Vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit - Lo Jakob - E-Book

Vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit E-Book

Lo Jakob

0,0

Beschreibung

Als sich Elf und Hanna zum ersten Mal auf einer Party begegnen, ist es Antipathie auf den ersten Blick. Dass sie sich dann auch noch gemeinsam auf einem Sofa in einer dunklen Ecke wiederfinden, schockiert sie zutiefst. Sie wollen sich unter keinen Umständen wiedersehen. Doch Elfs Bruder landet mit gebrochenem Bein in dem Krankenhaus, in dem die Ärztin Hanna ihr Praktikum macht. Die zwangsweisen Begegnungen tauen das Eis zwischen ihnen, sie kommen sich näher ... und näher ... bis ein fatales Missverständnis Hanna jeden Kontakt abbrechen lässt. Elf konzentriert sich verzweifelt auf ihre Karriere als Pianistin, doch sie kann Hanna nicht vergessen ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 395

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lo Jakob

VORÜBERGEHENDE UNZURECHNUNGSFÄHIGKEIT

Roman

© 2015édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-119-3

Coverfoto:

1

»Elfriede Suchaschewski!«

Wie immer, wenn Elf in der Öffentlichkeit aufgerufen wurde, zuckte sie zusammen. Starrten sie nicht schon wieder alle Leute um sie herum an, ein eindeutiges Grinsen auf den Zügen? Was für ein unpassender Name für jemanden wie Elf: flippige Klamotten, zierlich, dunkelhaarig, auffallend hübsch, aber vor allem erst Anfang zwanzig und nicht, wie ihr Name vermuten ließ, weit über sechzig. Wieder mal verfluchte sie ihre Eltern für ihren beschissenen Geschmack in Sachen Vornamen.

Na und? Andere Leute haben auch einen beschissenen Namen. Der Gedanke funkte ihr trotzig durch den Kopf und zauberte sogar ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. Sie eilte den Gang des Amtes entlang, das sich heute lächerlicherweise Agentur für Arbeit nannte, und trat in das ihr zugewiesene Büro.

»Frau Suchaschewski, Musikerin«, wurde sie mit emotionsloser Stimme empfangen, begleitet von einem unfreundlichen Blick in ihre Unterlagen. »Letzter Wohnsitz Stockholm?« Erst jetzt sah die Frau hinter dem Schreibtisch auf. Elf sah die hochgezogene Augenbraue.

»Das hab ich nicht umsonst so ausgefüllt.« Pampig kann ich auch, dachte sie.

Die Augenbraue hob sich noch mehr. »Schließlich wollen Sie etwas von uns hier.«

Elf hielt wohlweislich den Mund. Wer weiß, was herausgekommen wäre, hätte sie der Schnepfe hinter dem Schreibtisch klargemacht, wer hier unkooperativ war. Jetzt wusste sie: Hier war unten. Wesentlich tiefer ging es nicht.

»Proximale Femurfraktur, seit zwei Tagen auf Station. Zustand stabil. Keine Komplikationen. 1000 Milliliter Jono, 500 Milligramm Novalgin über Infusion.«

Professor Wertheimer nickte, während er sich über die Operationswunde beugte. »Physiotherapie planmäßig angefangen?«

»Ja«, antwortete Hanna, »gleich nach der OP.« Sie lächelte der Patientin aufmunternd zu und trat ans Fußende des Bettes, um die Sensibilität und Motorik der alten Frau zu prüfen. »Können Sie bitte mal die Zehen bewegen? Prima, vielen Dank.«

Zufrieden mit dem Ergebnis der Visite, wandte Professor Wertheimer sich ab. Der Trupp von Ärzten und Pflegekräften setzte sich in Bewegung.

»Herr Professor?«

Eine Stimme, die sich nach fünfzig Zigaretten und zwei Flaschen Whiskey am Tag anhörte. Der Oberschenkelhalsbruch wagte es tatsächlich, den Chefarzt anzusprechen.

»Gute Frau«, sagte er über die Schulter, »wenden Sie sich mit Fragen bitte an die Stationsärzte. Es gibt noch mehr Patienten mit komplizierteren Verletzungen als der Ihren.« Damit war er auch schon aus dem Zimmer.

Die alte Frau tat Hanna leid. Die meisten Menschen fühlten sich unsicher und hilflos im Krankenhaus. Sie blieb an der Tür stehen und fragte: »Was ist denn, Frau Doll?«

»Gehen Sie nur, Dr. Felsberg. Das hat Zeit. Der Professor sieht es bestimmt nicht gern, wenn Sie seine Visite bei den Patienten verplempern.« Der Aussage folgte ein verächtliches Kopfschütteln, das nicht Hanna galt. Mit einer energischen Handbewegung scheuchte Frau Doll sie aus dem Zimmer.

»Wo ist denn Dr. Felsberg?«, ertönte da auch schon Professor Wertheimers ungeduldige Stimme aus dem Nebenzimmer. Er winkte Hanna ans Bett eines Motorradunfalls. »Als aufstrebende junge Assistenzärztin erwarte ich von Ihnen während der Visite höchste Aufmerksamkeit. So, und jetzt sagen Sie mir mal bitte, was Sie von diesem Fall halten und welche weitere Behandlung Sie vorschlagen.«

Mit einem Krachen landete eine Sporttasche auf Elfs Gitarre.

»Förbannad, jävla skit«, schrie Elf. Fassungslos starrte sie die blonde Tussi an, die die Tasche geworfen hatte, und schnauzte wutentbrannt auf Deutsch weiter: »Pass doch auf!«

Völlig verblüfft wich die Frau zurück und hob ihre Tasche hoch, die sich mit einem metallischen Ächzen von der Gitarre löste. Elf hyperventilierte beinahe, als sie die gerissene E-Saite sah, die sich am Hals ihrer geliebten Gitarre kringelte.

Sie war jetzt seit einer Woche bei ihrem Bruder in ihrem neuen Zuhause in Stuttgart, und heute ließ sie eine Party zu ihren Ehren über sich ergehen. Vielversprechender Anfang, das mit der Gitarre.

»Entschuldigung«, wagte die blonde Frau einzuwenden, »aber ich dachte, man bewahrt Gitarren eigentlich nicht an der Garderobe auf.«

Statt einer Antwort warf Elf ihr einen vernichtenden Blick zu. Bebend vor Wut nahm sie ihre Gitarre und ließ den neuen Gast stehen.

Sie fühlte sich noch immer nicht »richtig«. Das neue Zuhause war ihr nicht vertraut, es war noch nicht ihres. Zuhause – das waren die stickigen Übungskabuffs an der Akademie und die helle, skandinavisch möblierte Wohnung ihrer Eltern in Stockholm. Überhaupt hatte sich viel verändert in den letzten dreizehn Jahren, die Elf in Schweden verbracht hatte. Aus der Zehnjährigen, die in Berlin zur Schule gegangen war, war eine zurückhaltende Musikerin geworden.

Dabei war das Haus, in dem sie ab jetzt wohnen sollte, eigentlich sehr schön. Ihre Großtante hatte es Elf und ihrem Bruder Fritz hinterlassen, und Fritz hatte es entrümpelt und renoviert. Jetzt gerade schallte die Stimme von Janis Joplin durch die Räume, leicht gedämpft durch die vielen Gespräche überall. Fast jeder hatte etwas zu trinken in der Hand, vereinzelt zogen Marihuanawolken durchs Haus. Im Wohnzimmer tanzten einige; in der anderen Ecke wurde ein Spiel ausgebreitet. Fritz hatte, obwohl er Sozialarbeiter war, Freunde aus allen möglichen Berufsgruppen: Da war Silvie, die sich mit Nachtclubauftritten ihre Brötchen verdiente. Oder Rainer, ein Azubi von der Deutschen Bank, der aber trotzdem nett war – und, wie sie von Fritz erfahren hatte, einmal ein Jahr lang in einer namibischen Kirche den Pfarrer vertreten hatte. Andere arbeiteten mit Fritz zusammen oder kamen vom Theater, da Fritz in den Sommerferien Kindertheatertage organisierte.

