Die Fahrt auf dem Katarakt - Richard A. Bermann - E-Book

Die Fahrt auf dem Katarakt E-Book

Richard A. Bermann

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Beschreibung

"Eine Autobiographie ohne Helden" nennt Richard A. Bermann seine Lebensgeschichte im Untertitel. Nicht seine privaten Erlebnisse und Angelegenheiten wollte er in den Vordergrund rücken, sondern als Zeuge und geschulter Beobachter seiner Zeit fungieren. Richard A. Bermann oder Arnold Höllriegel, wie sein Pseudonym lautete, war in Wien und Prag im assimilierten Judentum aufgewachsen. Der promovierte Romanist brachte als Theaterkritiker und Feuilletonist die Prager, Wiener und Berliner Literatur miteinander in Verbindung, mit deren Repräsentanten ihn zahlreiche persönliche Bekanntschaften und Freundschaften verbanden. Seine große Leidenschaft war es, Menschen, die einander etwas zu sagen hatten, zusammenzuführen. Sein Freundeskreis war groß: Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann und Leo Perutz zählten dazu, Peter Altenberg, Alexander Moissi, Albert Einstein, Thomas Mann und Viktor Adler. Als Sonderkorrespondent und Reisejournalist des Berliner Tageblatt, des Prager Tagblatt und des Wiener Tag erreichte er in der Zwischenkriegszeit seine größte Popularität: er berichtete von Reisen in alle Erdteile und nahm 1933, gemeinsam mit dem ungarischen Geologen und Abenteurer Ladislaus von Almásy - dem "Englischen Patienten" -, an einer Expedition in die Libysche Wüste teil. Als liberaler politischer Journalist, der der österreichischen Sozialdemokratie nahestand, setzte sich Bermann vor dem Ersten Weltkrieg für einen Interessensausgleich der Nationalitäten der Habsburger Monarchie ein. Während des Ersten Weltkriegs engagierte er sich auf außergewöhnliche Art gegen die allgemeine Kriegshysterie - als pazifistischer Kriegsberichterstatter bemühte er sich um einen Verständigungsfrieden. Wenige Jahre später kämpfte er gegen den Nationalsozialismus - bis 1933 in Deutschland, bis 1938 in Österreich und bis zu seinem Tod im September 1939 in den Vereinigten Staaten. Bermann, der in seiner ganzen Vielfalt demokratischer Publizist ebenso wie Weltreisender und Kulturvermittler, Literatur-, Film- und Theaterkritiker und Romancier war, beanspruchte keine dieser Bezeichnungen und wollte sich immer nur Journalist genannt wissen. Unter diesem Vorzeichen, als Chronist seiner Zeit, hat er auch seine letzte schriftstellerische Arbeit, seine Autobiographie, verfaßt. Mit ihr zieht Richard A. Bermann das Fazit seines reichen Lebens, sie ist - mit Hermann Broch - wahrhafte Geschichte.

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Copyright © 1998 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Neuausgabe 2021

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung:

© bpk/Stiftung Deutsche Kinemathek/Hans G. Casparios

ISBN 978-3-7117-2102-0

eISBN 978-3-7117-5450-9

Informationen über das aktuelle Programm

des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

Richard A. Bermann alias Arnold Höllriegel wurde 1883 in Wien geboren und war Journalist und Schriftsteller in Berlin, Prag und Wien. 1939 starb er im amerikanischen Exil. Im Picus Verlag erschien von ihm »Hollywood – Wien und zurück. Feuilletons und Reportagen« (1999).

Richard A. Bermannalias Arnold Höllriegel

Die Fahrtauf dem Katarakt

Eine Autobiographie ohne einen Helden

Herausgegebenvon Hans-Harald Müller

Picus Verlag Wien

Inhalt

Die Fahrt auf dem Katarakt – Eine Autobiographie ohne einen Helden

Autobiografische Texte

Nachwort des Herausgebers

Personenregister

Die Fahrt auf dem Katarakt Eine Autobiographie ohne einen Helden

1. Kapitel

Bevor ein Strom wild schäumend einen Katarakt hinabstürzt, fließt er oft eine Zeit lang besonders ruhig und friedlich zwischen seinen Ufern; die Landschaft und die Städte spiegeln sich in seinen gemächlichen Fluten. So floß um die Jahrhundertwende meine Kindheit und mein Knabenalter dahin, bis dann das Gefälle der Zeit immer schroffer wurde, und mein Lebensfluß schließlich in dunkle Abgründe hinabtobte. Schriebe ich einen Roman oder eine Autobiographie, deren Held ich wäre, dann wäre es reizvoll, die kleinen Bilder zu projizieren, wie sie in meinen ersten Jahrzehnten der Spiegel auffing. Aber ich habe im Untertitel dieses Buches eine »Autobiographie ohne einen Helden« versprochen. Das soll freilich nicht bedeuten, daß ich in meiner eigenen Lebensbeschreibung nicht oder nicht fortwährend vorkommen werde; ich beabsichtige, nur meine mehr privaten Erlebnisse und Angelegenheiten und die meiner persönlichen Freunde in den Hintergrund zu rücken, es sei denn, daß ich sie für meine Zeiten als typisch und charakterisierend erachte. Ich habe, während ich als Journalist täglich recht subjektiv gefärbte Aufsätze schrieb, in denen das Pronomen »Ich« vielleicht allzu oft vorkam, jahrelang über meinem Schreibtisch einen Zettel hängen gehabt, auf dem mahnend die Worte standen:

»Ich zum Beispiel!«

Das bedeutete, daß ich mir das Recht einräumte, reichlich von mir zu reden, aber immer nur, wenn ich glaubte, gleichsam als Chorführer, Zeuge und geschulter Beobachter im Namen und wohl auch im Auftrag der Namenlosen vortreten zu dürfen. Nur in diesem Sinne möchte ich nun diesen Bericht über mich selbst verstanden wissen. Mein Leben hat, bevor es die Wirbel erfaßten und über die Katarakte hinabschwemmten, viele und schöne Ufer passiert, ist an bemerkenswerten Menschen und großen Ereignissen vorbeigeflossen; von ihnen vor allem soll auf diesen Seiten die Rede sein. Ich bin der Chorführer, aber nicht der Protagonist meiner Selbstbiographie.

Deswegen soll in ihr von meinen frühen Jahren etwas weniger die Rede sein, als es bei Autobiographien sonst üblich ist. Meine Jugenderlebnisse waren zweifellos auch für mich wichtig und bestimmend, aber wenig von ihnen kann die Geschichte meiner Zeit illustrieren und erklären.

Ich wurde am 27. April 1883 in Wien geboren, ziemlich zufällig in Wien, denn mein Vater, der aus Kremsier in Mähren stammte und von Beruf Beamter einer Versicherungsgesellschaft war, wurde öfter von Wien nach Prag und dann wieder von Prag nach Wien versetzt. Ich war ein Jahr alt, als meine Eltern nach Prag übersiedelten. Den Sommer verbrachten sie in dem schlesischen Badeort Reinerz, und dort habe ich, ich weiß es nicht aus eigener Erfahrung, meine erste Begegnung mit einem genialen und berühmten Menschen gehabt. Meine Mutter stammte aus einer jüdischen Familie in Breslau; spät im Leben habe ich einmal festgestellt, daß sie mit der Familie Emil Ludwigs ziemlich nahe verwandt war. Ein anderer ihrer Verwandten war Professor Julius Oppert, der berühmte Entzifferer der Keilschrift. Er nun war in jenem Sommer aus Paris nach Schlesien gekommen, um seine Verwandten zu besuchen. An einem heißen Julitag sollte ein gemeinsamer Spaziergang in den Kurpark unternommen werden. Während alles Toilette machte, stand der Kinderwagen, in dem ich, ein Baby, lag, schon vor der Türe des Hotels, und Professor Oppert, der seinen sommerlich leichten, weißen Leinenrock bereits angelegt hatte, beschloß, des Wartens müde, der Gesellschaft vorauszugehen. Den Kinderwagen nahm der Herr Professor gleich mit – und die Kurgäste von Bad Reinerz erlebten das Schauspiel, daß der weltberühmte Archäologe, einen Wagen mit einem lustig krächzenden Baby vor sich herschiebend, gravitätisch die Kolonnaden entlang ging, bekleidet mit seiner Brille, jenem blendend weißen Leinenrock und einem Paar Unterhosen, denn die Hosen anzulegen hatte der Zerstreute vergessen. Ich weiß nicht, ob dieses frühe Jugenderlebnis mir meine Vorliebe für Archäologie gegeben hat, meine lebenslängliche, enorme Zerstreutheit oder aber meine große Liebe zu der sudetischen Waldlandschaft, in der sowohl Reinerz wie alle die andern Sommerorte meiner Kindheit lagen. Nicht die sanfte, hellgrüne Landschaft des Wienerwaldes oder die schroffere der österreichischen Alpen, sondern die dunklen und melancholischen Bergwälder der böhmischen Randgebirge sind die geliebte Landschaft meiner Kinderjahre.

