Die Einwilligung - Vanessa Springora - E-Book

Die Einwilligung E-Book

Vanessa Springora

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Beschreibung

Paris, Mitte der 1980er-Jahre. Die dreizehnjährige Vanessa lernt den kultivierten Literaten G. M. kennen, der wochenlang in sehnsuchtsvollen Briefen um sie wirbt. Sie wird freiwillig zum sexuellen Kindesopfer dieses Mannes. Als Vanessa begreift, wie sehr sie von ihrem Liebhaber psychisch überfordert, betrogen und manipuliert wird, sucht sie in ihrem Umfeld Hilfe. Aber vergeblich.

Das Künstlermilieu, in dem sich Vanessa und ihre Mutter bewegen, toleriert, dass G. M. auf Minderjährige fixiert ist und sich seiner Neigung rühmt. Der Zeitgeist macht es ihm leicht. Auch Vanessas Mutter lässt diese Beziehung zu. Die Polizei und das Jugendamt, durch anonyme Hinweise auf die strafbaren Handlungen aufmerksam gemacht, verfolgen den Fall nur halbherzig.

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Seitenzahl: 171

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Zum Buch

Paris, Mitte der 1980er-Jahre. Auf einer Feier lernt die vierzehnjährige Vanessa den kultivierten Literaten G. M. kennen. Sie ist verwirrt – und geschmeichelt, als er in den Wochen darauf in sehnsuchtsvollen, wunderschön formulierten Briefen um sie wirbt. Nach und nach wird sie freiwillig zum sexuellen Kindesopfer dieses Mannes. Als Vanessa begreift, wie sehr sie von ihrem Liebhaber psychisch überfordert, betrogen und manipuliert wird, sucht sie in ihrem Umfeld Hilfe. Aber vergeblich.

Zur Autorin

Vanessa Springora wurde 1972 geboren und studierte an der Sorbonne Université Literatur. Seit 2006 arbeitet sie als Lektorin des Verlages Editions Juillard, den sie ab 2021 leiten wird. Ihr autobiografisches Buch Le consentement (Die Einwilligung) erschien im Januar 2020 im Grasset Verlag. Es stand wochenlang auf Platz 1 der französischen Bestsellerliste und führte zu einer literarischen und gesellschaftlichen Debatte weit über Frankreich hinaus. Vanessa Springora lebt in Paris.

BLESSING

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Die französische Originalausgabe erscheint unter dem Titel

»Le consentement« im Verlag Bernard Grasset in Paris.

Copyright © 2020 by Vanessa Springora

Copyright © 2020 der deutschen Ausgabe

und der Übersetzung by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, Coverabbildung: Jean-Francois

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26901-2V003

www.blessing-verlag.de

Für Benjamin und Raoul

Inhalt

Prolog

I.

DAS KIND

II.

DIE BEUTE

III.

DIE VEREINNAHMUNG

IV.

DIE ABLÖSUNG

V.

DER STEMPEL

VI.

SCHREIBEN

Nachwort

Danksagung

Zitatnachweise

Prolog

Kindermärchen sind eine Quelle der Weisheit. Warum sonst sollten sie die Epochen überdauern? Aschenputtel bemüht sich, den Ball vor Mitternacht zu verlassen; Rotkäppchen misstraut dem Wolf und seiner verführerischen Stimme; Dornröschen hütet sich, seinen Finger dieser unwiderstehlich anziehenden Spindel zu nähern; Schneewittchen hält sich von den Jägern fern und beißt unter keinen Umständen in den so roten, so verlockenden Apfel, den das Schicksal ihm reicht.

Lauter Warnungen, die jeder junge Mensch wortgetreu befolgen sollte.

Eines meiner ersten Bücher war eine Märchensammlung der Gebrüder Grimm. Ich habe es so verschlissen, dass die Fäden unter dem dicken gebundenen Einband ausfransten, bis es schließlich ein Blatt nach dem anderen verlor. Dieser Verlust machte mich untröstlich. Denn auch wenn diese wunderbaren Geschichten mir von ewigen Sagen erzählten, so erwiesen sich die Bücher selbst doch als vergängliche Objekte, die am Ende im Müll landeten.

