Gelogene Wahrheiten - Lo Jakob - E-Book

Gelogene Wahrheiten E-Book

Lo Jakob

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Beschreibung

Nicola Morell wurde von der Co-Mutter ihres Sohnes einfach sitzengelassen, und was kann eine mittellose Malerin dann schon machen, um über die Runden zu kommen? Sie wird zur besten Kunstfälscherin des Jahrhunderts. Das geht auch eine Zeit lang gut – bis Rike Tomme mit der Detektei Sander+Frenzel ins Spiel kommt. Die neue Mitarbeiterin von Luisa und Flix weiß gar nicht, worauf sie sich mit ihrer neuen Stelle eingelassen hat. Nach und nach gehen der Computerexpertin die Augen auf – vor allem, als sie der reizvollen Malerin Nicola Morell begegnet, die irgendwie in Dinge verstrickt zu sein scheint, die sie in Gefahr bringen können ...

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Seitenzahl: 386

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Lo Jakob

GELOGENE WAHRHEITEN

2. Teil der Serie»Detektei Sander+Frenzel«

© 2020édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-307-4

Kapitel 1

Flix

Flix schob ihren Putzwagen wie schon die letzten vierzehn Tage durch das Museum für alte Kulturen und ging dem nach, wofür sie hier angestellt worden war: Putzen.

Heute stand eine außerordentliche Putzaktion auf dem Plan, und sie und ihre Kolleginnen waren ausgeschwärmt wie die Heuschrecken. Es galt, sich an ein festes Zeitfenster zu halten, das hatte ihnen ihr Vorarbeiter solange eingehämmert, bis es ihnen zu den Ohren herauskam. Denn die Alarmanlage für die einzelnen Schaukästen würde ausgeschaltet werden. Genau für eine Stunde. Keine Sekunde länger.

Flix hatte ein gelangweiltes Gesicht gezogen und Kaugummi gekaut. Wie schon die letzten vierzehn Tage. Sie war stets der Inbegriff der nicht besonders hellen, verkrachten Partymaus, die schon bessere Zeiten erlebt hatte. Keiner hatte ihre Fassade angezweifelt, und heute würde sich das auszahlen.

Sie kam in dem ihr zugeteilten Raum an. Sie wäre zur Stelle, wie es ihr Vorarbeiter verlangt hatte. Nur wusste der Ärmste nichts von ihrem Plan.

Ganz wie befohlen nahm Flix den Staubwedel zur Hand und wartete auf die Lautsprecherdurchsage, die das Startsignal geben würde. Ihr Auftrag lautete, die Vitrinen sowie die Zimmerecken an der Decke zu entstauben. Aus naheliegenden Gründen wurde das nur einmal im Jahr gründlich gemacht. Und wenn es gemacht wurde, gab es so viele Sicherheitslücken, dass man wie durch eine Gardine durchschauen konnte.

Es war unglaublich, wie leicht das Museum es ihr machte. Das Sicherheitspersonal war zwar anwesend, konnte aber nicht überall gleichzeitig sein.

Flix würde nur exakt dreieinhalb Minuten allein im Raum mit abgeschalteten Sensoren brauchen. Das war alles. Und bisher war noch kein Sicherheitsmensch zu sehen, und nach ihrer Schätzung würde sie auch niemanden mehr zu sehen bekommen. Rein rechnerisch war die Wahrscheinlichkeit sehr gering. Sie hatte wie immer alles akribisch vorbereitet und geplant. Meisterdiebin blieb eben Meisterdiebin.

Mit dem Staubwedel in der Hand stellte sie etwas ungeschickt ihre mitgebrachte Aluleiter zurecht, um in der vom Eingang gesehen linken Ecke anzufangen mit der Spinnwebenbeseitigung. Das war die Vorgabe des Vorarbeiters, bis das Signal kam. Geradezu ideal für ihre Pläne.

Sie war sich die ganze Zeit bewusst, dass sie theoretisch beobachtet wurde. Jede Sekunde, jeder ihrer Schritte. Nämlich genau von der Überwachungskamera in der linken Ecke, in der jetzt ihre Leiter stand. Mit Sicherheit wurde das auch aufgezeichnet. Alles andere wäre grob fahrlässig gewesen.

Wie dem auch sei, sie gab eine hervorragende, fast schon an Slapstick grenzende Einlage: die dusselige Putzfrau und ihre Leiter. Harold Lloyd wäre stolz auf sie gewesen.

Flix kletterte hoch und fing umständlich an, Spinnweben wegzufeudeln. Mit dem Gesicht ganz dicht an der Kamera ließ sie ihre Kaugummiblase platzen. Das Spiel machte richtiggehend Spaß. Gleichzeitig war da dieses Kribbeln, diese geile Aufregung, die sie eine lange Zeit vermisst hatte. So langsam sollte das Signal mal kommen, dachte sie. Nicht weil sonst ihr Plan nicht klappte, sondern schlicht und ergreifend weil sie sich wie ein gedoptes Rennpferd in seiner Startbox fühlte. Sie wollte losrennen und nicht zurückschauen. Doch ihr Paps hatte sie gelehrt, genau diese Impulse gut unter Kontrolle zu halten. Die waren es nämlich, die einem einen Riesenärger einhandeln konnten. So wie den mit Dschafarow vor zwei Jahren. Das war ihr eine Lehre gewesen.

Flix atmete einmal tief durch und wedelte in aller Seelenruhe weiter. Spinnweben gab es schon lange keine mehr, aber das konnten ihre Beobachter am anderen Ende des Kamera-Signals ja nicht wissen.

Der alberne kurze Kittel in schreiendem Pink, den sie zur Arbeit hier im Museum tragen musste, kniff sie schon wieder ins rechte Schulterblatt. Wie gut, dass heute der letzte Tag war, an dem sie ihn tragen musste. Die armen Kolleginnen, die das nicht sagen konnten.

Das schrille Klingeln des Signals riss sie aus ihren abschweifenden Gedanken. Sie tat so, als ob sie erschrak und beim Versuch, schnell von der Leiter zu steigen, mit ihrem ausschlagenden Wedel die Kamera traf. Soooo ungeschickt!

Der Schlag war allerdings genau berechnet und drehte das Kameraauge aus seiner ausgeklügelten Position, in der es den ganzen Raum hatte erfassen können. Jetzt erfasste es nur noch die Wand ganz rechts. Für den Rest des Raumes war die Linse jetzt blind. Flix konnte, bis das bemerkt würde, machen, was sie wollte.

Sie sprang von der Leiter und war in zwei Sekunden bei der Vitrine, auf die sie es abgesehen hatte. Die Bewegungssensoren waren wie angekündigt auch hier tot. Ansonsten wäre der Alarm losgegangen, als sie jetzt kurzerhand das ganze Ensemble anhob. Der gläserne Kasten ließ sich ohne Weiteres vom Boden trennen, und vor ihr lag eine aus Schwanenknochen geschnitzte Urzeitflöte. Ein unbezahlbares, weltweit einzigartiges Artefakt. Wenn sie nicht schon Handschuhe angehabt hätte, hätte sie sich jetzt welche übergestülpt. Solche heiklen Gegenstände sollten nicht mit bloßen Händen berührt werden.

Aus dem Müllbeutel an ihrem Putzwagen holte Flix das Spezialgefäß heraus, das sie für diesen Moment dort deponiert hatte. Sie hatte es extra für die Flöte hergestellt. Gepolstert und wasserdicht würde es eine vorübergehende sichere Heimat für die Schwanenknochenflöte sein.

