Ein Versprechen aus dunkler Zeit - Ian Rankin - E-Book

Ein Versprechen aus dunkler Zeit E-Book

Ian Rankin

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Beschreibung

Die Familie kommt immer zuerst. Sogar vor der Wahrheit ...

Mitten in der Nacht erhält John Rebus einen Anruf seiner Tochter Samantha. Ihr Ehemann Keith ist verschwunden. Völlig aufgelöst bittet sie ihren Vater um Hilfe. Rebus vermutet das Schlimmste, denn aus langjähriger Polizeiarbeit weiß er: Falls Keith etwas zugestoßen sein sollte, wird der erste Verdacht auf Samantha fallen. Besorgt macht Rebus sich auf in die kleine schottische Küstenstadt Naver. Doch ein guter Polizist und ein guter Vater zu sein, gestaltet sich schwieriger als erwartet, und bald muss sich der rastlose Ermittler aus Edinburgh fragen: Könnte das der erste Fall seiner Karriere sein, bei dem die Wahrheit besser nicht ans Licht käme?

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Buch

Mitten in der Nacht erhält John Rebus einen Anruf seiner Tochter Samantha. Ihr Ehemann Keith ist verschwunden. Völlig aufgelöst bittet sie ihren Vater um Hilfe. Rebus vermutet das Schlimmste, denn aus langjähriger Polizeiarbeit weiß er: Falls Keith etwas zugestoßen sein sollte, wird der erste Verdacht auf Samantha fallen. Besorgt macht Rebus sich auf in die kleine schottische Küstenstadt Naver. Doch ein guter Polizist und ein guter Vater zu sein gestaltet sich schwieriger als erwartet, und bald muss sich der rastlose Ermittler aus Edinburgh fragen: Könnte das der erste Fall seiner Karriere sein, bei dem die Wahrheit besser nicht ans Licht käme?

Weitere Informationen zu Ian Rankin und lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Ian Rankin

Ein Versprechen aus dunkler Zeit

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Conny Lösch

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »A Song For The Dark Times« bei Orion Books, London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2022 Copyright © der Originalausgabe 2020 by John Rebus Ltd. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Kerstin von Dobschütz Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München Covermotiv: Landschaft: © Geraint Rowland Photography / Gettyimages Möwen: © Luis Jiménez Torres / EyeEm/Gettyimages Landschaft: © Geraint Rowland Photography / Gettyimages Möwen: © Luis Jiménez Torres / EyeEm / GettyimagesLK · Herstellung: Han Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-25297-7V002www.goldmann-verlag.de

In den finsteren Zeiten, wird da auch gesungen werden? Da wird auch gesungen werden. Von den finsteren Zeiten.

Bertolt Brecht

Wir machen beschädigte Menschen gerne zu unserem Spielzeug.

Jon Ronson

Prolog

I

Siobhan Clarke ging durch die leer geräumte Wohnung, die genau genommen gar nicht leer war; man hatte ihr nur das Leben ausgesaugt. Umzugskisten stapelten sich über die gesamte Länge des Flurs. Die Küchenschränke standen sperrangelweit offen, ebenso wie die Tür zum Treppenhaus. Das Schlafzimmerfenster war zum Lüften geöffnet. Ohne Möbel und den ruhelosen John Rebus selbst sah alles viel geräumiger aus. Nackte Glühbirnen baumelten von den Zimmerdecken. Einige Vorhänge waren geblieben, ebenso größtenteils der Teppichboden (am Vortag war sie bereits mit dem Staubsauger durch die Zimmer gegangen). Im Flur betrachtete sie jetzt die Kisten, wusste jeweils, was darin war, hatte jede einzelne davon eigenhändig beschriftet. Bücher, Musik, persönliche Unterlagen, Fallakten.

Fallakten: ein ganzes Zimmer voll davon – Ermittlungen, an denen John Rebus gearbeitet hatte, gelöste und ungelöste Fälle, außerdem solche, die ihn einfach so interessierten und als Rentner auf Trab hielten. Sie hörte Schritte auf der Treppe. Einer der Umzugsmänner nickte ihr lächelnd zu, hievte eine Kiste hoch und machte wieder kehrt. Sie folgte ihm, zwängte sich an seinem Kollegen vorbei.

»Fast geschafft«, sagte der zweite, blies die Wangen auf. Er schwitzte, und sie hoffte, dass ihm nichts fehlte. Schätzungsweise war er Mitte fünfzig und hatte einiges zu viel auf den Rippen. Edinburgher Wohnhäuser konnten die Hölle sein. Sie selbst hatte nichts dagegen, die zwei Stockwerke nach dem heutigen Tag nie wieder hinaufsteigen zu müssen.

Die Haustür unten war mit einem keilförmig gefalteten Stück Pappe fixiert, sodass sie offen blieb – Clarke vermutete, die Ecke einer Umzugskiste hatte dafür herhalten müssen. Der erste Helfer, mit tätowierten Armen, war auf dem Gehweg unten angelangt, bog scharf links ab, dann noch mal links und ging durch ein Tor. Hinter einem kleinen gepflasterten Bereich, der in ferner Vergangenheit einmal ein gepflegter Garten gewesen sein mochte, befand sich eine weitere weit geöffnete Tür, die in die Erdgeschosswohnung führte.

»Wohnzimmer?«, fragte er.

»Wohnzimmer«, bestätigte Siobhan Clarke.

Als sie eintraten, kehrte ihnen John Rebus den Rücken zu. Er stand vor einer Reihe brandneuer, erst am vorangegangenen Wochenende bei IKEA erstandener Bücherregale. Der Ausflug dorthin – das Aufeinanderprallen gegensätzlicher Auffassungen in der Regalabteilung – hatte die Freundschaft zwischen Rebus und Clarke stärker belastet als sämtliche Einsätze während ihrer gemeinsamen Dienstzeit beim CID. Jetzt drehte er sich um und betrachtete die Kiste mit gerunzelter Stirn.

»Noch mehr Bücher?«

»Allerdings.«

»Wo zum Teufel kommen die alle her? Haben wir nicht schon ein Dutzend Fuhren ins Antiquariat gebracht?«

»Ich weiß nicht, ob du bedacht hast, wie viel kleiner die neue Wohnung im Vergleich zur alten ist.« Clarke war in die Hocke gegangen, um sich Rebus’ Hund Brillo zu widmen.

»Die müssen ins Gästezimmer«, brummte Rebus.

»Ich hab dir ja gesagt, du sollst die alten Fallakten wegwerfen.«

»Das sind vertrauliche Unterlagen, Siobhan.«

»Einige davon sind so alt, die sind noch auf Pergament verfasst.« Der Umzugshelfer war nach draußen gegangen. Clarke tippte auf eins der Bücher, das Rebus bereits ins Regal geräumt hatte. »Hätte dich nicht für einen Jack-Reacher-Fan gehalten.«

»Manchmal brauch ich auch eine Pause von der ganzen Philosophie und den alten Sprachen.«

Clarke betrachtete die Regale. »Willst du sie nicht alphabetisch ordnen?«

»Dafür ist mein Leben zu kurz.«

»Und die Platten?«

»Dafür auch.«

»Wie willst du dann jemals irgendwas wiederfinden?«

»Krieg ich schon hin.«

Sie trat ein paar Schritte zurück und drehte sich um. »Gefällt mir«, sagte sie. Die Tapete war entfernt worden, die Wände und die Decke frisch gestrichen, aber bei den Fußleisten und Fensterrahmen hatte Rebus sich geweigert. Die schweren Vorhänge vom Erkerfenster seines alten Wohnzimmers passten wunderbar in das praktischerweise identische Fenster hier. Sein Sessel, das Sofa und die Hi-Fi-Anlage waren so platziert, wie er es angeordnet hatte. Der Esstisch hatte weichen müssen – er war zu groß für den wenigen, verfügbaren Platz. Stattdessen hatte er jetzt einen modernen, kleineren Tisch mit Seiten zum Herunterklappen, ebenfalls von IKEA. Die Küche war eng, fast eine Art Kombüse. Auch das Badezimmer war lang und schmal, aber vollkommen ausreichend. Rebus hatte sich gegen eine Sanierung dort gesträubt: »Vielleicht später.« Clarke hatte sich in den vergangenen Wochen an diesen Refrain gewöhnt. Sie hatte Rebus zwingen müssen auszumisten. Den Bücher- und Plattenbestand auszudünnen hatte fast zwei Wochen in Anspruch genommen, und hin und wieder hatte sie Rebus dabei erwischt, wie er etwas aus einer der für den Secondhandladen bestimmten Kisten und Tüten wieder herausfischte. Ihr war aufgefallen, dass er kaum Familienerinnerungsstücke besaß oder etwas, das man als »Erbstück« hätte bezeichnen können – nichts, das seinen Eltern gehört hatte; nur eine Handvoll gerahmte Fotos von seiner Ex-Frau und seiner Tochter. Clarke hatte vorgeschlagen, er solle Kontakt zu seiner Tochter aufnehmen und diese bitten, ihm beim Umziehen zu helfen.

»Geht schon.«

Schließlich hatte Clarke sich selbst eine Woche Urlaub genommen, einen kleinen Transporter gemietet, groß genug für die Fahrten zu IKEA, zum Secondhandladen und zur Mülldeponie.

»Der Stuck ist derselbe wie in deiner alten Wohnung«, sagte sie jetzt mit Blick zur Decke.

