Die fabelhafte Welt der Ameisen - Christina Grätz - E-Book

Die fabelhafte Welt der Ameisen E-Book

Christina Grätz

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Beschreibung

Ameisen – alles über die spannendste Krabbelgruppe der Welt

Sie leben in Hügeln, transportieren täglich etliche Kilo Laub und schützen unsere Umwelt: Ameisen sind nützliche und faszinierende Lebewesen, und doch sind sie hochgradig gefährdet. Damit sie nicht aussterben, sind sie auf menschliche Helfer angewiesen: Ameisenumsiedler. Diese treten immer dann in Aktion, wenn Bauprojekte eine Kolonie gefährden. Christina Grätz ist die bekannteste Ameisenumsiedlerin Deutschlands und berichtet von ihren abenteuerlichen Erlebnissen. Sie nimmt uns mit in die wundersame Welt der Ameisen, an die Ränder unserer Wälder und erzählt von den Wundertaten, zu denen diese staatenbildenden Insekten fähig sind.

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Seitenzahl: 407

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Christina Grätz und Manuela Kupfer

Die fabelhafte Welt

der Ameisen

Eine Ameisenumsiedlerin

erzählt

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2019 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81 673 München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Covergestaltung: Hafen Werbeagentur nach einem Entwurf von Christina Grätz: Andreas Grasser, © Gütersloher Verlagshaus / Ameisen: © Antrey – Fotolia.com / Blätter: © Joachim – Fotolia.com

Grafiken: © Meiko Tautz

ISBN 978-3-641-23509-3 V004

www.gtvh.de

Dieses Buch ist der Totalität des LEBENS gewidmet. Mein Dank gilt ALLEN, die an diesem Buch

mitgewirkt haben. Mein innigster Wunsch ist, dass dieses Buch die Herzen der Leser berührt und für die Wunder des LEBENS öffnet.

Christina Grätz

Allen, die sich für den Schutz der Ameisen einsetzen.

Mit besonderem Dank an unsere Agentin

Swantje Steinbrink für die Buchidee, die mich tiefer in die faszinierende Welt der Ameisen eintauchen ließ.

Manuela Kupfer

INHALT

Vorwort

Geleitwort

AUF DIE AMEISE GEKOMMEN

Autobahn trifft Ameisenstraße

Meine große Liebe

Die Ärmel hochgekrempelt

EIN UMZUGSTAG

Leben in der Wüste

Jetzt geht’s los

Ein Neuanfang

Die Ameise und wie sie die Welt sieht

Eine schlanke Taille und schön beweglich in der »Hüfte«

Ein vielteiliges Organ und zwei Vielzweckorgane

Ganz im Zeichen der Fortbewegung

Flexibles Organdepot

VON PUNKS UND BLONDINEN

Die Räuber und Teufelchen unter den Waldameisen

Friedliche Punks und rötlich schillernde Blondinen

Die Kahlrücken und die Roten

Die Ur-Ameisen

Das große Krabbeln beginnt

Die Vielfalt der Winzlinge

Die »Big Four«

Waldameisen – etwas Besonderes

NUR DIE SPITZE DES EISBERGS

Überraschungen in der Tiefe

Groß und zahlreich

»Plinsennester«

Der Wohnsitz Ihrer Majestät

Ständig im Umbau begriffen

Eingebaute Klimaanlage

Megacity

VON PARTYBIESTERN UND KARTONKLEBERINNEN – DIE ARCHITEKTONISCHE KREATIVITÄTDER AMEISEN

Ein geheimnisvoller Schatz

Ameisen als Schrottis

Es muss nicht immer ein Hügel sein

Biwaks: ohne festen Wohnsitz

Erdnester: ein Baumaterial, das man überall findet

Holznester: Stabilität und Schutz

Kartonnester: alles schön zerkaut

Seidennester: Ohne Kinderarbeit geht hier gar nichts

Ameisenpflanzen: Komfort gegen Schutzpatrouille

FRAUENPOWER!