Noch bevor ich lesen oder schreiben konnte, bastelte ich schon aus allem, was mir in die Hände fiel, Bücher: aus Zeitungen, Zeitschriften, Karton, Klebstreifen und Fäden. So solide wie möglich. Zuerst kam der Gegenstand. Das Interesse am Inhalt würde später kommen.

Heute beobachte ich sie mit Misstrauen. Eine gläserne Wand hat sich zwischen sie und mich geschoben. Ich weiß, dass sie Gift sein können. Ich weiß, was für eine toxische Ladung sie beinhalten können.

Seit so vielen Jahren drehe ich mich in meinem Käfig im Kreis, meine Träume sind voller Mord- und Rachegedanken. Bis zu dem Tag, an dem mir die Lösung endlich in die Augen springt: Ich muss den Jäger in seiner eigenen Falle fangen, ihn in ein Buch einsperren.

I.

DAS KIND

»Wir spüren genau, dass unsere Weisheit dort beginnt, wo die des Autors endet, und wir möchten, dass er uns Antworten gibt, wo er uns doch nur Wünsche geben kann.«

Marcel Proust, Tage des Lesens

Am Anfang meines Lebens, von der Höhe meiner fünf Jahre, warte ich – mein Vorname ist V. – bar jeder Erfahrung auf die Liebe.

Väter sind für ihre Töchter ein Bollwerk. Meiner ist nichts weiter als ein Luftzug. Mehr als an eine körperliche Präsenz erinnere ich mich an den Parfümgeruch von Süßgras, der am frühen Morgen das Badezimmer erfüllt, an herumliegende Männersachen, eine Krawatte, eine Armbanduhr, ein Hemd, ein Dupont-Feuerzeug, an eine bestimmte Art, die Zigarette ziemlich weit weg vom Filter zwischen Zeigefinger und Daumen zu halten, und an seine Gewohnheit, sich immer ironisch auszudrücken, sodass ich nie weiß, ob er scherzt oder nicht. Er geht früh aus dem Haus und kommt spät zurück. Er ist ein viel beschäftigter Mann. Und ein sehr eleganter. Seine beruflichen Tätigkeiten ändern sich so schnell, dass ich ihren Charakter nicht begreife. Wenn man mich in der Schule nach seinem Beruf fragt, bin ich unfähig, ihn zu benennen. Aber er ist ganz unverkennbar ein wichtiger Mann, denn die Außenwelt zieht ihn mehr an als das häusliche Leben. Zumindest stelle ich mir das so vor. Seine Anzüge sind immer tadellos.

Meine Mutter hat mich im frühen Alter von zwanzig Jahren empfangen. Sie ist schön, mit ihren skandinavisch blonden Haaren, den sanften Gesichtszügen, den hellblauen Augen, eine schlanke Gestalt mit weiblichen Kurven und einer melodiösen Stimme. Meine Bewunderung für sie ist grenzenlos, sie ist meine Sonne und meine Freude.

Meine Eltern geben ein schönes Paar ab, wie meine Großmutter oft wiederholt – sie spielt damit auf ihr blendendes, filmreifes Aussehen an. Eigentlich müssten wir glücklich sein, und dennoch gleichen meine Erinnerungen an unser Leben zu dritt in dieser Wohnung, in der ich kurz die Illusion einer familiären Zusammengehörigkeit erlebe, einem Albtraum.