Ein Paar fiel ihr auf: zwei Frauen, immer nah beisammen, aber nicht ineinander verklammert, lachend mit allen Kontakt aufnehmend und dennoch offenkundig verliebt und vertraut. Elf schluckte, nahm ihre Gitarre mit der kaputten Saite in die Hand und drückte sie unbewusst fest an sich.

Hanna amüsierte sich prächtig. Sie war zwar erledigt von einem langen Tag im Krankenhaus, aber wenn sie mit Lizzy und den anderen Mädels vom Tischtennisverein unterwegs war, hatte Erschöpfung keine Chance. Und die Partys bei Fritz waren sowieso ein Ereignis: coole Leute, gute Stimmung und – nicht zu vergessen – interessante Frauen. Hanna ließ ihre Blicke schweifen. Lizzy und ihre Tischtennis-Mädels zählten natürlich nicht. Nicht, dass Lizzy hässlich gewesen wäre, ganz im Gegenteil, aber ihr gegenüber empfand Hanna eher schwesterliche Nähe als erotische Herausforderung.

Am Durchgang zur Küche stand die Frau mit der Gitarre, mit der sie gleich bei ihrer Ankunft diese unschöne Begegnung gehabt hatte. Das war schon peinlich gewesen, dass sie ihre Tasche auf deren Gitarre geworfen hatte, aber diese unfreundliche Reaktion hätte nun wirklich nicht sein müssen. Hanna beschloss, die Frau unverschämt zu finden. Obwohl sie nicht schlecht aussah. Dunkle, halblange Haare, feingeschnittenes Gesicht, grüne Augen – interessante Farbe, wenn sie nicht so mürrisch dreinblicken würden –, auffällig ausgefallenes Outfit. Irgendwie machte sie einen zarten, sensiblen Eindruck.

Na ja, zart war sie wirklich nicht. Hat mich angeblafft, als ob ich eine Idiotin wäre. Hanna gab sich ihrer Empörung hin. Ist eh nicht mein Frauentyp – zu zierlich, zu zart. Und so zickig hätte sie nicht werden brauchen.

»Na, Frau Doktor, wie geht’s deinem Stethoskop?« Der Gastgeber verdrängte ihre Gedanken über schlechtes Benehmen. Hanna kannte Fritz über Lizzy. Die beiden waren mal hinter der gleichen Frau her gewesen. Sie hatten sie beide nicht gekriegt, aber waren seitdem gute Freunde. Sowohl Fritz als auch Lizzy waren davon überzeugt, dass es sich nicht lohnte, für irgendwelche Liebeleien Freundschaften aufs Spiel zu setzen. Affären konnte man schließlich immer haben. Man durfte sie nur nicht zu wichtig nehmen, darin waren sie sich einig. Hanna war da anderer Ansicht – Lizzy zog sie gern damit auf, wie ernst sie alles nahm: die Liebe, den Beruf, das Leben generell. Trotzdem war sie inzwischen selbst gut mit Lizzys »Bruder im Geiste« Fritz befreundet.

Fritz setzte ein unsichtbares Stethoskop an Hannas Brustkorb und tat, als wolle er sie abhören. Lachend schubste Hanna seine Hand weg und wurde dann ernst: »Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, dass mich die Arbeit im Krankenhaus so fertigmacht auf Dauer. Diese Woche sind schon zwei Patientinnen auf meiner Station gestorben.«

»Oh. Das ist bestimmt nicht leicht für dich.« Fritz wusste, dass es in ihrem Beruf nur selten Anlass zum Scherzen gab.

Hanna murmelte: »Ich kenne die Leute ja nicht richtig, aber trotzdem tut’s weh, wenn jemand stirbt. Ich fühle mich verantwortlich.« Das war mehr an sie selbst als an Fritz gerichtet.

Er legte ihr eine Hand auf den Arm. »Du schaffst das schon. Komm schon, du bist doch unsere toughe Frau Doktor. Und außerdem: Wer soll mich denn behandeln, wenn ich mal krank werde? Da erwarte ich schon die beste Betreuung.« Bei den letzten Worten zwinkerte er ihr zu.

Hanna lächelte leicht, dann funkelte ein Glitzern in ihren blauen Augen. »Gestern bin ich in der Klinik mit dem Aufzug gefahren und habe mal wieder die falsche Ebene erwischt. Grüne Station statt blauer. Und da kam mir der Gedanke, dass das doch ein Sinnbild für das Leben ist. Du weißt nie, wann du aussteigen musst. Vielleicht ist es manchmal sogar besser, auf grün auszusteigen.«

»Aha?«, machte Fritz nur.

Hanna sah von ihm zu Lizzy, die neben ihnen stand. »Na ja, im übertragenen Sinne. Ihr versteht schon.«

Lizzy schubste sie freundschaftlich. »Ich liebe deine philosophischen Anwandlungen. Auch wenn kein Mensch jemals versteht, was du sagen willst.« Sie legte Hanna den Arm um die Schultern und gab ihr einen lauten Kuss auf die Wange. Da Hanna um einige Zentimeter größer war als sie, musste sie sich dafür auf die Zehenspitzen stellen.

Bevor Hanna entweder die Bemerkung oder den Kuss sarkastisch kommentieren konnte, wurden sie unterbrochen. Die Frau mit der Gitarre, wie Hanna sie inzwischen bei sich nannte, trat zu Fritz und fragte: »Hast du noch Rotwein da? In der Küche hab ich keinen gefunden.« Hanna und Lizzy würdigte sie keines Blickes.

»Klar, ich hol dir gleich welchen. Kennst du eigentlich schon Hanna?« Fritz machte eine Armbewegung in Hannas Richtung, auf dem Gesicht ein auffällig breites Grinsen.

Hanna verdrehte die Augen. Es reichte schon, dass Fritz bei jeder Gelegenheit versuchte, sie zu verkuppeln. Aber mit dieser Zicke – das war die Krönung.

Ehe sie sich klarmachen konnte, dass Fritz von ihrer unerfreulichen Begegnung an der Garderobe nichts wissen konnte, kam von der anderen schon ein abweisendes »Nein«. Ein abfälliger Blick traf Hanna.

Fritz stutzte kurz, dann schlang er stolz den Arm um die Schultern der Zicke. »Und das ist Elf – meine Schwester und brillante Musikerin. Sie steht am Anfang einer großen Karriere und ist gerade aus Stockholm angekommen.«

Die missbilligenden Augen wanderten von Hanna zu Fritz. Auch bei Hanna erzielte dessen scherzhafte Lobeshymne nicht den gewünschten Effekt. Seinen Stolz ignorierend, taxierte sie seine Schwester.

»Elf – interessanter Name. So wie die Tankstelle früher?« Sie konnte nicht anders, sie musste sich ein Grinsen verkneifen.

Elf fuhr sich mit der Handkante über die Kehle. »Nein, Elf für die Zahl der Frauen, die ich wegen blöder Sprüche auf dem Gewissen hab.« Sie machte sich von Fritz los, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging davon.

Hanna zog die Augenbraue hoch. Lizzy hatte dem Ganzen fasziniert zugeschaut. Und auch Fritz stand mit offenem Mund daneben.

»Was war das denn?«, fragte er Hanna mit hörbarer Entrüstung, als er sich wieder gefangen hatte.

Hanna zuckte nur mit den Schultern. Sie hatte keine Lust, Fritz und der neugierigen Lizzy ihr missratenes Zusammentreffen mit Elf zu erläutern.

Elf nahm ihre Gitarre und ging in den ersten Stock, in die Bibliothek. Es waren zwar wesentlich mehr Regale als Bücher dort untergebracht, aber Fritz hatte ein riesiges altes Ledersofa aufgestellt und eine schöne Bauhauslampe dazu. Beides hatte er im Sperrmüll gefunden. Das Sofa erinnerte sie in seiner monströsen Größe an ein altes Wikingerschiff – unverwüstlich, stattlich und einladend.