Arbeitsteilung unter Schwestern

Das Überschwemmungsnest

Von Königinnen und Amazonen

Blattschneiderameisen – die Spezialistinnen

Der Frauenstaat

Eine für alle – alle für eine

Die Chemie muss stimmen

Das A und das O ist Kommunikation

Von wegen konfliktfreie Zone

DAS AMEISENJAHR

Königinnen auf Wanderschaft

Wenn es kommt, kommt es dicke

Notfallrettung – ein tödliches Risiko

Notumsiedlung

Ein Ameisenvolk im Jahreslauf

Nachkommen zuerst

Erhaltung des Volkswohls

Schwarmflug – hinaus in die weite Welt

Die große Herausforderung: ein eigenes Volk

Die Läusehirtin

UNTERMIETER IM FRAUENSTAAT

Von Asseln und Ameisen

Mutig zupacken

Traumhaus für trickreiche Eindringlinge

Gastameisen und Inquilinen

Ameisen und Bläulinge – Täuschen und Tarnen

Von sprachbegabten Eindringlingen und Wegelagerern – weitere Ameisengäste

OLYMPIAVERDÄCHTIG

Leben im Asphalt

Keine wird zurückgelassen

Die MacGyver unter den Ameisen

Klein, aber oho

Strategien gegen den Kälte- und den Hitzetod

Ein schneller Kiefer für viele Zwecke

Tierische Rettungsteams

Giftige Rekorde

Türsteherinnen und wandelnde Sprengkörper

Keine Angst vorm nassen Element

VON AMEISEN UND MENSCHEN

Berührende Erfahrungen

Die dunklen Seiten in uns Menschen

In der Dunkelheit ist immer auch Licht

Einfach Überall

Lästig und schädlich

Aber auch Freundin und Helferin

TRAUMJOB AMEISENHEGERIN

Plötzlich berühmt

Öffentlichkeit für Ameisen

Eine Mühe, die Freude macht

Fleißige Völker im Forst

Was schon die Herren Grafen wussten

Die kleinen Krabbler erhalten Hilfe

Azubis gesucht

Das Insektensterben

Vielfältige Lebensräume

PARTYWISSEN

Literatur

VORWORT

Liebe Leserin, lieber Leser,

etwa sieben Milliarden Menschen leben gegenwärtig auf unserem Planeten. Wenn wir annehmen, dass diese Menschen durchschnittlich etwa 50 Kilogramm auf die Waage bringen, entspricht das einem Gewicht von 350 Millionen Tonnen. Alle Ameisen, die in unzähligen verschiedenen Arten auf fast allen Kontinenten vorkommen, wiegen vermutlich etwa genauso viel! Die kleinen Krabblerinnen, die Ihnen auf Terrasse oder Balkon im Sommer gelegentlich vielleicht etwas auf die Nerven gehen, sind also Teil einer Gemeinschaft, die es, was ihre Biomasse angeht, durchaus mit uns aufnehmen kann.

Es gibt aber noch viel mehr Erstaunliches aus der faszinierenden Welt der Ameisen zu berichten – und das wollen wir Ihnen hier gerne zeigen. Wir möchten Sie mitnehmen auf eine Reise in diese fremde Welt, die sich am und im Boden unseres Waldes, unter geheimnisvollen Kuppeln am Rande von Lichtungen, aber auch in Urwäldern und Wüsten auftut.

Wir werden Ihnen dabei zunächst von ganz praktischem Naturschutz berichten, von der Umsiedlung von Kolonien der Waldameisen nämlich. Von den körperlichen Anstrengungen, der Säure auf der Haut, den skurrilen Erlebnissen und den wunderbaren Begegnungen bei den Umsiedlungsaktionen erzählt jedes Kapitel des Buches.

Doch dabei belassen wir es nicht: Wir werden das, was es bei Umsiedlungen von Waldameisen zu entdecken gibt, um unterhaltsame Aspekte aus der ganzen Welt der Ameisen vertiefen und erweitern, sowie um einige Dinge, die Wissenschaft und Forschung dazu wissen. Sie werden einen Eindruck davon bekommen, wie entscheidend wichtig Ameisen im Netzwerk der Natur sind.

Wir hoffen, dass wir Sie damit nicht nur informieren und unterhalten, sondern Ihnen auch zeigen können, wie besonders diese kleinen Wesen sind.