Abends höre ich, unter den Decken vergraben, wie mein Vater brüllt und meine Mutter als »Schlampe« oder als »Hure« beschimpft, ohne dass ich den Grund dafür verstehe. Beim geringsten Anlass, wegen einer Kleinigkeit, einem Blick, einem banalen »unangebrachten« Wort explodiert er vor Eifersucht. Von einem Moment zum anderen fangen die Wände an zu beben, das Geschirr fliegt, die Türen knallen. In seiner zwanghaften Pedanterie erträgt er es nicht, dass man einen Gegenstand ohne seine Zustimmung verrückt. Einmal erwürgt er meine Mutter beinahe, weil sie ein Weinglas auf einer weißen Tischdecke umgestoßen hat, die er ihr vor Kurzem erst geschenkt hatte. Schon bald nimmt die Häufigkeit dieser Szenen dramatisch zu. Es ist, als wäre eine Maschine außer Kontrolle geraten, niemand kann sie mehr aufhalten. Von nun an schleudern sich meine Eltern stundenlang die schlimmsten Beleidigungen ins Gesicht. Bis meine Mutter schließlich zu später Stunde in meinem Zimmer Zuflucht sucht, sich in meinem schmalen Kinderbett an mich presst und lautlos schluchzt, bevor sie sich alleine wieder ins Ehebett begibt. Am nächsten Tag schläft mein Vater einmal mehr auf dem Wohnzimmersofa.

Meine Mutter verbrauchte ihre gesamten Reserven im Kampf gegen diese unbezähmbaren Wutausbrüche und diese Launen eines verwöhnten Kindes. Es gibt kein Heilmittel gegen die Tobsuchtsanfälle dieses Mannes, der als krankhafter Choleriker gilt. Ihre Ehe ist ein endloser Krieg, ein Gemetzel, dessen Ursprung alle vergessen haben. Der Konflikt wird bald auf unilaterale Weise beigelegt werden. Es ist nur noch eine Frage von Wochen.

Und dennoch müssen sie sich wohl einmal geliebt haben, die beiden. Ihre Sexualität, verborgen hinter einer Schlafzimmertür am Ende eines langen Flures, wirkt auf mich wie ein toter Winkel, in dem ein Ungeheuer lauert: Sie ist allgegenwärtig (die Eifersuchtsanfälle meines Vaters sind der tägliche Beweis dafür), aber vollkommen unzugänglich für mich (ich kann mich nicht an die winzigste Umarmung, den winzigsten Kuss, die kleinste Geste der Zärtlichkeit zwischen meinen Eltern erinnern).

Ohne es zu wissen, habe ich schon damals mit aller Macht versucht, herauszufinden, welches Mysterium zwei Menschen hinter einer verschlossenen Schlafzimmertür vereinen kann und was dort zwischen ihnen abläuft. Wie in den Kindermärchen, in denen das Übernatürliche urplötzlich in die Wirklichkeit hereinbricht, so ähnelt die Sexualität in meiner Fantasie einem magischen Prozess, aus dem auf wundersame Weise die Babys hervorgehen und der sich unversehens und oft in unbegreiflicher Gestalt im Alltagsleben Bahn brechen kann. Egal ob die Begegnung mit dieser rätselhaften Macht absichtlich herbeigeführt wurde oder zufällig ist, sie ruft in dem Kind, das ich bin, schon sehr früh eine anhaltende und angsterfüllte Neugier hervor.

Wiederholt erscheine ich mitten in der Nacht in Tränen aufgelöst im Schlafzimmer meiner Eltern, stehe im Türrahmen und klage über Bauchweh oder Kopfschmerzen, wohl mit dem unbewussten Ziel, ihr Liebesspiel zu unterbrechen, dann sehen sie mich mit bis zum Kinn hochgezogenen Bettlaken und einem törichten und seltsam schuldbewussten Gesichtsausdruck an. Vom vorhergehenden Bild, dem ihrer eng umschlungenen Körper, bewahre ich nicht die Spur einer Erinnerung. Es ist wie aus meinem Gedächtnis getilgt.

Eines Tages werden meine Eltern von der Leiterin der Kindertagesstätte einbestellt. Mein Vater kommt nicht mit. Nur meine Mutter hört sich mit sorgenvoller Miene die Schilderung meines Tageslebens an.