Im Dunkeln stand sie am Fenster und betrachtete den Mond. Der Partylärm drang zu ihr herauf, schwoll an und ab. In der Nähe, aber nicht mittendrin. Das genoss sie. Vorsichtig stellte sie die Gitarre in den Ständer.

Jetzt war sie also hier. In Stuttgart. Sie öffnete die Balkontüren, um ein wenig frische Luft hereinzulassen, setzte sich auf das mächtige Sofa und schlang eine der Wolldecken um sich herum, die dort lagen. Wie kitschig: Der Mond stand genau vor ihrem Fenster, als wolle er sie anleuchten. Der Abend roch ein bisschen frisch, erdig, nach Frühling, aber auch schon irgendwie nach Sommer. In Stockholm hatte es immer nach Meer gerochen. Auch im Winter. Und im Frühling ganz besonders.

Ob sie schlafen gehen sollte? Der Mond lächelte sie an. Irgendwer hatte unten jetzt von weißem Siebziger-Rock’n’Roll auf jazzigen HipHop umgeschaltet. Das passt, dachte Elf. Das Alte ist vorbei. Stockholm war fertig. Das konnte ihr gestohlen bleiben. Sie vermisste zwar das weiche, süße Brot, Birnenlimonade und ihre Freundinnen, allen voran Pernilla. Aber alles andere?

Von Deutschland wusste sie noch nicht viel, geschweige denn von Stuttgart. Aber zumindest hatten sie laut Fritz ziemlich viele gute Live-Acts hier, Clubs und eine große Musikszene.

Hannas Erschöpfung kroch wieder hoch. So langsam wurde ihr das Treiben um sie herum zu viel, und die unerfreuliche Begegnung vorhin hatte ihr die Laune versaut. Wie konnte Fritz nur eine dermaßen biestige Schwester haben? Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war zwar nicht zu leugnen, die Augen und die Mundpartie – aber nicht die Art. Fritz war offen und freundlich. Seine Schwester offenbar das genaue Gegenteil.

Vielleicht sollte sie sich ein bisschen ausruhen und dann weiterfeiern. Sie machte sich auf die Suche nach Fritz. Der redete gerade zusammen mit Lizzy auf eine glutäugige Schönheit ein. Immer die gleichen Spiele, dachte Hanna, war aber zu müde, um sich zu amüsieren.

»Entschuldigt die Störung. Sag mal, Fritz, könnte ich mich eine Weile hinlegen? Ich bin total fix und alle.«

»Klar, Decken sind oben«, sagte er hilfsbereit. »Brauchst du sonst noch was?«

Hanna schüttelte den Kopf und ging zur Treppe. Sie hatte sich hier schon früher ab und zu aufs Ohr gelegt, kannte also den Weg.

Es war verblüffend: Als sie die Tür hinter sich schloss, verebbte der Partylärm, und die Bibliothek kam ihr wie eine kleine, geschützte Insel vor. Sie blieb ein paar Minuten an der Tür stehen, um ihre Augen ans Dunkel zu gewöhnen. Das Zimmer mit dem hellen Mondlicht, das durch die großen Fenster drang, hatte eine Stimmung wie ein altes, schönes Schwimmbad am frühen Morgen: ein wenig unwirklich, abgetrennt von der Welt und doch mittendrin.

Nein, nach Hause wollte sie noch nicht, sie wollte später noch ein wenig feiern. Aber jetzt gerade, da konnte sie nicht mehr. In einer Stunde wäre sie wieder fit. Als Ärztin hatte sie gelernt, überall irgendwie zu schlafen. Sie setzte sich auf das gigantische Sofa, griff nach einer Decke, kuschelte sich in die Ecke und schaute nach draußen.

Irgendjemand schlief schon auf dem Sofa, fiel ihr jetzt auf. Am anderen Ende, bis zum Hals in Decken eingemummelt. Hanna beschloss, dass es ihr egal war, schließlich war genügend Platz. Mittlerweile spürte sie ihre Müdigkeit noch mehr. Später würde sie sich noch ein wenig amüsieren. Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, schlief sie auch schon ein.

Elf träumte. Vom Engelspark in Stockholm, den skurrilen Figuren dort von Niki de St. Phalle und Jean Tinguely. Von den Seefahrern, die früher auf dieser Insel gehaust hatten. Von den Spaziergängen mit Frauen, die sie ersehnt und geliebt hatte. Von Würstchen und Limonade. Das flüchtige Begehren, das sie in den schwedischen Sommern verspürt hatte, gesellte sich als Traumgefühl dazu. Die Unbeschwertheit, die damit verbunden gewesen war, als sie noch nichts entscheiden musste; nicht gegen jemanden oder etwas. Schule, musizieren, die vielen Feste, die Liebeleien, freudvoll, aber nicht so tief. Unproblematische Zärtlichkeiten. Es war einfach gar keine Frage gewesen, ob sie nun einen Freund hatte oder nicht. Sie hatte Freundinnen gehabt, viele. Es war so selbstverständlich gewesen – die Berührungen von Ewa, Pernilla, Mina, Lena.

Sie träumte auf Schwedisch. Eine melodische, singende Sprache, nicht so trocken wie das Deutsche. Die Sommerferien in der Stuga von Lenas Eltern: wie sie sich nach dem Baden gestreichelt hatten. Durch den Wald gelaufen waren, sich gegenseitig mit Blaubeeren gefüttert hatten. Nachts in einem Bett geschlafen mit karierter Wäsche. Morgens Flingor gegessen. Die meisten Sommarstugas sahen ähnlich aus: dunkles Falunrot, mit weißen Tür- und Fensterrahmen und einer Veranda. Die Kinder hatten im Dach ihre Zimmer, und morgens holte irgendjemand mit dem Fahrrad Milch und Brot. Sie spürte die Hände von Ewa auf ihrer Haut. Der warme Atem in ihrem Nacken ließ sie an Lena denken. Wer war es diesmal? Sehnsuchtsvoll erwiderte sie die Berührungen der anderen. Sie stritt mit sich selbst, halb träumend, halb bewusst: Warum bist du abgehauen, das war doch in Stockholm viel einfacher – sieh doch, fühl doch, was du hast. Das ist in Stuttgart nicht so.

Sie drängte die negativen Gedanken zurück. Sie wollte einen unbeschwerten Traum haben.

Ihre Forschungen drangen in tiefere Bereiche vor. Das ist Heimat, Frauenhaut spüren ist zu Hause sein. Sie gluckste leise. Das hatte Mina mal gesagt. Ihre Hand fand eine weiche Brust, umschloss sie. Sie stöhnte leise. Was für ein schöner Traum.

Hanna schlief unruhig. Eine Hand schob sich unter ihren Pullover. Da war eine Frau . . . sie roch gut. Wo kam sie her? Der Geruch war fremd und vertraut zugleich, die Hand war zart und fest, wie sie über Hannas Körper wanderte. Erst warm den Rücken hinauf, dann umschmeichelte sie ihren Hals, um anschließend wieder mit einzelnen Fingern sanft die Wirbelsäule entlangzukratzen. Hanna schmiegte sich den Bewegungen entgegen. Gleich, gleich wollte sie küssen, diesen süßen Mund, die Brustwarzen mit ihrer Zunge umspielen.

Diese leisen, fremden Liebeslaute waren schön. Was für eine entzückende Frau. Hanna verabschiedete sich langsam aus ihrem Traum. Doch es blieb dabei: Berührungen, Gemurmel, Atmen. Das war wirklich. Da machte sich tatsächlich jemand an ihr zu schaffen. Es fühlte sich gut an, die Hände und Finger wurden frecher und drangen tiefer. Hanna seufzte. Sie wollte nicht, dass es aufhörte.