»Aus dir wird ja doch noch mal eine Detektivin«, sagte Rebus und schob weitere Bücher ins Regal. »Aber die nächsten Lektionen heben wir uns auf für nach dem Tee, den du uns jetzt machst …«

In der Küche befand sich eine Tür, die in den ummauerten Garten hinter dem Haus führte, ein großes Stück Rasen mit dekorativer Begrenzung. Clarke ließ Brillo hinaus, dann füllte sie den Wasserkocher. Als sie die Schränke öffnete, stellte sie fest, dass Rebus das von ihr am Vortag Eingeräumte umorganisiert hatte – offenbar zog er ein anderes System vor: Töpfe, Backformen und Lebensmittel weiter unten; Geschirr weiter oben. Sogar das Besteck in den beiden Schubladen hatte er umgeräumt. Sie steckte Teebeutel in zwei Becher und holte die Milch aus dem Kühlschrank. Es war noch der alte von oben – auch die Waschmaschine war mitgekommen. Beide passten nicht richtig, ragten in den Raum hinein. Wäre es ihre Küche, würde sie sich ständig die Knie oder einen Zeh stoßen. Sie hatte ihm gesagt, dass sie nicht passen würden und er sie ersetzen sollte.

»Vielleicht später«, hatte die Antwort gelautet.

Die beiden Umzugshelfer brauchten keinen Tee – anscheinend funktionierten sie auf Basis von kohlensäurehaltigen Getränken und Tabak aus dem Vaporizer. Außerdem waren sie fast fertig. Sie hörte, wie sie weitere Kisten holten.

»Wohnzimmer?«, fragte einer.

»Wenn’s sein muss«, erwiderte Rebus.

»Noch einmal, dann war’s das, denke ich. Sie wollen bestimmt hinter uns abschließen.«

»Zieht einfach die Tür zu, wenn ihr fertig seid.«

»Kein letzter wehmütiger Blick?«

»Alle Zähler sind abgelesen, was brauch ich sonst noch?«

Dem Umzugshelfer schien darauf keine Antwort einzufallen. Clarke sah, wie er sich verzog, und ging mit den vollen Teebechern ins Wohnzimmer.

»Vierzig Jahre deines Lebens, John«, sagte sie und reichte ihm seinen Tee.

»Ein Neuanfang, Siobhan. Die Schlüssel gehen an den Anwalt des Käufers. Der Nachsendeantrag ist gestellt.« Er schien zu überlegen, ob er irgendwas vergessen hatte. »Ein Glück, dass die Wohnung hier frei geworden ist. Mrs Mackay war fast genauso lange hier wie ich da oben. Ihr Sohn lebt in Australien, da ist sie in ihren Dämmerjahren gut versorgt.«

»Wohingegen du es ja nicht ertragen hättest, auch nur fünfzig Meter weiter zu ziehen.«

Er fixierte sie mit einem Blick. »Trotzdem hab ich dich zum Staunen gebracht.« Er zeigte mit einem Finger an die Decke. »Du hast gedacht, die tragen mich in einer Kiste da oben raus.«

»Ob alle so vergnügt sind, wenn sie umziehen?«

»Vielleicht hast du ja vergessen, warum ich umziehe.«

Nein, das hatte sie nicht vergessen. COPD: chronisch obstruktive Lungenerkrankung. Die Treppe machte Rebus schwer zu schaffen, und als das Zu-verkaufen-Schild im Vorgarten unten aufgetaucht war …

»Außerdem«, setzte er hinzu, »waren die Treppen auch für Brillo mit seinen kurzen Beinen nicht ganz fair.« Er sah sich nach dem Hund um.

»Im Garten«, erklärte Clarke.

Die beiden gingen durch die Küche und nach draußen. Brillo schnüffelte sich schwanzwedelnd über den Rasen.

»Er hat sich schon eingelebt«, meinte Clarke.

»Das wird seinem Herrchen schwerer fallen.« Rebus schaute zu den Fenstern der umgebenden Wohnhäuser hinauf, seufzte und mied den Blickkontakt zu Clarke. »Du solltest morgen wieder arbeiten gehen. Sag Sutherland, dass du nicht die ganze Woche brauchst.«

»Wir müssen noch auspacken.«

»Auf dich wartet ein Mord. Apropos: Gibt’s was Neues?«

Clarke schüttelte den Kopf. »Graham hat sein Team zusammengestellt. Ich glaube kaum, dass meine Anwesenheit da einen großen Unterschied machen würde.«

»Natürlich würde sie das«, widersprach Rebus. »Ich kann auch alleine auspacken und dann keine Ahnung haben, wohin ich den Krempel stellen soll.«

Sie grinsten einander an, drehten sich um, als die Umzugshelfer zurückkamen. Die Männer verschwanden ins Wohnzimmer und tauchten wenige Sekunden später wieder auf.

»Ich denke, wir sind dann so weit«, sagte der ältere der beiden von der Küchentür aus. Rebus ging zu ihm, kramte ein paar Scheine aus der Tasche. Brillo kam zu Clarke gelaufen, setzte sich mit erwartungsvollem Blick auf die Hinterbeine.

»Versprichst du mir, dass du auf ihn aufpasst?«, fragte Clarke.

Der Hund legte den Kopf schief, als müsste er sich eine Antwort auf die Frage erst noch überlegen.

II

Siobhan Clarkes eigene Wohnung befand sich in einer Straße abseits der Broughton Street, von Rebus aus gesehen am anderen Ende der Stadt, und im ersten Stock eines Wohnhauses, aus dem sie möglicherweise ausziehen würde. Jedenfalls dachte sie seit ein paar Monaten darüber nach. Inzwischen war sie mit DCI Graham Sutherland zusammen, einem Kollegen – wenn auch einige Karrieresprossen über ihr –, mit dem sie hin und wieder zusammenarbeitete. Sutherland führte eines der wichtigsten Ermittlerteams. Er wohnte in Glasgow und hatte sie gebeten, bei ihm einzuziehen.

»Das muss ich mir überlegen«, hatte sie gesagt. Sie hatte ihn mehrfach dort besucht, war aber nur einmal über Nacht geblieben. Obwohl er geschieden war, fanden sich noch einige Spuren seiner früheren Frau in seiner Wohnung. Außerdem, glaubte sie, hatte er sich bestimmt nicht die Mühe gemacht, ein neues Bett zu kaufen.

»Vielleicht wäre ja eine Wohnung in der Innenstadt mehr dein Ding«, hatte er vorgeschlagen, ohne dabei wirklich enthusiastisch zu klingen, und ihr ein paar Immobilien »zur Info« weitergeleitet, die er im Netz gefunden hatte. Eine davon hatten ihr tatsächlich ganz gut gefallen. Ohne ihm etwas davon zu sagen, war sie nach Glasgow gefahren und hatte vor dem Gebäude geparkt, war ausgestiegen und umhergelaufen, hatte sich ein Gefühl für die Gegend verschafft. Schön, hatte sie für sich befunden. Gar nicht schlecht.

Dann war sie nach Hause gefahren.

Rebus hatte sie für den Abend mehr oder weniger entlassen. Sie hatte vorgeschlagen, ein Curry bei seinem Lieblingsrestaurant zu holen, aber er hatte sie davongescheucht.

»Mach mal Pause. Sag deinem Freund, du willst wieder ins Team.«

Sie hatte auf ihr Handy geschaut. Es war fast acht Uhr abends, und Sutherland hatte noch keine ihrer Nachrichten beantwortet, weshalb sie jetzt in ihre Jacke schlüpfte, sich die Schlüssel schnappte und nach unten ging. Es war nur eine kurze Fahrt bis zur Wache in Leith – eigentlich hätte sie auch laufen können.

Auf halber Strecke hielt sie an, sprang in einen Laden und kam mit einer Plastiktüte wieder heraus. Nachdem sie beim Leith Links Park das Auto abgestellt hatte, ging sie zur Wache, meldete sich an der Sprechanlage und wurde eingelassen. Sie stieg die imposante Marmortreppe in den ersten Stock nach oben und betrat die Räume des MIT. Zwei vertraute Gesichter blickten von ihren Computern auf.

»Hast du nicht Urlaub?«, fragte DC Christine Esson.

»Deshalb bringe ich euch ja auch was mit.« Clarke leerte ihre Einkaufstüte: gesalzene Erdnüsse, Chips, Schoko-Brownies und Mineralwasser.

»Besser als eine Postkarte«, sagte DC Ronnie Ogilvie, schnappte Esson ein Tütchen vor der Nase weg.

»Ist der Chef schon nach Hause?«, fragte Clarke.

»Hat eine Besprechung in der Fettes Avenue.« Esson kehrte mit ihrem Erbeuteten an ihren Schreibtisch zurück.

Clarke folgte ihr, spähte über Essons Schulter auf deren Computerbildschirm.

»Und die anderen?«

»Wir sind die Spätschicht.«

»Wie läuft es denn?«

»Du hast doch frei«, erinnerte Esson sie. »Wie geht’s mit dem Umzug voran?«

»Was glaubst du wohl?« Clarke hatte sich zu der Wand hinter Esson umgedreht – der Mord-Wand. An der riesigen, mit blauem Filz überzogenen Korktafel hingen Fotos des Opfers sowie des Tatorts, Straßenkarten, Autopsie-Ergebnisse und der aktuelle Dienstplan. Ihr eigener Name darauf war durchgestrichen. Typisch, sie hatte es mal wieder hinbekommen, sich in einer vollkommen ruhigen Phase freizunehmen, und gleich am ersten Tag ihres Urlaubs war ein riesengroßer Fall reingekommen. Sie hatte versucht, dem DCI begreiflich zu machen, dass sie ihren Urlaub problemlos verschieben konnte, aber er war unerbittlich geblieben. »John braucht dich – er würde das nie zugeben, und vielleicht weiß er’s nicht mal, aber so ist es.«

»Wir bekommen ganz schön Druck von oben«, sagte Ronnie Ogilvie jetzt mit einem Mund voller Chips.