Vorsichtig transferierte sie das Artefakt von seiner Vitrine in die Box und ließ es sofort ins Putzwasser gleiten. Sanft sank es hinab und war in dem seifigen Wasser außer Sichtweite. Dann zog Flix einen lackierten Holznachbau, ebenfalls Marke Eigenbau, selbst geschnitzt und angemalt, aus dem Müllsack und deponierte ihn in der Vitrine. Glaskasten wieder drauf. Fertig.

Blick auf die Uhr. Die ganze Aktion hatte seit Ertönen des Signals zwei Minuten und siebenunddreißig Sekunden gedauert. Sie war noch schneller, als sie es gedacht hatte. Flix war von sich selbst ganz begeistert und davon, dass ihre Fähigkeiten kein Stück rostig geworden waren. Sie gemahnte sich allerdings sofort zur Vernunft und schnappte sich wieder den Staubwedel. Sie ging zur am weitesten entfernten Vitrine und fing dort an, mit Wedel und antistatischem Tuch ihrem Job nachzugehen.

So wurde sie dann auch vom Sicherheitsmann gefunden, der wegen der aus der Position geratenen Kamera angerannt kam. Flix ließ ihren Kaugummi knallen und spielte die von Partydrogen dusselig gewordene Putzkraft, die alle im Museum schon kannten, weil sie wirklich knalldoof und schon nach vierzehn Tagen bekannt wie ein bunter Hund dafür war.

Er lachte nur gehässig über ihre saudämliche Begründung für die Sache mit der Kamera, stieg auf ihre Leiter und schob das Ding angeleitet über sein Walkie-Talkie in Position zurück.

Flix arbeitete sich währenddessen von einer Vitrine zur anderen. Der Wachmann schenkte ihr beim Verlassen des Raumes ein hämisches Grinsen und ließ sie allein zurück. Von einer Dumpfbacke wie ihr erwartete er nichts, außer dass sie vielleicht so dämlich war, über eine Vitrine zu stolpern. Ihr Schatzkistchen im Putzwasser war in Sicherheit, solange sie nur ihr Image aufrechterhielt.

Als die Vorwarnung erklang, dass das Alarmsystem wieder aktiviert wurde, war sie mit allem fertig, was ihr aufgetragen worden war.

Sie schlenderte mit einem neuen Kaugummi im Mund durch die Flure und schob gelangweilt ihren Putzwagen vor sich her. Innerlich war sie aber das Gegenteil. Alles in ihr vibrierte mit Leben und wurde mit Adrenalin durchgespült bis in die Haarspitzen. Ein saugutes Gefühl, das sie nicht durchschimmern lassen durfte.

Ihre Kaugummiblasen wurden immer größer, und als sie den ersten Kolleginnen begegnete, verdrehten die nur die Augen.

Auf den kommenden Moment hatte Flix sich sehr gut vorbereitet. Jetzt würde es noch mal heikel werden. Sie musste die Box mit der Flöte aus dem Putzwasser unbeobachtet in ihre Tasche verfrachten. Als Vorbereitung darauf hatte sie schon seit ihrem ersten Arbeitstag als Raumpflegerin im Museum dafür gesorgt, dass sie für das Auswischen der Putzeimer zuständig war. Sie hatte behauptet, dass sie das gern machte, und da alle anderen Frauen nach Schichtende nichts wie raus wollten, um für die aus der Schule kommenden Kinder zu kochen, überließen sie ihr das nur allzu gern. Wer wischte schon gern die Putzeimer aus, wenn es solch eine Hohlbirne wie Flix gab?

Keine fünf Minuten später stand sie also allein da mit acht geleerten Eimern und ihrem immer noch mit schmutzigem Seifenwasser gefüllten. Die letzte Kollegin winkte ihr noch freundlich und sogar mit einem Dank zu, und Flix hörte die Tür ins Schloss fallen, als sie gerade Eimer Nummer vier auswischte und in seinen Wagen zurückstellte.

In aller Seelenruhe angelte sie die Spezialbox aus dem Schmutzwasser, trocknete sie am Handtuchautomaten ab und huschte eilig zu ihrem Spind im Nebenraum. Ihr Rucksack hatte einen doppelten Boden, und da hinein verschwand die Tausende von Jahren alte Schwanenknochenflöte. Bestens behütet in der Obhut einer der besten Diebinnen der Neuzeit.

Flix grinste. Es war Schichtende, und sie hatte den spektakulärsten Kunstraub der letzten Jahre begangen, ohne geschnappt zu werden. Fast war sie ein wenig enttäuscht darüber, wie leicht das gelaufen war. War sie vielleicht einfach zu gut in ihrem Job?

Sie würde jetzt noch zügig die letzten Eimer auswischen, und dann wäre sie raus hier. Für immer. Putzen war ja so gaaaar nicht ihr Ding.

Rike

Zusammen mit ihrer Chefin Luisa Sander saß Rike in der Besprechung mit der Museumsleitung. Die Schwanenknochenflöte lag vor ihnen auf dem Konferenztisch, und die Herrschaften ihnen gegenüber waren im Zustand schweren Schocks. Sie blinzelten alle ungläubig, und Rike konnte zumindest beim Sicherheitschef den Blutdruck an der stetig röter werdenden Gesichtsfarbe ansteigen sehen.

Es war das erste Mal, dass sie ihre neue Chefin, für die sie erst seit ein paar Monaten arbeitete, so in Aktion sah. Säße sie auf der anderen Seite, sie hätte wohl eine gehörige Portion Respekt vor ihr gehabt. Vielleicht sogar ein bisschen Angst. Die Kuratorin des Museums sah auf alle Fälle so aus, als ob sie in ihrem Businesskostüm schlottern würde. Vielleicht hatte sie aber auch nur Angst um das kostbare Artefakt.

Rike hatte bisher nichts gesagt und hatte auch weiterhin vor sich zurückzuhalten. Das hier war nicht ihr Projekt gewesen. Sie war lediglich für die Imagepflege dabei. Die Detektei Sander+Frenzel nahm das hier sehr ernst, sollte ihre Anwesenheit zeigen. Und Flix hatte aus naheliegenden Gründen nicht mitkommen können.

Rike war noch immer über allen Maßen erschüttert – und zugegebenermaßen auch voller Hochachtung – darüber, mit welcher unglaublichen Frechheit und Genialität Flix das Sicherheitssystem ausgetrickst hatte. Im vollen Einverständnis ihrer Auftraggeber. Den gleichen Herrschaften, die ihnen jetzt gegenübersaßen. Die waren nämlich vor diesem Sicherheitscheck vollständig von ihrem undurchdringlichen und feinmaschigen Schutz überzeugt. Vor allem der rotgesichtige und überhebliche Sicherheitschef. Weshalb Rike auch keinen Funken Mitleid mit ihm verspürte, als jetzt die Kulturbürgermeisterin, die den Sicherheitscheck eingefordert hatte, ein großes Donnerwetter losbrechen ließ. Und es galt nicht Luisa und ihr.

Ihre Chefin schenkte ihr aus ihren kalten grauen Augen einen Blick, den Rike nicht deuten konnte. Überhaupt konnte sie Luisa Sander sehr schlecht einschätzen. Sie war Rike zu unterkühlt. Deren Lebensgefährtin und Geschäftspartnerin Flix war hingegen das totale Gegenteil, und mit ihr hatte Rike gleich einen Draht gehabt. Fast wünschte sie sich, dass die jetzt hier säße. Aber natürlich musste sie lernen, mit Luisa auf professioneller Ebene auszukommen. Sie lüpfte deshalb fragend eine Augenbraue – so subtil, dass das hoffentlich keiner der Anwesenden bemerkte. Aber die waren sowieso zu sehr mit ihrer Standpauke beschäftigt. Worte wie »inkompetent« und »Kindergarten« fielen.