»Ihre Tochter ist zum Umfallen müde, man möchte meinen, dass sie nachts nicht schläft. Ich musste ihr ein Feldbett im Klassensaal unserer Vorschule aufstellen. Was geht da vor sich? Sie hat mir von sehr heftigen nächtlichen Auseinandersetzungen zwischen ihrem Vater und Ihnen erzählt. Davon abgesehen hat mir eine Betreuerin berichtet, dass V. sich während der Pause oft in den Toiletten der Jungen aufhielt. Ich habe V. gefragt, was sie da macht. Sie antwortete mir mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt: ›Ich wollte David helfen, geradeaus Pipi zu machen. Ich halte ihm den Zipfel.‹ David wurde vor Kurzem beschnitten, und angeblich hat er nun Probleme beim … Zielen. Ich versichere Ihnen, mit fünf Jahren sind solche Spiele ganz und gar normal. Ich wollte nur, dass Sie Bescheid wissen.«

Schließlich fasst meine Mutter einen unwiderruflichen Entschluss. Sie nutzt meinen Aufenthalt im Ferienlager, den sie heimlich in die Wege geleitet hat, um unseren Umzug zu organisieren, und verlässt meinen Vater, ein für alle Mal. Es ist der Sommer, bevor ich in die erste Klasse der Grundschule komme. Am Abend liest mir eine Betreuerin an meinem Bett sitzend die Briefe vor, in denen meine Mutter unsere neue Wohnung, mein neues Zimmer, meine neue Schule, mein neues Viertel, kurzum die neue Ordnung unseres neuen Lebens, beschreibt, das ich führen werde, sobald ich nach Paris zurückgekehrt bin. Vom entlegensten Winkel des Landes aus gesehen, wohin man mich geschickt hat, inmitten der Schreie von Kindern, die in Abwesenheit ihrer Eltern wieder zu Wilden geworden sind, erscheint mir das alles ziemlich abstrakt. Die Betreuerin hat oft feuchte Augen, und ihre Stimme bricht, wenn sie mir mit lauter Stimme die mütterlichen Briefe mit ihrer geheuchelten Fröhlichkeit vorliest. Manchmal findet man mich Stunden nach diesem abendlichen Ritual irgendwo vor der Ausgangstür wieder, weil ich nachts in einem Anfall von Schlafwandeln rückwärts die Treppe hinuntergestiegen bin.

Nach unserer Befreiung von diesem Haustyrannen nimmt unser Leben neuen Schwung auf. Wir leben nun unter dem Dachstuhl. In renovierten Dienstbotenkammern. In meiner kann man kaum aufrecht stehen, aber sie hat überall geheime Winkel und Ecken.

Ich bin jetzt sechs Jahre alt. Ich bin ein fleißiges kleines Mädchen, eine gute Schülerin, gehorsam und brav, irgendwie melancholisch, wie es die Kinder geschiedener Eltern oft sind. Ich empfinde keinerlei inneres Aufbegehren und vermeide jede Form der Regelverletzung. Meine Hauptaufgabe als braver kleiner Soldat besteht darin, meiner Mutter, die ich weiterhin über alles liebe, die bestmöglichen Schulzeugnisse abzuliefern.

Abends spielt sie manchmal viel länger als erlaubt Chopin am Klavier rauf und runter. Andere Male drehen wir die Lautsprecher bis zum Anschlag auf und tanzen bis spät in die Nacht. Die Nachbarn klopfen wütend an die Tür und keifen uns an, weil die Musik zu laut sei, was uns aber nicht weiter kümmert. Am Wochenende nimmt meine Mutter ihr Bad, sie sieht hinreißend aus, wenn sie in der einen Hand einen Kir royal, in der anderen eine JPS hält. Der Aschenbecher steht so auf dem Wannenrand, dass er nicht hinunterfällt, und ihre zinnoberroten Fingernägel bilden einen Kontrast zu ihrer milchigen Haut und ihren platinblonden Haaren.