»Weil der Tote reich war?«

»Weil er reich war und Beziehungen hatte«, führte Esson aus. »Sein Vater Ahmad ist etliche Millionen schwer, steht vermutlich aber in Saudi-Arabien unter Hausarrest.«

»Vermutlich?«

»Die Saudis sind nicht direkt auskunftsfreudig. Die Info haben wir einer Menschenrechtsorganisation zu verdanken.«

Clarke überflog die angepinnten Daten. Salman bin Mahmoud war ein gut aussehender junger Mann gewesen. Dreiundzwanzig Jahre alt. Er war einen Aston Martin gefahren und hatte in einem vierstöckigen georgianischen Townhouse in einer der besten Straßen der New Town gewohnt. Kurze schwarze Haare und ein gepflegter Bart. Braune Augen. Auf einigen Fotos lächelte er, lachte aber nicht.

»Nicht jeder Student bekommt einen DB11 zum Geburtstag«, meinte Clarke.

»Lebt auch nicht jeder in einer Wohnung mit fünf Zimmern.« Esson stand neben ihr. »Das Beste ist, er hat noch nicht mal hier studiert.« Clarke hob eine Augenbraue. »Eingeschrieben war er an der Business School in London, wo er ein Penthouse in Bayswater gemietet hatte.«

»Und was wollte er in Edinburgh?«, fragte Clarke.

Esson und Ogilvie wechselten einen Blick. »Sag du’s ihr«, meinte Ogilvie und öffnete eine der Wasserflaschen.

»James Bond«, folgte Esson der Aufforderung. »Er war ein totaler James-Bond-Freak und ganz besonders scharf auf die frühen Filme.«

»Das heißt, die mit Sean Connery?«

»Der ja bekanntlich aus Edinburgh stammt«, bestätigte Esson nickend. »Anscheinend sind beide Wohnungen voller Bond-Memorabilia.«

»Was den DB11 erklärt, aber nicht die eigentliche Frage beantwortet – was hat ein reicher saudischer Student mit James-Bond-Fetisch in einer Sommernacht um dreiundzwanzig Uhr auf dem Parkplatz eines Teppichlagers in der Seafield Road verloren?«

»Vielleicht hat er sich mit jemandem getroffen«, schlug Ogilvie vor.

»Der ihn erstochen hat«, ergänzte Esson.

»Aber nicht ausgeraubt, und seinen teuren Wagen hat er auch stehen lassen.« Clarke verschränkte die Arme. »Was haben die Überwachungskameras ergeben?«

»Der Wagen wurde zwischen der Heriot Row und der Seafield Road oft genug erfasst, anscheinend ist er ohne längere Aufenthalte durchgefahren.«

»Die Salamander Street liegt auf der Strecke – bei Sexarbeiterinnen war sie früher sehr beliebt«, überlegte Clarke.

»Wir überprüfen das.«

»Kommt seine Mutter den Toten holen?«

»Anscheinend kümmert sich die saudische Botschaft um alles – wenn ich zwischen den Zeilen lese, würde ich sagen, die wollen sie nicht reisen lassen.«

Clarke schaute Esson an. »Ach?«

»Vielleicht haben sie Angst, dass sie nicht mehr zurückkommt.« Esson zuckte mit den Schultern.

»Was hat der Vater getan, um in Ungnade zu fallen?«

»Wer weiß? Die Familie stammt aus dem Hedschas. Ich hab ein bisschen nachgelesen, und er ist keinesfalls der Einzige, der unter Hausarrest steht. Meist lautet der Vorwurf Korruption. Wahrscheinlich bedeutet das ganz einfach, dass er einem Mitglied der Herrscherfamilie auf den Schlips getreten ist. Manche zahlen ein saftiges Bußgeld und werden auf freien Fuß gesetzt, aber Ahmad bislang nicht.«

»Liegt wohl immer am Geld.«

»Nicht immer, aber oft genug.«

Hinter ihnen hörten sie, wie sich jemand räusperte. Als sie sich umdrehten, sahen sie DCI Graham Sutherland breitbeinig im Türrahmen stehen, die Hände in die Hosentaschen seiner anthrazitfarbenen Anzughose geschoben.

»Anscheinend leide ich unter Halluzinationen«, sagte er. »Ich hätte schwören können, du hast noch eine halbe Woche wohlverdienten Urlaub.«

»Ich hab euch was mitgebracht«, sagte Clarke und zeigte auf den Schreibtisch.

»Police Scotland duldet keine Bestechung, Detective Inspector Clarke. Darf ich Sie zur Zurechtweisung in mein Büro bitten?« Er ging zur Tür am anderen Ende des Raums, öffnete sie und bedeutete Clarke, sie möge vor ihm in den beengten, fensterlosen Raum eintreten.

»Hör mal«, setzte sie an, als die Tür ins Schloss fiel.

Aber Sutherland hob die Hand, ließ sie verstummen und setzte sich ihr gegenüber an seinen Schreibtisch.

»So erschreckend das auch für dich sein mag, Siobhan, aber wir kommen gut ohne dich klar. Ich habe alle Ressourcen, die ich brauche, und einen Blankoscheck in der Tasche, sollten sie wider Erwarten doch nicht ausreichen.«

»Aber der Umzug ist praktisch erledigt.«

»Das sind tolle Neuigkeiten – dann kannst du ja mal ein paar Tage lang die Füße hochlegen.«

»Und wenn ich sie nicht hochlegen will?«

Sutherlands Augen verengten sich, er sagte jedoch nichts. Clarke hob die Hände zum Zeichen ihrer Kapitulation.

»Aber sei ehrlich – wie läuft es wirklich?«

»Ein klares Motiv wäre schön. Die Freunde, mit denen wir reden konnten, waren nicht sehr gesprächig.«

»Haben sie Angst?«

Sutherland zuckte mit der Schulter und fuhr sich mit der Hand über die weinrote Krawatte. Er war Anfang fünfzig und hatte nicht mehr lange bis zur Rente, war aber stolz darauf, dass er nicht nur seine Figur gehalten, sondern auch noch dichtes Haar hatte, weshalb schon unbegründete Gerüchte über Transplantationen aufgekommen waren. »Bei der Met helfen sie uns – schauen sich seine Londoner Kontaktpersonen an. Anscheinend war er nicht so versessen auf seine Seminare. Nachtclubs und Pferderennen waren offenbar eher sein Ding.« Sutherland brach ab. »Was dich aber zurzeit alles gar nicht interessieren muss.« Er setzte sich auf seinem Stuhl zurecht. »Wie geht’s John?«

»Er sagt, er kommt klar. Ihm wäre lieber, ich würde wieder arbeiten, mich nützlich machen.«

»Ist das so?« Sutherland rang sich ein müdes Lächeln ab. Clarke hatte das Gefühl, diesen Kampf zu verlieren.

»Sehen wir uns später?«, fragte sie.

»Werde ich aufs Sofa verbannt?«

»So grausam könnte ich wahrscheinlich nicht sein.«

»Dann riskiere ich’s vielleicht.«

»Ich hab für alle Fälle noch ein bisschen Verpflegung eingekauft.«

Er nickte dankbar. »Gibst du mir noch ein, zwei Stunden?«

»Pass auf, dass du keinen Burn-out bekommst, Graham.«

»Und wenn, dann wird eine frische, ausgeruhte Nachfolgerin gesucht. Kennst du jemanden, auf den die Beschreibung passt?«

»Ich werde darüber nachdenken, DCI Sutherland …«

III

Rebus musste ein bisschen an Brillos Leine ziehen. Nach ihrem Abendspaziergang auf den Meadows hatte der Hund zur Haustür gewollt.

»Da werden wir uns beide dran gewöhnen müssen«, sagte Rebus, stieß stattdessen das Tor seitlich am Haus auf. »Aber glaub mir, mit der Zeit gewöhnt man sich an alles.« Er hatte es geschafft, sich einen Blick zu dem vorhanglosen Fenster seines alten Wohnzimmers zu verkneifen. Als er die Tür seines neuen Zuhauses aufschloss, kam ihm neben dem Geruch nach frischer Farbe ein Hauch von etwas anderem entgegen: eine Duftspur der Vorbesitzerin. Eigentlich kein Parfüm – eher eine Mischung dessen, wer sie war und was für ein Leben sie geführt hatte. Irgendwo hatte er sich Mrs Mackays neue Adresse in Australien notiert, falls der Nachsendeauftrag nicht funktionierte. In seiner alten Wohnung hatte er etwas Ähnliches hinterlassen. Er hatte so eine Ahnung, dass der neue Eigentümer sie an Studenten weitervermieten würde – kaum verwunderlich. Marchmont war immer schon ein Studentenviertel gewesen, die Universität lag direkt auf der anderen Seite der Meadows. Rebus hatte sich nur sehr selten über zu laute Partys beschweren müssen und jetzt schon seit mehreren Jahren nicht mehr. Waren die Studenten heutzutage aus einem anderen Holz geschnitzt? Etwa weniger laut; dafür aber … na ja, wissbegierig?

Als er ins Wohnzimmer ging, sich zwischen den Kisten durchschlängelte, merkte er, dass er seinen Computer noch auspacken musste. Keine Eile: Der DSL-Anschluss kam auch erst in ein paar Tagen. Auf Siobhans Vorschlag hin hatte er eine Liste der Personen zusammengestellt, die er von seinen veränderten Umständen in Kenntnis setzen musste. Sie war nicht einmal eine halbe Seite lang – und überhaupt, wo hatte er sie eigentlich hingelegt? Er hörte Brillo in der Küche, wie er sich sein Trockenfutter und sein frisches Wasser schmecken ließ. Sich selbst hatte Rebus nichts zu essen gemacht; neuerdings schien er keinen großen Hunger mehr zu haben. In der Küche standen noch ein paar Bier und mehrere Flaschen Hochprozentiges in der Nische am Fenster. Ein paar schöne Malts, aber so richtig war er nicht in Stimmung. Für Musik dagegen schon: Er sollte dem Anlass entsprechend etwas Besonderes aussuchen. Er erinnerte sich, wie er mit Rhona in die Wohnung oben eingezogen war, ein halbes Leben war das her. Damals hatte er einen tragbaren Plattenspieler besessen und das zweite Stones-Album aufgelegt, sich Rhona geschnappt und war mit ihr durch das Zimmer getanzt, das ihnen damals riesig vorgekommen war.

