Die dunkelste Stunde der Nacht - Ian Rankin - E-Book

Die dunkelste Stunde der Nacht E-Book

Ian Rankin

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Beschreibung

Manchmal muss man Grenzen überschreiten, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun ...

Sein gesamtes Berufsleben hat Detective John Rebus damit verbracht, Edinburghs Kriminelle hinter Gitter zu bringen. Jetzt sitzt er selbst im Gefängnis - für einen Detective ein hochgefährliches Szenario. Denn seine alten Feinde lauern nur auf einen kleinen Moment der Schwäche, und es fällt dem legendären schottischen Kommissar schwer, die Oberhand zu behalten. Zumindest bis der rätselhafte Mord an einem Mitgefangenen Rebus' Jagdinstinkt weckt: Die Tat geschah um Mitternacht in einer verschlossenen Zelle. Ohne offiziellen Auftrag, ohne jegliche Autorität und ohne Sicherheitsnetz muss Rebus jeden seiner Schritte vorsichtig abwägen, damit er nicht selbst das nächste Opfer wird ...

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Seitenzahl: 471

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Sein gesamtes Berufsleben hat Detective John Rebus damit verbracht, Edinburghs Kriminelle hinter Gitter zu bringen. Jetzt sitzt er selbst im Gefängnis – und tut sich schwer. Denn während Rebus’ alte Feinde auf einen kleinen Moment der Schwäche lauern, um ihn fertigzumachen, fällt es dem legendären schottischen Kommissar schwer, die Oberhand zu behalten. Zumindest bis der rätselhafte Mord an einem Mitgefangenen Rebus’ Jagdinstinkt weckt: Die Tat geschah um Mitternacht in einer verschlossenen Zelle. Und zusammen mit einer ganzen Reihe von Insassen stehen auch verschiedene Gefängniswärter unter Verdacht. Ohne offiziellen Auftrag, ohne jegliche Autorität und ohne Sicherheitsnetz muss Rebus jeden seiner Schritte vorsichtig abwägen, damit er nicht selbst das nächste Opfer wird …

Weitere Informationen zu Ian Rankin und lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Ian Rankin

Die dunkelste Stunde der Nacht

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Conny Lösch

Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel

»Midnight And Blue« bei Orion Books, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung September 2025

Copyright © der Originalausgabe 2024 by John Rebus Ltd.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ralf Reiter

Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München

Covermotiv: Mark Roche / Getty Images

FinePic®, München

LK · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-30874-2V001

www.goldmann-verlag.de

Vorher

Schnell rein und raus, nur eine kleine Gefälligkeit. Oder vielleicht doch eher eine große, aber irgendwann bekommt man ja auch was dafür zurück. Schnell rein und raus – eigentlich nicht mal das. Bloß ein banaler Einbruch, er hätte nicht mal in den Laden reingemusst. Die Alarmanlage würde losgehen, aber es dauerte immer eine Weile, bis jemand reagierte. Schon möglich, dass es Kameras gab, aber er hatte seine Skimaske übergezogen, und außer den Augen war sowieso nichts zu sehen. Und er trug natürlich Handschuhe.

»Du musst gar nicht rein«, hatte man ihm versichert. »Überlass das uns.«

Aber die Tür war fast zu leicht zu knacken, und als das erledigt war, was hätte ihn da aufhalten sollen? Vielleicht lag ja ein bisschen Geld herum, ein Handy oder ein iPad, um das sich niemand scherte. Er wusste, dass er ein paar Minuten hatte. Vielleicht sogar fünf oder zehn.

Aber als er sich drin umsah, war’s einfach nur ein Nagelstudio. Außer Nagelfeilen und Nagellack nichts, was sich gelohnt hätte. Keine Kasse, bloß ein Kartenlesegerät. Sollte es einen Computer geben, hatte ihn jemand über Nacht nach Hause mitgenommen. Hinten im Raum befanden sich zwei weitere Türen – Toilette links und Büro rechts. Das Büro war ebenfalls abgeschlossen. Ein Yale-Schloss. Mit den Zähnen zog er sich die Handschuhe von den Fingern, um die kleineren Dietriche besser fassen zu können. Zehn Sekunden, länger brauchte er nicht. Er überquerte die Schwelle und schaltete die Taschenlampe seines Handys ein. Als er erkannte, was da auf dem Schreibtisch lag, ballte er wütend die Faust, in der er den Dietrich hielt, und zischte laut durch zusammengebissene Zähne.

Dann drehte er sich um, rannte los und merkte nicht, dass er sich mit dem spitzen Dietrich verletzt hatte. Als er floh, fielen winzige Tröpfchen Blut auf den Laminatboden …

Erster Tag

1

Noch bevor die Sirene losging, spürte Rebus, dass etwas nicht stimmte. Er stand in der Schlange fürs Frühstück und hörte den Wizard, der sich mal wieder die Lunge aus dem Leib hustete. Über die hierarchischen Verhältnisse wurde hier nie gesprochen, sie ergaben sich von ganz allein. Wer den starken Mann markierte oder einfach losbrüllte, kam schneller an sein Essen, alle anderen stellten sich in einer ungeordneten Reihe hinter ihm an. Der Wizard hustete zwei Mann vor Rebus, was völlig okay war. Wahrscheinlich war er gar nicht viel älter, sah aber so aus. Er war länger im Gefängnis als alle anderen hier im Trakt. Sein richtiger Name war Gareth Wallace. Seinen Spitznamen hatte er wegen seiner langen grauen Locken und des noch längeren Barts bekommen. Er krümmte sich beim Husten, hielt dabei aber nicht mal eine Hand vor den Mund. Neuankömmlinge rissen Corona-Witze, bis sie kapierten, dass keiner davon hier zum ersten Mal erzählt wurde. Als Rebus sich umdrehte und hinter sich blickte, stand dort Ratty. Anscheinend schrumpfte er von Tag zu Tag ein Stückchen mehr. Rattys Augen waren schmaler als sonst und ausnahmsweise mal nicht auf den Fortgang der Schlange konzentriert. Er deutete ein Nicken an, als er merkte, dass Rebus ihn ansah.

Dann schlug einer der weiß behemdeten Beamten Alarm, und sofort ging es drunter und drüber. Die Sirene ertönte unvermittelt und war ohrenbetäubend, sie wurde begleitet von der Ankunft weiterer Beamter, die aufgeregt umhereilten und sich berieten. Dann kam der Befehl – alle Mann zurück in die Zellen –, gefolgt von allgemeinem Gemurre und Fragen.

»Heute gibt’s Zimmerservice«, verkündete ein Beamter namens Eddie Graves und trieb die widerwillige Meute aus dem Raum.

»So gut möchte ich’s auch mal haben.« Graves hatte immer was zu meckern, als wäre das Glück grundsätzlich auf der Seite der Insassen.

»Aber wie lange müssen wir darauf warten?«, fragte jemand.

»Geht los, sobald ihr alle verschwunden seid«, erwiderte Graves.

Obwohl Ratty gute sechzehn Zentimeter kleiner war als Rebus, sah und wusste er immer alles. »Geht um Jackie«, erklärte er Rebus. Tatsächlich standen zwei Beamte – Novak und Watts – vor Jackie Simpsons offener Tür, steckten die Köpfe zusammen und besprachen sich mit gedämpften Stimmen. Obwohl weitere Beamte die Zelle abschirmten so gut es ging, mussten Rebus und mehrere andere daran vorbei, um zu ihren eigenen zu gelangen.

»Weiter geht’s«, kam der Befehl, fuchtelnde Hände, ausgestreckte Arme. Aber wie bei einem Unfall auf der Autobahn verlangsamten die vielen Gaffer unweigerlich den Verkehr. In der Zelle standen zwei weitere Beamte. Rebus erkannte eine blutverschmierte, liegende Gestalt auf dem unteren Stockbett. Darüber lag ein anderer Mann in scheinbar besserem Zustand, insofern als ihn die Beamten zu wecken versuchten, während sie seinen Zellengenossen ignorierten. Rebus fiel der Name des Mannes im oberen Bett wieder ein – Mark Jamieson. Draußen hatte er ihn flüchtig gekannt. Allerdings ließ er diesen Umstand hier drin lieber unerwähnt, alles andere hätte Jamieson ihm wohl kaum gedankt.

»Komm schon, John«, sagte Graves und presste ihm eine Hand auf die Schulter. »Mach’s nicht kompliziert.« Einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke. Graves’ Kinnpartie wirkte angespannt, und die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.

»Ist nicht meine Art, Dinge kompliziert zu machen«, versicherte ihm Rebus. »Im Gegensatz zu anderen.« Er zeigte über Graves’ Schulter zu Darryl Christie, der an einem der runden Tische in der Nähe der Essensausgabe saß. Zwei Beamte flankierten ihn, während er fertig frühstückte, sich Zeit ließ, jeden einzelnen Bissen genoss. Keiner der Beamten schien ihn dabei stören zu wollen.