Obwohl ich bis zum Alter von vierzehn Jahren in der schönen Stadt Prag lebte, denke ich an Prag nicht als meine Heimat. Heimat ist mir ein Dorf in Ostböhmen, wo ich meine ersten Jugendsommer verlebt habe. Es heißt Brandeis an der Adler und liegt in einem Tal des Adlergebirges, dessen bewaldete Höhenzüge mir wie der süße und traurige Bogenstrich eines böhmischen Geigers in der Erinnerung klingen. In Brandeis gab es einen reißenden Gebirgsfluß, in dem ich mit Karlchen, von einem selbstgezimmerten Boot aus oder im kalten Wasser watend, Forellen fing. Das heißt, Karlchen fing sie, und ich durfte sie ihm stolz nachtragen. Karl G., mein erster Kamerad, war einige Jahre älter als ich und besaß schon damals die große Geschicklichkeit, die ihn später zu einem ausgezeichneten Chirurgen gemacht hat. Ich war hoffnungslos ungeschickt und schwächlich. Wenn ich die Angelschnur auswarf, blieb meine Angel bestimmt am Ast einer Weide hängen; wenn wir nachher die gefangenen Forellen, nebst einigen von den Feldern gestohlenen Kartoffeln, an einem Feuer brieten, verbrannte ich mir gewiß die Finger. Die Feuer pflegten wir in dem zerfallenen Gemäuer einer alten Ritterburg anzuzünden, die sich auf einem steilen Hügel neben Brandeis erhob. Diese Ruine, in der wir einen verschütteten Keller und geheime Gemächer entdeckt hatten, diente uns auch als Festung in unseren Kämpfen gegen die tschechische Dorfjugend.

Die Sommergäste von Brandeis sprachen fast alle Deutsch; wir Knaben gingen in Prag in deutsche Schulen. Das machte uns, so wie in den neunziger Jahren die Verhältnisse im Lande Böhmen lagen, automatisch zu Gegnern unserer tschechisch sprechenden Altersgenossen. Wir jungen Sommerfrischler waren, wie die meisten Schüler der Prager deutschen Schulen, zwar Juden; aber wir hätten damals denjenigen für einen Wahnsinnigen gehalten, der uns gesagt hätte, wir seien keine Deutschen. Juden waren wir, weil wir in der Schule nicht vom katholischen Katecheten, sondern von einem Rabbiner Religionsunterricht erhielten, einen Unterricht, der übrigens so miserabel und flüchtig war, daß ich, ich gestehe es beschämt, niemals auch nur die hebräischen Buchstaben ohne Stocken lesen gelernt habe, geschweige, daß ich das Alte Testament hebräisch oder sonstwie ordentlich kennengelernt hätte. Es ist mir tatsächlich nie so lieb und vertraut geworden wie das Neue Testament, das ich noch als Schuljunge zu lesen begann, zunächst wahrscheinlich aus Neugierde und weil es zu Hause nicht recht gern gesehen wurde. Darin hauptsächlich äußerte sich die jüdische Religiosität meiner Eltern und sonstigen Verwandten. Sie waren »assimilierte« westliche Juden, die vielleicht an den höchsten jüdischen Feiertagen in den Tempel gingen, am Versöhnungstag fasteten, aber an allen anderen Tagen des Jahres ruhig Schweineschinken aßen. Sie kümmerten sich um die Speisevorschriften des Talmuds so wenig wie um die sonstige jüdische Tradition; sie sprachen unsere deutsche Muttersprache vermengt mit einigen jüdischen Ausdrücken wie »nebbich« und »meschugge«, verstanden aber die Sprache des jüdischen Ostens, das »Jiddische« kaum mehr. In meiner weiteren Familie gab es Rechtsanwälte, Ärzte, Kaufleute; sie alle hielten sich für gute Deutsche, gute Österreicher und waren in der Politik Anhänger der bürgerlich-liberalen Partei. Daß ich ein Jude war, oder vielmehr, was das für mein Lebensschicksal bedeuten würde, konnte ich kaum ahnen, obwohl ich gut wußte, daß von Zeit zu Zeit ein tschechischer Gassenjunge einen Stein gegen mich warf und rief »Zide!«, oder aber daß auf dem Fußballplatz unserer Schule einer meiner wenig zahlreichen nichtjüdischen Schulkollegen mich gelegentlich einen »Saujuden« nannte, – was in beiden Fällen sofort mit Faustschlägen gerächt werden mußte. Trotz dieser kleinen Komplikationen meines Daseins gab es, solange ich in Prag lebte und die Ferien in Brandeis verbrachte, nur ein politisches Problem, das in mein tägliches Dasein einzugreifen schien: den zähen, unerbittlichen, täglichen Kampf zwischen Deutschen und Tschechen in den Ländern der alten böhmischen Krone, Böhmen, Mähren und Schlesien. In ihm stand ich selbstverständlich und bedingungslos auf der Seite der Deutschen, obwohl ich mich eines Tages erinnere, an dem ich am Ufer der Moldau, dem Königsschloß Hradschin gegenüber und hingerissen von der unvergeßlichen Schönheit des altertümlichen Städtebilds, auf einmal zu einem Schulkameraden sagte, ich fühlte mich weder als Deutscher noch als Tscheche, sondern mehr als beides: als ein Böhme (es gab noch nicht die Vokabel »Tschechoslowake«). Mein Freund gab mir, entsetzt von dieser politischen Ketzerei, eine Ohrfeige.

