatorin und hatte eine wahnsinnig angesagte Sendung namens ›Leuchtenladen‹. Dafür machte sie immer wieder auch Beiträge aus dem Ausland, und wenn ihre Frau und Regisseurin der Sendung gerade in Budapest für eine Dokumentation drehte, lag es wohl auf der Hand, in die nächste Sendung einen Beitrag von dort einzubauen. Das Studio für die Sendung war ein ausgedientes Lampengeschäft, das bei Tülyas Boutique ›Solitär‹ gleich um die Ecke lag, und Tülya war immer noch stolz, dass sie die Location damals entdeckt hatte. Nur ihrem Tipp war es zu verdanken, dass Yve die Konzeption für die Sendung geschrieben hatte. Und im Grunde ging dann auch die Ehe von Yve und Amelie auf ihr Konto, weil sie sich nur wegen der Sendung kennengelernt hatten. Das hatte Tülya auch schon das ein oder andere Mal ganz nebenbei erwähnt – meistens wenn sie Freikarten für die Livesendung von ›Leuchtenladen‹ wollte. Quittiert wurde das jedes Mal mit einem Lachen, einer Umarmung und der jeweiligen Anzahl Freikarten.

Ellis sah über die Nachricht erleichtert aus, und Tülya fragte sich, was bei ihr gerade für ein Film im Kopf abgelaufen war. Ein äußerst attraktiver Kopf, wenn sie das mal so bei sich selbst anmerken durfte. Vielleicht ein bisschen arg streng schauend und ein bisschen zu viele durchgemachte Nächte, den schwarzen Augenringen nach zu urteilen, aber nichtsdestotrotz attraktiv. Tülya liebte Sommersprossen auf heller Haut, und Ellis Mönchfeld hatte Unmengen davon. Selbst ihre Hände und das, was von ihrem Dekolleté in dem T-Shirt mit V-Ausschnitt unter der Lederjacke zu sehen war, waren damit verziert. Das passte zu ihren dunkelroten Haaren und ihrem Typ.

Tülya fragte sich kurz, ob auch Ellis so wie sie selbst zu den Heerscharen von Frauen gehörte, mit denen Yve sich vor Amelie die Zeit vertrieben hatte. Ihres Wissens war sie bisher die Einzige gewesen, die es geschafft hatte, den Kontakt zu halten und nicht in die Wüste geschickt zu werden. Aber bei so attraktiven Frauen wie Ellis konnte Tülya sich nur schwer vorstellen, dass Yve nicht in Versuchung gewesen war.

Allerdings ging sie das überhaupt nichts an und tat auch nichts zur Sache. Und die Sache war, dass Ellis eine verdammt gute und gefragte Fotografin war und ihre erste Kollektion ins Bild setzen sollte. Tülya war noch immer ganz beflügelt davon, dass sie es endlich gewagt hatte, ihre Ideen umzusetzen. Mit dem Gedanken hatte sie schon lange gespielt, vor allem immer dann, wenn sie auf den Modemessen nicht das gefunden hatte, was sie sich gewünscht hätte. Was sie gern verkauft hätte, was sie auch selbst tragen wollte.

Ein Blick aus grünen Augen, der aus unerklärlichen Gründen todmüde wirkte, ließ sie noch etwas Persönliches hinzufügen: »Warum kennen wir uns eigentlich noch nicht? Yve und ich sind so.« Sie überkreuzte Zeige- und Mittelfinger, um zu zeigen, wie dick sie mit ihrer besten Freundin war.

Ein Schulterzucken, dann: »Ich lebe erst seit zwei Monaten in Köln.« Die Antwort war knapp und bot keinerlei weiterführende Information. Ellis sah nicht begeistert aus über den Gesprächsverlauf.

»Ach, wie kommt’s?«, hakte Tülya trotzdem nach. Sie wollte einfach mehr wissen über diese aus dem Nichts aufgetauchte Freundin von Yve, von der sie nichts wusste. Das wurmte sie, weil sich Yve mal wieder als alte Geheimniskrämerin entpuppt hatte. Und weil diese Ellis sie faszinierte. Grüne Augen, Sommersprossen, alles inklusive.

»Tapetenwechsel«, war alles, was die Fotografin darauf antwortete.

Diese einsilbigen Antworten schreckten Tülya nicht ab, kamen ihr im Gegenteil bekannt vor. Bei Yve war das Einholen von Informationen auch wie Zähneziehen. »Und wie gefällt es dir bisher?« Lahme Frage, aber ungefährlich. Darauf konnte doch jeder antworten, selbst jemand, der oder die eigentlich nicht antworten wollte.

»Ist in Ordnung. Gute Auftragslage. Willst du noch etwas anderes wissen, oder bin ich jetzt engagiert?« Ellis nahm die Schärfe aus dieser Frage, indem sie dazu ein ganz kleines Lächeln zeigte und tatsächlich ein bisschen mit den Augen zwinkerte. Das machte daraus den ersten freundschaftlich angehauchten Satz, den sie bisher zu Tülya gesagt hatte.

Tülya musste unwillkürlich kurz auflachen. »Du warst schon vorher engagiert. Ich bin eben nur neugierig auf dich«, zwinkerte sie zurück.

Aber das war schon wieder zu viel. »Das Wesentliche weißt du«, erntete sie gleich wieder eine scharfe Grenzlinie. Die aber sofort mit einer Entschuldigung durch die Hintertür glattgebügelt wurde – diese Ellis wusste wirklich, wie sie Leute genau auf dem ihr genehmen Abstand hielt, ohne sie vor den Kopf zu stoßen. Ein angedeutetes Lächeln, ein leicht genervter grüner Blick und eine Frage: »Können wir jetzt arbeiten?«

»Sicher, Schätzelein. Kein Grund, sich aufzuregen. Gott, du bist Yve so ähnlich, was das angeht. Ich frage mich wirklich, wie ihr es schafft, ein Gespräch zu führen, wenn keine was rauslassen will.«

Das musste sie sagen dürfen – unter Freundinnen sozusagen. Aber das war schon wieder eine Fehlannahme. Das ›Schätzelein‹ kam nicht so gut an, und der Rest führte zu einer eindrucksvoll hochgezogenen Augenbraue. Eine Mimik, die nur wenige Menschen in Perfektion beherrschten und die Tülya schon immer unwiderstehlich gefunden hatte. Bei Ellis kam hinzu, dass sie eine wunderbar geschwungene Augenbraue in diesem tollen Tizianrot hatte, die ein ärgerlich grün funkelndes Auge nicht perfekter hätte ummalen können.