»Darryl!«, rief Graves. »Los, zurück in deine Zelle, bitte!«

Christie drehte langsam den Kopf, betrachtete Graves und Rebus. »Na klar, Michelle«, rief er. Michelle wegen Michelle Mone. Graves war auch bekannt als Serial Moaner, weil er ununterbrochen was zu mosern hatte. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihn der Spitzname wurmte. Rebus hatte das Gefühl, dass das Grinsen, das Christie jetzt in Graves’ Richtung sandte, weniger für den Beamten bestimmt war als für ihn.

John Rebus hatte eine Zelle mit einem schmalen Bett, einer Toilette und einem Waschbecken für sich allein. Die Toilette hatte keine Tür, befand sich aber in einer Art offener Kabine, die eine gewisse Ungestörtheit erlaubte. Außerdem gab es einen kleinen Schreibtisch und etwas Stauraum sowie ein kleines Regal für persönliche Gegenstände. Darin hatte er alle Bücher gestapelt, die er sich zu lesen vorgenommen hatte. In einem bewahrte er außerdem Fotos von seiner Tochter und Enkeltochter auf. Er wusste nicht so genau, warum er sie versteckt hielt, aber so war’s. Der an der Wand befestigte Flachbildfernseher war seitlich mit einem integrierten DVD-Player versehen, und es gab sogar einen Festnetzanschluss. Anrufe mussten allerdings vorher angemeldet und bezahlt werden und wurden selbstverständlich abgehört, vorausgesetzt, das notwendige Personal stand zur Verfügung. Unter dem Bett befand sich ein kleiner Safe für Wertgegenstände, den Rebus aber nie abschloss.

Hier war er jetzt zu Hause, und das schon seit sechs Monaten. Bei seiner Ankunft im HMP Edinburgh hatte man ihm zunächst provisorisch eine Ausnüchterungszelle zugewiesen. Anschließend entschied man, ihn als ehemaligen Polizeimitarbeiter nicht in den allgemeinen Strafvollzug zu stecken, sondern in den Isolations- und Reintegrationstrakt, die sogenannte SRU. Hier landeten die Gefangenen, die entweder durch andere gefährdet wurden oder eine Gefahr für sich selbst darstellten. Einige von ihnen bekam Rebus nie zu Gesicht. Sie blieben in ihren Zellen, beschwerten sich gelegentlich laut brüllend, hielten größtenteils aber die Klappe. Es gab einen Innenhof, wo Sport getrieben wurde, die Wände waren über und über mit Namen beschmiert, teilweise mit Beiwörtern wie »Pädo« oder »pervers« versehen.

Rebus fühlte sich eingeengt, nicht nur durch die Mauern, sondern auch die täglich immer wieder gleichen Gesichter. Er hatte das Gefängnis in seiner Zeit als Detective unzählige Male besucht – er erinnerte sich sogar noch, wie man ihm den Hinrichtungsraum gezeigt hatte, der inzwischen längst abgerissen war –, aber sich jetzt hier als Sträfling aufzuhalten, war etwas ganz anderes. Die verschiedenen Gerüche ließen sich nicht einfach abduschen. Testosteron und Argwohn lagen in der Luft, sofern es überhaupt welche gab. Der Drogenmissbrauch war kaum zu übersehen. Früher hatte man immer nur von Saughton gesprochen, auf den Hemden der Beamten stand heutzutage aber HMP Edinburgh. Gefängnis, Knast, Bunker, Loch – Bezeichnungen gab es genug, aber alle liefen auf dasselbe hinaus: Es ging ums Einsperren.

Es gab vier große Trakte oder Halls – Gyle, Swanston, Trinity und Whitecraig. Gyle war für die weiblichen Gefangenen vorgesehen, während in Whitecraig vorwiegend Sexualstraftäter untergebracht waren. In Trinity und Swanston saßen diejenigen, die in Untersuchungshaft auf ihre Verhandlung warteten, aber auch bereits Verurteilte. Ungefähr drei Monate, nachdem Rebus zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war, hatte der Gefängnisdirektor Howard Tennent ihn in sein Büro zitiert. Es war groß und modern, ausgestattet mit einem Tisch und Stühlen für Besprechungen. Man bot ihm Tee an, und es gab sogar Shortbread.

»Was halten Sie davon, sich in Trinity Hall ein bisschen unters Volk zu mischen?«, hatte Tennent gefragt, während Rebus in einen Keks biss.

»Wieso? Was hat sich geändert?«, hatte Rebus zurückgefragt.

»Zwei Dinge. Erstens gehen uns in der SRU die Zellen aus, wir könnten Ihr Bett also gut gebrauchen.«

»Und?«

Der Direktor rutschte verlegen auf seinem Stuhl herum. »Darryl Christie ist bereit, die Hand über Sie zu halten. Das heißt, Sie stünden unter seinem Schutz. Anscheinend ist er der Ansicht, Sie hätten ihm einen Gefallen getan.«

»Er denkt, ich habe seinen Konkurrenten ausgeschaltet – was ich aber nicht getan habe. Meine Anwälte bereiten das Berufungsverfahren vor.«

»Aber Sie waren dabei, als Cafferty starb.«

»Auch das ist nicht richtig. Den Herzinfarkt hatte er erst, als ich schon wieder weg war.« Rebus hielt inne. »Ist Trinity Hall Christies Revier?«

Tennent wischte ein paar Krümel vom Tisch. »Er garantiert Ihnen Sicherheit, John. Außerdem ist dort gerade eine Einzelzelle frei geworden. Sie sind schon seit einigen Jahren nicht mehr im aktiven Dienst. Ich glaube kaum, dass Sie hier allzu vielen Männern begegnen werden, die ihren Aufenthalt hier Ihnen zu verdanken haben. Tatsächlich habe ich schon mal nachgesehen. Nur ein paar Gewohnheitsverbrecher, von denen sich keiner auch nur im Traum einfallen lassen würde, sich mit Darryl und seinen Leuten anzulegen.« Er sah Rebus eindringlich in die Augen. »Also, was sagen Sie?«

»Ich sage, wenn mich zum Schluss doch einer um die Ecke bringt, will ich Sie an meinem Grab weinen sehen.«

Tennent lächelte angestrengt und erhob sich. Rebus schnappte sich noch einen letzten Keks, bevor er abgeführt wurde.

Na ja, mal was anderes, dachte er sich, wobei ihm durchaus bewusst war, dass ehemalige Polizisten unter Sträflingen allgemein eher nicht mit offenen Armen empfangen wurden. Außerdem war ihm bewusst, dass Darryl Christie seine Meinung jederzeit ändern konnte, was Rebus in jeder Hinsicht angreifbar machte.

Eine Stunde verging, bis seine Zellentür lange genug entriegelt wurde, sodass kalter Toast und ein Becher viel zu starker Tee hereingereicht werden konnten. Der Beamte hieß Kyle Jacobs – die Männer im Trakt nannten ihn Kylie. Rebus hatte sich in den vergangenen Wochen mit ihm angefreundet, Jacobs hörte sich gerne Geschichten aus Rebus’ Zeit beim CID an. Er war Ende zwanzig, hatte kurzes, gepflegtes Haar und üppig tätowierte Arme, außerdem zwei Onkel bei der Lothian and Borders Police. Rebus hatte so getan, als würde er sie kennen.

»Sieht ja appetitlich aus«, behauptete Rebus und nahm ihm den Teller ab.

»Besser ging’s nicht. Die Eier hätten eigentlich auch von allein hierherlaufen können.«

»Was ist denn da draußen los?«

»Jemand hat Jackie die Kehle durchgeschnitten. Der ist hinüber.«

»Und Jamieson?«

»Total breit. Er hat eine fiese Schnittwunde an der Stirn.«

»Das heißt, er wurde ausgeschaltet. Hat man die Tatwaffe gefunden?«

Jacobs sah sich um. »Ich hab schon mehr gesagt, als ich eigentlich dürfte.«

Rebus hatte sich in der Hoffnung an ihn herangeschoben, einen Blick in den Gang riskieren zu können, aber der junge Beamte versperrte ihm den Weg. In der Nachbarzelle brüllte jemand.

»Kylie, mach schneller, verdammt! Mein Bauch denkt auch, mir wurde der Hals abgeschnitten!«

Jacobs wollte Rebus’ Tür schließen.

»Halt mich auf dem Laufenden«, bat Rebus.