Erst später hatten die Wände sie zunehmend erdrückt.

Als er die Rücken seiner LPs betrachtete, sah er, dass sie sich nicht mal mehr annähernd in derselben Reihenfolge befanden wie oben. Nicht dass sie irgendwie geordnet gewesen wären – aber er hatte einfach gewusst, wo er fand, was er hören wollte. Statt für die Stones entschied er sich jetzt für Van Morrison.

»Genau, du bist richtig«, sagte er zu sich selbst.

Nachdem er die Nadel auf das Vinyl gesenkt hatte, trat er einen Schritt zurück. Die Platte sprang. Er schaute zu Boden. Lose Dielen. Er trat noch einmal mit dem Fuß auf und wieder dasselbe. Mit dem Finger pikte er auf den Übeltäter.

»Du stehst auf meiner Liste, mein Freund«, warnte er sie, ging mit vorsichtigen Schritten zu seinem Sessel zurück.

Es dauerte nicht lange, bis Brillo sich auf dem Boden zu seinen Füßen zusammenrollte.

Rebus hatte sich zwar das Versprechen gegeben, noch vor dem Schlafengehen ein paar Kisten auszupacken, merkte jetzt aber, dass es keine Eile hatte. Als sein Handy brummte, schaute er erst aufs Display, bevor er dranging: Deborah Quant. Vor einer Weile hatte er sie gefragt, ob sie eigentlich zusammen seien. Sie hatte erwidert, sie seien gute Freunde mit zusätzlichen Vergünstigungen – was beiden ausgezeichnet entsprach.

»Hallo, Deb.«

»Hast du dich schon eingelebt?«

»Ich dachte, vielleicht willst du vorbeikommen und nachschauen.«

»Dank deiner Leute hab ich einen langen Tag hinter mir.«

»Ich bin seit einer Ewigkeit im Ruhestand, Deb.« Rebus hielt inne. »Wahrscheinlich ging es um den saudischen Studenten?«

»Offenbar traut mir die Polizei und die Staatsanwaltschaft nicht mehr zu, eine Todesursache feststellen zu können.«

»Du meinst, du bekommst Druck von oben?«

»Von allen Seiten – von der Regierung hier und in London, außerdem von unseren Freunden von der Presse. Dazu kommt, dass muslimische Beerdigungen normalerweise innerhalb von zwei oder drei Tagen stattfinden müssen – die Botschaft drängt darauf, dass endlich was passiert.«

»Praktisch für denjenigen, der ihn getötet hat, wenn du die Leiche nicht für weitere Untersuchungen behalten darfst …«

»Was ich so lange erklärt habe, bis ich Fransen an den Lippen bekam.«

»Also die ganz große Daumenschraube, oder wie?« Er hielt erneut inne. »Ich denke mal, du hast nichts Außergewöhnliches feststellen können?«

»Ein Messer mit schmaler Klinge, vielleicht zwölf bis fünfzehn Zentimeter lang.«

»Wusste der Täter, was er tut?«

»Er hat auf den Hals gezielt, weniger auf Brust, Unterleib oder Bauch. Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, was uns das verrät, aber ist ja auch nicht meine Aufgabe. Der Eintrittswinkel lässt auf jemanden von ähnlicher Statur und höchstwahrscheinlich einen Rechtshänder schließen. Darf ich annehmen, dass du mit Siobhan darüber gesprochen hast?«

»Sie scharrt vor Ungeduld schon mit den Hufen.«

»Aber sie ist auch eine loyale Freundin.«

»Ich hab ihr gesagt, ich komme alleine klar.«

»Und wo bist du jetzt?«

»Im Wohnzimmer, ich sitze im Sessel und Brillo liegt zu meinen Füßen.«

»Und du hast deine Anlage angeschlossen. Dann ist die Welt doch in Ordnung …«

»Sehen wir uns morgen?«

»Ich versuch’s.«

»Du arbeitest zu viel.« Er hörte sie lachen.

»Es war die richtige Entscheidung – das weißt du, oder?«

»Für meine Lunge vielleicht.«

»Versuch’s mal einen Tag ohne, John. Kraul Brillo hinter den Ohren von mir. Wir sprechen uns bald wieder.«

»Nacht, Deb.«

Und dann war sie weg. Sie wohnte weniger als eine Meile entfernt in einem modern-minimalistischen Wohnblock, und auch in ihrem Apartment gab es nur wenige Dinge, schon weil sie nirgendwo etwas verstauen konnte – sie hatte keine Einbauregale, keine Abstellkammern, keine Nischen und keine Ecken. Einfach nur klare Linien, von denen jeder Anflug von Unordnung abperlte. Ihr Büro im Leichenschauhaus sah genauso aus – auf ihrem Schreibtisch durften keine Unterlagen liegen bleiben.

Rebus dachte erneut an die Bücher, ohne die er nicht leben konnte, auch wenn er sie nie wieder lesen würde; an die Alben, die er nur ein- oder zweimal in zehn Jahren auflegte, an denen er aber trotzdem hing; an die Kisten mit Fallakten, die praktisch ein Teil von ihm waren, wie ein Arm oder ein Bein. Und warum sollte er sich davon trennen, wenn er ein Gästezimmer hatte, in dem sich nie ein Gast blicken ließ? Seine Tochter und seine Enkeltochter waren die einzige Familie, die er hatte, und sie blieben nie über Nacht. Deshalb hatte er das alte Bett rausgeschmissen und durch ein Zweisitzer-Sofa ersetzt, um mehr Platz für Bücher zu haben, den Koffer, von dem er nicht annahm, dass er ihn jemals benutzen würde, und seinen zweitbesten Plattenspieler, derselbe nämlich, zu dessen Klängen er an jenem ersten Abend mit Rhona getanzt hatte. Er funktionierte nicht mehr, aber er dachte, er würde bestimmt jemanden finden, der ihn reparieren konnte. Als er in die Küche ging, um sich einen Tee zu machen, betrachtete er die Zeitschaltuhr für die Zentralheizung. Mrs Mackay hatte ihm die Gebrauchsanweisung dagelassen, aber eigentlich sah es ganz einfach aus.

»Die Heizkosten bleiben meist im Rahmen«, hatte sie gesagt. Andererseits hatte sie aber auch immer lieber noch eine weitere Wollschicht übergezogen, als das Thermostat höher zu drehen. Er fragte sich, ob sie ihre diversen Strickjacken, Pullover und Schals alle mit nach Australien genommen hatte. Er würde nicht dagegen wetten.

Während das Wasser kochte, ging er ins Schlafzimmer. Mit dem Doppelbett, dem alten Kleiderschrank und der Kommode blieb nicht mehr viel Platz. Siobhan hatte ihm geholfen, das Bett zu machen, und hatte Brillo dabei ein halbes Dutzend Mal herunterscheuchen müssen.

»Sag nicht, dass er bei dir im Bett schläft«, hatte sie gemeint.

»Natürlich nicht«, hatte Rebus gelogen.

Jetzt sah ihn der Hund vom Flur aus an. Rebus schaute auf die Uhr. »Gleich«, sagte er. »Nur noch einen Tee und vielleicht auch noch eine Platte, hm?«

Er fragte sich, wie oft er in der Nacht aufwachen und sich nicht mehr an den neuen Weg ins Bad erinnern würde. Vielleicht sollte er das Licht im Flur anlassen.

»Dann trink halt nicht so viel Tee«, brummte er vor sich hin und ging zurück in die Küche.

IV

Dass er mal musste, war nicht der Grund, weshalb er um fünf Uhr früh aufwachte. Ein Anruf hatte ihn hochschrecken lassen. Er tastete sowohl nach seinem Telefon als auch nach der Nachttischlampe, weckte dabei Brillo. Obwohl er das Display nicht klar erkennen konnte, presste er sich das Handy ans Ohr.

»Dad?« Rebus hörte die Dringlichkeit in der Stimme seiner Tochter Samantha.

»Was ist denn?«, fragte er, setzte sich auf, wurde von einer Sekunde auf die andere hellwach.

»Dein Festnetzanschluss ist abgeschaltet.«

»Das wollte ich dir noch sagen …«

»Was?«

»Du rufst doch nicht wegen meines Festnetzanschlusses um diese Uhrzeit an. Ist was mit Carrie?«

»Der geht’s gut.«

»Was denn? Alles in Ordnung?«

»Es ist wegen Keith.«

Ihr Freund, Carries Vater. Rebus schluckte. »Was ist passiert?« Er lauschte, während Samantha leise schluchzte. Ihre Stimme brach, während sie weiterredete.

»Er ist weg.«

»Dieses Arschloch …«

»Nicht so … jedenfalls glaube ich das nicht.« Sie schniefte. »Ich meine, genau weiß ich’s nicht. Er ist verschwunden. Schon seit zwei Tagen.«

»Und bei euch war alles in Ordnung?«

»Nicht schlimmer als sonst.«

»Aber du glaubst nicht, dass er einfach – weiß nicht – einfach los ist und sich irgendwo betrinkt?«

»So ist er nicht.«

»Hast du ihn vermisst gemeldet?«

»Die schicken jemanden, der mit mir spricht.«

»Wahrscheinlich haben sie dir gesagt, dass zwei Tage noch nicht lange sind?«

»Haben sie, aber auf seinem Handy springt nur die Mailbox an.«

»Und er hat keine Tasche gepackt oder so?«

»Nein. Wir haben ein gemeinsames Konto – ich hab online nachgesehen, er hat nichts gekauft und auch kein Geld abgehoben. Sein Wagen steht in einer Parkbucht an der Kirche.«

Rebus wusste, welche Stelle sie meinte – fünf Minuten zu Fuß von ihrem Haus entfernt. Er hatte selbst schon dort geparkt, um die Aussicht zu genießen. Samantha lebte am äußeren Rand der kleinen Ortschaft Naver, an der wilden schottischen Nordküste, acht Meilen von Tongue entfernt. Der Wind hatte an Rebus’ Wagen gerüttelt.