»Wo willst du das erste Shooting machen? Hast du schon eine Location?«

Ellis schien eine neue Strategie zu wählen: Ablenkung durch Arbeit. Und Tülya ließ sich darauf ein. Sie würde auch anderweitig noch mehr über Ellis erfahren. Außerdem würden sie sich zwangsläufig noch öfter sehen. Wäre doch gelacht, wenn sie diese harte Nuss nicht früher oder später knacken würde. Yves harte Schale hatte ihr auf Dauer auch nicht standhalten können.

»Na, ich dachte hier, im Laden«, ging sie also auf Ellis unelegante Überleitung zum Professionellen ein.

Ellis nickte daraufhin. Das war schon mal vielversprechend: Das Shooting im ›Solitär‹ schien machbar zu sein. Trotzdem wirkte die Fotografin ein wenig skeptisch, was Tülyas Ehre als Ladenbesitzerin ankratzte. Sie war stolz darauf, wie sie ›Solitär‹ gestylt hatte. Die Boutique bestand dank eines von ihr in Auftrag gegebenen Mauerdurchbruchs aus mehreren aneinanderhängenden Räumen. Wenn man hindurchging, einmal im Kreis, kam man wieder bei Kasse und Eingang an. Rechts nach der Kasse kamen die Umkleidekabinen. Hier hatte sie eine Art Lounge eingerichtet mit alten Kinostühlen, einem niedrigen Tisch und der Getränkestation, und von dort ging auch die Tür zum Lagerraum ab, dem einzigen Raum außerhalb des Kreises. Ihre Deko unterschied sich deutlich von anderen Modegeschäften, und sie war ständig auf der Suche nach ausgefallenen Sachen, die sie zur Gestaltung benutzen konnte. Erst vor kurzem hatte sie einen rot-weiß lackierten Heimtrainer aus den Sechzigern gefunden, der momentan das Schaufenster zierte, aber mit Sicherheit in Zukunft auch im Laden Verwendung finden würde als besonderes Designobjekt. Warum schaute Ellis Mönchfeld also so nachdenklich?

»Was?«, fragte sie nach, weil die andere noch immer zu grübeln schien.

»Nichts, nichts. Es spricht nichts dagegen, hier anzufangen. Aber ich fände es gut, wenn du dir noch eine andere Location überlegen würdest, vielleicht sogar mehrere. Das wäre mein Rat.«

Die Fotografin hatte natürlich recht. Wenn sie an all die Modeaufnahmen dachte, die ihr in den Katalogen der Hersteller ständig ins Haus flatterten, dann ging es gar nicht, nur in der eigenen Boutique zu fotografieren. Stattdessen galt: je exotischer, desto besser. Spontan kam ihr eine Idee, von der sie allerdings nicht wusste, ob sie umsetzbar war.

»Was wäre denn mit dem Set von ›Leuchtenladen‹?«, fragte sie und rutschte aufgeregt auf ihrem Stuhl herum.

»Ich weiß nicht, was Hagen dazu sagen wird«, kam die Antwort, zwar zögerlich, aber dieses Mal sofort.

Doch das war gar nicht das, was Tülya innehalten ließ. »Du nennst Yve beim Nachnamen? Abgefahren. Und mutig.« Auch wenn Ellis offensichtlich nichts über sich erzählen wollte – jeder neue Satz offenbarte Tülya ganz und gar erstaunliches Neues.

So auch der nächste: »Sie nennt mich Mönch. Hat sich so eingebürgert«, erklärte Ellis scheinbar widerwillig, um dann gleich wieder abzublocken. »Das mit dem Shooting im Leuchtenladen ist wahrscheinlich eine Rechtefrage, und ich weiß nicht, ob der Sender dem zustimmen wird.«

Das war natürlich ein Argument. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt, sagte sich Tülya. »Ich kann Yve oder Amelie ja mal fragen. Mehr als eine Ablehnung kann ich mir nicht einhandeln. Über eine Alternative mache ich mir aber auch noch Gedanken«, bot sie an. Das war nur vernünftig.

»Wann willst du mit dem ersten Shooting loslegen?«, hakte die Fotografin die nächste im Raum stehende Frage ab.

Darauf hatte Tülya sogar ausnahmsweise eine Antwort. »Die Schneiderin hat mir versprochen, die restlichen Vorführmodelle der Kollektion nächste Woche fertig zu haben, und dann können wir von mir aus irgendwann nach Ladenschluss anfangen. Das sind halt jeweils nur ein paar Stunden. Oder wir nehmen den Sonntag. Da könnten wir den ganzen Tag arbeiten.«

Das schien Ellis zu gefallen. Sie zückte aus ihrer Lederjackentasche einen kleinen, schwarzen Kalender und blätterte. Anscheinend wollte sie so schnell wie möglich loslegen. Solch einen Arbeitseifer hatte Tülya gar nicht erwartet, schließlich konnte sie nicht gerade das beste Honorar bezahlen. Das war ihr durchaus bewusst. Die Fotografin bekam für andere Aufträge bestimmt locker das Doppelte. Das hier war zumindest teilweise ein Freundschaftsdienst für Yve.

Ellis machte mit einem kleinen Bleistift einen Eintrag in ihren Kalender. »Wir könnten Samstagabend mit dem Aufbau beginnen und dann den ganzen Sonntag mit den Models arbeiten«, machte sie einen Vorschlag, der sofort ein weiteres Fass öffnete.