Sie wäre fast vom Stuhl gekippt, als ein triumphierendes kleines Lächeln zurückkam. Ein fast unmerkliches Zucken der Mundwinkel, aber es war ganz eindeutig. Luisa Sander freute sich offensichtlich tierisch, was für ein Coup ihnen geglückt war, und wollte sie daran teilhaben lassen. Vielleicht würde das doch noch was werden mit dem Arbeitsverhältnis zwischen ihnen.

Rike zwinkerte unauffällig hinüber. Ihre tiefbraunen Augen konnten ihre Erheiterung sehr gut widerspiegeln. Wenn sie gut drauf war. Was sie im letzten Jahr nicht wirklich oft gewesen war, aber jetzt hier in diesem Moment, als ihnen die Anwesenden aus der Hand fraßen und sie für Sicherheitsgenies hielten, da ging es ihr richtig gut.

Dank Flix’ Expertise waren sie sogar tatsächlich Sicherheitsgenies. Rike hätte es wirklich interessiert, woher ihre zweite Chefin dieses ganze Spezialwissen hatte. Wobei . . . bei genauerer Überlegung . . . vielleicht war es besser, sie wusste das nicht allzu genau.

»Woher wissen wir denn, dass das hier das Original ist? Das könnte genauso gut eine geschickte Fälschung sein, und das Original liegt weiterhin gut gesichert in seiner Vitrine«, fragte die Kuratorin, die bisher vorwiegend geschwiegen hatte. Sie war eine für den Job noch sehr junge Frau, und Selbstbewusstsein war kein herausragender Wesenszug bei ihr. Sie schien sich in allen Fragen, die nicht die Ausstellungsstücke selbst betrafen, vollkommen auf den Sicherheitschef zu verlassen, der so viel testosterongesteuerte Selbstüberzeugung ausstrahlte, dass die Kuratorin neben ihm ganz verblasste.

Nicht so die Kulturbürgermeisterin. Sie war eine Frau, der man nicht so schnell das Wasser abtrug. Luisa anscheinend auch nicht, deshalb ließ sie die Kuratorin kaum ausreden und dem Sicherheitschef keine Chance, direkt reinzugrätschen.

»Dann schlage ich vor, Sie sehen mal nach. Holen Sie es doch her«, erwiderte Luisa gelassen.

Die Kulturbürgermeisterin war nicht begeistert von diesem Vorschlag, musste aber wohl erlauben, dass diese Möglichkeit ausgeschlossen wurde. »Tun Sie das. Aber zügig, wenn ich bitten darf.«

Während der Sicherheitschef zusammen mit der Kuratorin verschwand, versorgte sich der Rest der Runde mit Getränken.

Rike nahm die Gelegenheit wahr, auf die Toilette zu gehen. Das war ihre große Schwäche: Sie hatte ein Pennälerbläschen. Eine ihrer Schwächen, die in Besprechungen und anderen Geschäftsterminen immer sehr lästig war. Ein Freund, mit dem sie exzessiv Spiele am Computer und der Konsole spielte, hatte ihr mal Windeln vorgeschlagen. Damit sie länger durchhielt. Aber das war ein Schritt in ihrer Spielsucht, den sie nicht gehen würde. Auf gar keinen Fall.

Rike trat wieder aus der Kabine und überprüfte ihr Äußeres, das ihr in letzter Zeit gar nicht gefiel. Aber Hauptsache, sie sah aus wie eine ernstzunehmende Mitarbeiterin der Detektei.

Die Klamotten jedenfalls stimmten. Sie hatte einen dunklen Pulli an und eine dunkle Bluse darunter. Die Stoffhose saß perfekt, seit sie ein paar Kilo abgenommen hatte. Wofür Trennungen alles gut waren. Die dunklen Augen und ihre kaffeefarbene Haut hatte sie von ihrem Vater geerbt, der aus Martinique stammte. Zusammen mit ihrem französischen Namen: Frédérique. Meist wurde er in Deutschland für einen Männernamen gehalten. Aber das ärgerte sie nur noch selten. Sie kürzte ihn einfach zu Rike ab, und das Problem war gelöst.

Rike zog ein unteres Augenlid herunter und starrte in ihr Auge. Sie fand sich blass, ihre Augen hatten ihr Strahlen verloren. Auch der Trennung zu verdanken. Früher war sie immer zufrieden gewesen mit ihrer Optik. Wenn Frauen ihr Komplimente machen wollten, hatten sie sie immer als exotische schwarze Schönheit tituliert. Was natürlich krass rassistisch war, aber sie hatte es trotzdem auch genießen können. Auf schräge Art. Irgendwie. So wie manche Frauen es angeblich gut fanden, wenn ihnen Bauarbeiter lüstern hinterherpfiffen. Sie hatte zwar noch keine getroffen, der das tatsächlich schmeichelte, aber die sollte es hypothetisch geben.

Die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegensah, war auf alle Fälle keine exotische Schönheit, sondern lediglich eine Einundvierzigjährige, die von ihrer langjährigen Lebensgefährtin für eine andere verlassen worden war und deshalb nach fast einem Jahr immer noch vollkommen ausgelaugt und traurig war. Und auch genau so aussah. Wie eine Abservierte, die dadurch ihr ganzes Selbstbewusstsein verloren hatte. Toll. Vielleicht war sie doch nicht so viel anders als die Kuratorin. Vielleicht hatte die ja auch eine fiese Trennung hinter sich.

Rike wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und ging zurück zu ihrer neunundzwanzigjährigen blonden Chefin, die, wenn sie lange Haare gehabt hätte und nicht superkurz geschoren wäre, auch Modell hätte sein können. Vielleicht ein bisschen zu muskulös und zu wenig dürr dafür, aber das machte sie definitiv mit ihren großflächigen Tätowierungen wett. Werbung für Motorräder – das wäre es. Luisa wäre perfekt dafür. Aber offensichtlich war sie in ihrem Beruf auch sehr gut. Sonst säßen sie nicht hier. Solche Aufträge bekam nicht jede popelige Detektei. Luisa Sander sah nicht nur gut aus, sie hatte auch noch was auf dem Kasten. Toll. Noch mehr Minderwertigkeitskomplexe gefällig?

Gerade rechtzeitig für den Showdown setzte Rike sich wieder an den Konferenztisch. Der Sicherheitschef legte mit seinen behandschuhten Händen Flix’ Fälschung, wie ein Heiligtum auf ein Polster gebettet, auf den Tisch. Dafür, dass Flix keine Archäotechnikerin war – den Begriff für Menschen, die historische Artefakte mit den Hilfsmitteln der jeweiligen Epoche nachbauten, hatte Rike neulich erst gelernt – sah das Ding wirklich verblüffend echt aus. Selbst die Kuratorin schien zu denken, dass sie das Echte aus der Vitrine gezogen hatten und die Detektei eine Fälschung angebracht hatte. Das sah man an den zuversichtlichen Minen. Bei genauerer Untersuchung würde es natürlich auffliegen. Das war klar. Und Luisa würde diese Seifenblase jetzt zum Platzen bringen.

Aber stattdessen erhielt Rike einen kleinen Stupser mit der Schulter und wertete das als Aufforderung, dass sie sagen durfte, was jetzt gesagt werden musste. Der große Bäng.