»Probleme bei der Arbeit?«, fragte er. »Geldsorgen?«

»Ich hatte was mit einem anderen, und er hat’s mitbekommen«, platzte es aus ihr heraus.

»Okay«, sagte Rebus.

»Aber das war längst aus und vorbei. Das ist nicht der Grund, warum Keith weg ist – da bin ich sicher. Außerdem hätte er dann doch was mitgenommen. Der Schlüssel steckte noch im Zündschloss … Das Auto war so nah am Haus geparkt … Das macht doch keinen Sinn. Wirst du daraus schlau? Ich bin einfach … Ich hab die ganze Nacht wach gelegen, bin immer und immer wieder alles durchgegangen. Ich hab Angst, dass die Polizei denkt, ich hab was damit zu tun.«

Rebus schwieg einen Augenblick. »Warum sollten die das denken, Samantha?«

»Weil hier alle wissen, dass wir eine schwierige Phase durchgemacht haben. Die wissen das alle mit mir und Jess.«

»Ist das der Kerl, mit dem du was hattest? Hat Keith ihn sich je vorgeknöpft?«

»Keine Ahnung. Aber mit Jess kann das nichts zu tun haben. Bestimmt nicht.«

»Am wahrscheinlichsten ist, dass Keith einfach wieder auftaucht – ich spreche aus Erfahrung.«

»Ich hab so ein ungutes Gefühl, Dad.«

»Ich kann bis Mittag da sein. Um wie viel Uhr kommen die denn, um mit dir zu reden?«

»Haben sie nicht gesagt.« Sie holte tief Luft. »Aber ich hab ihnen gesagt, dass ich Carrie in die Schule bringen muss.«

»Wird schon werden, Sammy, ich versprech’s.« Sammy – so hatte er sie genannt, bis sie fand, sie sei zu erwachsen dafür. Ausnahmsweise korrigierte sie ihn jetzt nicht.

»Danke«, sagte sie stattdessen. So leise, dass er es fast nicht gehört hätte.

Tag eins

1

Siobhan Clarke wurde durch eine SMS von Rebus geweckt, beschloss aber, dass diese warten konnte, bis sie Kaffee gekocht hatte. Es war kurz nach sieben, Graham Sutherland war bereits losgefahren. Sie fragte sich, ob sie sich Sorgen machen sollte, weil er offenbar die Fähigkeit besaß, sich wie ein Ninja anzuziehen und zu verschwinden, ohne dass sie etwas davon mitbekam.

»Einen Kaffee hätte er mir aber ruhig schon mal kochen können …«

Noch im Schlafanzug und mit beiden Händen am heißen Kaffeebecher trottete sie zurück ins Schlafzimmer, stellte den Becher auf den Nachttisch, nahm ihr Handy und wischte über das Display.

Tu mir einen Gefallen. Kümmere dich um Brillo. Schlüssel liegt unter dem halben Mauerstein neben der Wohnungstür. Ich melde mich später.

»Was soll das?« Clarke setzte sich auf die Kante des noch warmen Bettes und rief ihn an.

»Ich sitze im Auto«, warnte Rebus sie. »Und will keinen Strafzettel kriegen.« In seinem alten Saab gab es keine Freisprechanlage. Sie hörte das dumpfe Dröhnen des Motors.

»Wo brennt es denn?«

»Samantha. Ihr Lebensgefährte ist spurlos verschwunden.«

»Fährst du nach Tongue?«

»Nicht ganz – sie sind vor ein paar Jahren in einen Nachbarort gezogen.«

»Und du meinst, deine alte Rostlaube ist dem gewachsen?«

»Fast hätte ich gefragt, ob ich mir deine leihen darf.«

»Warum hast du’s nicht getan?«

»Es war fünf Uhr früh. Ich wusste nicht, ob du’ s mir gedankt hättest.«

»Außerdem hätte ich dich mit meinen Fragen aufgehalten.«

»Das außerdem. Brillo braucht nicht viel – ein kleiner Spaziergang pro Tag, dann kannst du ihn alleine zu Hause lassen, wenn du losziehst und bettelst, wieder in das Team der Ermittler aufgenommen zu werden.«

»Soll ich nicht weiter für dich auspacken?«

»Schon erledigt.«

»Lügner.«

»Wühl bloß nicht ohne meine Erlaubnis in meinen Sachen.«

»Meinst du, du bleibst nur den einen Tag?«

»Vermisste tauchen meistens wieder auf, Shiv.«

»Wo bist du jetzt?«

»Kurz vor Pitlochry.«

»Auf der gefürchteten A9?« Sie hielt inne. »Wie geht’s Samantha?«

»Wie würde es dir gehen?«

»Wie lange ist er schon verschwunden?«

»Zwei Tage und eine Nacht.«

»Besteht Selbstmordgefahr?«

»Nicht unbedingt.«

»Oh?« Clarke führte den Becher an die Lippen.

»Samantha sagt, sie hatte was mit einem anderen.«

»Oha.«

»Er hat keine Tasche gepackt und das Auto in der Nähe des Hauses stehen lassen. Seine EC-Karte hat er auch nicht benutzt.«

»Vielleicht will er ihr einen Schrecken einjagen?«

»In dem Fall kriegt er was auf die Ohren.«

»Von ihr oder von dir?«

»Darüber unterhalten wir uns später. Du weißt, wo du Brillos Sachen findest.«

»Ich wusste es, aber dann hast du die komplette Küche umgeräumt.«

»Herausforderungen muss man sich stellen, Shiv.«

Bis ihr eine Entgegnung eingefallen war, hatte Rebus das Gespräch schon beendet.

Es war kurz nach zehn, als sie das MIT-Büro erreichte. Der Raum brummte vor Geschäftigkeit. Graham Sutherland beugte sich über Christine Essons Schreibtisch, während diese ihm erklärte, was auch immer auf ihrem Computerbildschirm zu sehen war. Als er Clarke entdeckte, brach Sutherland das Gespräch ab und kam auf sie zugeschlendert.

»Anscheinend kann ich dich nicht von hier fernhalten, DI Clarke«, sagte er, verschränkte die Arme und baute sich vor ihr auf.

Sie zuckte mit den Schultern und lächelte so liebenswert wie möglich.

»John ist unterwegs, raus aus der Stadt. Ich habe absolut nichts Besseres zu tun.«

»Aber wie gesagt, ich habe hier die volle Besetzung.« Er zeigte auf die Schreibtische. Clarke kannte alle: Esson und Ogilvie, DS Tess Leighton und DS George Gamble, ein weiterer DC namens Phil Yeats. Sie hatte bereits zuvor mit Sutherland in dessen Team gearbeitet. Die anderen wussten alle Bescheid über sie und den Chef. Nur Gamble stichelte hin und wieder.

»Soweit ich sehe, hast du keinen DI«, meinte sie.

»Der bin ich selbst.«

Sie drehte sich zur Tür. Malcolm Fox war gerade mit ein paar Unterlagen in der Hand eingetreten.

»Du kommst ganz schön rum, Malcolm«, sagte Clarke.

»Die Major Crime Division hat Interesse bekundet«, erklärte Sutherland, wobei er aber nicht unbedingt begeistert klang. »Und uns DI Fox ausgeliehen.«

»Vermutlich, damit er täglich an unsere lieben Vorgesetzten Bericht erstattet?«

»Ich bin in erster Linie Teamplayer, Siobhan – das weißt du.«

Clarke konnte sich einen Blick in Tess Leightons Richtung nicht verkneifen. Daran, wie Leighton diesen erwiderte, erkannte sie, dass ihre kurze Beziehung mit Fox nicht von Dauer gewesen war.

»Ich kann mich nützlich machen, Sir«, sagte Clarke, wandte sich erneut an Sutherland. »Das weißt du.«

Sutherland ließ sich Zeit zum Überlegen. »Du müsstest dir aber einen Schreibtisch mit Malcolm teilen.«

»Solang er verspricht, nicht bei mir abzuschreiben …« Clarke wusste, was Sutherland dachte – so wie Fox ein Auge auf sie alle haben und seinen Vorgesetzten über sie berichten würde, so würde Clarke ihn nicht aus den Augen lassen und Sutherland darüber auf dem Laufenden halten.

Fox schien protestieren zu wollen, entschied sich stattdessen aber lieber schicksalsergeben mit den Schultern zu zucken. »Mir soll’s recht sein. Hauptsache, wir kriegen den Mörder, das hat Priorität.«

»Schön gesagt. Ich überlasse es euch beiden, euch einen freien Stuhl irgendwo zu suchen und euch erneut miteinander vertraut zu machen.«

Sie sahen Sutherland nach, der sich in sein Büro verzog. Fox streckte eine Hand aus.

»Willkommen an Bord.«

Clarke starrte die Hand an. »Meine Stadt, mein Schiff. Du bist hier nur Passagier.« Sie hörte, wie Tess Leighton ein Lachen unterdrückte. Fox’ Gesicht färbte sich rot.

»Immer noch die alte Siobhan«, sagte er schließlich. »Charmant wie ein Hohlspitzgeschoss. Man könnte fast meinen, du wärst beim Meister persönlich in die Schule gegangen. Apropos …«

»Der Umzug ist unter Dach und Fach.«

»Ich meine, wie geht’s ihm gesundheitlich? Nicht schlechter als vorher, oder?«

»Ruf ihn an und frag ihn.«

»Ich hab’s aufgegeben.«

Clarke sah sich nach einem freien Stuhl um.

»Vielleicht drüben im Technikraum.« Fox zeigte Richtung Gang. »Ich geh nachsehen, wenn du willst.«

Clarke nickte.