»Äh, ja, die Models . . .« Wieder musste Tülya auf dem Stuhl hin und her rutschen. Es wurde so langsam peinlich, wie unvorbereitet sie im Grunde war. Zerknirscht gestand sie ein: »Bisher habe ich nur meine Schwester und eine Kundin anwerben können. Auf alle Fälle fehlt mir noch ein Mann.«

»Verstehe, du willst sparen.« Ellis nickte verständnisinnig und steckte zuerst den Bleistift und dann ihren Kalender wieder zurück in ihre Jackentasche. »Auch da würde ich noch mal drüber nachdenken. Aber es ist selbstverständlich deine Sache.«

Natürlich hatte sie auch damit absolut recht. Entweder Tülya machte die Sache richtig und lancierte die Kollektion entsprechend professionell, oder sie könnte es gleich bleiben lassen.

»Nein«, sagte sie eilig, »ich will ja gerade, dass du nicht nur die Fotos machst, sondern mir auch mit deinem Insiderwissen hilfst.« Sie wollte bestätigend eine Hand auf Ellis’ Knie legen – so wie sie das schon tausendmal bei Yve oder anderen Freundinnen getan hatte, sie war eben ein taktiler Mensch –, aber ein warnender Blick hielt sie kurz vor dem Kontakt davon ab, und sie zog die Hand zurück.

»Na ja, Insiderwissen ist übertrieben.« Jetzt rutschte sich auch Ellis ein wenig auf ihrem Stuhl zurecht – von Tülya weg. »Ich kann dir nur sagen, wie es bei den anderen Shootings gelaufen ist, die ich gemacht habe. Was funktioniert und was eher schwierig ist. Das kann ich dir anbieten.«

Wieder ein Gerutsche, das aussah, als müsse ihr Gegenüber sich beherrschen, um nicht sofort aufzuspringen. Was natürlich lächerlich war. Sie waren ja mitten im Geschäftlichen, und Tülya hatte schon mindestens seit zwei Minuten keine persönliche Frage mehr gestellt, die eine Abwehrreaktion hätte erklären können.

Sie lächelte freundlich und antwortete: »Und das nehme ich dankbar an.« Dazu breitete sie die Arme in einer offenen Geste aus, um die Fotografin von ihren durchweg positiven und harmlosen Absichten zu überzeugen. Wie bei einem traumatisierten Hund aus dem Tierheim. Keine ruckartigen Bewegungen, sich harmlos geben. Wieso sie zu solchen Maßnahmen greifen musste, war ihr aber selbst ein Rätsel. Ellis Mönchfeld war ihr ein Rätsel.

Die stand jetzt ziemlich abrupt auf. »Gut«, erklärte sie und wandte sich in dem kleinen Lagerraum zur Tür. Schon mit dem Türgriff in der Hand, drehte sie sich noch einmal zu Tülya um und spulte schnell eine Zusammenfassung des weiteren Vorgehens ab: »Dann legen wir erst einmal hier im Laden los und sehen dann weiter. Du hast ja meine Nummer und meine Mailadresse. Wir bleiben in Kontakt bis dahin. Ich schicke dir ein paar Ideen. Halte mich auf dem Laufenden, was sich tut.«

Tülya erhob sich ebenfalls, obwohl sie diese Entwicklung jetzt doch etwas überrumpelte. »Sind wir schon fertig mit unserer Besprechung?« Das musste sie einfach fragen. Die Fotografin hatte noch nicht einmal ihr Wasser getrunken, geschweige denn dass sie selbst zu ihrem Espresso gekommen war. Der stand noch immer auf einem kleinen Tablett neben ihrem Stuhl. Sie hatte ihn ganz vergessen bei diesem intensiven Gespräch und der nicht minder intensiven Gesprächspartnerin, die ihre ganze Aufmerksamkeit gefordert hatte. Was wirklich selten genug vorkam. Multitasking war für Tülya erfunden worden.

»Von meiner Seite aus schon. Fehlt noch was?«, fragte Ellis, wieder mit dieser hochgezogenen Augenbraue. Das wirkte auf Tülya reichlich einschüchternd. So als ob sie, die ja schließlich organisatorisch noch nicht viel auf die Reihe gebracht hatte, jetzt auch noch die Zeit der Fotografin mit Nichtigkeiten verplempern würde. Wobei die andere nicht einmal vorwurfsvoll, sondern durchaus freundlich gefragt hatte. Abermals kam Tülya bei ihren eigenen Reaktionen nicht ganz mit.

»Äh, nein«, lautete dann auch ihre unelegante Antwort. »Ich bring dich raus.« Sie wühlte sich einmal durch ihre Locken in einem Versuch, Ordnung in den Inhalt ihres Kopfes zu bekommen, und folgte Ellis aus dem Lagerraum zurück in den Laden.

Ellis hatte das dringende Bedürfnis, Abstand zwischen sich und Tülya Metin zu bringen. Im Gespräch hatte sie mehrfach wieder der Wunsch überkommen, sie zu fotografieren, diesen wilden Derwisch zumindest für eine Sekunde einzufangen und festzuhalten – auch wenn es nur auf einem Bild war. Aber dass die Deutschtürkin so touchy-feely war, war ein Problem und würde die weitere Zusammenarbeit schwierig gestalten. Immerhin hatte sie sich von einem Abwehrblick in ihre Schranken verweisen lassen. Sie kannten sich doch gar nicht, und Tülya benahm sich, als ob die bloße Freundschaft mit Hagen sie auch zu ihrer besten und nächsten Freundin machte. Irritierend, fand Ellis, während sie sich um einen ruhigen Schritt beim Durchqueren der Boutique bemühte. Die Ladenbesitzerin schaffte es wuselnd – ja, es gab kein anderes Wort für dieses Übermaß an Geschwindigkeit und Bewegung, das da mit hüpfenden Locken unterwegs war – zu überholen und vor ihr im Eingangsbereich anzukommen.

»Gut, dass du kommst«, riss die Frau, die vermutlich Tülyas Schwester war, gleich deren Aufmerksamkeit an sich und vereitelte Ellis’ schnellen Abgang. Jetzt konnte sie nicht einfach so mit einem kurzen Winken verschwinden, das gebot der Anstand und der professionelle Umgang mit Auftraggebern – obwohl Ellis den unbändigen Wunsch verspürte, sofort aus diesem Laden hinauszukommen.