Kurz war sie verblüfft, fing sich aber schnell. Es war ihr eine Ehre. »Wir sind uns einig, dass wir dieses Objekt hier«, sie zeigte auf das echte Artefakt, »in der Transportbox mitgebracht haben und Sie das Objekt auf dem grünen Polster«, jetzt zeigte sie auf Flix’ Fälschung, »soeben aus der Vitrine des Museums geholt haben. Korrekt?«, fragte Rike in die Runde.

Die Kulturbürgermeisterin schien wie auf Kohlen zu sitzen, denn sie wedelte sämtliche Einwände und Proteste, die von Seiten der Museumsleute kommen wollten, einfach weg. »Ja, ja, da sind wir uns einig. Und jetzt? Für mich sehen die gleich aus. Aber ich nehme an, sie belehren mich gleich eines Besseren?«

Rike hatte das Gefühl, der Mittfünfzigerin machte das hier so langsam Spaß. Es war ja auch ein herrliches Verwirrspiel. Eine richtige Charade. Wenn der eigene Job nicht auf dem Spiel stand. Das tat er vermutlich beim Sicherheitschef. Zumindest, wenn er sich weiterhin so uneinsichtig zeigte. Fehler zu machen war ja durchaus menschlich, aber so borniert zu sein und sie nicht eingestehen zu wollen, das konnte sich niemand erlauben. Nicht in solch einer heiklen Position. Wäre die Schwanenknochenflöte wirklich gestohlen worden, wäre sie mit Sicherheit in irgendeiner geheimen Privatsammlung gelandet und auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ein nicht mit Geld aufzuwiegender Verlust. Artefakte wie dieses waren unbezahlbar, weil sie einmalig waren. Das durfte man einfach nicht durch Borniertheit aufs Spiel setzen. Das wusste auch die Kulturbürgermeisterin und hatte dafür die Detektei engagiert, weil es ihr Spezialgebiet war. Kunstexpertisen und Sicherheitslücken.

Rike war keine Kunstexpertin. Dafür gab es Flix in der Detektei. Sie selbst war Computerspezialistin. Eine perfekte Ergänzung für die junge Detektei, wie ihre neuen Chefinnen beim Einstellungsgespräch erklärt hatten. Und sie musste zugeben, sie hatte einfach Spaß beim Arbeiten. Jetzt gleich mit Sicherheit noch sehr viel mehr als sonst.

»Wenn Sie bitte das Objekt vom grünen Polster aufnehmen würden«, bat Rike.

Dieses Mal wollte die Kuratorin protestieren, aber auch sie wurde weggewedelt. Die Kulturbürgermeisterin fieberte geradezu mit. »Tun Sie es einfach. Ich nehme an, Frau Tomme weiß genau, warum sie Sie darum bittet. Und ich muss sagen, ich bin gespannt wie ein Flitzebogen, was jetzt kommt.«

Rike holte die spitz zulaufende Pinzette aus ihrem Mäppchen, die sie dort für genau diesen Anlass gebunkert hatte, und reichte sie über den Tisch. »Jetzt greifen Sie bitte mit Hilfe der Pinzette in das dritte Schallloch und holen den Zettel heraus, der da drinsteckt.«

Die Kuratorin schaute sie an, als ob sie nicht ganz knusper wäre und sie ihr kein Wort glauben würde. Auf ein Räuspern der Kulturbürgermeisterin trat sie jedoch in Aktion. Es bedurfte keiner großen Mühen. Sie hatte den Zettel sofort und zog ihn heraus.

Die Spannung im Raum war fast zum Greifen. Alle starrten auf den Zettel. Luisa Sanders Gesicht zierte ein Lächeln, das besagte, dass sie wusste, was darauf stand und sie sich auf die Reaktionen freute.

Die Kuratorin faltete ihn auf ein ungeduldiges Zeichen der Kulturbürgermeisterin hin auseinander und hielt ihn in die Runde. Drei mal drei Zentimeter groß. Darauf stand in schöner Schreibschrift und in Neongrün ÄTSCH! und darunter made in Berlin. Flix’ Humor war einfach rotzfrech. Und würde ihr irgendwann mal noch Ärger einhandeln.

Aber heute war nicht der Tag. Die Kulturbürgermeisterin lachte röhrend los, dass die Wände wackelten.

Nickel

Nicola ›Nickel‹ Morell nutzte die tote Zeit in ihrer Galerie, um das zu tun, was sie am besten konnte. Sie nannte es lapidar immer Malen nach Zahlen. Aber natürlich war das weit von der Wahrheit entfernt. In Wirklichkeit schuf sie wahrhafte Kunstwerke, die ihresgleichen suchten. Es wusste nur niemand. So gut wie niemand. Und das war ganz genau so, wie es sein sollte. Denn sonst wäre ihrer ›Kunst‹ im wahrsten Sinne des Wortes ein Riegel vorgeschoben worden. Nämlich der an der Tür zu ihrer Gefängniszelle.

Sie musste bei dem Gedanken grinsen, und ihr Mund verzog sich schief. Sie wusste, ihr Grinsen verriet ziemlich genau, wie es mit ihrem Innersten bestellt war. Man konnte ihrem Gesicht dann, wenn sich ihr großzügig geschnittener Mund so schief verzog, angeblich ansehen, dass sie eine Art Dämon in sich trug. Zumindest hatte es so ihre Ex formuliert, bevor sie sie und ihren gemeinsamen anderthalbjährigen Sohn verlassen hatte.

Die Jahre seither – ziemlich genau zehn Jahre und sechs Monate waren das – hatte Nickel immer wieder in den Spiegel gestarrt und das versucht zu verifizieren. Sie musste zugeben, dass ihr Grinsen nicht gerade schön war. Eher etwas, das zeigte, dass sie schon allerhand gesehen hatte und nicht mehr jung und naiv war. Aber einen Dämon hatte sie noch nicht sehen können. Vielleicht brauchte man auch einfach eine gute Ausrede, um die Partnerin mit einem Kleinkind sitzenlassen zu können.

Nickel wischte ihren Pinsel ab, weil sie völlig aus dem Takt geraten war bei diesen dämlichen Gedanken.

Sie wollte gerade mit einem frisch gemischten Klecks dunkelgrüner Farbe neu ansetzen, als Tristan zur Tür ihres kleinen Ateliers in den Hinterzimmern der Galerie hereingestürmt kam.

Sie hatte ihm schon oft gesagt, dass er damit mal noch ihren plötzlichen Herztod auslösen würde, aber die Pubertät schlug bei ihm mächtig auf das Gehör.

»Das war’s. Ich geh nie wieder in die Schule.«

Er warf seine Schultasche in die Ecke und ließ sich in einen roten Sitzsack fallen, den sie hauptsächlich für ihn in ihrem Studio hatte.

Das Knirschen der vielen kleinen Kunststoffkügelchen, mit denen er gefüllt war, ließ die feinen Härchen an ihren Armen sich aufstellen. Aber beim Anblick ihres Sohnes vergaß sie das ganz schnell wieder. Das schien nicht die übliche Krise zu sein, sondern schwerwiegender. Zumindest sah sein Gesichtsausdruck wirklich finster aus. Aber sie hatte schon öfter feststellen müssen, dass sie beim Interpretieren von Jungs diesen Alters wirklich ganz schlecht war. Sie kam sich vollkommen unfähig vor.

Nickel setzte sich auf den Boden neben ihn. »Was ist los?«, fragte sie und hoffte, darauf auch eine Antwort zu erhalten. Früher hatte sie ihn in den Arm nehmen dürfen, wenn er traurig war. Aber das war schon lange vorbei. Jetzt war Tristan viel zu cool dafür.