So ganz war ihr immer noch nicht klar, ob sie nun träumte oder nicht. Sie war in ihrer Ausbildung so oft innerhalb von Sekundenbruchteilen vom Tiefschlaf in den totalen Wachzustand übergewechselt, dass sie eigentlich keinerlei Probleme hatte, sich unvorbereitet in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Diese Frau war süß: auch bekleidet wie sie selbst, eine feste, schmale Person, der lange, braune Haare ums Gesicht spielten, mit hellen Strähnen drin. Das Gesicht selbst sah sie nicht. Wollte sie gerade auch nicht mehr, da die Unbekannte mittlerweile Zugang zu allen wichtigen Bereichen ihres Körpers gefunden hatte. Hanna schaltete ihren Verstand aus und ließ ihren Körper übernehmen. Verschwommen schwirrten noch Gedanken an One-Night-Stands in ihrem Kopf herum und daran, dass sie so etwas eigentlich kategorisch ablehnte, zumindest für sich selbst. Aber dies hier fühlte sich richtig an. Eine erregende Situation, wie sie sie noch nie erlebt hatte. Sie wollte nicht mehr nachdenken, nur noch fühlen, Haut, Haare, Mund, Hals, Ohren, Brüste, Hände. Sie schloss die Augen fester und bahnte sich mit der Zunge ihren Weg.

Elf verlor sich in ihrem herbeigesehnten Traum. Es war so wunderschön. Aber irgendetwas stimmte nicht ganz. Was war es? Sie konnte es nicht einordnen. Etwas war nicht so vertraut, wie es sein sollte. Die unbekannten Gesten und Gerüche vertrieben den Traum allmählich.

Wer war das? Wo war sie? Alles fühlte sich schwedisch an, so wie früher in der Schulzeit, aber es war doch heute . . . das konnte nicht sein. Und da war noch etwas anderes. Ein fremder Geruch – schön, aber fremd. Da passte nichts mehr in ihre Erinnerungen, da mischte sich zu viel Bekanntes mit Exotischem. Elf schreckte hoch. Sie versuchte sich von der Decke und dem fremden Körper zu befreien. Dabei verhedderte sie sich in Decken, ihren eigenen Haaren und in ihrer Verwirrung.

Unsanft wurde Hanna bei ihrer Erforschung der weichen Brüste unterbrochen. Die andere versuchte sich plötzlich von ihr loszumachen. Ihre ineinander verschlungenen Körper verwandelten sich in ein chaotisches Knäuel aus Gliedmaßen und Decken. Hanna spürte das Erschrecken der Frau, ohne es zu verstehen. Was war nur los? Hatte sie etwas falsch gemacht, eine unsichtbare Grenze überschritten? Oder hatte die Frau nur antesten wollen, wie weit sie gehen würde, und machte jetzt einen Rückzieher?

Elf hatte sich mittlerweile freigewühlt und ihre Orientierung halbwegs zurückgewonnen. Eine außerordentlich peinliche Lage, in der sie sich da wiederfand: Irgendjemand hatte sie gerade gestreichelt, es war lustvoll, innig und unbekannt zugleich gewesen. Das war es, was sie geweckt hatte. Das Unstimmige, Fremde, das aber eben auch vertraut war.

»Was war denn das?« Sie konnte sich nicht zwischen angenehmer Überraschung, Empörung und Verwirrtheit entscheiden, und genauso klang ihre Stimme auch. Ihre Augen begannen sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Und im nächsten Moment verschlug es ihr den Atem.

»Du?«, bekam sie nur noch heraus.

Hanna hatte sich von dem wühlenden Sofagespenst weg in die Ecke gesetzt und ihre derangierte Kleidung in Ordnung gebracht. Ihr gegenüber kämpfte die andere Frau immer noch mit der Decke. Als Hanna erkannte, wer sich da gerade aus dem Knäuel herausschälte, klappte ihr Mund auf und zu wie bei einem Fisch auf dem Trockenen.

Fritz’ Schwester. Frisch aus dem Ausland. Ach du liebes bisschen. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit der Frau, der sie vor kaum zwei Stunden fast die Gitarre zertrümmert hätte. Sie glotzte sie an, sekundenlang. Als es ihr bewusst wurde, stand sie auf und begann nervös herumzulaufen.

Elf schnappte immer noch nach Luft, fand keine richtigen Worte. Mit dem gestammelten »Aber . . . du . . .« kam sie auch nicht weiter. Hilflos griff sie sich die Decke und zog sich in die gegenüberliegende Ecke des Sofas zurück.

Der Mond schien nicht mehr direkt ins Zimmer, das Licht war diffuser geworden. Elf zuckte zusammen, als sich ihr Körper an das erinnerte, was sie im Kopf in den gerade geträumten Traum zurückschubsen wollte: Diese Frau hatte sie berührt. Sehr intim berührt. Doch sie war in Stuttgart – nicht in ihrem schwedischen Bilitis-Sommer. Diese leicht geteilten Zärtlichkeiten damals waren schön gewesen, wie eine Schule in Sachen Liebe. Sie hatten nie darüber sprechen müssen, das war später passiert. In diesem einen Sommer hatten sie sich gegenseitig verschenkt ohne Forderungen. Doch danach hatten alle aus ihrem Kreis exklusive Liebesbeziehungen gehabt, und die zwanglosen Zärtlichkeiten hatte es nie wieder gegeben.

Das war doch schon lange vorbei. Das war nicht jetzt. Wieso war es dann trotzdem so gegenwärtig?

Hanna wollte irgendetwas sagen. Verworren war die Situation auch so, aber wenn sie gar nicht darüber sprachen, konnte es nur noch peinlicher werden. Sie setzte sich in einen Sessel gegenüber dem Sofa und meinte: »Es ist doch sehr schön gewesen – bis jetzt.«

Das fahle, indirekte Mondlicht erleuchtete Elfs schmales Gesicht. Ihre Haare waren verwuschelt, und ihre Augen erschienen riesig groß.

Hanna versuchte es mit kühler Analyse: »Hast du irgendein Problem damit?« So ganz war ihr immer noch nicht klar, warum die zierliche Frau so panisch aussah. Doch dass es ein Problem gab, stand praktisch mit Leuchtbuchstaben in Elfs Gesicht.

Elf schüttelte sich. Dann fand sie endlich ihre Sprache wieder: »Warum hast du das gemacht? Was sollte das?« Ihre Stimme spiegelte wie immer ihre Seelenlage: hilflos, anklagend, aber auch ein wenig schuldbewusst.

Hanna sah sie verblüfft an. »Das ging doch von dir aus. Du hast es doch gewollt – zumindest am Anfang.«

Elf errötete und senkte den Kopf. Ja, so war es früher oft gewesen: Mitten in der Nacht waren sie wach geworden, ineinander verschlungen, hatten ihren Spaß aneinander gehabt und waren dann sofort wieder völlig entspannt eingeschlafen. Doch das hier war kein schwedisches Sommerhaus, und das war auch keine Mina oder Lena. Das war die Frau, die ihr arrogant gekommen war, nachdem sie fast ihr Instrument zerstört hatte.

Die totale Konfusion wollte einfach nicht weichen. Die Berührungen, die weichen Hände auf ihren Brüsten, das Kneten ihrer Pobacken liefen wie Schauerschatten in ihrem Nervenkostüm herum, die Küsse kühlten auf ihrer Haut noch ab. Gleichzeitig donnerte es in ihrem Kopf. Sie hatte so etwas schon sehr lange nicht mehr gemacht – und in dieser Art noch nie. Das hier, mit dieser Frau, das war zu viel.