Er setzte sich auf die Bettkante und lauschte dem Verriegeln der Tür. Normalerweise hätte er jetzt in der Bibliothek ausgeholfen. Man hatte ihm einen Job bei der Putzkolonne oder in der Küche angeboten, aber die Vorstellung, umgeben von Büchern zu arbeiten, hatte ihm mehr zugesagt. Die Bibliothek war nicht weit von der Krankenstation und dem Pflegepersonal entfernt, das Rebus regelmäßig mit COPD-Inhalatoren versorgte. Natürlich immer mit der Warnung, sie auf keinen Fall weiterzugeben – »manche bauen die zu Bongs um«, hatte man ihm erklärt. Wobei Cannabis nicht das größte Problem im Knast war. Spice und Konsorten richteten seit mehreren Jahren einiges an Verwüstung an. Ketamin, Nitazen, Etizolam, Bromazolam – Rebus kam nicht mehr mit, was keine Rolle spielte, da die meisten Insassen ohnehin nur von »Benzos« sprachen und kaum darauf achteten, in welcher Kombination und Dosis sie etwas angeboten bekamen. Die Drogen ließen sich leicht verstecken und verströmten keinen verräterischen Geruch. Ab mittags sah man dann, welchen Tribut Benzos forderten, überall reglose Gestalten mit teilnahmslosen Mienen. Einige Ketamin-User hatten ihrer Sucht Blasenprobleme und einen künstlichen Darmausgang zu verdanken. Sie wurden Pissbag One, Two und Three genannt. Das medizinische Personal hatte immer Orangen zur Hand, weil diese den Effekt von Spice lindern. Rebus hatte außerdem zahlreiche Hinweise auf Selbstverletzungen gesehen, Gefangene mit von Narben übersäten Armen und frischen Rasierklingenschnitten dazwischen. Niemand sprach darüber; so was gehörte einfach zum Leben hinter Gittern.

In einer Hinsicht hatte Tennent recht behalten: Rebus war bislang niemandem begegnet, der noch echten Groll gegen ihn hegte. Es gab einen gewissen JoJo Peters, der drei Morde auf dem Gewissen hatte und in den Knast gekommen war, weil ein ruhender Fall wieder aufgenommen worden war, zu dessen Aufklärung Rebus beigetragen hatte. Allerdings litt er inzwischen unter Demenz und verließ seine Zelle kaum noch. Die anderen Gefangenen sahen regelmäßig nach ihm und brachten ihm Süßigkeiten mit. Als Rebus einmal bei ihm vorbeigegangen war, hatte Peters durch ihn durchgesehen, als wäre er Luft, und dabei mit seinen wenigen noch verbliebenen Zähnen ein Sahnebonbon zerkaut.

»Eigentlich gehört der gar nicht hierher«, hatte ein jüngerer Gefangener behauptet, der ihn mit einer Handvoll Bonbons als Nachschub versorgte. »Wenn die ein Herz hätten, würden sie ihn in ein Heim oder ein Hospiz stecken.«

Anscheinend hatte sich das bis zu Darryl Christie durchgesprochen, der Rebus später im Gang danach fragte.

»Meinst du, JoJo könnte zum Problem werden?«, fragte er.

»Bestimmt nicht.«

Christie hatte, von zwei Beamten beobachtet, bedächtig genickt und sich abgewandt. Rebus bezweifelte, dass sie schnell genug reagiert hätten, selbst wenn Christie sich auf ihn gestürzt hätte. Die Einrichtung war personell unterbesetzt – wie alle Gefängnisse –, dabei aber voll ausgelastet. Andere Strafanstalten waren noch überfüllter, und wenn jemand wie Christie ein gewisses Maß an Kontrolle ausübte, machte dies allen das Leben leichter.

An dem Tag, an dem Rebus die ihm nun dauerhaft zugewiesene Zelle bezog, war Christie bei ihm vorstellig geworden. Er hatte zugenommen, trug die Haare jetzt lang, aber aus der Stirn gekämmt. Er wollte sich bei Rebus dafür bedanken, dass er Morris Gerald Cafferty aus dem Weg geräumt hatte. Rebus aber war wegen Mordversuchs, nicht wegen Mordes verurteilt worden. Der Richter hatte die dafür vorgesehene lebenslängliche Haftstrafe verhängt, obwohl Rebus beteuert hatte, er habe Big Ger nur einen Schrecken einjagen wollen, indem er ihm ein Kissen aufs Gesicht drückte. Der Staatsanwaltschaft hatte das nicht gefallen, und sie hatte Cafferty wie eine an den Rollstuhl gefesselte Mutter Teresa dargestellt und nicht wie den brutalen Berufsverbrecher, der er war. Frühere Begegnungen zwischen Rebus und Cafferty wurden ausgegraben und den Geschworenen zur Begutachtung und Beurteilung vorgelegt. Caffertys Tod hatte ein Vakuum hinterlassen – spätestens als sein herablassender Helfer Andrew Downs aus der Stadt gejagt wurde. Und nun war es Christies Stadt, die er kontrollierte, während er sich hier im HMP Edinburgh den Hintern auf seinem Thron platt saß beziehungsweise auf Rebus’ Schreibtischstuhl.

»Schon eingelebt? Kann ich dir was besorgen? Ich weiß, dass du draußen gerne mal was getrunken hast – ist hier drinnen eher schwierig, was zu bekommen. Pillen sind dagegen kein Problem – Upper und Downer –, da vergisst du schnell, dass du von vier Wänden umgeben bist. Du vergisst alles Schlechte.«

»Gibt’s eine Chance, an Sanatogen heranzukommen?«

Christie guckte ratlos.

»Vergiss es«, erwiderte Rebus. Dann: »Erwartest du, dass ich dir danke?«

Rebus hatte Christie schon gekannt, als dieser noch ein Teenager war und seine ermordete Schwester rächen wollte. Damals standen ihm alle Möglichkeiten offen, aber er hatte sich für den Weg entschieden, der ihn schließlich hierhergeführt hatte. Rebus war dabei gewesen, als Christie einen seiner Feinde erschoss. Er hatte den Wahnsinn in den Augen des jungen Mannes lodern sehen und war eigentlich sicher gewesen, dass er in Carstairs in der geschlossenen Abteilung landen würde. Das Gesetz aber sah etwas anderes vor.

»Du könntest was für mich tun, so von einem lebenslänglich Verurteilten zum anderen«, hatte Christie an jenem Tag zu ihm gesagt und sich vor ihm aufgebaut, sodass er sich mit dem stehenden Rebus auf Augenhöhe befand.

»Was?«

»Geh’s mit mir durch. Hilf mir, damit ich’s mir vorstellen kann.«

Er sprach jetzt leiser, aber seine Augen funkelten. »Hatte er Angst? Hat man es ihm angemerkt? Hat er gewinselt?« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sein Atem roch schlecht, und seine Haut war fahl. »Und wenn ich’s mir recht überlege, wie ging’s dir überhaupt damit? Das hat sich doch lange angebahnt. Viel zu lange und über so viele …«

»Eigentlich hatte ich sogar ein bisschen Respekt vor ihm«, erwiderte Rebus schließlich. »Er hatte so was wie einen Kodex, manches war für ihn schlicht undenkbar. Das kann nicht jeder Verbrecher von sich behaupten.«

Dann hatte er sich auf sein Bett gesetzt, ein Buch zur Hand genommen und so getan, als wäre er vollkommen darin vertieft. Christie hatte er einfach stehen lassen. Als sich dieser schließlich wieder verzog, fuhr er sich nervös mit den Fingern durch die Haare.

Einige Insassen sprachen von Christie als dem »Don«. Als Rebus das hörte, hielt er es für nötig, auszuführen, dass Christie wohl kaum Vito Corleone sei. Trotzdem hielt sich der Spitzname. Rebus wusste nur zu gut, dass es nicht nur Vorteile hatte, Christies Schutz zu genießen. Besser, man machte sich nicht unnötig über ihn lustig. Er behielt seine Gedanken also für sich, arbeitete so oft und lange wie möglich in der kleinen, aber gut ausgestatteten Bibliothek und lernte einige seiner Mitinsassen kennen, fand heraus, wem er bis zu einem gewissen Grad vertrauen konnte und wen er besser mied. Hin und wieder dachte er an Cafferty, aber ohne Reue. Die lebenslängliche Verurteilung kam Rebus vor, als hätte Cafferty sich ein letztes Mal einen Spaß auf seine Kosten erlaubt.

Der Geräuschpegel schwoll im Verlauf des Vormittags an, hinter den verschlossenen Türen wurde Unmut laut. Rebus’ Nachbarn auf beiden Seiten – Billy Groam und Everett Harrison – traten oder hämmerten hin und wieder auch dagegen. Bei Harrison lief wie üblich Musik. Rebus hatte es aufgegeben, ihn zu bitten, sie leiser zu drehen. Harrison war karibischer Herkunft und sprach mit Liverpooler Akzent. Er hatte für einen in Merseyside ansässigen Drogen- und Menschenhändler gearbeitet, war in dessen Auftrag nach Edinburgh gekommen und dort festgenommen worden.

Rebus hatte ihn einmal gefragt, ob er jetzt besonders auf sich aufpassen müsse, weil er sich in Christies Revier gewagt hatte.

»Wer mir was will, braucht schon atomare Durchschlagskraft«, hatte Harrison erwidert. Und es stimmte, anscheinend verstand er sich gut mit Christie, sie spielten zusammen Billard und manchmal sogar an der Konsole. Sie grinsten und lachten sich an, klopften sich gegenseitig auf die Schultern und schüttelten sich die Hände. Fast hätte Rebus es geglaubt.