In der Schule sagten mir die Lehrer, ich sei vor allem ein Österreicher; sie erzählten lang und langweilig von den Glorien des Hauses Habsburg. Die Lehrer, entweder Deutsche oder Tschechen, waren selbst nicht sehr eifrige österreichische Patrioten, obwohl sie alle mit wirklicher Achtung von dem alten Kaiser redeten, der seit einem halben Jahrhundert Österreich regierte. Ihn konnte sich niemand aus der Welt wegdenken. Aber ich erinnere mich an einen alten Bauern in Brandeis, der in seinem winzigen Häuschen zwei gleichmäßig verehrte Bilder hängen hatte: ein Bild der Mutter Gottes und ein Bild des alten Feindes des Marienkults, des Hussiten Johann Zizka; über beiden Bildern hing an der Wand ein Morgenstern, den wohl ein Ahne des Bauern in den Hussitenkriegen des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts gegen die Katholiken und Deutschen getragen hatte. Dieser Bauer sagte öfters zu mir: »Wenn einmal der Herr Kaiser stirbt, wird dieses Österreich zu Ende sein, und wir Tschechen machen uns wieder unser altes Königreich!«

Als ich vierzehn Jahre alt geworden war und eben das Untergymnasium absolviert hatte, zogen meine Eltern von Prag wieder nach Wien zurück; und dort trat ich, heftig geblendet, in eine mir vollkommen neue Welt.

2. Kapitel

Wenn ich heute auf das Wien der Jahrhundertwende zurückblicke, in dem ich meine wichtigsten Jugendjahre verlebt habe, kann ich – da ich nur zu genau weiß, wie später alles gekommen ist – schon die allerersten leicht gekräuselten Wellen auf dem Strom der Zeit sehen, der scheinbar so behaglich ruhig daherfloß, dem es aber an bedenklichen Klippen und Unterströmungen keineswegs fehlte.

Noch war das viel besungene Wien des neunzehnten Jahrhunderts lebendig, die »Stadt der Phäaken«, von der Schillers Epigramm einst gesagt hatte, in ihr sei es stets Sonntag, stets drehe sich der Braten am Spieß. Die Hauptstadt eines von dreizehn Nationen bewohnten Kaiserreichs lebte fröhlich und unbekümmert von dem Reichtum ihrer weiten Provinzen. Getragen von den »Karyatidenvölkern« (wie ein Wiener Dichter die nichtdeutschen Nationen des Reichs genannt hatte) stand das mächtige Gebäude der habsburgischen Monarchie, scheinbar unerschüttert, obwohl Habsburg seine italienischen Provinzen und die Vorherrschaft in Deutschland verloren hatte. Das Reich war immer noch mehr als ein bloßer Staat; um das ergraute Haupt des alten Kaisers Franz Joseph schwebte immer noch ein letzter Widerschein der römischen Kaiserkrone; er war Augustus, war Cäsar, und auch wir jungen Radikalen auf den Schulbänken hatten Respekt vor seiner kalten Würde, vor dem vielen Unglück, das ihm während seines langen Lebens widerfahren war, vor seinem offenkundigen Pflichtbewußtsein.

Die zahlreiche Familie des Kaisers war im Lande nicht populär. Als Kaiserin Elisabeth während des Jahrs nach meiner Rückkehr nach Wien im Ausland ermordet wurde, war sie längst schon eine Art Legendenfigur geworden; man kannte die stets auf Reisen durch ganz Europa Irrende in Österreich kaum mehr; man flüsterte, sie sei irrsinnig oder sie habe ein Verhältnis mit ihrem griechischen Sprachlehrer. (Daß der Kaiser mit Frau Katharina Schratt vom Burgtheater gleichsam verheiratet war, das war schon zu Elisabeths Lebzeiten eine von jedermann, auch von der Kaiserin, anerkannte und tolerierte Tatsache). – Von den Erzherzogen und Erzherzoginnen des Kaiserhauses, sie waren mindestens vierzig an der Zahl, war kaum einer oder eine wirklich beliebt, am wenigsten der präsumtive Thronfolger Franz Ferdinand, obwohl er seine Aufgabe im Staat wenigstens ernst nahm; für die jüngeren Prinzen des Erzhauses bestand das Leben gar zu oft aus lauter wertlosen Vergnügungen, Soupers mit Ballerinen, sinnlosem Geknalle auf der Jagd, Reisen nach Paris und etwas militärischem Dienst in feudalen Regimentern. Wenn man auf der Straße einen Obersten oder General sah, der für seinen Grad zu jung schien, war er gewiß ein Erzherzog. Wenn man sich Anekdoten von einem Offizier erzählte, der im besoffenen Zustand nachts auf den Korridoren des Hotels »Sacher« ernsthaft Posten gestanden hatte, mit dem blanken Säbel in der Hand und nur mit dem Orden des Goldenen Vlieses bekleidet, dann war der Held dieser Geschichte natürlich ein Erzherzog; ein Erzherzog war es, der auf der Straße einen Leichenzug halten ließ, um zu sehen, ob sein Pferd über den Sarg springen könne.