»Smit. Stick!«, schrie sie Hanna an. Erst eine Sekunde später wurde ihr klar, dass sie Schwedisch sprach. Also wiederholte sie: »Hau ab. Hau bloß sofort ab.«

Hanna schluckte. »Was ist denn mit dir los?«

Sie spürte, dass Elf es furchtbar ernst meinte. Spürte, wie verwirrt sie war, wie orientierungslos. Dennoch, damit hatte sie nichts zu tun. Sie hatte sich ja nur kurz ausruhen wollen, wurde dann unerwartet in ein – sie musste es sich eingestehen – sehr erfreuliches, aufregendes sexuelles Zusammentreffen verwickelt, um daraus dann umso unerfreulicher und vor allem unbefriedigt herausgerissen zu werden und sich jetzt auch noch von der Verursacherin all der verzwickten Umstände anschreien zu lassen. Sie war kurz davor zurückzuschreien.

Aber was sollte sie sich hier mit Fritz’ eindeutig verrückter Schwester herumstreiten? Rausschmeißen wollte die sie. Das ließ sich Hanna nicht zweimal sagen. Auch wenn ihr Gegenüber sehr durcheinander aussah und sogar etwas verloren.

Als die Tür hinter Hanna ins Schloss fiel, wollte Elf sich am liebsten verkriechen. Erst jetzt wurde ihr so richtig klar, wie tierisch peinlich das alles war.

Warum lag die überhaupt bei mir auf dem Sofa?

Mit einem arroganten Blick war sie gegangen, diese Hanna. Elf brach in Tränen aus. Es war total verrückt, dass sie sich nicht nur benutzt und gedemütigt fühlte, sondern vor allem einsam. Dabei hatte sie die Frau doch selbst rausgeschmissen. Aber jetzt schrie ihr ganzer Körper nach weiteren Berührungen.

Sie kroch unter die Decken zurück, zurrte sie fest um sich, so dass niemand einfach drunterkriechen konnte, und weinte sich leise in den Schlaf. Das war alles nicht wahr.

So unauffällig wie möglich huschte Hanna die Treppen hinunter. Sie schnappte sich ihren Mantel und die verfluchte Tasche, die so viel Schwung in ihre Ankunft hier gebracht hatte. Ihre Müdigkeit war verflogen, aber ihre Lust zum Feiern auch. Unerkannt verließ sie das Haus, schloss ihr Fahrrad auf und verstaute ihre Tasche. Nach Hause fuhr sie einen Umweg – durch den Schlossgarten, am Staatstheater vorbei. Die Enten waren schon wieder zurück und schliefen am Ufer des kleinen Sees. Ausnahmsweise gab es kein Spektakel irgendeiner Art, bei dem sich teuer, aber geschmacklos angezogene Stuttgarter und Stuttgarterinnen schlechten Sekt für teuer Geld einflößten und einem den Aufenthalt im Park so verleideten. Da waren die im Gebüsch stöhnenden Schwuletten viel amüsanter. Wobei auch sie Hanna in diesem Moment nicht wirklich brennend interessierten. Diese müßigen Überlegungen sollten lediglich vom Kernproblem ablenken: Was in aller Welt war da eigentlich gerade passiert?

Nach dem Rest einer ruhelosen Nacht, angefüllt mit verwirrenden Träumen von gesichtslosen Frauenkörpern, und einer Horrorschicht im Krankenhaus freute sich Hanna enthusiastisch auf ihr Tischtennistraining. Das würde sie wieder ins Gleichgewicht bringen. Die erotische Begegnung mit Fritz’ Schwester war für sie der schlagende Beweis dafür, in welche verzwickten Situationen man geraten konnte, wenn man aus dem Bauch heraus entschied. Als typischer Kopfmensch vermied sie das normalerweise – aus gutem Grund. Aber das gestern Abend war wohl mehr dem Umstand zu verdanken, dass sie geschlafen hatte. Dabei konnte man sich ja nicht auch noch kontrollieren.

Sie hatte bereits versucht, während ihrer Mittagspause zu meditieren und die unangenehmen Erinnerungen zu bändigen. Ohne Erfolg. Sie riefen auch am Nachmittag noch Herzklopfen und Verlegenheit hervor, vor allem aber Wut. Auf sich selbst, weil sie sich von ihren Hormonen hatte steuern lassen. Auf Elf, weil die das Chaos von vorn bis hinten verursacht hatte. Fritz’ Schwester mit dem unmöglichen Namen und der unverschämten Art.

Eindeutig gestört aus medizinischer Sicht. Das war eine zufriedenstellende Diagnose. Kann aber unverschämt gut küssen.

Woher dieser Gedanke nun wieder kam, wollte Hanna gar nicht wissen. Sie schob ihn weit weg. Das Gehirn ist eines der am wenigsten erforschten menschlichen Organe, sagte sie sich. Ihres war keine Ausnahme. Das von Elf wohl auch nicht. Devianz und erotische Ausstrahlung schließen sich nicht unbedingt gegenseitig aus, dafür gibt es ja in der Medizingeschichte zahlreiche Beispiele . . . Mit solchen fachlichen Erörterungen verdrängte sie die Erinnerungen einigermaßen erfolgreich, bis sie in der Sporthalle eintraf.

Die Tischtennisplatten waren bereits aufgestellt und ihre Mitspielerinnen in ihren Trikots. Hanna zog sich rasch um und krempelte den rechten kurzen Ärmel ihres weißen T-Shirts komplett hoch, so dass ihr ganzer Arm bis zur Schulter freigelegt war – ihr Markenzeichen beim Spielen neben ihrem unglaublich fiesen angeschnittenen Aufschlag. Sie holte ihre Schläger aus der Tasche, legte sie bereit und wärmte sich auf.

Der Tischtennisverein und seine Frauenmannschaft, mit der sie zweimal die Woche trainierte, waren der Ort, an dem sie ihren Kopf abschalten und sich körperlich auspowern konnte. Hier brauchte sie nicht streng und kompetent zu sein, sondern konnte lachen und sogar albern sein, fernab von beruflichen Normen und Ansprüchen. Und da Lizzy in der gleichen Mannschaft spielte, nutzte Hanna die Trainingsstunden nicht nur für ihren Lieblingssport, sondern auch für ausführliche Gespräche über belanglose Dinge. Lizzy war seit unendlichen Zeiten ihre beste Freundin. Besser als jeder andere wusste sie, was hinter Hannas Fassade der zielgerichteten Pragmatikerin lag: außen tiefgekühlter Eisbecher, innen warmes Flammeri.

»11 zu 6«, rief Hanna, während sie mehr oder weniger hart trainierten. »Der Satz geht an mich. Du bist nicht richtig bei der Sache. Du hast dich wohl gestern zu sehr amüsiert.«

Tatsächlich war sie noch ganz frisch, während Lizzy deutliche Zeichen von Anstrengung zeigte – ihre Haare waren durcheinander, sie schwitzte und war außer Atem. Sichtlich froh über die Unterbrechung, lehnte Lizzy sich schwer atmend an die Platte.

»Ich amüsiere mich eben gern«, meinte sie und begutachtete betont interessiert die Gummibeschichtung ihres Schlägers. »Besonders, wenn attraktive Frauen anwesend sind.«

»Aha. Wer denn?«

Bei Lizzy konnte man nie genau wissen, wen sie als Nächstes ins Visier nahm. Sie wickelte auch gestandene Heteras gekonnt um den Finger. Da bewies sie eine unglaubliche, fast sportliche Eleganz. Hanna beobachtete Lizzys Liebesleben immer mit einer gewissen Faszination. Auch jetzt war ihre Neugier geweckt, wen Lizzy mit dem Attribut »attraktiv« versah. Meinte sie die Glutäugige, an der sie mit Fritz um die Wette gegraben hatte?

Lizzy grinste Hanna breit an. »Fritz’ Schwester ist doch lecker. Elf – sieht aus wie eine Elfe.«

Diese Auskunft war wie ein gut gezielter Faustschlag in Hannas Solarplexus. Einen Moment lang konnte sie Lizzy nur anstarren.