Um ein Uhr wurde seine Tür aufgeschlossen. Ein Beamter, den er nicht kannte, teilte ihm mit, dass das Essen jetzt in Swanston Hall ausgegeben werde, weshalb er sich umziehen müsse. Im eigenen Trakt durfte man anziehen, was man wollte, aber wenn man einen anderen besuchte, waren die gefängniseigenen Polohemden und Sweatshirts vorgeschrieben, deren Farben anzeigten, welcher Kategorie von Sträfling man angehörte. Kurzzeitverurteilte trugen blau, braun war für diejenigen vorgesehen, die noch auf ihre Verhandlung warteten, und Sexualstraftäter waren weinrot gekleidet. Langzeitinsassen wie Rebus trugen Dunkelgrün, damit die Kollegen an den Bildschirmen der Überwachungskameras den Überblick behielten, wie man ihm erklärt hatte. Man wollte unbedingt vermeiden, dass die Lebenslänglichen während der Aufschlusszeiten auf Sexualstraftäter stießen.

Nachdem er sein verwaschenes rotes Polohemd gegen ein grünes getauscht hatte, trat Rebus aus der Zelle und sah, dass der Tatort inzwischen mit blau-weiß gestreiftem POLIZEI-Band und Verkehrszylindern abgesperrt worden war. Ein Team der Spurensicherung war noch dort beschäftigt. Die Mitarbeiter in der Zelle selbst waren von Kopf bis Fuß eingehüllt, um zu verhindern, dass der Tatort kontaminiert wurde. Der Gefängnisdirektor unterhielt sich mit einer Polizistin, die Rebus kannte – Detective Sergeant Christine Esson. Als sie Rebus sah, hob sie eine Augenbraue, widmete sich dann aber wieder Howard Tennent.

»Wir wissen doch alle, was da passiert ist«, brummte Billy Groam, der ein paar Schritte vor Rebus ging. »Zwischen Jackie und Chris Novak, dem blöden Idioten, gab’s böses Blut. Hast doch heute Morgen gesehen, wie er vor seiner Zelle stand und seinen Kumpels eingeschärft hat, was für eine Geschichte sie zu erzählen haben?«

Ja, Rebus erinnerte sich an die beiden Beamten, die die Köpfe zusammengesteckt hatten. Novak und Valerie Watts. Gerüchten zufolge waren sie mehr als nur Kollegen. Andererseits waren Gerüchte an einem Ort wie diesem so was Ähnliches wie Sauerstoff: ungeheuer anregend für Herz und Hirn.

Die Schlange bewegte sich jetzt nur noch schleppend voran, wodurch Rebus genug Zeit blieb, nach Leuten Ausschau zu halten, die er vielleicht noch von früher kannte. Haj Atwal, der normalerweise die Spurensicherung leitete, konnte er nirgends entdecken, aber möglicherweise arbeitete er draußen in dem gut ausgestatteten Transporter. Rebus fragte sich, ob die Mitarbeiter des Teams ihre Handys mit hineinnehmen durften. Oder waren sie wie die der gewöhnlichen Besucher eingeschlossen worden? Alles, was hereingebracht wurde, musste auch wieder mit nach draußen genommen werden, darauf achteten die Gefängnismitarbeiter.

In der Schlange wurden Informationen weitergetragen und wild spekuliert. Mark Jamieson wurde im Krankenhaus behandelt. Chris Novak hatte Nachtschicht gehabt, und das hieß, dass er eine Doppelschicht übernommen hatte, weil er beim Frühstück immer noch im Dienst war. Ebenso Valerie Watts – war das nicht ein glücklicher Zufall? Die Jungs in den Zellen links und rechts des Tatorts hatten weder laute Stimmen noch sonst etwas gehört, wobei Billy Groam von gegenüber schwor, er habe kurz vor Morgengrauen gehört, dass eine Zelle aufgeschlossen wurde.

»Jackies Zelle?«, hakte Rebus nach.

»Welche denn sonst?«, brummte Groam.

Rebus hatte Jackie Simpson gekannt. Er war immer in die Bibliothek gekommen, um sich DVDs auszuleihen, und hatte damit geprahlt, dass er in seinem ganzen Leben noch kein Buch gelesen hatte.

»Die Straße war meine Schule«, hatte er Rebus einmal erklärt. »Und jetzt bin ich der Lehrer!«

Womit er meinte, dass er den anderen Gefangenen beibrachte, wie man verschlossene Türen öffnet, egal welche. Auch Rebus hatte er angeboten, es ihm zu zeigen.

»Wie kommst du darauf, dass ich das noch nicht weiß?«, hatte Rebus erwidert.

Auch von seiner Fehde mit Chris Novak hatte er Rebus erzählt.

»Einmal hat mich das Dreckschwein an der Kehle gepackt. In meiner Zelle, sodass die Überwachungskameras das nicht mitbekommen haben. Er hat zu mir gesagt, mein Junge ist ein Versager genau wie sein Dad. Werden wir ja sehen, wenn ich erst mal hier rauskomme …«

»Das heißt, dass wir dich dann ganz schnell hier wiedersehen«, hatte Rebus ihn gewarnt.

Als die Schlange sich dem Mittagessen näherte, fragte Rebus Groam, was er glaube, wie Novak Simpson umgebracht habe.

»Der hat ein selbst geschnitztes Messer reingeschmuggelt. Oder vielleicht hat er eins beschlagnahmt und für später aufgehoben. Die Zellentür war verschlossen, John – denkst du, einer von uns hat sich auf magische Art und Weise da reingezaubert?«

»Hat Simpson sich denn mit seinem Zellengenossen verstanden?«

»Mark ist ein Waschlappen, der ist kaum zwanzig. Guck ihn dir an, den steckt Jackie locker in die Tasche. Der hätte ihm den Kopf abgerissen, wenn der was versucht hätte.«

»Kommt schon mal vor, dass einer auf Benzos abdreht.«

»Wird aber trotzdem niemand zum Hulk. Mark war natürlich breit wie sonst was. Und was auf den Schädel gekriegt hat er auch noch. Du hast doch die Schlagstöcke gesehen, die Novak und seine Leute dabeihaben. Der denkt sich, die Bullen werden sich kein Bein ausreißen. Für die ist Jackie bloß ein Knastbruder. Müssen sie sich um einen weniger kümmern.«

Als sie nach Swanston Hall kamen, wurde gejohlt und gepfiffen. Die Gefangenen teilten ihnen unmissverständlich mit, was sie von der feindlichen Invasion hielten. Gleichzeitig waren sie aber auch neugierig, wollten wissen, was passiert war und warum, sodass es zu einer Art Charmeoffensive kam. Rebus musterte jedes einzelne Gesicht, erkannte aber niemanden, worüber er heilfroh war. Darryl Christie regierte in seinem eigenen Revier, aber Rebus war nicht ganz klar, wie weit sich sein Königreich erstreckte. Christie ließ sich scheinbar unbesorgt mit seinem Essen am Tisch nieder, sah sich dabei aber misstrauisch um und ließ sich von zwei Schränken aus Trinity Hall flankieren, unter anderem von Everett Harrison. Rebus sah einen Gefangenen herantreten und Harrison auf die Schulter tippen. Harrison stand auf, grinste breit, und die beiden Männer umarmten sich, klopften sich gegenseitig auf die Oberarme, prüften ihre Muskeln. Rebus begriff, dass sie sich von draußen kannten, und sein Magen verkrampfte.

»Das ist Bobby Briggs«, vertraute ihm Groam an. »Von der Westküste.«

»Den kenne ich«, gab Rebus leise zurück.

Groam fixierte ihn mit einem Blick. »Noch von deiner Zeit bei den Bullen?«

»Woher sonst?«

»In Trinity Hall denken die Hälfte, die haben dich einfahren lassen, weil Tennent einen Insider braucht.«

»Ist aber nicht so.« Rebus schaufelte sich noch mehr Kartoffelbrei auf den Teller. Das Essen war bestenfalls lauwarm. Es erinnerte ihn an das Schulessen in der Grundschule oder die Verpflegung in einem zweitklassigen Ferienlager. Einmal die Woche gab es Burger. Danach zählten viele Gefangene die Tage, bis es wieder welche gab. Burger mochten alle. Heute gab es Huhn in einer weißen Soße, dazu Kartoffelbrei. Rebus aß nicht auf, und Groam schielte auf seinen Teller.

»Hau rein«, sagte Rebus.

Er dachte an Christine Esson. Früher hatte er ihre Telefonnummer gehabt. Er nahm an, dass sie noch am Gayfield Square stationiert war. Damals hatte sie unter DI Siobhan Clarke gearbeitet, aber Clarke war aufgestiegen. Esson hatte sich am Tatort offensichtlich nicht durch ihre Umgebung verunsichern lassen, sie war Profi durch und durch. Was auch immer Clarke ihr beigebracht hatte, es machte sich bezahlt.

Er merkte, dass ihn jemand von der Seite des Saals anstarrte. Bobby Briggs. Briggs stand jetzt auf und kam auf Rebus zu. Rebus erhob sich ebenfalls und verzog sich zum nächsten Beamten.

»Da kommt Ärger auf uns zu«, teilte er diesem mit.

»Ganz ruhig, Bobby«, ermahnte ihn der Beamte, hob warnend eine Hand. Briggs blieb einen knappen Meter vor Rebus stehen und fuchtelte mit dem Finger.