»Hier wartet jemand auf dich.« Wenn Ellis nicht alles täuschte, versuchte die vermeintliche Schwester Tülya unauffällig zuzuzwinkern, scheiterte aber kolossal, weil sogar Ellis das mitbekam. Die andere Frau, die an der Ladentheke stand und angeblich auf Tülya wartete, lief knallrot an und schaute beschämt zu Boden. Sehr merkwürdig, was hier in dieser Boutique so vor sich ging.

Tülya Metin versuchte einen Einwand: »Aynur, du sollst doch nicht . . .«

»Sei doch nicht so unfreundlich«, unterbrach ihre Schwester – falls es ihre Schwester war, vielleicht war es ja auch eine Cousine, oder sie waren gar nicht verwandt – sie mitten im Satz. Ganz offensichtlich stand sie der Boutiquebesitzerin an Energie in nichts nach. Sie schenkte der jungen Frau an der Ladentheke ein entschuldigendes Lächeln. »Das hier ist Dorothee, und sie ist extra den weiten Weg von Hannover hierhergekommen, um dir hallo zu sagen.«

Die Person, die gemeint war, räusperte sich und streckte eine Hand in Tülyas Richtung aus, brachte aber offensichtlich kein Wort heraus. Ellis kam sich wie eine Voyeurin in diesem absurden Schauspiel vor, von dem sie gar nicht wusste, wovon es handelte. Die ein bisschen zu dünne und ganz offenbar sehr schüchterne junge Frau mit dem knallroten Gesicht tat ihr entsetzlich leid. Warum auch immer sie hier zu der quicklebendigen Energiekugel von einer Boutiquebesitzerin ›hallo‹ sagen wollte.

Ein entsetzlicher Gedanke kam ihr: Das sollte doch nicht etwa ein weiteres Model sein? Wenn Tülya dachte, dass mit Anfängern oder Möchtegern-Models ein Blumentopf zu gewinnen war, würde Ellis sie enttäuschen müssen. So was ging meistens schief, und so würde sie selbst als Fotografin auch nicht arbeiten. Das würde sie ihr irgendwann sagen, jetzt hielt sie aber lieber erst einmal den Mund. Nicht, dass die dünne junge Frau noch vor Aufregung umkippte. Denn jetzt sah sie nicht mehr rotgesichtig aus, sondern war erschreckend blass geworden.

Tülya nahm wenig begeistert die schlaff wirkende Hand der jungen Frau, schüttelte sie kurz und ließ sie los wie einen nassen Lappen. »Hallo«, sagte sie kurz angebunden. »Tut mir leid, aber ich habe überhaupt keine Zeit.« An die andere Frau mit dem glatten, schwarzen Haar gewandt raunzte sie: »Du hast dir die Suppe eingebrockt, jetzt löffelst du sie auch aus.«

Damit stand für Ellis fest, dass es ihre Schwester sein musste. Nur Schwestern gingen so schonungslos miteinander um, und hatte Tülya nicht in ihrer Besprechung eine Schwester erwähnt, die modeln würde? Das Exemplar hier sah gut genug aus, um dafür in Frage zu kommen, wenn auch offensichtlich genauso wenig ein Profi wie die junge Frau aus Hannover.

Tülyas Redeschwall ging unterdessen auf Türkisch weiter, hörte sich aber noch viel weniger freundlich an. Es entspann sich ein Streit, der nicht gerade leise und diplomatisch vonstattenging. Ellis vermutete, dass es sich bei der schüchternen jungen Frau namens Dorothee doch nicht um ein weiteres Model handelte, sondern um eine ihr vollkommen schleierhafte Angelegenheit, in die sie da unfreiwillig hineingeraten war.

»Kommen Sie, wir gehen vor die Tür«, forderte sie Dorothee auf, während das Geschrei weiterging. Sollten die beiden Hitzköpfe sich doch erst einmal austoben.

Dorothee folgte ihr wie ein Lamm durch die klingelnde Eingangstür. Sie hatte inzwischen angefangen, still zu weinen und zu schniefen. Was für ein Drama . . . War das immer so hier? Sie würde Hagen was erzählen, wenn sie sie in einen Hexenkessel an Verrücktheiten hineinmanövriert hatte. Das konnte sie so was von gar nicht gebrauchen – menschliche Emotionsexzesse. Sie wollte das genaue Gegenteil in ihren Auftraggebern: Abgeklärtheit, Ruhe, Gelassenheit. Andere Sozialkontakte hatte sie momentan außer Hagen sowieso so gut wie gar nicht, aber für die galt das umso mehr. Tülya Metin war auf allen Ebenen nicht gut für sie, das konnte sie bereits jetzt spüren. Sie fragte sich nur, wie sie diesen Auftrag wieder loswerden konnte, ohne Hagens beträchtlichen Zorn auf sich zu ziehen.

Neben ihr tippelte die junge Frau nervös von einem Fuß auf den anderen und zerpflückte ein Taschentuch.

Ellis ballte die Faust. Sie fühlte sich verdammt verpflichtet, was Tülya Metin anging. ›Im Schraubstock festgeklemmt‹ traf es noch besser. Hagen war ihre beste Freundin. Die letzte, die ihr geblieben war. Alle anderen hatte sie sehr erfolgreich vergrault. Aber selbst sie musste sich eingestehen, dass sie auf der Welt zumindest eine Freundin brauchte. Eine Person, die sie verstand, die alles von ihr wusste, die sie ganz und gar so nahm, wie sie war. Mit allem Schmerz, der sie durchdrang und in jeder Pore, jedem Atom residierte. Sie würde also nicht aus diesem Auftrag herauskommen.

Ellis seufzte und zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche. Sie zündete sich eine an und inhalierte tief. Dann hielt sie die Schachtel ihrer Leidensgenossin hin. »Auch eine?«

Eine zitternde Hand griff sich eine ihrer Gauloises. Ellis hielt ihr brennendes Feuerzeug hin und wurde mit einem dankbaren Blick aus tränenverhangenen Augen belohnt. Oh mein Gott.