Der an Zahl und Besitz reiche Adel lebte dem Vorbild der kaiserlichen Familie nach. Ihm gehörten weite Landgüter in allen Provinzen mit schönen, von Kunstschätzen erfüllten Schlössern, die zu oft auf die elenden Bauernhäuser hinabblickten; der Ertrag dieser Latifundien finanzierte ein gleichfalls sehr kultiviertes Palais in Wien; außerdem war Seine Durchlaucht, der Fürst, oder Seine Erlaucht, der Graf, nach seiner Wahl entweder Offizier im Heer oder eines der weniger mühsamen und besser bezahlten höheren Ämter des Staates gebührte ihm. Man erzählte sich von einem Professor der Rechte, der einem jungen adeligen Idioten bei der Prüfung gesagt haben sollte: »Ich kann nicht verhindern, Prinz, daß Sie uns eines Tages regieren werden; aber um ein Jahr verzögern kann ich es, indem ich Sie durchfallen lasse!«

Vielleicht zeichne ich hier ein karikiertes Bild der österreichischen Aristokratie von damals: Ich gestehe, daß ich als junger Mensch mit ihr recht wenig Berührung gehabt habe. Ich erinnere mich nur an ein großes Wohltätigkeitsfest, zu dem wir Plebejer, gegen Entree, einen der Wiener Adelspaläste betreten durften. Ein »Basar« war etabliert: Eine häßliche und doch irgendwie reizvolle alte Frau befehligte eine Schar eleganter Damen und Herren, die an den Verkaufsständen irgendwelches überflüssiges Zeug verkauften. Sie war jene Fürstin Pauline Metternich, die einst in den Tuilerien die beste Freundin Eugénies gewesen war, die Egeria des Zweiten Kaiserreichs. Jetzt, sehr alt geworden, war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst, aber immer noch der Mittelpunkt aller Wiener Wohltätigkeitsveranstaltungen, und um ihren Verkaufsstand drängten sich die Wiener. Sie hätte den näselnden Ausrufer nicht nötig gehabt, irgend einen jungen Baron oder Grafen, der, aus dem Publikum, fortwährend zurief: »Heute ist’s Sonntag; heute kann man sich mal ’was spendieren, kaufen Sie, zu wohltätigen Zwecken!« Er glaubte augenscheinlich, daß die Plebs an Sonntagen mit besonderer Freude abgenutzte, mit Blümchen bemalte Steingutvasen kaufte. – Ich war damals ein Knabe, aber ich habe diesen Mann und seine huldvolle Herablassung nie vergessen.

Bei solchen Wohltätigkeitsfesten vermengte sich die sonst exklusive Aristokratie mit den Spitzen einer minder aristokratischen Gesellschaft zweiten Ranges. Wenn man die Frau eines noch ungeadelten Sektionschefs im Ministerium war, oder ganz einfach Frau Kohn hieß und einen reichen Mann hatte, einen »Kommerzialrat« und Fabrikanten, konnte man hoffen, einmal als Lady Patroness unter dem obersten Protektorat der Fürstin Metternich zu wohltätigen Zwecken schlechtes Parfum oder dito Bonbons zu verkaufen. – Unter dieser bevorzugten und dem Adel schon nahen Bürgerschicht gab es eine andere, zum großen Teil jüdische; sie bestand aus Rechtsanwälten, Ärzten, Universitätsprofessoren, Kaufleuten. Während der Adel und die Großbürger natürlich konservativ waren, hielt sich die mittlere Bürgerschaft für »liberal«; das heißt, sie las die Leitartikel von Moritz Benedikt in der »Neuen Freien Presse«, in denen vielfach von Freiheit die Rede war, wenn auch nicht in bezug auf die Freiheit, die die österreichischen Arbeiter oder die nichtdeutschen Nationalitäten des Reiches meinten.

Daß meine Familie eben dieser Schichte angehörte, das machte mich frühreifen Jungen geneigt, ihre Ideale abzulehnen. Das ist schon so im Leben: Wir werden, was unsere Onkel und Tanten nicht waren. Schon in Prag hatte ich Lamartines »Geschichte der Girondisten« gelesen und mich für die Französische Revolution begeistert; dort aber schien die ewige Rauferei zwischen Deutschen und Tschechen wichtiger als alles andere. Auch in Wien war noch viel davon die Rede; im Parlament führten bald die deutschen, bald die slawischen Abgeordneten wilde Faustkämpfe und Konzerte mit Pultdeckeln und Kindertrompeten auf, denen dann jedesmal »Demonstrationen« auf den Straßen folgten. Aber es gab in Wien auch ganz andere Probleme. Ein Wiener Arzt, Dr. Victor Adler, selbst ein Angehöriger der wohlhabenden jüdischen Bourgeoisie, hatte, seiner Klasse, meiner Klasse, untreu werdend, die sozialdemokratische Partei Österreichs gegründet; in den Kreisen meiner Familie war man gegen ihn, obwohl man andererseits auch gegen seinen Erzfeind war, den neuen »christlichsozialen« Bürgermeister Wiens, Dr. Karl Lueger. Der nämlich war etwas Unerhörtes, Unglaubliches von der »Neuen Freien Presse« keineswegs Gebilligtes: ein Antisemit.