Die kleinen Krabbeltiere versetzen uns nicht nur immer wieder in Erstaunen, sondern haben auch unsere Herzen ganz und gar erobert. Wenn es Ihnen nach der Lektüre dieses Buches ebenso erginge und Sie beim Anblick eines Ameisenhügels Freude sowie Ehrfurcht empfänden, dann hätten wir unser Ziel erreicht.

Kommen Sie also mit in die fabelhafte Welt der Ameisen und lassen Sie sich begeistern!

Christina Grätz und Manuela Kupfer

GELEITWORT

Schon eine einzelne Ameise ist – ganz aus der Nähe betrachtet – irgendwie ein Wunder. Wenn man dann noch interessiert eintaucht in das Funktionieren des Zusammenhalts von bis zu Millionen dieser staatenbildenden Insekten, bleibt eigentlich vor allem Begeisterung und ein bisschen Ehrfurcht. Wer Waldameisenvölker umsiedelt, buddelt tief, schleppt schwer, sortiert schon mal eine mumifizierte Ratte aus und behält eventuell während der Fahrt zum neuen Standort ausgebüxte, das Lenkrad erobernde Ameisen kritisch im Blick. Die Umsiedlung von Waldameisen ist gelebter, ganz praktischer Naturschutz und wurde in den letzten Jahren immer wichtiger. Unzählige Bauprojekte wie Autobahnerweiterungen oder Trassenausbauten betreffen häufig auch kilometerlang Waldränder und damit viele Völker Roter Waldameisen.

Wie verliert man sich in so einer Passion? Dass Insekten Berufsleben und Freizeit bestimmen, hat wohl auch viel mit Zufällen im Leben zu tun. Ich habe als Zwölfjährige einer Mosaikjungfer am Mikroskop »zu tief in die Augen geguckt« und dann wegen der anhaltenden Faszination für Insekten Biologie studiert. Um sich bei Rettungsaktionen auf hunderttausende Waldameisen einzulassen, reichen Neugier und Begeisterungsfähigkeit aber nicht aus – eine Portion Mut und eine gewisse Stresstoleranz braucht es außerdem. Ich wünsche, die Leser werden sich mit Vergnügen anstecken lassen von Christina Grätz’ Enthusiasmus, aber auch Respekt entwickeln – sowohl gegenüber den kleinen, starken Sechsbeinern selbst als auch deren Retterin.

Dr. Katrin Möller

(Vorsitzende der Brandenburgischen Ameisenschutzwarte)

AUF DIE AMEISE GEKOMMEN

Ich stehe an den Lakomaer Teichen bei Cottbus vor einem geöffneten Waldameisennest, im Hintergrund die Silhouette der Erlenbrüche. Es ist September, morgens gegen acht Uhr, die Sonne scheint mir ins Gesicht. Es wird gewiss ein warmer Tag. Zehntausende Ameisen sind in heller Aufregung und wuseln umher. Ein leicht stechender Geruch von Ameisensäure liegt in der Luft, in der Ferne kann ich das Quietschen der Bagger des Tagebaus hören. Der Ameisenheger Bernhard Helbig erklärt gerade, worauf man bei einer Umsiedlung achten muss und greift mit bloßen Händen ganz tief in das Nest hinein, um dessen Inhalt in einen großen braunen Papiersack zu befördern. Unzählige Tiere krabbeln an seinen Armen hoch und über den ganzen Körper hinweg. Fasziniert beobachte ich eine Ameise, die am Hals des tatkräftigen Mannes emporklettert und über sein Ohrläppchen bis ins Ohr vordringt. Da gruselt es mich ein bisschen. Es kribbelt und juckt vom bloßen Zusehen. Wie muss das erst sein, wenn die eifrigen Krabbeltiere zubeißen und Ameisensäure in die Wunden spritzen? Oh Gott, das soll ich auch bald machen, schießt es mir durch den Kopf. Ob ich das aushalte? Ich bin hier doch nur gelandet, weil mein Chef jemanden braucht, der Ameisennester versetzt! Da wusste ich noch nicht, dass ich noch am selben Tag meine Hände tief in das Gewimmel eines Ameisennestes graben, die Wärme darin spüren und eine erste Verbindung zu den Tieren aufbauen würde.