Die Hausarbeit wird oft auf den nächsten Tag verschoben.

Mein Vater hat einen Dreh gefunden, dass er keinen Unterhalt mehr zahlen muss. So wird am Monatsende manchmal das Geld knapp. Obwohl in unserer Wohnung ein Fest auf das andere folgt und trotz ihrer – immer nur flüchtigen – Liebschaften, stellt sich heraus, dass meine Mutter lieber, als ich gedacht hätte, alleine lebt. Als ich sie eines Tages frage, welchen Stellenwert in ihrem Leben einer ihrer Liebhaber einnehme, antwortet sie mir: »Es kommt nicht infrage, dass ich ihn dir vorsetze oder er deinen Vater ersetzt.« Sie und ich bilden von nun an ein symbiotisches Paar. Kein Mann wird sich jemals wieder zwischen uns drängen.

In meiner neuen Schule habe ich eine unzertrennliche Freundschaft mit einem anderen Mädchen geschlossen, Asia. Wir lernen zusammen lesen und schreiben, aber wir erkunden auch unser Viertel, das mit seinen Caféterrassen an jeder Straßenecke wie ein reizendes Dorf ist. Vor allem aber verbindet uns eine außergewöhnliche Freiheit. Im Gegensatz zur Mehrheit unserer Klassenkameraden gibt es niemanden, der auf uns aufpasst, für Babysitter ist kein Geld da bei uns, nicht einmal am Abend. Es ist auch nicht nötig. Unserer Mütter haben vollstes Vertrauen in uns. Unser Betragen ist mustergültig.

Als ich erst sieben Jahre alt bin, übernachte ich noch einmal bei meinem Vater. Eine Ausnahmesituation, die sich nicht wiederholen wird. Nachdem meine Mutter und ich aus der Wohnung ausgezogen waren, wandelte er mein Kinderzimmer in ein Büro um.

Ich schlafe auf dem Sofa ein. Und wache im Morgengrauen in dieser Wohnung auf, in der ich mich nun wie eine Fremde fühle. Um die Zeit totzuschlagen, trete ich näher an das Bücherregal, das akribisch geordnet und aufgeräumt ist. Auf gut Glück ziehe ich zwei, drei Bücher hervor, stelle sie vorsichtig wieder an ihren Platz zurück, bleibe bei einer Miniaturausgabe des Korans auf Arabisch hängen, streichle über den winzigen roten Ledereinband und versuche, diese unverständlichen Zeichen zu entziffern. Natürlich ist das kein Spielzeug, aber es hat eine gewisse Ähnlichkeit damit. Womit sonst könnte ich mich hier amüsieren, es gibt kein einziges Kinderspielzeug mehr in dieser Wohnung?

Eine Stunde später steht mein Vater auf und betritt das Zimmer. Als Allererstes lässt er seinen Blick umherschweifen. Er fixiert das Bücherregal und geht in die Hocke, um prüfend jedes Regalbrett zu mustern. Er setzt eine triumphierende Miene auf und verkündet mit der obsessiven Präzision eines Steuerinspektors: »Du hast dieses Buch angefasst und dieses und dieses!« Seine donnernde Stimme hallt im ganzen Zimmer wider. Ich verstehe nicht: Was kann so schlimm daran sein, dass man ein Buch anfasst?

Am meisten Angst macht mir, dass er richtig gesehen hat. Zum Glück bin ich nicht groß genug, um die letzte, die oberste Bücherreihe zu erreichen, auf der sein Blick lange ruhte und von der seine Augen sich mit einem rätselhaften Seufzer der Erleichterung wieder nach unten bewegten.