In meiner Schulklasse im Erzherzog-Rainer-Gymnasium nannten sich einige der ärmsten Schüler sehr heimlich »Sozialdemokraten«; es waren verwegene Burschen, die vor nichts Respekt hatten, selbst nicht vor den Leitartikeln der »Neuen Freien Presse«. Damals stand in Wien ein Schriftsteller namens Karl Kraus auf, dessen Lebenszweck es schien, in seiner Zeitschrift »Die Fackel« eben die »Neue Freie Presse« mitsamt ihrem pompösen Stil und den bürgerlich-liberalen Idealen ihrer Leser zu verspotten; die Aufsätze der »Fackel« waren in dem herrlichsten Deutsch geschrieben, funkelten von Geist, und wir Jungen versteckten die flammenroten Hefte unter unseren Schulbänken und lasen sie während der Unterrichtsstunden. Dann gab es noch so viel anderes Aufregende und Wichtige, was mit dem Schulbetrieb nichts zu tun hatte. Ein junger Wiener Zeitgenosse von uns, Otto Weininger, hatte eine aufrührende Schrift über geschlechtliche und psychologische Probleme veröffentlicht und war dann als Selbstmörder gestorben. Auch seine Aufsätze verschlangen wir. Da war ferner ein gewisser Nervenarzt, dessen Theorien offiziell als verrückt und unanständig galten, Grund genug, sie kennenzulernen. Des Mannes Name war Sigmund Freud.

Und dann die Dichter! In Deutschland war einige Jahre vorher eine literarische Revolution erfolgt, die die pseudoklassische Literaturrichtung hinwegfegte. Die stürmischen Wellen dieser Bewegung erreichten auch Wien – und änderten hier ihren Rhythmus. Während Gerhart Hauptmann der bürgerlichen Welt das Elend der schlesischen Weber zeigte, war in Wien Arthur Schnitzler mehr um das Los der süßen »Mädel« bekümmert; die Tatsache, daß »Anatol« und »Die Weber« beinahe zu gleicher Zeit veröffentlicht wurden, charakterisiert den Unterschied zwischen der Berliner »Freien Bühne« und der gleichzeitigen Gruppe »Jungwien«. – Ein junger Mensch in Wien, mit literarischen Neigungen behaftet, konnte entweder mit Hauptmann und Halbe revolutionär empfinden oder mit Schnitzler von anmutigen Frauen und eleganten Herren träumen; dann waren die großen Nordländer da, Ibsen und Björnson, – alles viel interessanter als die Schule.

Auch gab es, jenseits der heimatlichen Grenzen und jenseits der Literatur, aufregende Geschehnisse. Daß es eine große Welt gab, das erfuhr ich zuerst, als die sudanesischen Abenteuer des Wieners Rudolf Slatin in der Zeitung standen. Daß ein Österreicher der Sklave des barbarischen Khalifá gewesen war; daß er, auf romantische Weise quer durch die Wüste entkommen, dann mit Kitcheners Heer in den Sudan zurückkehrte – das war so wichtig, daß selbst die »Neue Freie Presse« in ihren sonst mehr dem Sprachenzwist in Böhmen und dem ungarischen »Ausgleich« geöffneten Spalten Platz für Berichte fand, die mich, einen romantisch veranlagten Knaben, tief erregten. (Nicht ahnte ich, daß ich einst am Totenbette Slatin Paschas stehen würde, ein Freund, der den heldenhaften Freund sterben sah). – Kaum waren die Kanonen in Omdurman verstummt, als sie vor Ladysmith zu donnern begannen; alle deutsch geschriebenen Zeitungen und auch die »Neue Freie Presse« begannen von den Buren zu schwärmen und Böses vom »Perfiden Albion« zu sagen. Ich glaubte jedes Wort und wurde ein begeisterter Anhänger Oom Krügers. – Dann wieder ertönte aus Paris eine große Stimme: Émile Zola stand auf und sprach: »J’accuse!« – und ein jüdischer Knabe in Wien konnte nicht umhin, dem Freund der verfolgten Unschuld einen schwärmerischen Brief zu schreiben, während sein Vater glaubte, er schreibe eine mathematische Hausarbeit.

Ach, ich muß es gestehen, die große neue Welt, in die ich seit unserer Übersiedlung nach Wien blickte, war zu verwirrend und aufregend für mich. In Prag war ich ein ehrgeiziger und daher guter, erfolgreicher Schüler gewesen. In den Jahren 1897 bis 1902, in Wien, war ich alles, was ein musterhafter Schüler nicht sein soll. Mein Vater hätte es vielleicht verstanden, wenn ich, wie andere junge Leute in Wien, für das Theater geschwärmt und darüber die Schule vernachlässigt hätte. Aber die Glorien des damaligen Burgtheaters ließen mich ziemlich kühl, und nicht zehn Pferde hätten mich in die Oper gezogen, denn ich war leider gänzlich ohne Musik geboren. Folglich, denn das pflegt zusammen zu gehen, war ich auch ohne jede Veranlagung für Mathematik. Gleich in meinem ersten Wiener Schuljahr fiel ich in Mathematik durch; mein erzürnter Vater erlaubte mir nur nach argen häuslichen Stürmen, die Schule weiter zu besuchen und die Klasse in einem anderen Gymnasium zu repetieren.