»Das Dreckschwein hat mich reingelegt«, zischte er mit funkensprühendem Blick und bleckte die Zähne. Speichel spritzte aus seinem Mund und traf Rebus im Gesicht.

»Das war in einem anderen Jahrhundert, Bobby«, widersprach Rebus. »Und hat nichts damit zu tun, warum du jetzt hier bist.«

Everett Harrison war näher gekommen, presste Briggs eine Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung, Bobby?«

Briggs ließ Rebus nicht aus den Augen. »Die haben im Zeugenstand gelogen, was das Zeug hält, er und seine Leute. Fünf Jahre hab ich gekriegt.«

»Stimmt, Bobby«, lenkte Rebus ein. »Das Opfer hat sich selbst in die Rippen getreten – das vergesse ich immer wieder.«

»Kann sein, dass du so was vergisst, aber ich vergesse nie. Ich krieg dich noch, Rebus.«

»Wie du meinst, Bobby.«

Briggs sah aus, als wollte er sich gleich auf ihn stürzen, aber Harrison hielt ihn jetzt noch fester an der Schulter. Eine Hand des Beamten war nur noch einen Zentimeter vom Alarmknopf entfernt. Harrison drehte Briggs mit ein wenig Kraftanstrengung um und führte ihn zurück in den Saal, legte ihm einen Arm um die Schultern.

»Vielleicht nehme ich meine weiteren Mahlzeiten doch lieber in meiner Zelle ein«, sagte Rebus zu dem Beamten, auf dessen Stirn sich ein Schweißfilm gebildet hatte.

»Ich mach mir einen Vermerk«, sagte er. »Mit Bobby stellt man sich besser gut.«

»Vielleicht schicke ich ihm eine Dose Quality Street als Friedensangebot …«

Zwanzig Minuten später waren sie wieder unterwegs, die Gastgeber winkten teilweise zum Abschied und warfen ihnen Kusshände zu. Draußen vor der Zelle des Verstorbenen waren Esson und ihre Kollegen inzwischen vom Direktor und einem weiteren Mann abgelöst worden, Letzterer im eleganten Anzug, die Haare tadellos frisiert, die Krawatte akkurat geknotet. Rebus wusste sofort, wer er war – Fox, ehemals Professional Standards und nun organisiertes Verbrechen. Am wohlsten fühlte Fox sich an einem aufgeräumten Schreibtisch mit einem leeren Posteingang und einem Chef, dem er in den Hintern kriechen konnte. Rebus hätte beinahe laut herausposaunt, was er dachte: Was zum Teufel willst du hier?

Fox hatte ihn bereits bemerkt, fast als hätte er ihn erwartet. Während der Direktor weiterredete, schenkte Fox Rebus all seine Aufmerksamkeit. Rebus verengte im Gegenzug den Blick, um Fox zu verstehen zu geben, dass er Fragen hatte. Todesfälle waren die Domäne des Major Incident Teams, aber Fox war nicht beim MIT und war es auch nie gewesen. Rebus drehte den Kopf leicht im Vorübergehen und hielt den Blickkontakt. Ein Beamter bedeutete ihm, er möge sich in seine Zelle verziehen.

»Werden wir wieder eingeschlossen?«, beschwerte sich Rebus.

»Fürchte ja.«

»Und was ist mit meinen Menschenrechten?«, meldete sich Groam. »Wir waren heute kaum draußen.«

»Einer von uns ist tot, Billy«, schoss Everett Harrison zurück. »Ein paar Stunden länger eingeschlossen sein, sind ein Scheiß dagegen.«

»Ich hab aber nichts zu tun.«

»Hast du nichts zum Spielen?« Harrison griff sich grinsend in den Schritt.

Rebus wartete, bis Harrison ihn wieder ansah. »Ich muss mich noch dafür bedanken, dass du mir vorhin den Arsch gerettet hast.«

»Wenn Bobby erst mal sauer ist, lässt er sich so schnell nicht davon abbringen. Der will dich durch den Fleischwolf drehen.«

»Ich dachte, ich stehe unter Darryl Christies Schutz.«

»Hier schon, aber nur in diesem Trakt.«

»Einschluss!«, schrie der Direktor.

Alle traten in ihre Zellen.

Rebus setzte sich aufs Bett, rieb sich mit der Hand übers Kinn und blickte hin und wieder zu dem an der Wand befestigten Festnetzanschluss. Er vernahm einen gedämpften Wirrwarr an Geräuschen – Meckereien über den frühen Einschluss, die diensthabenden Beamten riefen Entgegnungen zurück. Um vier Uhr wurde Rebus’ Tür schließlich erneut klappernd aufgezogen.

»Sie können sich die Beine vertreten«, sagte Graves. »Falls Ihnen nach Duschen ist, da stehen bereits welche Schlange.«

»Geht schon«, sagte Rebus. Die etwas weiträumigere Absperrung um den Tatort war jetzt verschwunden, aber die inzwischen verschlossene Tür war jetzt mit Absperrband versiegelt. Gefangene trafen sich, unterhielten sich, spielten Karten und versuchten, möglichst nicht zu dem Band und der Tür zu sehen. Zwei gingen zum Billardtisch und nahmen Stöcke in die Hand. Niemand durfte den Trakt verlassen, um andere Freizeitangebote zu nutzen, aber Freiheit war relativ und sie wollten sie genießen, auch wenn sie sich durchaus um einen gewissen Ernst bemühten, den die Ereignisse des Tages verlangten. Ausnahmsweise wurden keine Witze gerissen, niemand wurde aufgezogen oder drangsaliert.

»Sie haben keinen Termin auf der Krankenstation, oder?«, vergewisserte sich Graves. »Ausreichend Medikamente?«

»Jede Menge«, bestätigte Rebus.

»Sie Glücklicher. Ich könnte selbst welche brauchen. Mein Rücken macht mir ganz schön zu schaffen.«

»Ich bin sicher, Darryl könnte Ihnen was besorgen. Sie müssen nur fragen.«

Rebus ging an Graves’ finsterer Miene vorbei, schüttelte die Beine aus, wie um sie zu lockern. Er versuchte möglichst auszusehen, als würde er nur ein paar Runden durch den Freizeitbereich drehen, ohne besonderes Ziel vor Augen. Er ging viermal im Kreis, bis sich die Schlange an Darryl Christies Tisch aufgelöst hatte. Dann setzte er sich ihm gegenüber.

»Was war da los mit dir und Bobby Briggs?«, fragte Christie.

»Er denkt, ich habe vor Gericht gelogen.«

»Und hast du?«

»Eine fromme Lüge haben wir so was früher genannt.«

»Mit anderen Worten, du hast ihm wirklich was untergeschoben?«

Rebus schüttelte den Kopf. »Die Tat hat er begangen. Wir konnten sie ihm nur nicht so richtig beweisen.«

»Und da hast du den Geschworenen eine leicht veränderte Version präsentiert, und die haben’s geschluckt?« Christie nickte verständnisvoll.

»Vorhin wollte er mir den Kopf abreißen.«

»Everett hat ja auf dich aufgepasst«, sagte Christie schulterzuckend. »Wenn du gekommen bist, weil du eine Entschuldigung willst …«

Rebus schüttelte erneut den Kopf. »Ich brauche ein Telefon für eine Stunde.«

Christie ließ sich Zeit, verschränkte träge die Arme. »Wie kommst du darauf, dass ich eins habe?«

»Wahrscheinlich hast du ein Dutzend. Entweder hat sie jemand in seinem Arsch hier reingeschmuggelt, oder du hast einen Mitarbeiter geschmiert. Wenn ich die Wahl habe, nehme ich lieber eins der Letzteren.«

Rebus sah, wie sich ein schmales Lächeln auf Christies Gesicht abzeichnete.

»Ich kann den üblichen Tarif zahlen, falls du dich fragst.«

»Du weißt gar nicht, was der gängige Tarif ist.«

»Klär mich auf.«

Christie löste die Arme wieder und presste die Handflächen auf den Tisch. »Was hast du gegen den Festnetzanschluss in deiner Zelle? Lass mich raten – du willst nicht, dass jemand mithört. Aber warum? Ich vermute, weil es damit zu tun hat, was Jackie Simpson heute Nacht widerfahren ist.«

»Was ist Jackie denn widerfahren?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Drück doch den richtigen Leuten ein paar Pillen in die Hand.«

»Das wäre Verschwendung von guter Ware. Selbst die Wärter wissen, dass es einer von ihnen war, vielleicht sogar mehr als einer. Wird nicht einfach werden, das unter dem Deckel zu halten. Alle mochten Jackie, da gibt’s einige, die Gerechtigkeit für ihn fordern werden.«

»Einen Aufstand lostreten, meinst du?«

»Meine ich das?« Christie beugte sich über den Tisch und sah Rebus direkt in die Augen. »In meinem Büro, in fünf Minuten«, sagte er, stand auf und drehte sich um. Rebus blieb, wo er war, und zählte die Sekunden. Jede Menge Blicke von Gefangenen richteten sich auf ihn, sie fragten sich, was vor sich ging.