»Ich geh nicht mehr hin. Das war es einfach.« Er sah sie gar nicht an, sondern spielte nur mit seinem Handy.

Dass Tristan ihr Sohn war, sah man sofort. Er sah ihr wahnsinnig ähnlich. Sie hatten beide den gleichen etwas zu großzügig geschnittenen Mund. Die gerade Nase darüber und die großen Augen, die wohl ihr bestes Merkmal waren. Nickel war gespannt, wie diese Kombination später mal in einem Männergesicht wirken würde. Als Frau machte es sie nämlich interessant, aber nicht gerade zu einer wirklichen Schönheit. Vielleicht wäre es später, wenn Tristan erwachsen war, ja durchaus markant. Ihre mausbraunen Spaghettihaare halfen dem Ganzen jedenfalls nicht gerade. Egal ob Mann oder Frau. Trotzdem sah ihr Sohn irrsinnig süß aus. Auch wenn er gerade anscheinend das ganze Elend dieser Welt auf seinen schmalen zwölfjährigen Schultern trug.

»Und erzählst du mir, was passiert ist, dass du zu solch einer dramatischen Entscheidung gekommen bist?« Nickel versuchte es mit einem lockeren Ton.

»Nichts«, lautete die Antwort, die sie erhielt. Es war zum Haareraufen. Aber sie versuchte, sich ihre Frustration nicht anmerken zu lassen.

»›Nichts‹ ist natürlich ein guter Grund. Ja, das seh’ ich ein.« Nickel verzog das Gesicht.

Tristan hatte früher immer lachen müssen, als er noch kleiner war, wenn sie lustige Grimassen schnitt. Aber irgendwie war das abhandengekommen und zog nicht mehr. Er rollte nur genervt mit den Augen. »Gott, du bist so peinlich.«

Ihr Sohn wurde unglaublich schnell groß und war doch noch ein halbes Kind mit zwölf. Jetzt war einer der Momente, in dem Nickel sich eine Partnerin an der Seite gewünscht hätte, die sie unterstützen würde. Sie wusste einfach nicht mehr, wie sie an den Jungen herankommen sollte. Er ließ sie einfach nicht mehr rein.

Meistens saß er am Rechner oder an der Konsole und spielte. Stundenlang. All ihre Versuche, etwas gemeinsam zu unternehmen, blockte er ab. Als ob sie ihm etwas getan hätte. Aber sie war sich keiner Schuld bewusst. Außer der, dass sie ihn allein erzog und sein Vater Samenspender aus einer Samenbank war. Reichte vielleicht schon aus. Aber ob er ihr das nachtrug, wusste sie noch nicht mal. Er hatte es jedenfalls noch nie gesagt. Weil er einfach gar nichts mehr erzählte.

War sie auch so gewesen, als sie in der Pubertät war? Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, sooo extrem gewesen zu sein. Aber sie hatte sich das als Pflegekind auch gar nicht leisten können. Der Gedanke machte sie wütend auf Tristan, der gar nicht wusste, wie gut er es hatte.

Vielleicht hätte sie einfach einen Moment warten sollen, bevor sie aussprach, was ihr in den Sinn schoss. »Dir ist schon klar, dass es keine Option ist, dass du nicht mehr in die Schule gehst?« Sie wusste sofort, dass das komplett das Falsche war, was sie da gerade gesagt hatte.

Tristans Kopf schnellte wütend hoch, und er funkelte sie aus verwaschenen blauen Augen an. »Und dir ist schon klar, wenn ich dich verpfeife, dass du dann in den Knast kommst und ich tun und lassen kann, was ich will?«

Das war natürlich völlig absurd. Trotzdem war Nickel echt schockiert, dass er so was sagte. Es verletzte sie wirklich. »Willst du deiner eigenen Mutter drohen?«, fragte sie deshalb und hörte, wie ihre eigene Stimme ganz atemlos klang.

Aber Tristan bockte einfach nur weiter. »Willst du deinen eigenen Sohn zu etwas zwingen, was er nicht will?« Er sprang auf, bevor sie reagieren konnte, schnappte sich seine Tasche und rannte hinaus. Nickel hörte Türen knallen, dann Getrampel auf der Treppe und Schritte oben in der Wohnung.

Bravo. Das war ja wunderbar gelaufen.

Sie war als Mutter ein Totalausfall. Auf ganzer Linie hatte sie versagt. Sie wusste noch nicht einmal, was sie jetzt wieder falsch gemacht hatte. Na ja, gut, der eine Satz war nicht gerade feinfühlig gewesen. Sie hatte daher wohl ein Stück weit verdient, was er gesagt hatte. Doch sie wusste, dass er das nie machen würde, sie anzeigen. Im Grunde waren sie doch immer noch ein Zweiergespann gegen den Rest der Welt.

Sie würde ihn erst einmal seinen Ärger am Computer wegballern lassen und dann später in aller Ruhe versuchen herauszufinden, was los war. Auch wenn es ihr gerade schwerfiel.

Aufgewühlt wandte Nickel sich wieder ihrem Gemälde zu. Ein amerikanischer Maler des ausgehenden neunzehnten, beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. Eher unbekannt in Europa. Bretonische Fischerboote im Hafen. Ein hübsches Bild. Kein Meisterwerk, aber gut, solide.

Sie fragte nie, wofür ihre Auftraggeber die originalgetreuen Fälschungen brauchten. Sich damit herauszureden, dass sie für die Wohnzimmerwand waren, würde ihr aber trotzdem nichts helfen. Denn wieso konnte sie dann nicht selbst ihr eigenes Kürzel daruntersetzen und das Bild signieren? Warum musste sie sogar die Unterschrift der gefälschten Kollegen bis aufs Kleinste kopieren? Doch nur aus einem Grund. Sie musste sich nichts vormachen. Schon oft genug hatte sie aus den Medien erfahren, dass eines der Bilder, die sie kopiert hatte, als gestohlen gemeldet wurde. Oft erst Jahre später.

Dieser Gedanke lockte ein Schmunzeln hervor, trotz der düsteren Gedankengänge. So gut waren ihre Kunstwerke. So nah am Original. Dass es erst bei genauen Untersuchungen auffiel, dass sie ausgetauscht worden waren. Von wem und wie ging sie nichts an. Das war nicht ihre Sorge.

Grundsätzlich war sie sowieso der Ansicht, dass es irre war, dass manche Gemälde riesige Millionenbeträge bei Versteigerungen einbrachten. Ein Jackson Pollock, von dem sie als Maler sowieso nicht viel hielt – weil Tristan das in einem seiner Tobsuchtsanfälle ebenso auf die Leinwand hätte schmieren können, rein technisch betrachtet –, hatte hundertvierzig Millionen Dollar bei einer Versteigerung eingebracht. Hundertvierzig Millionen! Das war doch nicht mehr an der Realität gemessen. Die Künstler, die die Bilder gemalt hatten, waren eh schon lange tot, und wer daran verdiente, waren die Kunsthändler und sonst niemand. Ein perverses Geschäft. Von dem sie eben auch ein paar Krumen abbekam. So war das.

Hätte sie von ihren eigenen Bildern und denen der anderen unbekannten Künstler, die sie in ihrer Galerie ausstellte, leben wollen, wären sie und Tristan schon längst verhungert. Das war Realität. Nickel fand es moralisch absolut gerechtfertigt, was sie tat. Auch wenn es rein juristisch betrachtet eine Straftat war. Was nur mal wieder zeigte, wie weit die Gesetze von den Menschen entfernt waren. Mehr nicht.