Was hätte er gesagt, wenn er bemerkt hätte, dass ich am Abend vorher, als ich in einem Wandschrank nach etwas suchte, plötzlich, eingeklemmt zwischen Staubsauger und Schrubber, Auge in Auge einer lebensgroßen nackten Frau ganz aus Latex gegenüberstand, die am Mund und an ihrem Geschlechtsteil schreckliche Vertiefungen und Falten hatte und mich mit spöttischem Lächeln aus trübselig stumpfen Augen ansah: Ein weiteres Bild der Hölle, das ich so schnell verdrängte, wie die Tür des Wandschranks sich wieder schloss.

Nach dem Unterricht machen Asia und ich oft viele Umwege, um den Moment hinauszuschieben, in dem wir uns trennen müssen. An einer Straßenkreuzung führt eine Freitreppe zu einer kleinen Esplanade, auf der sich Grüppchen von Jugendlichen zum Inlineskaten oder Skateboarden und Zigarettenrauchen treffen. Die Steinstufen haben wir zu unserem Beobachtungsposten umfunktioniert, von dem aus wir die Figuren und Sprünge bewundern, die die schlaksigen, angeberischen Jungen vorführen.

An einem Mittwochnachmittag kommen wir wieder, diesmal mit unseren eigenen Rollschuhen ausgerüstet. Anfangs bewegen wir uns zögernd und ungeschickt. Die Jungen ziehen uns erst ein bisschen auf, dann vergessen sie uns. Wir sind berauscht von der Geschwindigkeit und der Angst, wir könnten es nicht rechtzeitig schaffen zu bremsen, wir denken an nichts, erfüllt von der puren Freude am Dahingleiten. Es ist noch früh, aber weil es Winter ist, ist es schon dunkel geworden. Als wir uns gerade, immer noch auf den Rollschuhen und mit den Straßenschuhen in der Hand, auf den Heimweg machen wollen, außer Atem, aber glücklich und mit glühenden Wangen, taucht plötzlich ein in einen dicken Mantel gehüllter Mann auf, baut sich vor uns auf und zieht mit einer weit ausholenden Armbewegung, durch die er einem Albatros ähnelt, abrupt die Mantelschöße auseinander. Wie versteinert stehen Asia und ich vor dem grotesken Anblick eines angeschwollenen Geschlechtsteils, das aus den Zähnen eines Reißverschlusses herausragt. Hin und her gerissen zwischen Panik und einem Lachkrampf, springt meine Freundin mit einem Satz hoch, und ich tue es ihr gleich, aber wegen der Rollschuhe, die wir vergessen haben, verlieren wir das Gleichgewicht und fallen beide auf die Nase. Als wir uns wieder hochgerappelt haben, hat der Mann sich wie ein Gespenst in Luft aufgelöst.

Einige wenige Male taucht mein Vater noch in meinem Leben auf. Nach seiner Rückkehr von ich weiß nicht welcher Reise ans andere Ende der Welt kommt er bei meiner Mutter vorbei, um meinen Geburtstag zu feiern, bringt er mir ein Geschenk mit, das ich mir nie zu erhoffen gewagt hätte: den super Abenteuer-Camper von Barbie, von dem alle Mädchen in meinem Alter träumen. Voll Dankbarkeit werfe ich mich in seine Arme, verbringe eine Stunde damit, den Wohnwagen mit der Vorsicht einer Sammlerin auszupacken und seine bananengelbe Farbe und die pinkfarbene Inneneinrichtung zu bewundern. Er besitzt mehr als ein Dutzend Ausstattungsdetails, ein Schiebedach, eine ausfahrbare Küche, einen Liegestuhl, ein Doppelbett …