Eine Kundin betrat den Laden, und die hitzige Auseinandersetzung drinnen, die sie die ganze Zeit noch hatten hören können, verstummte schlagartig. Die Streithähne schienen sich zusammenzureißen. Aber nach draußen kam immer noch niemand.

Nach einiger Zeit des schweigenden Paffens wischte sich die merkwürdige junge Frau die Tränen weg und trat die Zigarette aus. »Danke. Du hast ein gutes Herz«, erklärte sie, dann wandte sie sich ab und ging die Straße entlang davon.

Ein genauso kurioser Abschied wie diese ganze Begegnung. Wenn diese Dorothee nur wüsste, dachte Ellis. Ihr Herz war vor langer Zeit zu Eis erstarrt und zu keinen Emotionen mehr fähig. Außer negativen: allen voran Schmerz, dann Sinnlosigkeit, Leere. Wobei Leere ja eher die Negation von allem war. Ein wohltuendes Nichts. Das war fast schon positiv zu nennen.

Sie wünschte sich, auch einfach auf dem Absatz kehrtmachen zu können und diese Boutique samt Besitzerin hinter sich zu lassen. Aber Ellis blieb stehen und zog eine zweite Zigarette heraus.

»Widerliche Angewohnheit«, unterbrach eine wunderbar rauchige Stimme hinter ihr das Anzünden. Tülya linste durch die Eingangstür, nur ihr Lockenkopf herausgestreckt, als müsste sie sich dahinter verschanzen. »Ist sie weg?«

»Weinend davongegangen.« Das war ein wenig übertrieben, aber Tülya hatte die junge Frau auch nicht gerade freundlich behandelt. Warum auch immer sie hier gewesen war – das war nicht gerade die feine englische Art.

»Oje. Das tut mir leid. Mir ist einfach der Kragen geplatzt.« Tülya sah sogar ein wenig zerknirscht aus, aber hauptsächlich erleichtert.

Ellis zuckte mit der Schulter. Das ging sie nichts an. »Ich verabschiede mich dann auch. Wir verbleiben wie besprochen«, erklärte sie kurz. Sie wollte endlich hier weg.

Der Lockenkopf wippte zur Antwort. »Aber ja. Und entschuldige die Szene gerade eben. Es ist so, dass . . .«

»Du bist mir keine Rechtfertigung schuldig«, unterbrach Ellis diesen Versuch einer Erklärung sofort. Ihre Geduld war am Ende, das Maximum dessen, was sie an zu intensiven zwischenmenschlichen Kontakten für heute ertragen konnte, war erreicht. »Schließlich bin ich nur eine Honorarkraft.« Das hatte sie noch subtil einfließen lassen müssen. Damit Tülya nicht noch weitere Freundschaftsavancen startete und ihre Grenzen weiterhin zu überrennen versuchte. »Bis bald«, sagte sie knapp, wandte sich gleich um und ging los.

»Mach’s gut«, rief Tülya ihr mit dieser unpassenden Stimme hinterher. »Schön, dich endlich mal getroffen zu haben. Ich freu mich auf die Zusammenarbeit.« Damit ignorierte sie schon wieder die von Ellis gezogene Trennlinie. ›Bis hierher und nicht weiter‹ schien für Tülya Metin ein unbekanntes Konzept zu sein.

»Wie ist es in Budapest? Ist Amelie inzwischen auch da?« Tülya hatte sich den Hörer mit der Schulter ans Ohr geklemmt, während sie im Laden nach Geschäftsschluss Kleider faltete und sortierte. Was hier immer für ein Chaos herrschte, nachdem eine Horde Kundinnen durch den Laden gefegt war, war ungeheuerlich. Die Hunnen waren ein Scheiß dagegen.

»Es wird so langsam«, antwortete ihr Yve mit einem Seufzer über die hunderte Kilometer Entfernung aus Ungarn. »Die Behörden legen uns immer wieder Steine in den Weg, aber nichts, das ich nicht mit ein bisschen Vehemenz aus dem Weg geräumt kriege.«

Tülya musste lachen. Das konnte sie sich nur zu lebhaft vorstellen, wie das vonstattenging. Sie faltete die letzte Jeans und legte sie auf den Stapel zurück, auf den sie gehörte. »Die werden sich noch Jahre an die deutsche Produzentin erinnern, mit der nicht gut Kirschen essen ist. Das würde ich gern sehen. Und deine Angetraute?« Sie ließ noch einmal den Blick kreisen, fand keine weiteren Problemstellen, die in Ordnung gebracht werden mussten, und steuerte zum entspannteren Telefonieren die Kinosessel vor den Umkleidekabinen an.

»Liegt gerade in der Badewanne und wartet auf mich.« Yve hörte sich an, als ob sie schmunzeln würde. Das würde sie selbst auch bei diesen Aussichten.

»Oho! Sexy Vorstellung. Auch das würde ich gern sehen«, säuselte Tülya. Bei Yve durfte sie so etwas.

Die lachte auch nur aus dem Hörer. »Such dir endlich eine eigene Geliebte, anstatt hier Second-Hand-Erotik abzusaugen.«

Tülya ließ sich in den Kinostuhl zurücksinken und legte die Füße auf den Kaffeetisch. »Wenn das nur so einfach wäre. Nicht jeder zieht den Sechser im Lotto, so wie du.« Das war kein Stück übertrieben. Yve und ihre Amelie waren wirklich ein Traumpaar, und das nicht nur nach außen hin, rein optisch betrachtet. Sie ergänzten sich perfekt. Amelie brachte bei der hart wirkenden Yve die ganz weichen Seiten zum Vorschein. Umgekehrt hatte Amelie dank Yve das gewisse Quäntchen an Biss gewonnen, das in ihrem Job wichtig war.

So etwas wollte Tülya auch, so eine Art Beziehung. Eine, die sie wachsen ließ. Nicht nur irgendeine Frau, damit die Nächte nicht ganz so leer und einsam waren. Sie wollte keinen Kompromiss. Sie wollte das ganze Paket. Mit Liebe und Erotik und Diskussionen und allem Schnick und Schnack.