Damals arbeitete ich als Botanikerin in einem Ingenieurbüro, das Bauvorhaben naturwissenschaftlich begleitete. Einer der Kunden, das Lausitzer Bergbauunternehmen, fragte an, ob wir Erfahrungen mit der Umsiedlung von Waldameisen haben bzw. diese durchführen können. Denn auf einer der Flächen, die in Kürze dem Tagebau Cottbus-Nord weichen sollte, waren überraschenderweise 20 Ameisennester entdeckt worden. Unser Büro recherchierte, und schließlich wandten wir uns an die Ameisenschutzwarte. Dort hieß es, dass Bernhard Helbig als Ameisenheger für die Lausitz zuständig sei; den sollten wir mal anrufen. Herr Helbig sagte auch zu, die Umsiedlungen zu übernehmen, aber er stellte eine Bedingung: Jemand aus dem Ingenieurbüro müsse sich bereit erklären, die Ameisenhegeausbildung zu machen und danach selber ehrenamtlich Umsiedlungen durchführen. Freundlich, aber nachdrücklich fügte er hinzu: »Solch eine Umsiedlung ist schwere körperliche Arbeit! Ich aber hab’ schon ein paar Jährchen auf dem Buckel, und nicht nur dort zwickt und zwackt es.« Daher brauche er jemanden, der ihn bei dieser Arbeit unterstütze. Überhaupt fehle es dringend an Nachwuchs (siehe auch Kapitel »Traumjob Ameisenhegerin«).

Nach dem Telefonat mit dem Ameisenheger kam mein Chef auf mich zu: »Christina, für diese Aufgabe bist du als Biologin doch genau die Richtige! Oder etwa nicht?« Das war als rhetorische Frage gemeint. Er ging fest davon aus, dass ich zustimmen würde, ich musste jedoch erst einmal eine Nacht darüber schlafen. Denn Zoologie war nicht unbedingt mein Ding. Schließlich hatte ich mich ja ganz bewusst für die Botanik entschieden. Aber andererseits wurde mir klar: Ameisen umzusiedeln bedeutet, ihre Kolonien zu erhalten. Das ist aktiver Naturschutz. Ich entschied mich also für die Ameisen und ging bei Bernhard Helbig in die Lehre.

Autobahn trifft Ameisenstraße

Das Bergbauunternehmen hatte die Ameisenumsiedlungen in Auftrag gegeben und bezahlte sie auch. Meist machen Bauherren das aber nicht freiwillig, sondern weil sie dazu verpflichtet sind. Denn wird bei einer Baumaßnahme ein Waldameisenvolk gefunden, besteht die gesetzliche Pflicht, das Volk mitsamt seinem Nest an einem neuen, für die Ansprüche der Art angemessenen Standort umzusiedeln. Typische Baumaßnahmen, bei denen das vorkommt, sind Wohngebiete, Pipelines, Solarparks, Tagebaue oder Straßen. Man kann sagen: Immer, wenn eine Autobahn einer Ameisenstraße in die Quere kommt, müssen Ameisennester in Sicherheit gebracht und umgesiedelt werden. Hierfür gibt es fachkundige Personen, die sogenannten Ameisenhegerinnen und -heger. Sie kümmern sich um den passenden Standort und um den »Umzug« der Nester.

Die rechtliche Grundlage für den Schutz einzelner Tier- und Pflanzenarten bildet in Deutschland das Gesetz über Naturschutz und Landespflege, kurz Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG). Darauf aufbauend wurde die Verordnung zum Schutz wild lebender Tier- und Pflanzenarten (Bundesartenschutzverordnung, BArtSchV) erlassen, wonach Tier- und Pflanzenarten entweder als besonders geschützte oder als streng geschützte Art kategorisiert werden. Alle streng geschützten Arten sind automatisch auch besonders geschützt, der Umfang ihres Schutzes ist jedoch noch umfassender. Anhang 1 der Bundesartenschutzverordnung listet sämtliche Arten auf, die in eine der beiden Kategorien fallen. In Deutschland sind mit Ausnahme der Blutroten Raubameise alle hier heimischen Spezies der Waldameisen besonders geschützt, insgesamt sind es zwölf Arten der Gattung Formica.