Nach einem recht melancholischen Brandeiser Sommer trat ich in die sechste Klasse des Erzherzog-Rainer-Gymnasiums ein. Man setzte mich neben einen sanften, melancholischen Jungen, einen guten Schüler, der, wie ich bald herausfand, privatim dem Geigenspiel und der Lyrik ergeben war. Otto M., der Freund, der mich dann brüderlich durch mein ganzes Leben begleitet hat, sorgte dafür, daß mich die Begeisterung für Dreyfus, die Buren, Gerhart Hauptmann oder den Sozialismus nicht allzusehr von den Dingen der Schule abzog. Ich blieb zwar ein schlechter, zerstreuter Schüler, aber die Katastrophe des ersten Schuljahres wiederholte sich nicht; ich kam am Ende des Schuljahres mit Ottos kameradschaftlicher Hilfe immer wieder durch.

Das Rainer-Gymnasium lag in der »Leopoldstadt«, wo sehr viele Juden wohnten; in unserer Klasse gab es nur wenige Christen, und die waren zum Teil Protestanten, was im katholischen Wien damals fast soviel bedeutete wie getaufte Juden. Meine Mitschüler waren die Söhne von Kaufleuten, Ärzten und Advokaten, also war es unser Traum, einmal etwas anderes zu werden, am liebsten Dichter oder Bildhauer. Mindestens fünf Mitglieder meiner Klasse, die dreißig Schüler umfaßte, haben später tatsächlich Literatur produziert und sind gedruckt worden. Ein wilder Junge namens Leo Perutz, der schon in Prag mein Mitschüler gewesen war, hatte später einen berechtigten internationalen Erfolg als Romanschreiber; wir sind durchs Leben gute Kameraden geblieben. – Was mich betrifft, so hatte ich mit sechs Jahren eine Short Story geschrieben (an deren Ende ich, der Erzähler, mitteilte, die geschilderten Erlebnisse hätten mich so aufgeregt, daß ich mich schließlich vor Betrübnis aufgehängt habe), – mit vierzehn Jahren schrieb ich ein komisches Ritter-Epos, mit fünfzehn ein Gedicht in Nibelungenversen zu Ehren der Buren, und etwas später Dramen in Sudermanns Manier. Auch produzierte ich, nachdem ich zuviel Heine gelesen hatte, Lyrik, die mir Allah, der Herr des Gerichts, nicht anrechnen möge. All das wurde nicht nur Otto vorgelesen (dessen eigene Lyrik nicht so unmusikalisch, also viel besser war), sondern den versammelten »Ethikern«. So nannten unsere nicht-literarischen Mitschüler einen kleinen, von der Schulordnung nicht autorisierten »Verein für Ethik und Literatur«, den unsere kleine Gruppe gebildet hatte. Die Schulordnung wußte, warum sie dagegen war, denn nicht nur waren die Diskussionen der Ethiker und das Zeug, das sie einander erbarmungslos vorlasen, reichlich revolutionär, sondern sie förderten auch unser Interesse an einer außerhalb der Schulmauern liegenden Welt und schwächten unser Interesse für Mathematik oder die griechischen Aoriste. Viel wäre hier zu sagen, wenn ich die Geschichte meiner Psyche schriebe. Ich schreibe sie nicht, und so genüge es, zu sagen, daß ich nach vier im Rainer-Gymnasium verlebten Jahren schließlich doch irgendwie die »Matura« bestand, die Schlußprüfung, nach der uns die »Reife« für die Universität bestätigt wurde. Noch heute, fast vier Jahrzehnte nachher, träume ich manchmal von der »Matura«, und zwar wird mir in meinem Traum immer wieder amtlich mitgeteilt, mein vier Jahre später erworbenes Doktorat der Philosophie sei ungültig, weil ich geständig sei, die mathematische Matura-Arbeit – zur großen Entrüstung des Idealisten Otto – schamlos von einem anderen Mitschüler abgeschrieben zu haben.

Am Tage der mündlichen Prüfung trug ich – obwohl wir am Morgen geprüft wurden – den ersten Smoking meines Lebens. In der qualvollen Stunde des Wartens vor der Prüfung erfüllte mich, neben meiner großen Angst, ein ernstes Problem: Sollte ich eine schwarze oder eine weiße Krawatte tragen? Ich hatte gehört, daß zum Smoking eine schwarze gehöre; andrerseits trugen auftretende Künstler eine weiße. Ich hatte ein schwarze und eine weiße Krawatte bei mir und wechselte sie fortwährend, bis ich drankam. Ich weiß nicht mehr, welche Krawatte ich gerade am Hals hatte, als ich zur Prüfung gerufen wurde.