»Während du Tee kochst.« Bevor sie etwas erwidern konnte, huschte er hinaus.

Clarke marschierte zum Wasserkocher, sah nach, ob noch genügend Wasser darin war, und schaltete ihn ein.

»Gibt übrigens auch eine Kasse dafür«, knurrte George Gamble hinter seinem Schreibtisch. »Steck fünf Pfund in die Büchse.«

»Dir auch einen schönen guten Morgen, George.«

George trug offenbar denselben Anzug wie immer – einen viel zu auffällig karierten Dreiteiler. Die Haare waren immer noch widerspenstig, das Gesicht fleckig, die Weste spannte am Bauch. Tess Leighton ihm gegenüber wirkte vergleichsweise gespenstisch – schlank, blass, hohläugig. Beide waren auf ihre Art gute Detectives, auch wenn Gamble offenbar nur noch die Tage und Stunden bis zu seiner Pensionierung zählte. Clarke hatte bislang nur einmal mit den beiden gearbeitet, kannte Esson und Ogilvie sehr viel besser, da sie aus ihrem alten Team am Gayfield Square hierher versetzt worden waren. Phil Yeats gehörte ebenfalls zu Sutherlands angestammter Mannschaft, ein blonder Mittzwanziger, spezialisiert auf alles, was ihm aufgetragen wurde, nicht mehr und nicht weniger.

Esson kam mit ihrem Becher zum Wasserkocher, wollte Nachschub holen.

»Was ist los?«, fragte sie leise.

»John ist unterwegs zu seiner Tochter.«

»Und lässt dich mit seinem ganzen Kram sitzen?«

»Den Umzug haben wir mehr oder weniger über die Bühne gebracht. Müssen nur noch ein paar Kisten ausgepackt werden.«

»Hast du was Interessantes in seiner Wohnung gefunden?«

»Keine Pornos und keine Leichen. Aber anscheinend steht er auf Jack Reacher.«

»Ich bin ja eher für Karin Slaughter zu haben. Die kommen übrigens beide nach Edinburgh, wenn du …«

»Christine«, unterbrach Clarke sie, »wann wolltest du mir das eigentlich mit Fox erzählen?«

»Was gibt’s da zu erzählen? Soweit ich weiß, hast du Urlaub.«

»Als ich gestern reingeschaut habe …«

»Ich dachte, vielleicht bist du genervt.«

»Ich bin nicht genervt – ich hätte nur gerne Bescheid gewusst.«

Esson zog kurz eine Schnute. »Hast du dich gestern mit DCI Sutherland getroffen?«

Clarke funkelte sie böse an. »Und wenn?«

»Dann hat er ja wohl auch nicht ausgepackt … Ich vermute mal aus demselben Grund. Wir wollten einfach, dass du dich mal entspannst. DI Fox hat meistens den gegenteiligen Effekt auf dich.«

Das Wasser blubberte. Clarke hielt den Kocher beim Einschenken zu hoch, sodass siedend heißes Wasser aus dem ersten Becher schwappte. Sie fluchte leise.

»Der Urlaub hat dir ja offenbar wahnsinnig gutgetan«, stichelte Esson und sah Fox mit einem Stuhl aus dem Vernehmungsraum zurückkehren.

Clarke ignorierte sie, fischte die Beutel aus den Teebechern und ging mit beiden zu Fox’ Schreibtisch. Er schob seine Sachen beiseite – Laptop, Papier, Stifte, das Ladegerät für sein Handy –, und das mit der ganzen Behutsamkeit, die ein Mann seiner Statur aufzubringen imstande war. Clarke versuchte, es sich auf dem Stuhl bequem zu machen. Fox hob seinen Becher, als wollte er ihr zuprosten, dann nahm er einen Schluck.

»Also, wo befinden wir uns?«, fragte Clarke.

»Erst mal gehen wir von einem Tötungsdelikt aus«, erwiderte Fox. »Bislang wurde keine Tatwaffe gefunden, und auch die Überwachungskameras haben nichts Wesentliches ergeben – wobei wir da noch beim Auswerten sind. Das Opfer war ein ausländischer Student, und es gab in letzter Zeit mehrere Übergriffe.«

»Ach?«

»Hauptsächlich in St Andrews – Kinder reicher Eltern wurden von einheimischen Idioten drangsaliert. Aber es gab auch ein paar Vorfälle in der Gegend um die Meadows. Inzwischen haben sich die Studenten organisiert, sodass niemand nachts alleine da rumlaufen muss. Das Ganze hat einen rassistischen Aspekt – durch den Brexit haben wir einen Anstieg an Übergriffen, größtenteils verbalen, aber auch physischen.«

»In Edinburgh?«

»Auch darüber gibt’s nur wenige Berichte. Aber offenbar wurde ein enger Freund des Opfers vor ein paar Wochen zusammengeschlagen.«

»Das ist interessant.«

»Nicht weit entfernt von der Wohnung des Verstorbenen. Wir sehen bislang noch keinen naheliegenden Zusammenhang, aber wir behalten den Vorfall im Hinterkopf.«

»Was für ein Leben hat Salman geführt? Ich weiß, dass er auf James Bond stand, aber mehr auch nicht.«

»Anscheinend hat er genauso gelebt.« Fox öffnete eine Reihe von Fotos auf seinem Bildschirm. »Die hier stammen aus den sozialen Medien. Nachtclubs und Champagner. Der Aston, den er in Edinburgh fuhr, ist ein neueres Modell, aber in London hatte er den Klassiker stehen, einen DB5.«

»Ist Alkohol nicht verpönt? Ich nehme an, er ist gläubiger Moslem …«

»In seinen Kreisen scheinen andere Regeln zu gelten.«

Clarke betrachtete ein Bild nach dem anderen, auf denen der makellos gekleidete Salman bin Mahmoud glamouröse junge Frauen in Clubs oder auf Sportveranstaltungen umarmt.

»Vielleicht fällt dir auf, dass er am liebsten Martinis trinkt?«, meinte Fox.

»Was ist mit Drogen?«, fragte sie, als eine weitere Seite mit Fotos auftauchte, nachdem Fox auf das Trackpad geklickt hatte.

»Soweit wir wissen, nicht.« Fox zeigte nacheinander auf die Gesichter. »Das ist die Tochter eines konservativen Abgeordneten. Und die hier gehört zur schottischen Oberschicht – Lady Isabella Meiklejohn. Ihrem Vater gehört fast ganz Flow Country.«

»Ganz was?«

»Caithness and Sutherland. Hauptsächlich Torfmoor.«

»Die sehen alle aus wie Supermodels.«

»Ich frage mich, was sie an dem exotischen Playboy-Millionär so anziehend fanden.«

Clarke bedachte Fox mit einem Zucken um die Mundwinkel, das beinahe ein Lächeln hätte sein können.

»Wie reich war er denn?«

»Genau wissen wir’s nicht. Sein Vater steht seit geraumer Zeit unter Hausarrest, aber das Geld gibt es offenbar noch – ein solches Leben lässt sich nur begrenzt auf Kredit finanzieren. Wir haben Fotos seiner Wohnung in Edinburgh an die Mord-Wand gepinnt.« Fox zeigte in die entsprechende Richtung. »Und die Kollegen bei der Met haben uns welche von seiner Londoner Unterkunft geschickt – auch alles andere als schäbig.«

»Und bevor das passiert ist, war er uns nicht bekannt – keine Nachbarn, die sich über wilde Partys beschwert haben, Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens in New Town?«

»Eine Handvoll wegen Falschparken. Er hatte wohl keine Lust, auch nur kurze Strecken bis zu seiner Haustür zu Fuß zurückzulegen, weshalb er den Aston häufig auf der durchgezogenen Linie stehen ließ.«

»Ein Fest für die Ordnungshüter.«

Fox nickte zustimmend. Er war jetzt am Ende der Fotos angelangt. Clarke lehnte sich zurück. Der Stuhl war nicht unbedingt bequem – sie würde sich ein Kissen aus ihrem Wohnzimmer mitbringen müssen. »Also, was denkst du, ist da passiert?«

»Es läuft auf den Tatort hinaus. Seafield Road um die Uhrzeit – entweder hätte es der Beginn einer langen Fahrt in den Süden werden sollen, oder er hat sich mit jemandem getroffen.«

Clarke nickte zustimmend. »Wohnt keiner seiner Freunde in der Gegend?«

»Wir haben niemanden gefunden.«

»Vielleicht wollte er ja auch einfach nur mal ordentlich Gas geben. Ist in Edinburgh ja nicht ungewöhnlich, besonders in den Vorstädten. Wenn ich so einen Schlitten hätte, würde ich auch in Versuchung geraten.«

»Carjacking ziehen wir auf jeden Fall als Möglichkeit in Betracht, vielleicht ist dabei irgendwas schiefgelaufen. Der Aston wurde untersucht, aber dabei wurden nur Fingerabdrücke des Besitzers gefunden. Er hatte ausreichend Benzin und keine sonst wie erkennbaren mechanischen Probleme.«

»Er ist also nicht wegen einer Panne von der Straße abgefahren.« Clarke nickte erneut. »Die Verbindungsnachweise seines Handys?«

»Wurden sämtlich angefordert. Wie es bislang aussieht, galt sein letzter Anruf einem Freund – genauer gesagt dem, der überfallen wurde. Er sagt, sie haben über dieses und jenes gequatscht, Pläne fürs Wochenende und Ähnliches.«

»Wie lange vor dem Mord war das?«

»Nur ein paar Stunden.«

»Hast du mit diesem Freund schon gesprochen?«

»Ich persönlich?« Fox schüttelte den Kopf. »So lange bin ich noch gar nicht hier.«

Clarke schaute ihm in die Augen und hielt den Blickkontakt. »Und warum haben die dich wirklich hergeschickt, Malcolm?«

Er zuckte langsam mit den Schultern. »Weil der Fall in den Aufgabenbereich von Major Crimes fällt, Siobhan.«