Der breiten Öffentlichkeit geläufiger dürften die Roten Listen gefährdeter Arten sein. Sie beschreiben die Gefährdungssituation der Tier-, Pflanzen- und Pilzarten. Die Roten Listen werden von der Weltnaturschutzunion, den einzelnen Staaten oder den Bundesländern herausgegeben und existieren dementsprechend auf internationaler, auf nationaler sowie auf regionaler Ebene. Spezialisten für die einzelnen Artengruppen erstellen dabei Fachgutachten zur jeweiligen Gefährdung aller in dem Gebiet vorkommenden Arten und ordnen sie in verschiedene Gefährdungskategorien ein. Im Vergleich zum Schutzstatus ergibt sich ein ganz anderes, weniger positives Bild: In Deutschland stehen von 108 berücksichtigten Ameisenarten 77 auf der Roten Liste, darunter sind elf Spezies vom Aussterben bedroht und 17 stark gefährdet. Die Gefährdungssituation sagt allerdings nichts über den gesetzlichen Schutz der Art aus. Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis. Für die sogenannte Eingriffs-Ausgleichs-Regelung sind nicht die Roten Listen relevant, sondern ausschließlich die Bundesartenschutzverordnung. Man kann sich denken, dass dieser Umstand den einen oder anderen Interessenskonflikt heraufbeschwört. Und genau in diesem Spannungsfeld bewege ich mich beruflich …

Meine große Liebe

Die Natur hat schon immer eine große Rolle in meinem Leben gespielt. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf in der Lausitz, in einem Haus mit großem Grundstück samt Teichen, verbrachten meine Geschwister und ich die meiste Zeit an der frischen Luft. Unsere Spielplätze waren der Garten und der nahe gelegene Wald sowie ein Fischteich und ein Bach, die zu unserem Grundstück gehörten. Mein Vater, ein selbstständiger Zimmermann, war sehr naturverbunden. Er nahm uns Kinder häufig mit auf seine Streifzüge durch die Natur und vermittelte uns früh, Achtung und Respekt vor den Tieren und den Pflanzen zu haben: Jedes Lebewesen, egal ob groß oder klein, grazil oder unförmig, niedlich oder lästig, sei wertvoll, denn jedes erfülle eine bestimmte Funktion im Netzwerk der Natur. Manchmal waren seine »Vorschriften« aber auch etwas kleinlich und bremsten, zumindest aus Kindersicht, den Spaß ganz gewaltig. So durften wir nicht mal giftige Pilze umtreten oder einfach so Zweige von den Bäumen abreißen. Und auf keinen Fall sollten wir die Enten auf den Teichen aufscheuchen. Mit der Zeit jedoch verinnerlichten wir seine Regeln, wurden uns die zugrunde liegenden ökologischen Zusammenhänge bewusst.

Meine Mutter wiederum hat einen ausgesprochen grünen Daumen – nein, es müssen tatsächlich zwei sein, denn unter ihren Händen sprießen und gedeihen die Pflanzen wie bei keinem anderen Menschen, den ich kenne: Die Blumen in ihrem Garten entwickeln sich in ihrer Obhut prächtig, und das Obst und Gemüse darin wächst reichlich und schmeckt, was nicht ganz unwichtig ist, sehr gut. Immer mal wieder standen auch Nachbarinnen vor unserer Tür, in der Hand eine kümmerliche Blume oder Staude, die sie eigentlich schon aufgegeben hatten. Meine Mutter nahm diese jämmerlich anzusehenden Pflanzen in ihre Obhut – und wie von Zauberhand entwickelten sie sich vortrefflich und wuchsen bald üppig. Noch heute denke ich gerne an unseren schönen, in allen Farben blühenden Garten zurück.

Das Idyll fand jedoch ein jähes Ende – unser Dorf wurde abgebaggert, als ich zwölf war. Unter unserem Grundstück lag ein Braunkohleflöz, das zum Abbau freigegeben worden war. Bald schon fraßen sich Schaufelradbagger tiefer und tiefer in meine Wiesen hinein, zerstörten die Teiche und vernichteten das Paradies meiner Kindheit. Sämtliche Dorfbewohner sollten in einen eigens dafür errichteten Neubaublock umgesiedelt werden. Um dieser Tristesse zu entgehen, schauten sich meine Eltern nach einem Baugrundstück um und wurden am Rande eines Naturschutzgebiets fündig. Die Gegend und das neue Haus waren wunderschön, dennoch vermisste ich mein altes Zuhause sehr. Ich fühlte mich buchstäblich entwurzelt. Fast jeden Abend vor dem Einschlafen rief ich mir den alten Garten, unsere Teiche, die Blumen auf der Wiese in Erinnerung … und wurde ganz wehmütig. Die Heimat meiner Kindertage ist noch immer meine große Sehnsucht.