Die ließ sich dadurch nicht beirren. »Hmm«, schwärmte sie. »Eine empfindsame Musikerin, direkt aus Schweden. Und kann auch gut Klavier spielen. Das ist doch schon mal einiges . . .« Sie wedelte mit den Fingern und klimperte mit den Augen.

Hanna hatte den starken Drang zu flüchten. Vor diesem Gespräch, vor ihren Gedanken. Lizzys flapsiges Gerede wühlte alles wieder auf: ihr schlechtes Gewissen, die angenehmen Erinnerungen und die an das üble Ende. Gut, dass Lizzy nichts davon wusste. Und wenn es nach Hanna ging, sollte das auch so bleiben. Sonst würde Lizzy sie bis in alle Ewigkeit mit ihrem nächtlichen Abenteuer aufziehen und mit schlechten Witzen quälen.

Um sich zu sammeln, nahm Hanna betont lässig einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Dann ging sie auf Lizzys Seite der Platte hinüber und lehnte sich neben sie. Scheinbar uninteressiert kommentierte sie Lizzys Überschwang: »Na ja.«

»Was heißt da na ja? Gib’s doch zu: Elf könnte dir auch gefallen.« Lizzy runzelte die Stirn und sah sie herausfordernd an. »Wenn du so zickig auf eine Frau reagierst, stehst du auf sie. Ich kenn dich besser als du dich selbst. Oder war da nicht was, gestern Abend, Frau Doktor?«

Hanna schnaubte: »So gut kennst du mich also. Ist ja beruhigend. Zu deiner Information – ich war distanziert, weil ich die Frau unverschämt finde. Ich hab versehentlich meine Tasche neben ihre Gitarre geworfen, als ich ankam.« Diese kleine Verfälschung der Wirklichkeit gönnte sie sich. »Und daraufhin hat Fritzens ‚elfenhafte? Schwester mich angeschnauzt, als ob ich debil wäre. Anmaßend. So eine Frau kann mir gar nicht gefallen.«

Lizzy wollte protestieren, aber Hanna kam ihr zuvor, indem sie ihren Schläger hob und Lizzys Mund damit abdeckte. »Und wenn überhaupt nur äußerlich«, beendete sie ihre Ausführungen. »Was sagt das schon.«

Besser, sie warf Lizzy einen Brocken hin, sonst würde sie nie lockerlassen. Wer weiß, was sie ihr dann noch alles aus der Nase ziehen würde. Lizzys Verhörkünste waren effektiver als die chinesische Wasserfolter. Hanna hatte ihr schon Dinge erzählt, die sie vorher geschworen hätte niemals preiszugeben.

Jetzt lachte sie auch schon triumphierend, als überlege sie sich schon die nächste Verhörrunde. Hanna betonte sicherheitshalber noch einmal: »Nur äußerlich, liebe Lizzy.«

Selbstzufrieden grinsend baute Lizzy sich vor Hanna auf. »Mal ganz davon abgesehen, dass sie dich eh total bescheuert findet. ›Elf wie die Tankstelle‹ . . .« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

Wurde sie jetzt von allen Seiten gemein angemacht? Hanna pustete die Luft aus. »Ist ja auch egal. Sie sei dein.«

Das hätte sie vielleicht nicht sagen sollen. So eine Gelegenheit aufzutrumpfen ließ sich ihre Freundin nie entgehen. »Wird sie auch bestimmt«, war Lizzys trockener Kommentar.

Zu Hannas Erleichterung wurde ihre Unterhaltung in diesem Moment unterbrochen. Ihre Trainerin und Teamkollegin Vera kam zielstrebig an ihren Tisch. »So, ihr zwei«, rief sie, »Schluss mit dem Gequatsche. Jetzt wird trainiert. Lizzy, du gehst rüber zu Micha, und ich spiel ’ne Runde mit Hanna. Ich glaub, in Zukunft trennen wir euch beide gleich von Anfang an.«

Lizzy und Hanna setzten gleichzeitig an zu protestieren, aber Vera hob abwehrend die Hände. »War ja nur ein Scherz, keine Panik! Wir wollen euch ja nicht euer ganzes Vergnügen nehmen.«

»Könntet ihr auch gar nicht. Stimmt’s, Hanna-Schätzchen?« Lizzy musste das letzte Wort haben, bevor sie sich davonmachte.

Hanna war froh, mit Vera zu trainieren. Nicht nur, weil ihr dadurch die Fortsetzung des Gesprächs über Elf erspart blieb, sondern auch, weil Vera eine bessere und schnellere Spielerin war als Lizzy. Hanna wollte jetzt die sportliche Herausforderung einer gleichwertigen Gegnerin. Mit voller Absicht servierte sie Vera ihren ersten Aufschlag extrem niedrig, angeschnitten und schnell, wohl wissend, dass die andere auf die Provokation eingehen würde. Für die nächste Stunde würde ihr Gehirn auf Tischtennis schalten und nur noch ihre Motorik den Takt angeben. Keine weiteren Gedanken zum Thema letzte Nacht und Fritz’ Schwester. Das war passé.

Die Morgensonne kitzelte Elf wach. Wie üblich erwachte sie nur langsam, tauchte erst allmählich aus ihren strudeligen Träumen auf: einer Mischung aus schwedischen Erinnerungen, Zukunftsvisionen, Melodien, Ängsten und Glücksmomenten. In dieser Nacht waren auch wieder die Erinnerungen an die Berührungen gekommen. Sie verfolgten sie seit jener unsäglichen Nacht, die sie am liebsten komplett vergessen hätte. Elf wischte diese physischen Eindrücke beiseite. Das war jetzt das Letzte, was sie brauchte.

Es ging seit Tagen so: aufwachen, das Traumkaleidoskop abschalten – diese verwirrende Vermischung von Bildern und Empfindungen, Sehnsüchten und Schuldgefühlen. Mehr oder weniger erfolgreich versuchte sie sich selbst gegenüber konsequent durchzugreifen: Melodien behalten, alles andere wegdrücken. Sie griff nach ihrer Gitarre. Die E-Saite war wieder aufgezogen und hatte ihr sogar ein paar neue Eindrücke von Stuttgart beschert. Der Mann in dem Laden hatte nicht nur eine gute Auswahl von verschiedenen Stahl- und Darmsaiten gehabt und sie kompetent beraten, sondern ihr auch gute Tipps im Hinblick auf Jobs geben können. Wie gut, das würde sich herausstellen. Auf jeden Fall wollte sie mit Musik ihr Geld verdienen. Viel mehr konnte sie auch nicht. Aber momentan hatte sie weder Kontakte noch einen Namen, nur ein paar Telefonnummern, die Fritz und jetzt der Typ aus dem Laden ihr gegeben hatten.

Sie klimperte. Wiederholte die melancholische Melodie, die in ihrem Kopf noch aus der Nacht herüberwehte. Dann nochmals, jetzt mit einer beschwingten Erweiterung. Sie spielte, setzte ab, begann von vorn, ergänzte, baute aus. Leise summte sie mit. Irgendwann schnappte sie sich einen Zettel, notierte die Griffe und machte weiter. Allmählich nahm es Konturen an. Sie gab sich ihrer Musik hin und hatte eine halbe Stunde später schon eine ganz brauchbare Version geschaffen.

Ihr Magen beschwerte sich mit lautem Knurren darüber, dass sie noch nicht gefrühstückt hatte. Sie legte die Gitarre zur Seite und ging in die Küche. Fritz musste längst auf der Arbeit sein, aber er hatte ihr einen Zettel dagelassen und sogar ein kleines Frühstück gerichtet; der Kaffee in der Thermoskanne war noch heiß. Es war fast zwölf Uhr. Elf schnappte sich den Milchkaffee und das Mobiltelefon und setzte sich auf die Terrasse.