»Hab mir nur Special K bestellt«, teilte er denjenigen in unmittelbarer Nähe mit und hob die Stimme, damit es alle anderen auch mitbekamen.

Schließlich spazierte er den kurzen Weg zu Christies Zelle. Die Tür stand einige Zentimeter weit offen. Rebus schob sie mit dem Fuß noch ein Stück weiter auf und trat ein. Es war einigermaßen gemütlich – Fernseher, Anlage und ein Stapel neue Auto- und Motorradzeitschriften. An einer Wand hingen Fotos, darunter auch mehrere von Christies ermordeter Schwester und eins, auf dem er auf einer Harley-Davidson saß.

»Die erlauben mir nicht, Teppich auszulegen«, tat Christie entrüstet. Er stand breitbeinig unter dem hohen Fenster, die Hände hinter dem Rücken. »Würdest du zumachen?« Er nickte Richtung Tür. Rebus tat, was Christie verlangte.

»Also, wie viel?«, fragte er in die Stille.

»Tausend«, erwiderte Christie. Nachdem er zugesehen hatte, wie Rebus die Information aufnahm, schnaubte er. »Ausnahmsweise.« Er streckte seine rechte Hand aus. Darin lag ein kleines, sehr schlicht wirkendes Handy. »Der Code ist viermal Null. Manchmal ist der Empfang ein bisschen schlecht, am besten stellst du dich aufs Klo. Das Gute ist außerdem, dass sie dich dann nicht durch den Spion sehen können. Hören können sie dich trotzdem, also sprich lieber nicht zu laut und telefonier am besten nur, wenn draußen was los ist. Mitten in der Nacht hallt es hier noch stärker, und deine Nachbarn kleben sowieso mit den Ohren an den Wänden.«

Rebus wollte nach dem Handy greifen, aber Christie hatte die Finger schon wieder darum geschlossen.

»Überleg es dir gut: Wenn du’s nimmst, bist du nicht mehr auf deren Seite, dann bist du auf unserer. Und wenn du erwischt wirst, wanderst du erst mal eine Weile in Isohaft. Das ist dir hoffentlich klar.«

Rebus nickte langsam. »Ist mir klar.«

»Und wenn der Chef rauskriegt, dass du ungezogen warst, lädt er dich nicht mehr zu Tee und Gebäck in sein Büro. Also, überleg es dir gut.«

»Hab’s mir schon überlegt.«

»Hat es was mit Jackie Simpson zu tun?«

»Kann sein«, räumte Rebus ein. Als Christie die Faust löste, nahm er das Handy und schob es in seine Tasche. »Wie gebe ich es dir zurück?«

»Behalt es bis zum Frühstück. Dann gibst du’s mir wieder. Aber ich muss dich vorwarnen – die Akkuladung reicht höchstens noch für zwanzig Minuten. Betrachte es als Gratiskostprobe. Wenn du die Dosis erhöhen willst, reden wir über Geld.« Christie streckte die Hand aus, und Rebus schlug ein, erwiderte Christies festen Händedruck so gut es ging.

»Da fällt mir noch ein«, sagte Rebus. »Wie kommt’s, dass du so gut mit einem befreundet bist, der für eine andere Mannschaft spielt?«

»Meinst du Harrison?« Christie dachte einen Moment nach. »Sein Manager ist ein Liverpooler Wichser namens Hanlon, aber ich dachte, dass sich da vielleicht eine Transfermöglichkeit ergibt. Könnte sein, dass er den Verein wechselt …« Er zwinkerte leicht, dann kehrte er Rebus den Rücken zu und drehte den Kopf zu dem hohen Fenster. Es ließ sich nur wenige Zentimeter weit öffnen – aber Frischluft war Frischluft. Christie schien sie zu genießen und verschränkte erneut die Hände hinter dem Kopf.

Die Besprechung war beendet.

Kaum zurück in seiner Zelle, stieg Rebus auf die Toilette. Allerdings war noch nicht Einschluss, sodass jederzeit jemand seine Tür öffnen und ihn in flagranti erwischen konnte. Er wartete also ab. Nach zwanzig Minuten kamen zwei Gefängniswärter in Begleitung von zwei Detectives, vermutlich vom MIT. Ein Mann und eine Frau, Ende zwanzig oder Anfang dreißig, der Mann schien ihr vorgesetzt zu sein. Rebus fielen keine Namen zu ihnen ein. Es war das Signal, dass die Gefangenen vom üblichen Gemurre, Gemecker und Geschimpfe begleitet zurück in ihre Zellen getrieben wurden, wobei einige wissen wollten, ob man sie rechtzeitig zur nächsten Mahlzeit wieder herauslassen würde.

Kaum war Rebus’ Tür abgeschlossen, stieg er erneut auf die Klobrille und telefonierte. Eine Frauenstimme meldete sich.

»Ja?«

Er schwieg und fragte sich, wie lange sie wohl brauchen würde.

Die Antwort: acht Sekunden, dann ertönte ein Seufzen. »John?«

»Hallo, Siobhan.« Er legte seine gewölbte Hand schützend über Mund und Handy.

»Es gab gar keine Ansage, dass der Anruf mitgehört wird.« Wieder wartete Rebus. Wieder seufzte Siobhan Clarke. »Du liebe Güte, John. Und wenn du erwischt wirst?«

»Du hast dir schon gedacht, dass ich anrufe, oder?«

»Du musst mit Christine Esson sprechen, nicht mit mir.«

»Ich habe sie heute gesehen. Hat sehr professionell gewirkt.«

»Weil sie sehr professionell ist.«

»Höre ich da einen Anflug von Eifersucht?«

»Fick dich.«

»Schön, deine Stimme zu hören, Siobhan. Wie geht’s denn so?«

»Sammy und ich waren vor ein paar Tagen bei dir in der Wohnung. Allmählich riecht’s ein bisschen modrig, wir haben die Heizung auf eine Stunde täglich gestellt. Ist das okay?«

»Hatte Sammy Brillo dabei?«

»Er hat dich überall gesucht. Wir haben ihn auf den Meadows laufen lassen, und auch da hat er dich gesucht.«

»Kratz ihn mal ordentlich hinter den Ohren von mir.«

»Mach ich.« Clarke hielt inne. »Carrie will dich sehen. Sie ist inzwischen echt gut im Zeichnen. Sie hat ein Bild von Brillo für dich gemalt.«

»Ich will nicht, dass sie mich hier drin sieht, Shiv, das geht nicht. Das weißt du.«

»Sie würde das schon hinbekommen, John.«

»Sie vielleicht, aber ich nicht.« Er hielt inne. »Und du – geht’s dir gut, alles in allem?«

»Wie viel Zeit hast du?«

»Noch ungefähr zehn Minuten.« Rebus hielt das Handy ein Stück weg von sich. Die Akkuanzeige blinkte bereits. »Gibst du mir Christines Nummer?«

»Keine gute Idee.«

»Was ist mit Malcolm Fox? Redet er mit dir?«

»Was hat Fox damit zu tun?«

»Er war heute am Tatort, so wie’s aussah, hat er sich vom Direktor ins Bild setzen lassen.«

»Das ist eigenartig.«

»Eben, hab ich auch gedacht. Kannst du vielleicht rausbekommen, was da los ist?«

»Mal sehen, was sich machen lässt. Versprechen kann ich’s dir nicht. Aber wenn ich was in Erfahrung bringe, bist du mir was schuldig, und du weißt, was ich will.«

Jetzt war es an Rebus, geräuschvoll auszuatmen. »Ich überleg es mir.«

»Sie vermisst dich wahnsinnig.«

»Ich hab gesagt, ich denke darüber nach. War schön, mit dir zu reden, Shiv. Halt mich auf dem Laufenden.« Er beendete die Verbindung, blieb aber auf dem Klo stehen. Die Akkuanzeige blinkte immer noch rot. Wie viele Minuten hatte er noch? Er überlegte, wen er noch anrufen sollte. Seinen Anwalt? Wahrscheinlich hatte er schon Feierabend oder war sowieso nicht mehr in der Kanzlei – die Dame an der Anmeldung würde nur die üblichen Ausreden parat haben. Dann gab es immer noch Deborah Quant. Andererseits hatte sie aber die Autopsie an Cafferty durchgeführt und bei Rebus’ Verhandlung ausgesagt, wonach der letzte Rest an Leidenschaft zwischen ihnen gewissermaßen erkaltet war. Er konnte mit Sammy sprechen, aber die würde er sowieso bei ihrem nächsten Besuch sehen. Die Oxford Bar? Er grinste bei dem Gedanken an die Geräuschkulisse der Stammgäste, wenn Kirsty dranging. Aber was dann? Nein, eigentlich gab es niemanden. Außerdem blinkte der Akku jetzt auch gar nicht mehr. Das Handy war tot.

2

Cammy Colson öffnete seine Autotür und stieg auf der Beifahrerseite ein.

»Tut mir leid, dass ich dich hab warten lassen«, sagte er.