Stellte ich mir damals meine Zukunft vor, sah ich mich immer als Ärztin. Ich war fest entschlossen, Medizin zu studieren. Die Sache hatte allerdings einen Haken. In der DDR hing die Studienplatzvergabe nicht unbedingt von Eignung und Neigung einer Schülerin oder eines Schülers ab, sondern eher davon, ob das Elternhaus der durch den Staat vorgegebenen Linie treu genug folgte. Da meine Familie – wie man im Osten sagt – »kirchlich« ist, stand für meine Mutter fest: Das Mädchen geht nicht zur Jugendweihe, sondern wird konfirmiert. Als ich 14 Jahre alt war, zitierte mich der Direktor meiner Schule zu sich und redete mir ins Gewissen: »Christina, du bist zwar die Schlaueste in der Klasse, aber ohne Jugendweihe gibt’s kein Abitur und damit auch kein Studium.« Bestürzt ging ich nach Hause und berichtete meiner Mutter, was der Schulleiter gesagt hatte. Nach längerem Hin und Her und vielen Tränen änderten meine Eltern ihren Beschluss. Ich nahm an der Jugendweihe teil – ironischerweise war es 1989 die letzte in der DDR.

Für mich persönlich war der Fall der Mauer ein Glück. Niemals hätte ich mit meinem familiären Hintergrund und meiner Weltanschauung in der DDR Medizin oder Biologie studieren dürfen, und auch Naturschutz war tabu. Mit der Wende aber bekam ich dann Zugang zu Zeitschriften und Magazinen, die sich dem Thema ausführlich und kritisch widmeten. Eifrig blätterte ich in den Publikationen des NABU (Naturschutzbund Deutschland), in der GEO und in anderen Wissenschaftsmagazinen. Aktionen von Umweltschützern und die Themen Regenwald und Artenschutz beeindruckten mich besonders. Meine Motivation, selber aktiv zu werden, nahm stetig zu. Jetzt wollte ich also unbedingt die Natur retten. Damit war das Medizinstudium vom Tisch, stattdessen stand »die Biologie« nun hoch im Kurs.

Und ehe ich’s mich versah, war ich als Umweltaktivistin mittendrin im Geschehen: Zusammen mit Gleichgesinnten besetzte ich Lakoma, ein Dorf nur wenige Kilometer nordöstlich von Cottbus. Die Häuser standen leer; die Bewohner waren bereits Jahre zuvor unter Protest umgesiedelt worden. Den Gebäuden drohte der Abriss, um dort – wieder einmal – Platz für den Braunkohletagebau zu schaffen. Dagegen wollten wir Widerstand leisten. Immerhin war das Gebiet auch ökologisch von herausragender Bedeutung: Es bot mehr als 170 bedrohten Tier- und Pflanzenarten einen Lebensraum. Zwischenzeitlich war es sogar als Flora-Fauna-Habitat an die EU gemeldet worden, hatte also den Status eines europäischen Schutzgebietes.

Letztlich kämpften wir jedoch auf verlorenem Posten: Gut zehn Jahre später, ich wohnte schon längst nicht mehr dort, wurde mit der Abholzung und der Abbaggerung der Fläche begonnen …

Trotz meines Engagements in der Aktivistenszene schaffte ich ein gutes Abitur. Danach wollte ich eigentlich erst einmal meine Freiheit genießen und plante eine größere Tour durch Skandinavien. Deshalb bewarb ich mich mehr oder weniger halbherzig für ein Biologiestudium an der Humboldt-Universität zu Berlin. Doch prompt bekam ich gleich im ersten Anlauf einen Studienplatz. Wenn ich gefragt wurde, was ich mit diesem Studium anfangen wolle, antwortete ich immer: »Den Regenwald retten oder die Bergbaufolgeflächen in der Lausitz zum Blühen bringen.«