Doppelbett? Oh weh! Meine Lieblingspuppe ist Single, und ganz egal, wie sehr sie ihre langen Beine auf dem Liegestuhl ausstreckt und dabei ruft: »Was für eine herrliche Sonne«, sie wird sich zu Tode langweilen. Allein zu campen ist doch kein Leben. Plötzlich erinnere ich mich an ein männliches Exemplar, das seit ewigen Zeiten in einer Schublade liegt, weil es nicht gebraucht wird, einen rothaarigen Ken mit kantigem Kinn, Typ selbstbewusster Holzfäller mit kariertem Hemd, bei dem Barbie sich ganz bestimmt sicher fühlt, wenn sie mitten in der Natur campt. Die Nacht ist hereingebrochen, Zeit, schlafen zu gehen. Ich lege Ken und seine Schöne nebeneinander auf ihr Bett, aber es ist zu heiß. Man muss ihnen zuerst die Kleider ausziehen, so, jetzt werden sie sich in der Gluthitze schon etwas wohler fühlen. Barbie und Ken haben keine Haare, kein Geschlechtsteil, keine Brüste, das ist seltsam, aber ihre perfekten Proportionen gleichen dieses kleine Manko aus. Ich habe die Decke über ihren glatten und glänzenden Körpern weggezogen. Das Dach unter dem Sternenhimmel offen gelassen. Mein Vater hat sich aus seinem Sessel erhoben, bereit, aufzubrechen, und während ich noch mit dem Aufräumen eines Miniatur-Picknickkorbs beschäftigt bin, macht er einen großen Schritt über den Wohnwagen, und kniet nieder, um unter das Vordach zu schauen. Ein spöttisches Lächeln verzerrt sein Gesicht, während er diese obszönen Worte ausspricht: »Und, vögeln sie?«

Pink ist nun die Farbe meiner Wangen, meiner Stirn, meiner Hände. Manche Menschen werden nie etwas von der Liebe verstehen.

Meine Mutter arbeitet zu dieser Zeit in einem kleinen Verlag, der sich im Erdgeschoss im Hof unseres Mietshauses befindet, das drei Straßen von der Schule entfernt ist. Wenn ich nicht mit Asia heimgehe, esse ich oft nachmittags eine Kleinigkeit in einem der fantastischen Winkel dieses Refugiums, das überquillt vor einem Sammelsurium an Heftern, Klebestreifen, Papierpacken, Post-its, Briefklammern und Stiften aller Art, eine wahre Ali-Baba-Höhle. Und dann sind da noch die Bücher, Hunderte von Büchern, die hastig auf schier zusammenbrechenden Regalen gestapelt worden sind. In Kartons verpackt. In Vitrinen ausgestellt. Fotografiert und plakatiert. Mein Spielplatz ist das Reich der Bücher.

Im Hof herrscht am Abend immer eine ausgelassene Stimmung, vor allem, wenn es wieder Sommer wird. Die Concierge kommt mit einer Flasche Champagner aus ihrer Pförtnerloge, Gartenstühle und ein Tisch werden aufgestellt, Schriftsteller und Journalisten lassen dort bis Einbruch der Nacht genussvoll den Tag ausklingen. Eine erlesene Gesellschaft kultivierter, brillanter, geistreicher und manchmal auch berühmter Menschen. Es ist eine wunderbare Welt, die keine Wünsche offenlässt. Verglichen damit erscheinen mir die Berufe der Nachbarn und der Eltern meiner Freunde doch sterbenslangweilig und eintönig.

Eines Tages werde auch ich Bücher schreiben.

Nach der Trennung meiner Eltern sehe ich meinen Vater nur noch sehr selten. Meist bestellt er mich zum Abendessen in immer sehr teure Restaurants, wie etwa dieses marokkanische Etablissement mit zweifelhafter Dekoration, in dem am Ende des Essens eine Frau mit üppigen Formen in verführerischer Aufmachung auftaucht, um nur wenige Zentimeter von uns entfernt ihren Bauchtanz aufzuführen. Dann kommt der Augenblick, in dem mir vor Scham fast die Augen ausfallen: Mein Vater schiebt seinen größten Geldschein in den Gummizug des Slips oder des BHs der schönen Scheherazade, dabei glänzt in seinem Blick eine Mischung aus Stolz und Lüsternheit. Es ist ihm egal, dass ich das Gefühl habe, vor Scham im Boden zu versinken, als der Gummizug des Paillettenslips schnalzt.