Siobhan Clarke lächelte flüchtig. Detective Sergeant Cameron Colson bewegte sich im Schneckentempo durchs Leben. Obwohl er jetzt endlich saß, kroch seine Hand quälend langsam zum Griff. Ihn dabei zu beobachten, wie er die Tür zuzog, war ähnlich, als wollte man der Kontinentalverschiebung zusehen. Der Gedanke daran, dass er sich auch noch anschnallen musste, war Clarke so unerträglich, dass sie den Wagen einfach anließ und losfuhr.

»Mit wem hast du telefoniert?«, fragte er und zog sich den Gurt schräg über die Brust.

Er mochte zwar langsam sein, aber ihm entging kaum etwas.

»Privat«, sagte sie, mehr nicht, dann fuhr sie vom Parkplatz der Wache in St. Leonard’s.

Sie hatte die Stelle vor nicht allzu langer Zeit angetreten und kannte ihre Kollegen noch nicht gut genug, um sie als Team zu betrachten. Sie wusste, dass alles, was sie Cammy Colson gegenüber äußerte, zwangsläufig auch die anderen erreichen würde. Sie waren natürlich alle neugierig – und misstrauisch. Neugierig, weil Clarke zu Professional Standards (den gefürchteten und berüchtigten »Complaints«) befördert worden, dann aber abgesprungen und zum CID zurückgekehrt war. Allerdings zu spät, um auf ihre alte Stelle am Gayfield Square zurückzukehren, die inzwischen neu besetzt war. St. Leonard’s war ihr durchaus vertraut – sie hatte vor John Rebus’ Pensionierung dort mit ihm gearbeitet –, aber jetzt war sie die Neue. Die Gesichter waren andere, und sie begegneten ihr mit Misstrauen, eben weil man sie, wenn auch oberflächlich, mit Professional Standards in Verbindung brachte. Die Kollegen überlegten ganz genau, was sie ihr erzählten. Wenn sie den Raum betrat, brachen sämtliche Unterhaltungen ab. Sie hätte ihnen auch einfach die Wahrheit sagen können – dass sie nicht bei Professional Standards geblieben war, weil es ihr nicht gefallen hatte und sie das Gefühl hatte, ihre Talente, sofern sie welche besaß, dort zu verschwenden. Aber würde man ihr das glauben? Niemals entschuldigen und bloß nichts erklären. Sie wusste nicht genau, wer das zum ersten Mal gesagt hatte, aber sie versuchte, sich daran zu halten.

Vielleicht kam es ja eines Abends beim Bier heraus. Nur dass keiner von ihnen je etwas trank. Wenn doch, dann heimlich, still und leise zu Hause. Bei Dienstschluss, wenn alle in ihre Jacken und Mäntel schlüpften, war nie die Rede davon, noch mal kurz gegenüber zusammen was trinken zu gehen. Oder man verabredete sich über Handynachrichten und schloss sie bewusst davon aus. Aber das glaubte sie nicht. Sie war versuchsweise mal in zwei oder drei Pubs in der Nähe spaziert, hatte dort aber keine bekannten Gesichter gesehen. Die neuen Kollegen gehörten einer anderen Generation an, mehr nicht. Sie waren jünger als sie. Heutzutage achtete man mehr auf sich. Pete Swinton lief Halbmarathons nur so zum Spaß. Colson war trotz seines Umfangs »halb veganer Vegetarier«. Trisha Singh ging zum Yoga und zu Pilates. Und sie alle arbeiteten unter Detective Chief Inspector Bryan Carmichael, der nicht nur aussah, als würde er noch das College besuchen, sondern auch jeden Morgen im nahe gelegenen Commonwealth Pool schwimmen ging, da er als Schüler früher der Nationalmannschaft der Schwimmer angehört hatte. Obwohl sie sich keine Wehmut erlauben wollte, vermisste sie die alten Zeiten mit John Rebus, der hin und wieder auch mal gegen Vorschriften verstieß, um Ergebnisse zu erzielen. »Die schlimmen alten Zeiten«, würde Carmichael zweifellos sagen, aber in gewisser Hinsicht waren es eben doch auch gute alte Zeiten gewesen.

Zwischen ihren wöchentlichen Besuchen bei Rebus in der Strafanstalt und den gelegentlichen abgehörten Telefonaten mit ihm dachte sie auch sonst häufig an ihren früheren Vorgesetzten. Er hatte abgenommen, die Haut hing schlaff an seinem Hals, und aus seinem Gesicht war jegliche Farbe verschwunden. Er riss zwar Witze über seine Haft, aber beide wussten, dass Saughton für einen ehemaligen Polizisten gefährlich war, auch wenn er so viel List und Instinkt besaß wie John Rebus. Seine Inhaftierung hatte Clarke näher an Rebus’ Tochter Sammy und seine Enkelin Carrie rücken lassen. Sie gingen jetzt häufig gemeinsam mit Rebus’ Hund Brillo spazieren und sprachen auch über Dinge, die nicht immer mit Rebus zu tun hatten.

Als Clarke an der ersten roten Ampel hielt, hatte Colson sich endlich angeschnallt.

»Also, was meinst du?«, fragte er.

Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. »Sie hat auf einer Party oder in der Stadt jemanden kennengelernt, sich unsterblich verknallt, und der Rest der Welt existiert gar nicht mehr.«

»Das heißt, sie kommt von allein wieder?«

»Ich hoffe es.«

Die Rede war von Jasmine Andrews, einer vierzehnjährigen Schülerin, die am vorangegangenen Nachmittag von der Schule nach Hause gegangen, aber nie dort angekommen war. Um 18:30 Uhr hatte ihre Mutter, die sich fragte, wo ihre Tochter blieb, Jasmines beste Freundin Carla angerufen. Diese hatte ihr gesagt, Jasmine sei nicht bei ihr und reagiere auch nicht auf Nachrichten oder Anrufe. In den sozialen Medien war sie ebenso wenig aktiv.

Jasmines Mutter hatte daraufhin ihren Mann angerufen, einen Business Developer, der sich beruflich im Süden aufhielt. Er war nicht ans Telefon gegangen, und sie hatte ihm keine Nachricht hinterlassen. Stattdessen war sie mit dem Wagen losgefahren, hatte die Straßen des Viertels und darüber hinaus abgeklappert. Irgendwann hatte sie angehalten und Carla eine Nachricht geschickt mit der Bitte, sie möge ebenfalls weiter nach Jasmine suchen. Als ihr Mann circa ein bis zwei Stunden später zurückrief, war sie in Tränen ausgebrochen und hatte auf sein Anraten hin die Polizei verständigt.

Das war gestern Abend gewesen. Jasmine war seither nicht nach Hause gekommen, und ihr Verschwinden war sehr untypisch. Falls sie mit jemandem zusammen war, dann mit niemandem aus ihrem sonstigen Freundeskreis. Entweder das, oder ein Freund oder eine Freundin deckte sie. Sie hatte keine Nachricht hinterlassen, keine Kleidung mitgenommen. Es würde eine Weile dauern, bis sich überprüfen ließ, ob sie mit ihrer Bankkarte eingekauft oder Geld abgehoben hatte.

Und es würde noch länger dauern, bis das Material aus den Überwachungskameras auf der Straße, im öffentlichen Nahverkehr und den Geschäften ausgewertet war. Jasmines Mutter Helena war gefragt worden, ob es zu Hause Krach gegeben hatte oder ob Jasmine in jüngster Zeit vielleicht irgendwie verändert gewirkt hatte. Hatte sie einen Freund? Nein. Exfreunde? Nur einen bislang, und auch mit dem war’s nie richtig was Ernstes gewesen. Man hatte in ihrem Zimmer nachgesehen, ein paar Fotos ausgeliehen, ihre Kontaktdaten notiert. Der Telefonanbieter wurde um Mithilfe gebeten.

Jasmines Freundinnen hatten die Online-Welt alarmiert, und auch die Presse hatte von ihrer Besorgnis erfahren. Die Evening News hatten die Geschichte bereits auf ihrer Website gebracht, und in der nächsten Printausgabe der Zeitung sollte ein Foto von Jasmine erscheinen. Sie war ein jugendlich frischer Teenager mit einnehmendem Lächeln und langen blonden Haaren. Das allgemeine Interesse war geweckt.

Clarke und Colson befanden sich auf dem Weg zu Jasmines Schule in Marchmont, wo der Direktor alle Schüler zu sich bestellt hatte, die Jasmine kannten. Obwohl Clarke Colson erklärt hatte, Jasmine habe bestimmt jemanden kennengelernt und sei jetzt bei dieser Person, war sie selbst gar nicht so sehr davon überzeugt. Es handelte sich lediglich um ein best case-Szenario, das man besorgten Eltern präsentiert, damit sie nicht den Verstand verlieren. Sie hatte die Andrews’ zu Hause besucht, in einer viktorianischen Doppelhaushälfte in einer grünen Straße in The Grange. Sie hatte gesehen, wie viel Mühe Helena Andrews hatte, einen Becher zum Mund zu führen, ohne ihren Tee zu verschütten, so sehr hatten beide Hände gezittert. Sie führte einen Designer-Laden im nahe gelegenen Bruntsfield. Ihre Schwester sollte bald aus Glasgow eintreffen, um ihr beizustehen. Ihr Ehemann konnte wahrscheinlich erst spät am Abend oder sogar erst am nächsten Tag kommen.