Sie musste ihre Arbeitsliste durchtelefonieren. So langsam wurde es dringend, ihr Geld war ziemlich am Ende. Bisher waren ihre Anrufe immer nach demselben Schema abgelaufen: Ich möchte, ich kann, hätten Sie etwas. Sie können Gitarre spielen? Das ist nett. Klavier auch? Gut. Singen, ach ja? Wir melden uns bei Ihnen. Kommen Sie doch mal bei Gelegenheit vorbei, damit wir Sie kennenlernen können. Oder besser noch, schicken Sie ein Demoband und Ihre Bio. Dann melden wir uns.

Seit anderthalb Wochen ging das so. Die Clubs hatten so schnell auch keine Möglichkeiten. Wie denn ihr Repertoire wäre? Darauf konnte sie gar keine genaue Antwort geben: Blues, ein wenig Punk, folkmäßig manchmal, auch so moderneren Popkram konnte sie ganz gut. Einige Balladen hatte sie selbst geschrieben und auch fetzigere Stücke. Aber die musikalische Stimmung hier in Stuttgart war schwer einzuschätzen, und deutsche Sachen, da war sie nicht so drin.

In Stockholm hatte sie klassisch studiert: Klavier und ein wenig Marimba, dieses riesige Xylophon – eine Art Tisch mit Holzplatten, unter denen Klangröhren angebracht sind. Die Töne hatten sie so berührt. Aber das Instrument war ihr zu klobig, man konnte es nicht einfach mitnehmen.

Und hier in Stuttgart war das Arbeitsamt offenkundig überfordert. Musikpädagogische Frühförderung für Vorschulkinder in Heidelberg – das war alles, was sie ihr bisher angeboten hatten. Sie hatte keinerlei pädagogische Ausbildung und, verdammt noch mal, auch keine Neigung, kleinen Kindern im Stuhlkreis irgendetwas beizubringen. Und dann noch Heidelberg. Die Schnepfe vom Arbeitsamt hatte keine Vorstellung davon, was Elf wollte. Aber vielleicht war das auch zu viel verlangt. Sie wusste es schließlich selbst nicht genau.

Sie beschloss, einem der Tipps aus dem Musikladen nachzugehen, und rief im Kurhotel in Bad Cannstatt an. Als sich jemand meldete, verlangte sie Frau Gäbler zu sprechen.

Frau Gäbler riefe zurück, ließ man sie wissen. Ja, wann denn? Innerhalb der nächsten halben Stunde. Das sei sehr nett. Die professionelle Hotelfreundlichkeit tat Elf gut. Sie holte sich einen neuen Kaffee. Vielleicht würde sich bald etwas Konkreteres ergeben und nicht immer nur diese leeren Standardantworten. Sie überlegte, kurz unter die Dusche zu gehen. Aber was, wenn die Tante doch zurückrief?

In diesem Moment klingelte es tatsächlich. Frau Gäbler war persönlich am Apparat. Elf Suchaschewski? Sie können Klavier spielen, Potpourris, Klassiker aus Jazz und Blues, vielleicht auch mal ein Freddy-Quinn-Lied? Bei Freddy Quinn zuckte Elf leicht zusammen. Na ja, das wüsste sie jetzt nicht so, aber im Prinzip sei das kein Problem.

Es wäre für die Kaffeezeit, erklärte die Dame, die Lobby gehe in einen schönen Cafébereich über, da stehe ein Schimmel. Den habe der Herr Direktor angeschafft, weil die wohl einen sehr schönen Klang hätten. Bechsteins wären ja wohl auch gut. Elf bejahte. Wie lange sie schon spielen würde? Siebzehn Jahre. Siebzehn Jahr, blondes Haar . . . Frau Gäbler kicherte leise: So etwas würden sie sich vorstellen. Ihre Ausbildung? Königliche Akademie Stockholm. Den Abbruch des Studiums verschwieg Elf.

Sehr nett, das sei doch ein prima Hintergrund. Frau Gäbler meinte, Donnerstag bis Samstag von drei bis sechs. Ob ihr das recht sei. Sie wollten dreimal in der Woche für drei Stunden jemanden am Klavier.

Na, das wäre ja was: Klavier spielen zum Apfelstrudel mit Sahne.

Für ihre Ohren würden sich die Auskünfte schon ganz gut anhören, sagte Frau Gäbler, aber sie müsse doch darum bitten, ob Elf nicht für eine Woche mal Probe spielen könne. Gegen Bezahlung selbstverständlich. Die meisten Musiker wollten ja nicht im Hotel spielen. Das wäre wohl unter ihrer Würde. Oder so gescheiterte, die schon mit einem Weinbrand am Klavier säßen, noch bevor der erste Ton gespielt sei – das hätten sie nicht so gern. Es täte ihr ja auch leid, dass sie das so direkt erwähnen müsse, aber die Erfahrungen seien nicht so gut gewesen. Eigentlich wollten sie den Gästen einen netten Hintergrund bieten, der ihren gehobenen Ansprüchen im Hotel entspreche. Das hätten sie sich nicht so kompliziert vorgestellt. Wie schnell sie sich denn treffen könnten?

Elf schluckte. Jetzt war keine Zeit mehr, zimperlich zu sein. »Ich könnte direkt heute Nachmittag vorbeikommen.«

Frau Gäbler war entzückt: ein nettes Telefonat, informativ, und sie würde sich freuen, wenn sie sich heute noch treffen könnten. Wie wäre es um halb drei? Dann könnte sie sich ja eventuell schon heute ans Klavier setzen.

Elf stimmte zu. Das ging jetzt aber ziemlich fix. Sie verabschiedeten sich freundlich.

Nach den mühseligen Gesprächen mit den unverbindlichen, bohrenden Fragen, die ihr bisher immer gestellt worden waren, war das hier etwas Neues. Ziemlich klare Ansagen, superschneller Termin. Über das Geld würden sie dann persönlich sprechen. Endlich ein Lichtblick.

Sie sprang unter die Dusche. Mit Fritz hatte sie eine Woche Eingewöhnung vereinbart, Party, damit sie ein paar Leute kennenlernen konnte, und dann Jobsuche. Heute war schon Donnerstag, und bisher war nur dabei herausgekommen, dass sie a) unbedingt Bewerbungsunterlagen brauchte und b) unbedingt ein Demoband. Beides war nicht so einfach. Wobei das Demoband noch problematischer war. Sie hatte zwar ein paar Aufnahmen aus Stockholm, aber das waren Stücke von Chopin und zwei irische Folksongs, mit denen sie nicht hausieren gehen wollte, weil sie außer ihrer Technik nicht ihre Musik vorstellten. Nur: was war überhaupt ihre Musik? Der Gedanke schwebte vorbei und ließ sie ratlos zurück.

Sie schüttelte sich. Da kam richtig viel Arbeit auf sie zu. Einiges hatte sie zwar schon komponiert, sowohl ein paar Klavierstücke als auch ein paar Sachen für die Gitarre, aber war das ihre Musik? Oder ihre Schubladensongs? Irgendwie widerstrebte es ihr, darüber nachzudenken. Sie wusste nur ganz genau, dass eine weitere klassische Ausbildung ihr nichts genutzt hätte. Sie wollte keine klassische Karriere machen, obwohl sie das schwedische Pendant von Jugend musiziert gewonnen hatte.

Sie seifte sich ausgiebig ein. Wasser war immer gut. Das Rauschen der Dusche verwob sich mit der Melodie, die sie kurz nach dem Aufwachen entwickelt hatte. Darin war beides: Melancholie und Witz. So etwas Sehnsuchtsvolles mit dem Versprechen einer besseren Zukunft. Das Lied könnte gut werden.

Das kalte Wasser würde sie noch mal richtig wach machen. Sie drehte es voll auf. Es wirkte. Jetzt musste sie sich schon fast beeilen, sie hatte ein wenig getrödelt. Sie wollte Frau Gäbler nicht warten lassen. Ihr Herz begann aufgeregt zu klopfen: Sie sollte Barpianistin werden. Na, wenigstens etwas.