Luisa

Auf jeden Fall heißt es jetzt, ein ganz neues Sicherheitskonzept zu entwerfen. Die Kulturbürgermeisterin will es lieber gestern als heute auf ihrem Schreibtisch haben. Es ist also alles ganz genau so gelaufen, wie wir es gewollt haben. Wenn wir jetzt richtig nachlegen, sind wir ganz dick im Geschäft mit den Museen in Deutschland. Vielleicht sogar über die Grenzen hinaus«, schloss Luisa ihren Bericht in den Räumen der Detektei Sander+Frenzel ab.

Flix grinste so breit und selbstgefällig, dass Luisa sich über ihre Freundin innerlich schrecklich amüsieren musste. Aber gegenüber den Angestellten war das ja nicht angesagt. Zumindest in ihrem professionellen Verständnis. Flix hingegen hatte überhaupt keine Bedenken, sich albern zu zeigen und gewohnt idiotische Sachen abzuziehen.

Die Geschäfte liefen schon vor diesem Auftrag sehr gut. So gut, dass sie sich vor einem Jahr diese überdimensionierten Geschäftsräume angemietet hatten. Inklusive Halbtags-Sekretärin. Saskia Bauer saß Flix gegenüber und grinste mit ihr mit. Sie war für jeden Schabernack zu haben. Frédérique Tomme war seit zwei Monaten ihr neuester Zugang und sah fast so ernst aus wie Luisa. Eine Computerspezialistin hatte ihnen noch gefehlt, und Luisa hatte sie über ihre Polizeikontakte aufgetrieben. Sie war zwar bisher noch nicht mit Rike – wie sie sich nennen ließ – warm geworden, aber rein professionell lief es bisher sehr gut. Sie hatten die richtige Wahl getroffen. Flix fand das auch. Die hatte natürlich wie immer sofort Freundschaft geschlossen. Soweit man Freundschaft mit der etwas zurückhaltenden Frau schließen konnte.

Die Stimmung war gelöst, trotz professionellem Setting. Sie saßen mit ihren frisch gefüllten Kaffeetassen und Sandwiches am Besprechungstisch – einem günstigen Ikeamöbel, das absolut seinen Zweck erfüllte. Eine kurze Mittagspause, bevor es genauso hektisch weiterging, wie der Vormittag angefangen hatte. Vielleicht war eine neue Mitarbeiterin einfach zu wenig. Vielleicht sollten sie noch jemanden suchen, überlegte Luisa, während sie einen Bissen ihres Mozzarellatramezzini kaute. Schließlich wollte sie auch noch Zeit mit ihrer Freundin verbringen, in der sie nicht arbeiten mussten.

Flix riss sie aus ihren Gedanken. »Hast du auch gesagt, dass der alberne Kittel, in dem die Frauen putzen müssen, verschwinden muss? Das ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte.«

Typisch Flix. Völlig am Thema vorbei. Und so endlos liebenswert, dass Luisa sie am liebsten sofort dafür geknutscht hätte, wenn das nicht ihrem mühsam errichteten Image der sachlichen Chefin vollkommen widersprochen hätte.

»Das habe ich natürlich nicht gesagt! Du weißt genau, dass das Ganze eh schon riskant genug war. Auch ohne dass ich ihnen aufs Brot schmiere, wie genau du an die Flöte gekommen bist.«

Flix warf gekonnt eine Kirschtomate in die Luft, die dann gezielt in ihrem Mund landete. Alte Angeberin, geliebte. Kauend wandte sie ein: »Wir werden es ihnen sowieso sagen müssen. Schon allein damit nicht jemand anderes auf die gleiche Idee kommt.«

Ihre beiden Angestellten hielten sich aus der Auseinandersetzung wohlweislich heraus. Saskia, weil sie sich eigentlich nie inhaltlich beteiligte, wenn es nicht gerade um konkrete Büroangelegenheiten ging. Und Rike musste dezidiert um ihre Meinung gebeten werden. Was sie dann sagte, war immer erschreckend auf den Punkt und durchdacht. Ungefragt mischte sie sich jedoch so gut wie nie ein. Vor allem, wenn sich die Chefinnen ein bisschen kabbelten wie jetzt gerade. Luisa hoffte, dass sich das mit der Zeit noch ändern würde.

Jetzt führte sie ihren Sachstreit mit Flix eben allein aus. »Im Zuge der Neustrukturierung ihrer Sicherheitsmaßnahmen«, konterte sie ihrer Freundin, die wie immer alles zu locker nahm, »ist das natürlich angebracht. Aber heute hätte es die Gemüter nur noch mehr in Wallung gebracht.«

Das ließ Flix aufhorchen. »Die Gemüter waren in Wallung?«, fragte sie erfreut. »Besonders nach meinem Zettel, was? Ich hätte die Gesichter zu gern gesehen.«

Rike musste über Flix’ kindliche Schadenfreude lachen. Und jetzt endlich erlaubte sie sich einen Kommentar. Wie immer brauchte es Flix und ihre unbesorgte Art, um sie aus der Reserve zu locken. »Das hättest du wirklich sehen müssen. Ich dachte, der Kuratorin fallen ihre Inlays raus. Und das Lachen der Kulturbürgermeisterin hätte fast die Fensterscheiben zum Bersten gebracht. Aber dem Sicherheitschef hättest du in dem Moment nicht gegenübersitzen wollen. Der hätte dich garantiert erwürgt.«

Flix sprang übermütig auf und rannte um den Besprechungstisch herum. »Das hätte er mal versuchen sollen. Ich bin nicht zu fassen.«

Wie recht sie hatte, konnte Rike nicht wissen. Aber Luisa wusste es und konnte auch nicht länger an sich halten. Sie musste über ihre geliebte Flix und ihre Albernheiten einfach lachen. Rike sah sie an, als ob sie plötzlich Hörner hätte oder zwei Köpfe. Vielleicht sollte sie doch öfter mal lachen im Büro? Sie wollte ja nicht die Angestellten verstören, wenn sie es mal tat. Oder zu ihrem Vater mutieren. Dieser Gedanke ernüchterte sie. Zumal sie ein Treffen mit ihm anstehen hatte.

Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es langsam Zeit wurde zu gehen. Sie musste das erste Treffen nach ihrem Abgang aus seiner Detektei vor zwei Jahren ja nicht gleich durch Unpünktlichkeit ruinieren. Egon Sander hasste Unpünktlichkeit. Dann bräuchte sie gar nicht erst aufzutauchen.

Luisa verließ Knall auf Fall und in Gedanken die Besprechung. Sie fuhr mit dem Auto in ihr altes Revier. Oder besser gesagt, das Revier rund um die alte Detektei Sander, die sie wie ihre Westentasche kannte, aber nicht mochte.

Sie betrat das Sportwettencafé und sah ihren Vater sofort. Ein furchtbarer Treffpunkt, aber es war sein Vorschlag gewesen. Es passte zu ihm wie die Faust aufs Auge.

Die Raucherkneipe beherbergte mehrere Spielautomaten, zwei riesige Fernseher, auf denen durchgehend Sky Sport lief, und die Sorte männliche Klientel, mit der sich ihr Vater schon seit Jahren am wohlsten fühlte.

Luisa erwartete nicht besonders viel von dieser Begegnung. Eigentlich wappnete sie sich sogar für alles Schlechte, was da kommen konnte. Es konnte eigentlich nichts Gutes sein, war es schließlich noch nie. Warum war sie eigentlich überhaupt gekommen? Fast ärgerte sie sich über sich selbst. Sie hatte sich doch bei ihrem Abgang geschworen, dass sie mit ihm fertig war. Aber er war eben ihr Vater.