»Wenn du es nicht zumindest hin und wieder bei der einen oder anderen Kandidatin in Erwägung ziehst, passiert nie was. Du wirst bald vierzig.«

Damit traf Yve genau den Punkt. Tülya war nun mal wählerisch. Aber ganz stimmte der Vorwurf eben doch nicht, und daran musste sie ihre beste Freundin jetzt mal wieder erinnern: »Das hab ich durchaus schon, und das weißt du auch.« Dabei dachte Tülya natürlich an Yve selbst und auch an deren Frau Amelie, die sie sehr interessant gefunden hatte, bis klar war, dass Amelie nur Yve im Kopf hatte. Das kleine Geräusch, das aus dem Hörer zu ihr drang, bestätigte, dass ihre Gesprächspartnerin genau wusste, was sie meinte.

Mit Verspätung wurde Tülya plötzlich stutzig. Solche Bemerkungen über Tülyas Pingeligkeit bei der Partnerinnenwahl entsprachen eigentlich so gar nicht Yves Art. Misstrauisch fragte sie: »Hast du dich mit Aynur abgesprochen? Du hörst dich gerade so an wie sie.« Nach der Aktion am Nachmittag rechnete sie mit dem Schlimmsten. Dass ihre beste Freundin sich gegen sie verschworen hatte und mit Aynur gemeinsame Sache machte, erschien ihr mit einem Mal gar nicht mehr so abwegig.

»Wieso? Das liegt doch einfach nur auf der Hand«, war jedoch die harmlose Antwort.

Konnte sie das glauben? Tülya setzte sich wieder gerade hin. Fast gab sie dem Impuls nach, durch den Laden zu wuseln, so sehr regte sie das Thema auf. »Ach ja?«, gab sie zurück. »Und bist du auch an der Anzeige beteiligt, wenn das alles so offensichtlich ist?« Trotz des flapsigen Tonfalls fühlte sie sich in diesem Moment alles andere als frech.

»Was für eine Anzeige?« Yve hörte sich wirklich so an, als wüsste sie von nichts.

»Die, die Aynur für mich aufgegeben hat«, schnaufte Tülya mit all der Genervtheit in den Hörer, die sie bei dieser Angelegenheit verspürte.

Zu ihrer großen Erleichterung konstatierte Yve: »Ich weiß nichts von einer Anzeige.« Nur um dann amüsiert nachzufragen: »Du meinst jetzt aber nicht etwa eine Kontaktanzeige?«

»Doch!«, rief Tülya und musste selbst erst einmal lachen. »Das Peinliche ist, dass sie für mich sucht und die Damen dann auch aussucht, die die Ehre haben, mich kennenzulernen. Und weil ich ja so uneinsichtig bin und nicht mitarbeite, bestellt sie die Kandidatinnen einfach in den Laden und kündigt es noch nicht einmal vorher an. Erst heute Mittag stand wieder eine da.« Die Zusammenfassung der Misere sprudelte nur so aus ihr heraus. Aus dem Hörer war äußerst amüsiertes Lachen zu hören.

»Schön, dass du das witzig findest«, schnaubte Tülya ins Ohr ihrer besten Freundin. Lieber hätte sie sie ja jetzt hier bei sich gehabt, aber heute musste eben ein Telefonat ausreichen. Sie merkte schon jetzt, wie gut es ihr tat, mit Yve darüber zu lachen.

Apropos Freundin. »Ich hoffe ja, deine Freundin Ellis Mönchfeld teilt unseren Humor. Sie ist mitten in das Desaster hineingeraten und hält mich jetzt wahrscheinlich für komplett bekloppt.« Tülya konnte die Fotografin so schlecht einschätzen, dass es ihr fast schon ein wenig unangenehm war. Sie hatte sich so schnell und abgehackt verabschiedet. Obwohl – an Yve gemessen, war das wohl ganz normal gewesen. Die Produzentin hielt auch nichts von ewigem Gequatsche und zu viel Tamtam.

»Mönch hat mitgekriegt, wie dir Aynur eine Frau bestellt hat?« Yves belustigte Stimme klang jetzt so, als befinde sie sich in einem gekachelten Raum, und Tülya vermutete, dass Amelie nun in den Genuss kam mitzuhören. Ein Kichern und ein Plantschen im Hintergrund bestätigten das.

»Wenn du das unbedingt so drastisch formulieren willst.« Dann trat etwas anderes in den Vordergrund von Tülyas Gedanken – unterstützt durch die Nebengeräusche, die sie aus einem Budapester Badezimmer hörte. »Du ziehst dich nicht etwa gerade aus und steigst dann zu deiner splitterfasernackten Gattin in die Wanne? Hast du gar kein Herz?«, schnappte sie und musste die Kurzatmigkeit noch nicht einmal vortäuschen.

»Ich ziehe gerade meinen schwarzen Slip aus, und jetzt berührt mein rechter Zeh schon die Schaumkrone. Warte, jetzt setzt sich Amelie gerade auf, und ich kann sehen, wie . . .«

»Lalalala«, sang Tülya laut los, um Yves Beschreibung zu übertönen. Sie konnte sich nur zu bildhaft vorstellen, was Yve sehen konnte. War sie irgendwie pervers, weil sie das anmachte? Sie wusste, wie Yve nackt aussah. Das hatte sich in ihr Langzeitgedächtnis eingebrannt wie kaum etwas anderes. Amelie war mehr der Phantasie überlassen. Aber da Tülya half, sie für ihre Fernsehsendung einzukleiden, hatten diese Phantasien eine solide Basis. Sie wusste also definitiv zu viel über die Körperlandschaften ihrer Freundinnen mit ihren verlockenden Hügeln und Tälern, Yves lange, gerade Linien, Amelies sanfte Kurven.