»Aber warum?«

»Weil bestimmte Leute das so entschieden haben.«

»Du meinst unsere politischen Vorgesetzten?«

»Das ist ein Fall von internationaler Tragweite. Und wenn wir Europa verlassen …«

»Brauchen wir alle Handelspartner, die wir bekommen können – und das schließt auch fragwürdige Regime mit ein?«, vermutete Clarke. »Wobei die saudischen Herrscher den Vater des Verstorbenen ja offensichtlich nicht unbedingt als ihren Busenfreund betrachten. Warum wird dann so viel Druck gemacht?«

»Das kann ich wirklich nicht sagen.«

»Womit du mir diplomatisch mitteilen willst, dass ich aufhören soll weiterzubohren?« Clarke neigte den Kopf zur Seite. »Werden wir bei der Arbeit gegen Mauern anrennen, Malcolm? Werden wir bestimmten Leuten keine Fragen stellen dürfen, wird man uns Informationen vorenthalten?«

»Ganz ehrlich, ich weiß es nicht.« Fox hob erneut den Becher an die Lippen. »Aber irgendwie habe ich so eine Ahnung, dass du sowieso über jede Mauer klettern wirst, die sich dir in den Weg stellt – fast als hättest du’s von …«

Clarke unterbrach ihn mit einem gestrengen Zeigefinger. »Was mir John Rebus beigebracht hat, gehört der Vergangenheit an und er auch.«

Sie hoffte, die Worte würden zuversichtlicher klingen, als sie sich fühlte.

2

Rebus hatte vergessen, wie lange die Fahrt dauerte. Eine Strecke von ungefähr zweihundertfünfzig Meilen, dabei hätte er schwören können, dass er sie in der Vergangenheit schon in weniger als vier Stunden zurückgelegt hatte. Heute allerdings waren es über fünf, dabei hatte er nur einmal Halt gemacht, um sowohl Wagen wie auch Fahrer aufzutanken, die Motorhaube beruhigend getätschelt, um sein treues Gefährt wissen zu lassen, wie sehr er dessen Anstrengungen zu schätzen wusste. Die A9 war alles in allem gar nicht so schlimm gewesen – einige Laster und Wohnwagen, ein paar Baustellen. Der zweispurige Ausbau war noch im Gange und würde wohl auch noch eine ganze Weile in Anspruch nehmen, wenn Rebus bereits über die einzige staufreie Autobahn in den Himmel gerauscht war. Er hatte nicht daran gedacht, irgendetwas mitzunehmen. Im Wagen hatte er nur eine einzige CD – einen Mix, den Siobhan für ihn gebrannt hatte. Mit dickem schwarzem Filzstift hatte sie »Songs for the Dark Times« darauf geschrieben. Er hatte sie gebeten, ihm den Titel zu erklären.

»Ein paar davon sollen dich nachdenklich stimmen«, sagte sie, »andere beruhigen und wieder andere zum Tanzen bringen.«

»Zum Tanzen?«

»Okay, du darfst auch nur mit dem Kopf nicken.«

Tatsächlich handelte es sich um eine wilde Mischung. Ein Stück hätte als direkt aus den Siebzigerjahren her gebeamter Funk durchgehen können, das nächste war ein minimalistischer Brian Eno. Leonard Cohen sang über Liebe und Trauer, eine andere Band äußerte sich zu England nach dem Brexit. Dann kam Black Sabbath mit Changes.

»Nicht schlecht, Siobhan …«

An der Tankstelle legte er eine Zahnbürste und Zahnpasta zu seinen Einkäufen und fragte die Frau an der Kasse, ob sie auch CDs verkauften.

»Heutzutage gibt’s nur noch Bluetooth«, hatte sie erklärt.

»Na, hoffentlich geht das nach dem Putzen wieder weg«, hatte Rebus erwidert.

Der Regen hatte ein gutes Stück vor Tain eingesetzt und ihn bis Altnaharra und noch weiter begleitet, über dreißig Meilen auf einer einspurigen Straße, die aber glücklicherweise frei war von anderen Fahrzeugen. Seine Augen brannten, als wäre Sand darin, und seine Wirbelsäule, die Schultern und der Rücken schmerzten. Als er in einer Ausweichbucht hielt, um seine Blase zu erleichtern, holte er tief Luft und würdigte die Wildnis ringsum. Steile Hänge, gläserne Seen, Farnkraut und Vogelgezwitscher. Wobei er gar nicht allzu viel von der Landschaft mitbekam, in Gedanken war er bei Samantha. Rhona, ihre Mutter, war vor einigen Jahren gestorben. Die Beerdigung in einer Pendler-Vorstadt außerhalb Londons war äußerst spärlich besucht gewesen. Samantha hatte ihre Kindheit in der Wohnung in der Arden Street verbracht und war irgendwann mit ihrer Mutter nach London gezogen, dann wieder wegen der Arbeit zurück nach Edinburgh, bevor sie mit Keith in Tongue ein Zuhause gefunden hatte. Carrie war dank künstlicher Befruchtung zur Welt gekommen – beim allerletzten Versuch, wie Samantha meinte. Danach waren sie von Tongue aus gesehen noch ein paar Meilen weiter Richtung Osten in einen modernen Bungalow gezogen, wo die Heizkosten niedriger waren. Rebus war Keith nur bei einer Handvoll Gelegenheiten begegnet, hatte seine Tochter immer lieber besucht, wenn deren Lebensgefährte arbeiten war. Ebenso hatte Keith Samantha und Carrie praktisch nie auf ihren seltenen Ausflügen nach Edinburgh begleitet.

Kannte Rebus überhaupt seinen Nachnamen? Samantha musste ihn doch einmal ihm gegenüber erwähnt haben. Wahrscheinlich war er zu einem Ohr rein- zum anderen wieder rausgegangen. Anscheinend arbeitete Keith hart, sorgte gut für seine Familie. Zuletzt hatte er wohl im alten Atomkraftwerk in Dounreay an dessen Stilllegung gearbeitet. Im vorangegangenen Jahr hatte es dort eine undichte Stelle gegeben, und Rebus hatte angerufen, um zu fragen, ob mit Keith alles in Ordnung war. Samantha hatte ihm versichert, dass alle Tests negativ zurückgekommen waren.

»Dann brauchst du also doch noch eine Nachttischlampe?«, hatte ihr Vater gescherzt.

Dounreay lag nicht unbedingt in der Nähe von Naver. Mit dem Auto brauchte man fünfundvierzig Minuten für die Strecke. Er hatte Samantha einmal gefragt, warum sie nicht näher an Keiths Arbeitsstelle heranzogen. Die Antwort lautete: Carrie. Sie hatte Freunde in Naver und besuchte dort eine gute Schule. Wenn man das in die Waagschale warf, war die Fahrt zur Arbeit nicht ausschlaggebend.

Der gute alte Keith. Also warum hatte Samantha was mit einem anderen Mann angefangen?

Als er an Tongue vorbeifuhr, schaltete Rebus die Scheibenwischer aus. Die Sonne war endlich hinter einer Wolkenfront hervorgebrochen. Das Meer, sofern er es sehen konnte, glitzerte und war ruhig. Der Wind hatte sich gelegt. Hinter Tongue führte die Straße erneut einspurig weiter, schlängelte sich Richtung Inland, sodass er das Meer erneut eine Zeit lang aus dem Blick verlor. Schließlich erreichte er Naver, fuhr durch das Dorf. Als er an Samanthas Bungalow vorbeikam, sah er sich nach einem Streifenwagen um, konnte aber keinen entdecken. Die Kirche befand sich noch ein paar Hundert Meter weiter die Straße entlang an einer Haltebucht direkt davor. Dort stand Keiths dunkelblauer Volvo XC90.

Rebus hielt direkt dahinter und stieg aus, lockerte seine Schultern, indem er sie hob und senkte. Der Schlüssel war aus dem Zündschluss des Volvo gezogen und die Türen abgeschlossen. Rebus spähte ins Innere, ohne dass ihm dabei etwas Ungewöhnliches auffiel. Er schätzte die Entfernung bis zum Bungalow – ein Fußweg von ein paar Minuten? Er bezweifelte, dass hier häufig öffentliche Verkehrsmittel vorbeikamen, auch wenn sich eine Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite befand. Vielleicht hatte Keith sich ja mitnehmen lassen. Oder sich ein Taxi organisiert? Vielleicht hatten ihn Freunde aus Dounreay mit nach Thurso genommen, sie hatten zusammen getrunken, er hatte irgendeinen Mist gebaut und versteckte sich jetzt verschämt in einem Hotel oder bei jemandem in dessen Gästezimmer, bis er den Mut aufbringen würde, alles zu beichten.

Immerhin hatte Samantha ihm ja auch etwas gebeichtet.

Oder doch nicht? Hatte sie es Keith selbst gestanden, oder hatte er sie erwischt? Rebus sah einen Wagen näher kommen. Ein Mondeo, kein gekennzeichnetes Fahrzeug, trotzdem wusste Rebus irgendwie, dass es die Polizei war. Nicht gekennzeichnet bedeutete CID, weshalb er sich nicht wunderte, als der Wagen neben seinem Saab hielt, dabei die halbe Straße blockierte. Der Fahrer schaltete den Warnblinker ein und stieg aus, ließ die Tür offen, den Motor laufen.

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Sir?«, fragte er in einem Ton, der anklingen ließ, dass hier etwas erklärungsbedürftig sei. Der Mann war Ende zwanzig, sein kurz geschnittenes schwarzes Haar wurde an den Schläfen bereits grau. Er war sauber rasiert, das Kinn breit, die Wangen rosig, die Schultern breit. Unter anderen Umständen hätte Rebus ihn vielleicht für einen Farmer gehalten.

»Sie sind hier, um mit meiner Tochter zu sprechen«, sagte er. »Genau wie ich.«

Der Mann drückte den Rücken ein kleines bisschen durch, als könnte er Rebus so besser taxieren.