Egon Sander saß an einem Spielautomaten und schien sich nicht darum zu kümmern, was um ihn herum vor sich ging. Aber sie wusste, das täuschte. Ihr Vater war einer der besten Observierer, den sie kannte. Er hatte Augen am Hinterkopf und wusste mit Sicherheit schon, dass sie die Örtlichkeit betreten hatte.

Sie ging zu ihm. »Du wolltest mich sprechen«, kam sie sofort auf den Punkt. Auf Höflichkeitsfloskeln hatte er noch nie Wert gelegt.

Er zuckte noch nicht einmal mit der Wimper, dass seine Tochter, die er fast zwei Jahre nicht gesehen hatte, ihn noch nicht einmal begrüßte und nach seinem Befinden fragte. »Hol dir ein Bier, du fällst sonst auf.« Sein üblicher schlechtgelaunter Tonfall. Er schenkte ihr nicht einmal einen Blick.

Warum es etwas ausmachte, dass sie auffiel, war ihr zwar schleierhaft, aber okay. Luisa tat, wie ihr geheißen. Aber nur, weil sie heute gnädig gestimmt war nach ihrem Termin im Museum für alte Kulturen. Sie brachte ihm auch ein frisches mit und stellte es neben den rasselnden und blinkenden Spielautomaten, dem allem Anschein nach Egon Sanders ganze Aufmerksamkeit gehörte.

Seit ihrem Abgang aus seiner Detektei hatten sie keinen nennenswerten Kontakt mehr gehabt. E-Mails – das war’s. Sehr, sehr knappe E-Mails. Wenn es eine Kontaktaufnahme gab, ging sie stets von ihm aus.

Luisa war klar, dass er darauf setzte, dass sie scheitern und reumütig zu ihm zurückkehren würde. Aber ihre Detektei hatte seine längst Längen hinter sich gelassen. Sie waren in ganz anderen Sphären tätig. Ohne Flix hätte sie das zwar nie geschafft, aber das musste sie ihrem Vater ja nicht auf die Nase binden. Und Flix hätte es wiederum auch nicht ohne sie geschafft. Sie ergänzten sich einfach perfekt. Und das nicht nur professionell.

»Was gibt’s?«, fragte sie, als ob es sie nicht weiter interessieren würde. Als ob es nicht ihre erste Begegnung wäre, sondern ein Treffen wie jedes andere. Ihre innere Anspannung strafte das allerdings Lügen. Um sich etwas abzulenken, trank sie einen Schluck Bier. Frisch gezapft und gar nicht übel, wenn man das Ambiente hier bedachte. Und herrlich beruhigend.

»So einiges.« Auch Egon Sander nahm einen Schluck und zögerte hinaus, konkret zu sagen, was er von ihr wollte.

Luisa ließ sich nicht anmerken, dass sie dieses Spiel schon wieder ankotzte. Ganz genau so hatte er sie jahrelang am Gängelband geführt. Es wurde ihr schlagartig wieder bewusst, warum sie damals gegangen war. Die ganzen miesen Gefühle rund um ihren Vater waren mit einem Mal wieder da. Sie hatten bisher nur an die Hintertür geklopft, aber mit dieser Hinhaltetaktik waren sie sofort wieder präsent und schnürten ihr den Hals zu.

Ihr Vater dehnte es aber heute nicht so weit aus, wie er es früher manchmal getan hatte. Er stellte sein Bier ab und sagte immer noch ohne sie anzuschauen: »Dschafarow ist wieder frei.«

Luisa verschluckte sich fast an ihrem zweiten Schluck. Der Kloß in ihrem Hals wurde fast unüberwindbar riesig. Das Bier wollte sich nicht an ihm vorbeizwängen lassen.

Egon Sander sprach weiter. »Er sinnt auf Rache. Will wissen, wer hinter seiner Verhaftung steckt.« Er warf einige Münzen in den Automaten, der zum Stillstand gekommen war.

»War zu erwarten«, versuchte sich Luisa an einer supercoolen Reaktion. Aber innerlich raste ihr Herz. Dschafarow war ein Gangster, wie er im Buche stand. Ihr Vater arbeitete schon seit Jahren für ihn. Offiziell nur für seine legalen Geschäftsbereiche, aber Luisa war lange genug involviert gewesen, um zu wissen, dass sich das nicht trennen ließ.

Als Flix, die damals noch eine Meisterdiebin de luxe war, ihm ungewollt vor zwei Jahren mit einer Einbruchsserie in die Quere kam, hatte Luisa endlich die Seiten gewechselt. Gemeinsam mit Flix hatte sie es geschafft, Dschafarow an die Staatsanwaltschaft zu liefern. Das wusste niemand außer ihren Kontakten bei der Polizei. Und davon hing ihrer beider Leben ab. Offenbar heute mehr denn je. Sie hatte ihren Vater nicht auch ausliefern wollen und ihm damals einen Tipp gegeben, dass er seine Unterlagen verschwinden lassen sollte. Nur deshalb saß er jetzt hier.

»Er hat mich beauftragt«, legte er noch eine Schippe drauf.

Dschafarow hatte also ihren Vater beauftragt, ihr auf die Schliche zu kommen. Was wusste ihr Vater? Was vermutete er? Warum sagte er ihr das überhaupt?

Sie hatte ihm damals den Hals gerettet, bevor sie gegangen war und der Polizei sämtliche Beweise für Dschafarows Verhaftung serviert hatte. Ihr Vater wäre sonst mit Sicherheit auch dran gewesen. Entweder juristisch oder selbst als eines von Dschafarows Säuberungsopfern. Bei all den illegalen Aufträgen, die er für den Gangster erledigt hatte, wusste er einfach zu viel.

Jedenfalls war sie nicht so abgebrüht gewesen, ihren – zwar sehr entfremdeten – Vater dranzuhängen. Das war ihre letzte Tat als seine Tochter gewesen. Würde ihr das jetzt das Genick brechen? Gut möglich.

Luisa wäre am liebsten sofort losgerannt, um sich mit Flix zu beraten. Aber sie blieb äußerlich vollkommen gelassen neben ihrem Vater stehen und wartete darauf, dass er vielleicht noch etwas sagen würde.

Egon Sander war in den zwei Jahren, seit sie gegangen war, unglaublich alt geworden. Sie würde sich selbst schmeicheln, wenn sie das ihrem Verschwinden zuschreiben würde. Solch eine Beziehung hatten sie nie gehabt. Sie war immer lästig gewesen für ihn. Hatte nie dem entsprochen, was er sich von einer Tochter erwartet hatte. Luisa war zu androgyn, zu tätowiert, zu lesbisch und vielleicht auch zu klug für Egon Sanders Geschmack. Wahrscheinlich war einfach die geschäftliche Lage ohne seinen generösen Auftraggeber nicht besonders rosig gewesen, und das hatte die Falten tiefer in sein Gesicht eingegraben. Kein Grund, sich etwas einzubilden.

Luisa sagte also erst einmal gar nichts mehr und trank einen weiteren Schluck Bier.

Ihr Vater warf wieder Münzen in den Spielautomaten, dann drehte er sich ihr zum ersten Mal zu und sah sie an. Der Blick in diesen harten steingrauen Augen, die sie von ihm geerbt hatte, erschreckte sie kurz.

»Danke für damals. Ich bin dir was schuldig.« Dann drehte er sich schon wieder weg.

Luisa trank ihr Bier aus und ging ohne ein weiteres Wort. Ihr Vater sah ihr nicht nach oder reagierte irgendwie sonst auf ihr Gehen.