Frisch geschniegelt betrat sie das Hotel und meldete sich am Empfang. Die Rezeptionistin winkte ihrem Kollegen. »Könnten Sie Frau Suchaschewski bitte zu Frau Gäbler bringen?«

Der junge Mann lächelte freundlich: »Das wird nicht nötig sein. Hier ist sie schon.« Er deutete auf eine sehr gepflegt und elegant wirkende Frau, die quer durch die Lobby auf sie zukam.

»Sie sind Frau Suchaschewski? Wie schön. Und pünktlich.« Sie strahlte Elf herzlich an. »Etwas zu trinken? Ein Wasser oder etwas anderes?«

»Wasser wäre nett. Danke.«

Frau Gäbler strebte einer Sitzgruppe zu, ganz in der Nähe des Flügels. »Wollen Sie direkt loslegen«, erkundigte sie sich, »oder wie wollen wir es machen?« Dann korrigierte sie sich: »Nein, ich erkläre Ihnen jetzt nochmals genau, was wir von Ihnen erwarten.«

Sie deutete einladend auf die Sitzgruppe, und sie setzten sich.

»Also«, begann Frau Gäbler, »wir haben hier einen sehr guten Konditor, einen sehr schönen Cafébereich, wo morgens auch gefrühstückt wird, und wir möchten eine angenehme Umgebung schaffen. Das heißt für uns, nicht nur leise Musik aus der Konserve abspielen, sondern auch ein wenig Live-Atmosphäre und eine exklusivere Stimmung bieten. Daher möchten wir jemanden am Klavier, der die verschiedenen Stile ganz gut beherrscht, auch mal Musikwünsche unserer Gäste erfüllen kann, sowohl was den klassischen Bereich als auch was den modernen –«, sie lächelte, »– in Anführungszeichen moderneren betrifft. Eine kleine Notenauswahl haben wir schon besorgt. Sollten Sie mehr benötigen, sagen Sie einfach Bescheid.«

Sie blickte Elf erwartungsvoll an. Elf nickte.

»Ja, und wir stellen uns vor, so wie wir in diesem Hause Kontinuität vermitteln wollen, sowohl was die hohe Qualität des Services als auch alles weitere betrifft, so wollen wir auch jemanden finden, der recht regelmäßig für die musikalische Unterhaltung sorgt. Und das auf einem gewissen Niveau.«

Wieder ein erwartungsvoller Blick. Elf nickte erneut. Frau Gäbler redete nicht lange herum, sie kam sofort zum Punkt. Elf wusste gar nicht, was sie sagen sollte.

»Wegen der Bezahlung«, fuhr Frau Gäbler auch schon fort, »wir zahlen ein Tageshonorar von 150 Euro. Und Probezeit.«

Wieder nickte Elf.

Auszahlung jede Woche, und versteuern müsse sie selbst. Damit erhob sich Frau Gäbler. »Natürlich müssen wir auf angemessener Kleidung bestehen, aber wir können Ihnen auch etwas zur Verfügung stellen: weiße Blusen und dunkle Röcke oder Hosen. Da haben wir genug in unseren Wäschekammern.« Sie lächelte wieder. »Und wenn Sie dann heute schon mal anfangen können, dann zeige ich Ihnen noch Ihren Spind und wo Sie sich umziehen können.« Sie blickte mit leicht hochgezogener Braue auf Elfs zerrissene Jeans.

Dann führte Frau Gäbler Elf in die Katakomben des Hotels, händigte ihr einen Schlüssel aus und bat um ihren Personalausweis, um sich eine Kopie machen zu können und die weiteren Arbeitspapiere vorzubereiten. »Jetzt wissen Sie ja Bescheid«, sagte sie abschließend. »Sollten Sie noch Fragen haben, wenden Sie sich gern jederzeit an mich, ich stehe Ihnen zur Verfügung. Wenn alles gut geht, können wir ja bald alles unterschriftsreif machen.«

Sie verabschiedete sich höflich von Elf, übergab sie einer Mitarbeiterin, die sie zu den Kleidern führen und ausstaffieren sollte, und ging.

Eine Viertelstunde später schlug Elf die ersten Akkorde an – leicht betäubt von dem Tempo, mit dem sie den Job ergattert hatte. Seit ihrem Telefonat mit Frau Gäbler waren gerade drei Stunden vergangen. Jetzt saß sie hier, einen schönen Flügel vor der Nase, gekleidet in eine schwarze Bundfaltenhose und eine weiße Bluse. Unbequem. Das musste sie morgen anders machen. Irgendwas von Fritz leihen oder sonstwie.

Sie spielte alles, was ihr in den Sinn kam. Rauf und runter. Jede Stunde hatte sie fünf Minuten Pause und bekam alkoholfreie Getränke, so viel sie wollte. Sogar ein Personalessen konnte sie sich bestellen.

Sie hatte einen Job. Heureka. Es war nicht viel, aber es war ein Anfang, und sie konnte zumindest Fritz etwas zurückzahlen von der Kohle, die er ihr geliehen hatte. Er hatte ja selbst nicht so viel. Und das Haus kostete auch.

In den letzten zwei Wochen hatte Hanna sich mit Arbeit überhäuft, indem sie zusätzlich zu ihren regulären Schichten im Krankenhaus weitere Dienste übernommen hatte. Ihr Professor hatte das mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen und ihr bescheinigt, dass sie, wenn sie so weitermache, eine gute Karriere in Aussicht habe. Zur Belohnung hatte er sie mit in die Nuklearmedizin genommen: seine Vorzeigestation, die mit der neuesten Technik ausgestattet war. Er überreichte Hanna ihren Dosimeter, als handele es sich um das Bundesverdienstkreuz. Hanna fühlte sich auch fast genauso geehrt, als sie den Strahlenmesser an ihrem weißen Kittel befestigte. Nur medizinisches Personal, das sich öfter in der nuklearmedizinischen Abteilung aufhielt, musste einen Dosimeter tragen, um kein gesundheitliches Risiko einzugehen. Sobald die Strahlenmenge, der man ausgesetzt war, einen bestimmten Grenzwert überschritt, wurde man sofort ausgewechselt.

Dass sie nun einen Dosimeter erhalten hatte, bedeutete, dass sie nach den Wünschen von Professor Wertheimer in Zukunft öfters hierherkommen sollte. Hanna war mit sich selbst zufrieden. Die ganzen Überstunden hatten sich ausgezahlt. In jedweder Hinsicht: Nicht nur hatte sie beruflich einen großen Schritt vorwärts getan, sie hatte auch Abstand von ihrer privaten Konfusion gewonnen. Für ein Treffen mit Lizzy oder Fritz hatte sie keine Zeit gehabt. Noch nicht einmal für ihren Sport hatte sie sich freigenommen. Das war selten, aber sie hatte das Gefühl, dass ihr die kleine Auszeit gutgetan hatte. Sie war wieder ausgeglichen. Jetzt würde kein Thema, das Lizzy während des Trainings anschneiden mochte, sie mehr kalt erwischen.

Vera winkte ihr zu, als sie die Halle betrat. Hanna musste daran denken, wie Vera sie beim letzten Training nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen hatte, nachdem sie sie herausgefordert hatte. Heute zahle ich es ihr zurück, beschloss sie. Ihre sonst so weichen Lippen verzogen sich zu einem entschlossenen Grinsen.

»Na, führen wir Selbstgespräche?«, riss Lizzys Stimme sie aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um, leicht irritiert über Lizzys triefenden Sarkasmus. Aber ihre gute Laune war nicht zu erschüttern.

»Liebste Freundin Lizzy, schön, dich zu sehen.« Sie grinste Lizzy an. Das Leben war schön.

»Nett, auch dich zu sehen, Workaholic. Ist Tischtennisspielen mit deiner alten, vernachlässigten Freundin dir zu öde, oder warum warst du nicht da und hast dich nicht mal gemeldet?« Lizzy schien tatsächlich ein bisschen angefressen zu sein.