Yve und Amelie lachten aus dem Hörer, und der Moment war überstanden. Zumindest für die beiden. Tülya war sich durchaus bewusst, dass sie mit zwei umwerfenden Frauen telefonierte, die nackt in einer Badewanne lümmelten und, nachdem sie auflegten, mit Sicherheit sagenhaften Sex haben würden. Auch diese Annahme basierte auf realistischen Daten, weil sie aus Yve dahingehend schon ausreichend Informationen herausgepresst hatte.

Sie rutschte tiefer in ihren Sessel zurück und versuchte die Bilder wegzuschieben. Die latente Erregung bei der Vorstellung gar nicht erst aufkommen zu lassen – was gar nicht so einfach war. Das waren ihre beste Freundin und deren Frau, verdammt noch mal. Das gehörte sich nicht. Sie war einfach nur schon zu lange selbst nicht mehr in einer Beziehung gewesen. Vielleicht auch schon zu lange einfach nicht mehr mit einer Frau im Bett gewesen. Womit sie schon wieder beim Thema war . . . Aynur hatte erschreckenderweise sogar recht. Es musste eine Frau her, und sei es nur für kurze Zeit. Aber sie würde den Teufel tun und sich die von ihrer Schwester suchen lassen.

»Zurück zum Thema«, vollzog sie eine fallbeilartige Zäsur in der aus dem Ruder gelaufenen Konversation mit den beiden Nackten.

Frech kam es aus dem Telefon: »Welches? Aynurs Anzeige oder dass Mönch heute ins kalte Wasser geschubst wurde?«

Tülya biss die Zähne zusammen und schob alle unangebrachten Gedanken beiseite. »Letzteres.« Mönch. Es stimmte also tatsächlich. Was war das nur für eine merkwürdige Freundschaft, die Yve da pflegte? »Du weißt ja gar nicht, was passiert ist. So schlimm war es gar nicht. Ein bisschen Geschrei auf Türkisch, nicht weiter dramatisch.«

»Du musst mir gar keine Details schildern, ich kann es mir auch so vorstellen. Wie ich Ellis kenne, hat sie überlegt, wie sie aus dem Auftrag wieder rauskommt, ohne dass ich ihr den Kopf abreiße.«

Es plantschte im Hintergrund, und Tülya beschloss, das Telefonat schnellstmöglich zu beenden. Das war alles zu viel für ihre unterversorgte Libido. Und dann noch die verwirrende Angelegenheit mit Ellis Mönchfeld.

Sie widersprach trotzdem: »Ach was. Wir haben Termine und alles.« Aber ein kleiner Funken Zweifel über die mysteriöse Fotografin blieb dennoch. Hastig redete sie weiter: »Meldet euch, wenn ihr wieder zurück seid. Wir könnten mal wieder eine Kneipentour zusammen machen.« Früher hatte sie das mit Yve allein gemacht. Meistens hatte es ohnehin damit geendet, dass Yve eine Frau aufgabelte, mit der sie dann verschwand. Jetzt war immer Amelie dabei, und Tülya war mit den Abenden sehr viel zufriedener als früher.

»Küsschen von Amelie. Und von mir auch, versteht sich«, flötete Yve zum Abschied. Manchmal konnte sie richtig spielerisch sein. Aber jetzt gerade auf eine Art, die Tülya zu sehr aufwühlte.

»Ja, ja, Küsschen, ihr nackten Weiber. Vergnügt euch schön.«

Tülya drückte auf den Knopf und beendete die Verbindung. Sie seufzte. In südlichen Regionen zog es mit einem eindeutigen Verlangen, und ihre Brustwarzen drückten hungrig gegen den dünnen Stoff ihrer Bluse. Sie war eine perverse Voyeurin – oder wie hieß das, wenn man stattdessen am Telefon hing und sich alles wunderbar lebhaft vorstellte? –, und sie brauchte eine Frau.

Toll! Wo sollte sie denn nur eine Frau herkriegen? Eine, die auch noch ihre anspruchsvollen Kriterien erfüllte? Weit und breit war keine in Sicht.

Yve legte ihr Handy auf den Badewannenvorleger und ließ sich tiefer ins Wasser und den Schaum gleiten.

»Was ist mit deinem Sorgenkind?«, erkundigte sich Amelie und streichelte mit einem Fuß an ihrer Seite entlang.

Yve fing ihn ein und massierte ihn, was ihrer Frau sofort einen wohligen Laut entlockte. Der Duft nach Lavendel und Salbei war ungemein entspannend, und Amelies weiche Haut, die sich vom Badeschaum noch geschmeidiger anfühlte, versetzte Yve geradezu in den Himmel. In den Badehimmel für glücklich verheiratete Lesben.

»Meinst du jetzt Tülya oder Mönch?«, fragte sie nach einem kurzen Moment der Konzentration auf die wunderbaren Sinneseindrücke. Das Telefonat mit ihrer besten Freundin geisterte zwar immer noch in ihren Gedanken, aber der Anblick ihrer nackten Frau, nur umhüllt von weißem Badeschaum und Wasser, schaffte es einfach jedes Mal, ihre sonst so ordentlichen Gedankenstrukturen zu verquirlen.

Wie es aussah, hatte Amelie ihre Locken bereits gewaschen. Sie waren nach hinten gestrichen, und von ihrem Erdbeerblond war nicht mehr viel zu sehen. Amelie wirkte im Moment fast so dunkelhaarig wie Yve selbst. Ein weiterer Look, der an ihr phantastisch aussah. Selbst nach zwei Jahren mit ihrer Frau war Yve noch immer hin und weg von ihrer Schönheit, die sie ganz und gar überraschend packen und überwältigen konnte – so wie in Augenblicken wie diesem.

Amelie entzog ihr ihren Fuß und schaffte es ohne größere Mühen, sich glitschig und wendig wie ein Aal in der Wanne umzudrehen und sich der Länge nach auf Yve zu legen. Sofort durchlief Yve ein angenehmer Schauer. Wirklich, ein sehr ablenkendes Manöver. Sehr, sehr ablenkend. Amelies Brüste drückten sich gegen ihre. Gegen dieses wunderbare Gefühl war sie machtlos. Immer.