»Jas ist erst vierzehn«, hatte sie immer wieder schluchzend gesagt. »Sie müssen sie finden.«

»Natürlich finden wir sie«, hatte Cammy Colson behauptet und dabei bedächtig über den Tisch nach seinem Becher gegriffen.

Eine Mitarbeiterin der Schule erwartete sie jetzt am Tor zum Parkplatz und wies ihnen einen Besucherplatz zu. Anschließend führte sie die beiden Detectives in das moderne Gebäude, eine Treppe hinauf in das einzige andere Stockwerk, wo sie die Tür eines Klassenzimmers öffnete und ihnen zu verstehen gab, sie sollten eintreten. Die Direktorin wartete bereits und gab ihnen die Hand, stellte sich als Tara Lindsay vor.

»Soll ich bleiben oder …«

Clarke betrachtete die ungefähr dreißig Schülerinnen und Schüler, alle in Schuluniform mit weißen Hemden, gelb-rot gestreiften Krawatten, dunklen Blazern und auf der linken Brusttasche aufgesticktem Schulwappen. Die Jungen trugen anthrazitfarbene Hosen, die Mädchen schlecht sitzende schwarze Röcke und dunkle Strumpfhosen. Da sie wussten, dass sie sich in Gegenwart von Autoritätspersonen befanden, machten sie alle Gesichter, wie Clarke sie häufig zu sehen bekam: als würden sie fürchten, jemand könne ihre Gedanken lesen und ihre Geheimnisse ans Licht bringen. Sie achteten darauf, weder durch Körpersprache noch eventuelle Versprecher etwas zu verraten.

»Setzt euch«, sagte die Direktorin. Colson hockte sich halb auf die Kante des Lehrertischs und setzte langsam dazu an, die Arme zu verschränken. Clarke stellte sich vor die Teenager und holte tief Luft.

»Ich bin Detective Inspector Clarke, und das hier ist Detective Sergeant Colson. Vielen Dank, dass ihr gekommen seid. Wie ihr wisst, wurde eure Freundin Jasmine seit gestern Nachmittag nicht mehr gesehen, und wir alle wollen sie gesund und wohlauf wiederhaben. Wahrscheinlich habt ihr sie besser gekannt als alle anderen, und deshalb benötigen wir eure Hilfe. Alles, was ihr uns sagen könnt, egal wie belanglos es auch sein mag, könnte uns weiterhelfen.« Sie unterbrach sich, als eine Hand in die Höhe fuhr.

»Bekommt Jas Ärger? Wenn sie gefunden wird, meine ich.«

Clarke betrachtete das Mädchen. »Gute Frage. Jasmine soll wissen, dass sie in keinerlei Schwierigkeiten steckt. Das kann ich gar nicht genug betonen. Ihre Mutter und ihr Vater wollen sie einfach nur in die Arme schließen. Egal, warum sie verschwunden ist, sie wird nicht bestraft. Hat jemand von euch vielleicht eine Idee, warum sie abhauen wollte, vielleicht auch nur für kurze Zeit?«

Die Schülerinnen sahen einander an, einige zuckten mit den Schultern.

»Kann sie jemanden besucht haben, vielleicht außerhalb der Stadt? Jemanden, den sie im Netz kennengelernt hat?« Clarke sah über ein Meer aus geschüttelten Köpfen hinweg, zwei Mädchen ganz hinten wechselten Blicke.

»Ihr haltet weiter auf TikTok, Snapchat und wo auch immer Ausschau nach ihr, ja?«, meldete sich Colson zu Wort.

»WhatsApp hat sie auch«, erwiderte ein Mädchen.

»Im Netz wissen alle längst, dass sie weg ist«, ergänzte eine andere, »aber trotzdem weiß niemand, wo sie steckt.«

»Fallen euch Orte ein, wo sie sein könnte? Orte, an denen ihr euch regelmäßig trefft, aber von denen eure Eltern nichts wissen?«

Alle im Raum sahen sich gegenseitig an, allgemeines Schulterzucken. Das Schweigen dauerte an, bis Clarke es brach.

»Ist hier ein Craig Fielding?«, fragte sie.

»Der ist eine Klasse über uns, aber heute nicht da«, erwiderte ein Junge mit einer sehr viel tieferen Stimme, als seine dürre Statur vermuten ließ. Über seiner Oberlippe war der Flaum eines beginnenden Schnurrbarts zu erkennen.

»Hat er sich krankgemeldet?« Clarke richtete die Frage an Tara Lindsay, die versprach, dies zu prüfen, woraufhin sie ihr Handy nahm und eine Nachricht tippte.

»Craig und Jasmine haben sich vor Ewigkeiten getrennt«, sagte ein Mädchen ganz hinten.

»War das für beide okay?«, erkundigte sich Clarke und erntete Schulterzucken als Antwort.

»Glauben Sie, dass sie entführt wurde?«, rief ein anderes Mädchen mit leicht zitternder Stimme dazwischen. »Müssen wir jetzt alle besonders vorsichtig sein?«

»Bislang deutet nichts darauf hin«, erklärte Colson schleppend. »Aber es kann nie schaden, aufmerksam zu bleiben – Autos oder Fremde, die euch folgen, vielleicht bis nach Hause hinterherfahren …«

Clarke fiel ihm ins Wort, als sie plötzlich einige angsterfüllte Gesichter vor sich sah. »Ich bin sicher, wir müssen uns keine Sorgen machen, aber wir wollen uns alle vergewissern, dass sie in Sicherheit ist und nicht irgendwie in der Klemme steckt.«

Lindsay las eine gerade eingetroffene Nachricht. »Er fühlt sich unwohl. Seine Mutter hat heute Morgen im Sekretariat angerufen.«

»Wir brauchen seine Kontaktdaten«, erklärte Clarke. Sie drehte sich zum Whiteboard um, nahm einen Marker und schrieb ihre Telefonnummer mitsamt E-Mail-Adresse darauf. »Notiert euch das«, bat sie die Schüler. »Ihr könnt jederzeit, Tag und Nacht, vertraulich mit mir sprechen.« Alle zogen ihre Handys heraus und speicherten Nummer und Adresse ein, die meisten einfach, indem sie die Tafel fotografierten. Clarke wandte sich an Tara Lindsay. »Würden Sie dafür sorgen, dass sämtliche Mitarbeiter der Schule ebenfalls meine Kontaktdaten erhalten?«

»Natürlich.«

Clarke drehte sich wieder um und sprach zur Klasse. »Danke, dass ihr gekommen seid. Ich denke, das genügt erst mal.« Sie sah, wie alle ihre Taschen packten. »Ach, eins noch – gibt es hier eine Carla?«

Die beiden Mädchen ganz hinten wechselten erneut einen Blick. Eine hob zögerlich die Hand.

»Wenn du vielleicht noch ein paar Minuten bleiben könntest«, sagte Clarke.

Tara Lindsay übertrug die Informationen vom Smartboard in ihr eigenes Handy und stellte sich neben Clarke, während die Teenager einer nach dem anderen den Raum verließen. Als sie Clarke ansprach, senkte sie die Stimme.

»Ich würde nicht behaupten, dass Jasmine wahnsinnig aufgeweckt oder selbstbewusst ist. Sie gehört eher zu den Stilleren. Eine Mitläuferin, kann man vielleicht sagen. Sie hat uns nie Schwierigkeiten gemacht oder Anlass zur Sorge gegeben, anders als so manch andere, die mir einfallen würden.« Clarke hatte das Gefühl, dass Carla und ihre Vertraute, die jetzt leise flüsternd angetrödelt kamen, möglicherweise zu diesen »anderen« gehörten. Die Blicke aller dem Ausgang Zustrebenden ruhten auf ihnen beiden, und Carla war Farbe in die Wangen gestiegen.

»Wir möchten bitte allein mit Carla sprechen«, erklärte Clarke der Direktorin, »wenn das in Ordnung ist. Danach finden wir selbst den Weg hinaus.«

Lindsay schien zu zögern, nickte aber schließlich. Sie ging vor Carlas Freundin nach draußen, während Carla sich wieder auf demselben Platz ganz hinten niederließ, auf dem sie vorher gesessen hatte. Clarke hatte nichts dagegen, dem Mädchen den Sieg zu überlassen, und ging durch den Raum zu ihr nach hinten, Colson folgte ihr mit einigen Schritten Abstand.

Die beiden blieben stehen und bauten sich vor der sitzenden Schülerin auf.

»Wie heißt du mit Nachnamen, Carla?«, fragte Clarke.

»Morris.«

»Was ist das für ein Akzent?«

»Bradford. Wir sind vor vier Jahren hergezogen.«

»Und so lange kennst du Jasmine?«

»Im Prinzip schon.«

»Ihre Mutter hat uns gesagt, dass du ihre beste Freundin bist – ist sie auch deine?«

»Jas ist okay. Wir haben Spaß zusammen und stehen auf dieselbe Musik.«

»Hätte sie jemandem etwas anvertrauen wollen, wäre sie damit zu dir gekommen?«

»Kann sein.«