Die Ärmel hochgekrempelt

Die erste Zeit meines Studiums pendelte ich von Lakoma aus nach Berlin, was von Tür zu Tür ziemlich genau zwei Stunden Zeit in Anspruch nahm. Ich war also jeden Tag vier Stunden unterwegs. Das zermürbte mich irgendwann. Außerdem wollte ich mir mit meinem damaligen Partner, Michael, der ebenfalls in Lakoma lebte, ein eigenes Leben aufbauen, einen Hof haben, auf dem ich Gemüse anbauen, Blumen pflanzen und eine Familie gründen konnte. »Unsere Sturm-und-Drang-Phase wich dem Realismus«, sagen Micha und ich heute rückblickend. Und so zogen wir erst einmal auf den Hof meiner Eltern und bauten später unser eigenes Haus. Unser erstes Kind kam auf die Welt. Ich setzte mein Studium fort und hatte eigentlich vor, die Daten für meine Diplomarbeit in Kuba zu erheben. Doch als sich das zweite Kind ankündigte, musste ich auf ein näher liegendes Thema umschwenken. Und das fand ich buchstäblich vor der Haustür: Bergbaufolgelandschaften. Solche Landschaften entstehen, wenn die Grube ausgekohlt und der Abbau beendet wird. Greift der Mensch nicht oder kaum ein, besiedeln bestimmte Pflanzen, Pilze und Tiere wieder solche Flächen; es bilden sich zunächst junge oder primäre Sukzessionsstadien. Ich kam also erneut mit dem Bergbau in Kontakt. Zunächst war ich voreingenommen und ablehnend. Immerhin ähneln die Bergbaufolgelandschaften in den ersten Jahren einer Sandwüste. Sie kamen mir fremd und reizlos vor. Ständig musste ich an die alte Heimat mit ihren Blumenwiesen, Wäldern und Feldern denken, die ich so liebte und vermisste. Im Laufe der Arbeit aber habe ich diese Flächen allmählich zu schätzen gelernt und ihre ganz eigene Schönheit erkannt. Heute schlägt mein Herz für Bergbaufolgelandschaften, ich sehe in ihnen eine Chance für die Natur. Die nährstoffarmen Flächen bieten vielen Tieren und Pflanzen Lebensbedingungen, die sie in unserer übernutzten Kulturlandschaft so nicht mehr vorfinden. Und natürlich habe ich auch schon etliche Ameisennester auf Tagebaukippen angesiedelt.

Nachdem ich mein Diplom in der Tasche hatte und die Erziehungszeit für mein zweites Kind beendet war, begann ich bei einem Ingenieurbüro zu arbeiten, das im Bereich Monitoring für Tagebaue in der Lausitz tätig war. Das war wohl Schicksal. Kümmerte ich mich anfangs vor allem um die Überwachung der Pflanzenbestände in den von der bergbaulichen Grundwasserabsenkung erfassten Feuchtgebieten, traten einige Jahre später Herr Helbig und die Waldameisen in mein Leben …

Inzwischen habe ich weit mehr als tausend Völker umgesiedelt. Die anfängliche Skepsis wich rasch großer Begeisterung: Je länger ich mit diesen quirligen Tierchen zu tun habe und je mehr ich über ihr oft im Verborgenen stattfindendes Leben lerne, umso mehr faszinieren sie mich. Im Jahr 2011 gründete ich eine eigene Firma. Neben anderen Bereichen des praktischen Naturschutzes sind die Ameisenumsiedlungen ein fester Bestandteil unserer Arbeit.

Oft spüre ich die tieferen Verbindungen zwischen meiner eigenen Geschichte und meiner jetzigen Tätigkeit. Meine ganze Familie, unsere Freunde und Nachbarn mussten umsiedeln, um den Raumansprüchen unserer Gesellschaft Platz zu machen. Heute siedeln meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit mir gemeinsam Lebewesen um, damit diese vor dem sicheren Tod durch Baumaßnahmen verschont bleiben. Die Umgesiedelte ist zur Umsiedlerin geworden.

Inzwischen bin ich ein echter Ameisenfan und bei jeder Umsiedlung mit Leib und Seele dabei. Obgleich so ein Umzugstag – wie wir gleich lesen werden – nicht gerade ohne ist …