»Ich wusste nicht, dass du dir über Tülya Sorgen machst.«

Ach, darüber hatten sie gerade gesprochen. Tülya, Mönch, Köln. Amelie zeichnete jetzt ihre Augenbrauen nach, und Yve musste sich um eine zusammenhängende und sinnvolle Antwort sehr bemühen.

»Mache ich auch nicht wirklich. Aber Aynur hat natürlich recht. Es wäre schon schön, wenn Tülya endlich eine Partnerin an der Seite hätte. Eine, die sie glücklich macht. Ich bezweifle aber stark, dass ihre Schwester die über eine Anzeige finden wird.«

»Manche Menschen sind nicht für eine Beziehung gemacht«, bemerkte Amelie. »Vielleicht muss Tülya auch akzeptieren, dass sie perpetueller Single ist.«

»Perpetueller Single? Hast du das gerade erfunden, oder sagt man das so?«

»Keine Ahnung, aber klingt doch gut.«

»Sehr gut.« Und Yve war sich nicht sicher, ob sie die Wortschöpfung meinte oder wie es sich anfühlte, dass Amelie angefangen hatte, sanft – oh, so sanft – ihr Becken zu schaukeln. Hin und her, ganz leicht. Aber immer gerade so, dass Yves Mitte perfekt getroffen wurde. Wieder drohte ihr Gehirn abzuschalten und auf ganz andere Dinge umzustellen. Aber Amelie hatte andere Pläne, hielt sie unerträglich lange im Gespräch gefangen.

»Und was ist mit Mönch? Darüber wollten wir doch eigentlich reden.«

Yve gab ein kleines Proteststöhnen von sich, das Amelie mit einem leichten Anheben ihres Körpers quittierte. Sie war wirklich Meisterin in diesem Spiel des Hinhaltens und Hinauszögerns. Und Yve liebte jede Sekunde davon.

»Es scheint bisher alles einigermaßen zu laufen«, bemühte sie sich darum weiterzureden, so als ob nicht gerade heiße Lava sich in ihrem Unterleib ausbreitete und den Rest ihres Körpers überrollen wollte. »Da ich noch keinen Anruf von ihr erhalten habe, hat Tülya sie noch nicht in die Flucht geschlagen. Sie wird ihr guttun.«

Amelie fuhr mit dem Schaukeln fort, sobald Yve weitersprach, was dieser die Aneinanderreihung der Wörter zu sinnvollen Sätzen zusehends schwerer machte. Jetzt stahlen sich die Finger ihrer rechten Hand an Yves Brustwarze und spielten damit, als sei nichts dabei. Als strecke sie sich nicht schon nach einer Sekunde diesen Fingern entgegen. Yve unterdrückte ein Stöhnen. Sie wusste, Amelie würde noch eine ganze Weile so mit ihr spielen. Sie hinhalten, bis sie kurz vor der Explosion stand. Bis sie so weit war, sie anzuflehen, sie kommen zu lassen. Und das tat sie dann auch immer mit einem Knall, der Yve jedes Mal aufs Neue vollkommen überraschte.

»Und warum hast du Tülya so gequält?« Dem folgte zur Betonung ein leichtes Zupfen an ihrer begierigen Brustwarze. »Was hat die Ärmste dir nur getan?«

»Gequält?« Yve wand sich wie eine Schlange, um von Amelies herausfordernden Händen wegzukommen, aber dadurch intensivierte sie lediglich die Reibung zwischen ihren Körpern. Es war die schönste Folter, die sich Yve nur vorstellen konnte. »Ich hab es doch nur gut mit ihr gemeint. Dass sie sich mal wieder daran erinnert, was ihr so alles entgeht ohne Geliebte.« Das hier zum Beispiel. Dieses irrwitzige Gefühl, das sie durchströmte. Dieses Verlangen, das ihr den Verstand raubte. Dieses Wissen, dass Amelie sie in diesem Moment ganz und gar besaß, mit Haut und Haar verschlungen hatte.

»Böse«, zischte ihr Amelie lachend ins Ohr, bevor sie hineinbiss und gleichzeitig ihre Hand unter die Wasserlinie gleiten ließ, um unverfroren mit Yves Klit zu spielen.

»Du weißt doch, dass ich im Wasser nicht kommen kann«, protestierte Yve, aber ein wenig halbherzig. Für mehr war das alles hier einfach zu phantastisch.

»Denk doch nicht so eingleisig. Erst mach ich dich in der Wanne ganz heiß, und nachher kommst du, wenn ich dich im Bett weiter verwöhne«, bestätigte Amelie das, was Yve sowieso schon gewusst hatte. »Außerdem hab ich damit keinerlei Probleme.« Ein fast schon lüstern zu nennendes Grinsen schloss sich an diese Aussage an.

»Aha. Das ist also eine mehr oder weniger offensichtliche Aufforderung«, grinste Yve zurück.

»Mhm. Bei dir funktioniert heute einfach nichts Subtiles.« Ein eindeutiger Stoß mit dem Becken, der Yve unwillkürlich aufstöhnen ließ, unterstrich das.

»Du unverschämte Person, du«, grollte sie zur Antwort und zog Amelie ganz eng an sich. Mit viel Wassergespritze gelang es ihr, sie beide umzudrehen. Jetzt nahm sie die Sache mal in die Hand. Wie sie ihre Frau kannte, wären sie in spätestens fünf Minuten inklusive Abtrocknen und Haarerubbeln im Hotelbett. Maximum.

»Den Hometrainer stellen wir am besten mittig«, erklärte Ellis und deutete auf das weiß-rote, kurios aussehende Fahrrad. So was hatte sie noch nie gesehen. Anscheinend war die Bauweise solcher Dinger vor ein paar Jahrzehnten noch ganz anders gewesen als heute. Sah wie ein verbogenes Klapprad aus. Lustig, ein echter Hingucker – das ließe sich gut einbauen in die Modeaufnahmen. Wo Tülya das nur herhatte? Sie hatte es eigenhändig vor ein paar Minuten aus dem Schaufenster herausgezerrt, weil Ellis es zum idealen Beistellobjekt erklärt hatte.