»Dann sind Sie John Rebus?« Er sah, dass dieser Mühe hatte, sich seine Verwunderung nicht anmerken zu lassen. »Das Internet macht es uns heutzutage leicht. Ich habe den Namen Ihrer Tochter eingegeben, und da sind Sie aufgetaucht.«

»Sie sollten sich aber eigentlich für ihren vermissten Freund interessieren.«

»Ich interessiere mich für alles, Sir.« Rebus wurde eine Hand entgegengestreckt. »Ich bin Detective Sergeant, eigens aus Inverness angereist.«

»Das ist ein weiter Weg.«

»Andere haben einen weiteren hinter sich.«

Rebus schüttelte die angebotene Hand. »Hat der Detective auch einen Namen?«

»Robin Creasey.«

»Und Sie wissen, dass ich früher beim CID war?«

»Inzwischen sind Sie aber nur noch als Zivilist unterwegs.«

»Wollen Sie mir damit sagen, dass ich mich raushalten soll?«

»Wie sollten Sie sich raushalten? Sie gehören zur Familie. Falls sich allerdings herausstellt, dass es sich um eine die Polizei betreffende Angelegenheit handelt …«

»Dann geht es mich nichts mehr an?«, vermutete Rebus.

»Ich sehe schon, wir verstehen uns.« Creasey betrachtete Rebus’ Wagen.

»Sie sind gerade erst angekommen, hm? Man merkt, dass der Motor noch heiß ist.«

»Kann sein, dass ich da was machen lassen muss.«

Creasey grinste breit. »Dann wollen wir mal zu Ihrer Tochter.«

Auf halbem Weg zu seinem Mondeo blieb er stehen und betrachtete die Umgebung.

»Eigenartiger Platz, um einen Wagen abzustellen, oder? Ich frage mich, ob er Kirchgänger war.«

Samantha kaute während der gesamten Befragung an ihren Fingernägeln. Das Wohnzimmer war unaufgeräumt, wobei größtenteils wohl Carrie für die Unordnung verantwortlich war. Rebus vermutete, dass Samantha es nicht mal gemerkt hatte. Dasselbe galt für die Küche – das Geschirr der vergangenen Tage stapelte sich in der Spüle, die Reste vom Frühstück standen noch auf dem Tisch. Rebus hatte Tee für alle gemacht. Samantha saß auf einem Stuhl, Creasey auf dem Sofa. Rebus nahm den noch freien Stuhl, räumte Spielsachen und Bücher herunter. Creasey stellte seine Fragen knapp, aber präzise. Probleme bei der Arbeit? Zu Hause? War ein solches Verhalten untypisch für ihn? Ob sie ihm Keiths Telefonnummer sowie die seiner Freunde und Angehörigen geben konnte? Rebus erfuhr, dass Keith mit Nachnamen Grant hieß und seine Eltern nicht mehr lebten. Er hatte eine Schwester in Kanada, zu der er aber kein sehr enges Verhältnis hatte. Ob er manchmal schwimmen ging – in der Nähe gab es doch einen Strand? Nein, er hatte es nie gelernt.

»Er hat sich nicht ertränkt«, behauptete Samantha.

Natürlich hatte sie es auf seinem Handy versucht. Hatte Keith seine EC-Karte benutzt? Hatte er nicht. Konnte sie sich erklären, warum er den Wagen in der Haltebucht abgestellt hatte? Sie schüttelte den Kopf, kaute einen anderen Fingernagel ab. Rebus fiel auf, wie viele gerahmte Fotos es in dem Zimmer gab, die meisten waren gestellte Porträtaufnahmen von Carrie aus der Schule – aber auch Bilder von Familienurlauben, auf denen alle in die Kamera lachten. In echt wirkte Samantha jetzt müde, ihre Haare waren lang und strähnig, wurden zunehmend grau. Rebus dachte, sie habe abgenommen. Im Gesicht wirkte sie hager, die Haut am Hals war schlaff.

»Du solltest es ihm sagen«, drängte er gegen Ende der Befragung. Seine Tochter bedachte ihn mit einem bösen Blick. »Er wird es sowieso rausfinden, wenn er so gründlich ist, wie ich denke.«

Creasey blickte von der Tochter zum Vater und wieder zurück, wartete geduldig. Samantha stierte auf den Holzboden unter sich.

»Ich hatte was mit einem anderen. Ist inzwischen vorbei, aber Keith ist dahintergekommen. Ist nicht einfach, in einem so kleinen Ort wie diesem hier Geheimnisse zu bewahren.«

»Wie lange ist das her?«

»Ein paar Monate«

»Dieser andere Mann – war das ein Freund von ihm?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er lebt in einer Kommune, ist so was wie deren Wortführer. So würde man das wohl nennen. Keith und ich waren neugierig, also haben wir sie mal besucht. Keith wollte danach nicht noch mal hin, ich schon.«

»Dann kennt Keith den Mann also?«

»Er heißt Jess Hawkins. Soweit ich weiß, sind sie sich nur das eine Mal begegnet und haben sich eigentlich wirklich nur kurz die Hand geschüttelt.«

»Als Keith davon erfahren hat, ist er nicht zu Mr Hawkins gefahren?«

»Ich hab ihm gesagt, dass er das nicht machen soll. Egal, was es war, zu dem Zeitpunkt war es sowieso schon vorbei.«

»Wie hat Keith es herausgefunden?«, wollte Rebus wissen. »Hast du’s ihm gesagt?«

Wieder schüttelte sie den Kopf. »Durch einen Brief – natürlich anonym.«

»Also von jemandem hier aus dem Ort?«

Samantha zuckte mit der Schulter.

»Hast du ihn noch?«

»Nein.«

»Haben Sie Mr Hawkins seitdem noch einmal gesehen?«, erkundigte sich Creasey.

Samantha ließ sich Zeit, nickte dann langsam. »Mit anderen zusammen, ja.«

»Ich bin froh, dass Sie mir das erzählt haben. Ich muss Sie fragen, ob Sie denken, dass das alles etwas mit Keiths Verschwinden zu tun haben könnte.«

»Glaube nicht.«

»Irgendwie muss es sich aber doch auf Ihre Beziehung ausgewirkt haben.«

Sie schaute den Detective böse an. »Ich kann mich nicht erinnern, einen Therapeuten engagiert zu haben.«

Creasey hob beschwichtigend die Hand. »Möglicherweise erklärt es Keiths Verhalten – vielleicht wollte er einfach einen klaren Kopf bekommen und ist irgendwohin, um über alles nachzudenken.«

»Dafür hatte er ja schon mehrere Monate Zeit«, warf Rebus ein.

»In denen einiges in ihm gegärt haben könnte«, entgegnete Creasey.

Rebus fiel auf, dass er seinen Tee nicht angerührt hatte. Die Tasse stand immer noch auf einem Keramikuntersetzer auf dem Boden.

»Ich kann mir vorstellen, dass es nicht ganz einfach war, Samantha. Hat er sich in sich zurückgezogen, oder ist er eher ein Typ, der um sich schlägt?«

Samantha schnaubte. »Keith hat noch nie die Hand gegen mich erhoben.«

»Haben Sie geredet? Wollten Sie die Beziehung kitten?«

»Wenn er da war, schon.«

»Ist er denn öfter als sonst weggeblieben?«

»Er hat seine Hobbyfreunde. Wahrscheinlich haben die ihn öfter gesehen als Carrie und ich.«

»Was für ein Hobby hat er denn?«

»Lokalgeschichte. An der Straße nach Tongue gibt es ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager. Keith und einige andere haben sich mit dessen Geschichte beschäftigt und ein paar Ausgrabungen gemacht. Es gibt sogar den unausgegorenen Plan, das Lager für Touristen zu öffnen.«

»Vielleicht gar nicht so unausgegoren – immerhin befindet ihr euch auf der North Coast 500. Es kommen jede Menge neue Besucher her.«

»Die meisten rasen hier nur in ihren Sportwagen vorbei«, sagte Samantha abfällig. Creasey wandte sich an Rebus.

»Die Strecke erfreut sich zunehmender Beliebtheit.«

»Ich weiß«, erwiderte Rebus. »Mag sein, dass ich in fernen südlichen Gefilden lebe, aber so manches spricht sich doch bis zu uns herum.«

Creasey beschloss Rebus’ Tonfall zu ignorieren und wandte sich wieder Samantha zu. »Was glauben Sie, kann Keith zugestoßen sein, Samantha?«

»Irgendwas.«

»Können Sie das genauer benennen?«

»Vielleicht hatte er einen Unfall.« Sie zuckte mit den Schultern und schaute auf ihr Handy.

»Ich muss Carrie bald abholen.«

Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet Rebus, dass seine Tochter maßlos übertrieb – Schulschluss war erst in ein oder zwei Stunden. Er sah Creasey an, dass er denselben Gedanken hatte, auch wenn er nickte.

»Dann habe ich noch eine letzte Frage – wann haben Sie Keith zum letzten Mal gesehen oder gesprochen?«

»An dem Abend, bevor er verschwunden ist. Nach dem Essen. Er meinte, er wolle noch mal weg.«

»Hat er gesagt, wohin?«

»Nein.«

»Schien da alles in Ordnung zu sein?«

Samantha nickte langsam.

»Dann belassen wir’s erst mal dabei.« Creasey erhob sich vom Sofa und reichte ihr eine Visitenkarte. »Ich werde eine Vermisstenmeldung machen, aber wenn er auftaucht oder sich sonst etwas Neues ergibt …« Samantha nickte wieder. »Sind die Schlüssel zum Volvo hier? Ich würde ihn mir gerne mal von innen ansehen. Wenn ich fertig bin, werfe ich Ihnen den Schlüssel durch den Briefschlitz.«

»Auf dem Tisch neben der Haustür.«