Luisas Gedanken rasten, als sie aus dem verrauchten Sportwettencafé an die frische Luft trat. Hatte er ihr damit sagen wollen, dass er Bescheid wusste und es als seine Schuldigkeit ansah, sie zu decken? Oder war es eine Warnung gewesen? War damit schon seine Schuldigkeit abgeleistet? Sie musste dringend mit Flix sprechen, sonst würde sie noch durchdrehen. Alles, was sie schon lange hinter sich geglaubt hatte, brach plötzlich wieder auf. Ihre normale Coolness und emotionale Distanziertheit gegenüber allen Dingen außer Flix war wie weggewischt.

Rike

Auf die Abdeckhaube der Mikrowelle hatte jemand ein Zitat von Virginia Woolf geschrieben: Man kann nicht gut denken, gut lieben, gut schlafen, wenn man nicht gut gegessen hat.

Wohl wahr. Rike konnte ein Lied davon singen. Aber umgekehrt funktionierte das ja genauso: Man konnte nicht gut essen, wenn man nicht gut geliebt wurde. Sie war auch dafür das beste Beispiel. Ihr Appetit war verschwindend klein, seit Gerhilt sie verlassen hatte. Sie hasste sich selbst dafür, dabei wollte sie doch Gerhilt hassen. Im Grunde war sie ja auch darüber hinweg. Es war ja nicht so, dass sie Gerhilt zurückwollte. Nicht einmal dann, wenn sie zurückgekrochen käme. Was jedoch ganz abwegig war, denn sie war mit ihrer Neuen anscheinend sehr glücklich, was sie in der einen oder anderen E-Mail, die sie Rike aufs Auge drückte, immer wieder betonte.

Die Mikrowelle plingte kurz, das Mittagessen war fertig. Irgendein Fertiggericht aus dem Supermarkt. Rike hatte noch nicht einmal richtig darauf geschaut, was es war. Irgendwelche Nudeln.

»Komm mit. Notfalltermin bei der Kulturbürgermeisterin. Luisa ist noch außer Haus.«

Rike unterbrach ihre Pläne, sich die Nudeln ohne Appetit hinunterzuzwingen. Selten war ein ungeplanter Arbeitstermin so willkommen gewesen.

Eigentlich hätte ihre Aufgabe heute ja darin bestanden, damit zu beginnen, die Computersysteme des Museums auf Sicherheitslücken zu kontrollieren. Rike hatte ja schon bei einem ersten Check gesehen, dass sie löchrig wie ein Schweizer Käse waren. Sonderlich Spaß wäre dabei also eh nicht im Spiel gewesen. Zu wenig Herausforderung.

Dass sie jetzt zum zweiten Termin des Tages musste, entsprach so überhaupt nicht ihrem üblichen Arbeitsalltag. Hätte sie bei der Einstellung gewusst, dass sie so oft unterwegs sein würde und nicht einfach hinter ihrem Rechner hocken konnte, hätte sie vielleicht nicht zugesagt. Aber als sie jetzt neben der quasselnden Flix im Auto saß, hätte sie es nicht anders haben wollen. Es tat ihr offensichtlich gut, ab und zu mal ihre Komfortzone zu verlassen.

Flix erzählte irgendeine Geschichte, die sie mit Luisa erlebt hatte. Wieder war Rike erstaunt über dieses ungleiche Paar. Flix war die meiste Zeit ein richtiger Kindskopf, supersympathisch und offen. Auch ein bisschen verrückt, durchgeknallt manchmal, voller Ideen. Gleichzeitig war sie auch eine geniale Strategin und ein wandelndes Kunstlexikon. Und sie sah richtig gut aus. So richtig gut. Blaue Augen, braune Haare, schmal gebaut.

Luisa war schon optisch der totale Kontrast, von der Persönlichkeit gar nicht zu sprechen. Unnahbarkeit, das verkörperte Luisa in Reinform. Sie war nicht unfreundlich oder abweisend, aber an sie ranzukommen war fast unmöglich. Rike war es jedenfalls bisher noch nicht gelungen, sie war aber auch nicht besonders gut darin.

Mit ihren flächendeckenden Tätowierungen an beiden Armen und am Hals abwärts und den kurzgeschorenen blonden Haaren sah Luisa richtiggehend martialisch aus. Leute – Männer – machten Platz auf dem Gehweg für sie. Rike selbst hätte das auch gemacht, wenn sie ihr nachts in einer dunklen Ecke begegnet wäre.

Dass Luisa lesbisch war, konnte man ja auf zweihundert Metern Entfernung sehen, so androgyn, wie sie aussah. Aber bei Flix wäre sie nie im Leben darauf gekommen. Was absolut nichts heißen musste, denn Rike hatte überhaupt kein funktionierendes Gaydar. Das war ihr ein Buch mit sieben Siegeln. Ihr musste man es immer direkt sagen, damit sie es kapierte. Ihre zweite Schwachstelle nach dem Pennälerbläschen. Hätte sie vor dem Losfahren noch einmal aufs Klos sollen? Vermutlich würde sie im Rathaus gehen müssen.

Dafür war dann aber überhaupt keine Zeit, und Rike musste während des gesamten Termins den Impuls unterdrücken, von einem Bein aufs andere zu tippeln, weil sie so dringend musste. Dabei war der Notfall, der sie an diesem Tag das zweite Mal im Museum mit Kulturbürgermeisterin Kupfermann zusammenbrachte, der Hammer. Innerlich war Rike am Staunen, was sie mit der Detektei an unglaublichen Fällen erlebte. Einfach nur unglaublich.

Auf dem Besprechungstisch, an dem sie standen, lag ein Gemälde, das Flix eingehend studierte.

»Was meinen Sie? Hat die Versicherung recht?« Die Kulturbürgermeisterin tippelte fast so nervös herum wie Rike. Aber bei ihr lag es sehr wahrscheinlich an der Materie.

Flix wandte den Blick keine Sekunde von der Darstellung eines Mädchens ab. »Mit ziemlicher Sicherheit. Die Kopie ist aber ein Meisterwerk in sich selbst. Fantastisch gearbeitet. Es ist wirklich kaum zu sehen, wenn man nicht danach sucht.« Sie zeigte mit einem Bleistift in respektvollem Abstand auf einige Stellen im Gemälde, die sie anscheinend für auffällig hielt.

Rike sah schlicht und ergreifend gar nichts. Sie hätte mit der Nase direkt draufstoßen können, und ihr wäre nichts aufgefallen. Farben, Leinwand, Pinselstriche, mehr nicht.

So viel hatte sie bisher an Informationen aufsaugen können: Es handelte sich um ein unbekannteres Gemälde der polnischen Malerin Tamara de Lempicka. Art déco, was auch immer das heißen mochte. Sie würde das nachher alles googeln müssen. Oder Flix fragen, deren ganzes Gesicht vor Aufregung glühte und deren Augen fast schon Funken sprühten. Man hätte meinen können, die Fälschung des Gemäldes würde sie in Begeisterung ausbrechen lassen. Was irgendwie absurd war. Aber so war eben Flix.

»Das Gemälde zeigt de Lempickas Tochter Kizette. Das Original ist in den Zwanzigern in Paris entstanden«, sagte Flix fachkundig. »Ich schätze mal 1925 oder ’26, nach dem Alter der Tochter zu urteilen. Oder? Was sagen Ihre Unterlagen?«

»1926.« Kulturbürgermeisterin Kupfermann hatte es momentan fast die Sprache verschlagen.

Flix nickte nur.