Obwohl Otto sich große Mühe gegeben hatte, mich vorzubereiten, wäre ich bestimmt durchgefallen, wenn ich nicht bei meinen Lehrern ziemlich beliebt gewesen wäre, ich ahne wirklich nicht, weswegen. Mein alter, weiser Griechischprofessor ließ eine zweifelhafte Übersetzung Platos gelten, weil ich (der ich den streng verbotenen Nietzsche gelesen hatte) den Ausdruck »οἱ πολλοί« mit »Die Vielzuvielen« intelligent übersetzte. Und der Mathematiklehrer stand unbewegt, ja lächelnden Antlitzes dabei, wie ich, unter dem Vorwand, ein höchst einfaches Exempel zu lösen, Zahlen an die schwarze Tafel schrieb, die aus einem mathematischen Märchenbuch, nicht aus der Logarithmentafel zu stammen schienen. Da der außerordentlich strenge Schulinspektor, der der Prüfung präsidierte, offenbar auch so ein mathematischer Idiot war wie ich, merkte er nichts. Der Professor verschluckte sein Entsetzen; und auf einmal hatte ich die Prüfung bestanden.

Mein Maturitätszeugnis trug das Datum 2. Juli 1902. Ich war neunzehn Jahre alt. Das Leben fing im Ernst an.

3. Kapitel

An einem Morgen wenige Tage nach der Matura erwachte ich in einem hölzernen Coupé dritter Klasse. Ich hatte einen ganz neuen, hellgrünen Lodenanzug am Leibe und einen vollgepackten Rucksack neben mir. In einer Ecke des Abteils schlief Otto, mit offenem Mund. Draußen graute der Morgen über einer trostlosen, von Nebeln umwallten Steinlandschaft. Ich konnte es nicht wissen, aber das waren die Karstberge bei Triest, wo ich dreizehn Jahre später das Wüten großer Schlachten erleben sollte, den Donner des Trommelfeuers und das Funkeln blutiger Bajonette im Nahkampf. Jetzt war alles umschleiert, still und melancholisch. Da bog in der Nähe der Station Opicina der Zug scharf um eine Felsenecke und ich sah das blaue Adriatische Meer tief unter mir, beschienen von der ersten Morgensonne.

Aus mir ist später ein Weltreisender geworden. Ich habe in viel trostloseren Wüsten als dem Karst grünende Oasen entdeckt, ich habe von Robert Louis Stevensons Grab auf dem Berg Vala auf die leuchtende Südsee hinabgeblickt, auf Inseln und Palmenhaine. Aber kein Augenblick meiner Reisen hat mir je das Entzücken gegeben wie dieser erste Blick auf ein südliches Meer. Er hat, wie Stevenson es ausdrückt, »in mir eine jungfräuliche Stelle des Empfindens berührt«; die unbändige Wanderlust, die später mein Leben bestimmen sollte, begann dort und damals.

Diese Reise, der grüne Lodenanzug und der zum größten Teil eßbare Inhalt des Rucksacks waren Geschenke meiner Eltern, aus Anlaß der bestandenen Prüfung. Otto und ich wollten von Venedig aus zu Fuß durch die Cadorischen Alpen nach Tirol wandern; es schien uns eine große, herrliche Reise zu sein, voll von Glückseligkeit.

Am Abend jenes Tages befuhr ich zum erstenmal das Meer. Es war nur ein kleiner, alter Küstendampfer, auf dessen Verdeck Otto und ich über das schmale Ende der Adria fuhren, und es hatte zu regnen angefangen, und ich wurde zum erstenmal im Leben seekrank, und am Morgen tauchte die unvergleichliche Silhouette von Venedig aus dem Meer, und ich war sehr glücklich.

Venedig war damals in ziemlicher Aufregung, denn es war am Tage vor unserer Ankunft der berühmte alte Glockenturm von San Marco zusammengestürzt. Der ungeheure Trümmerhaufen war noch nicht eingeplankt, und viele amerikanische Touristen und Touristinnen nahmen sich ein Stückchen vom Campanile zum Andenken mit. Es waren die ersten Amerikaner, die ich sah, und ich starrte sie mit Bewunderung an. Würde ich je in ihr großes, fernes Land reisen können?

In das fremdartige italienische Leben stürzte ich mich mit Enthusiasmus. Tintenfische, in Öl gebacken, aß ich am ersten Tage, und sie schmeckten mir großartig. Anderthalb Jahre später sagte Sigmund Freud zu mir, er teile die Menschen in zwei Gruppen ein: die dummen Banausen und diejenigen, die Italien lieben. Was mich betrifft, ich hatte Italien vom ersten Augenblick an gern. Noch konnte ich kein Italienisch, aber ich sprach zu Gondolieri und Fischweibern eine Art Latein, die Wörter mit »o« statt mit »us« endigend. Als wir nach einer Woche Venedig verließen, konnte ich schon eine ganze Menge italienischer Vokabeln; ich lernte weitere auf unserem schönen Fußmarsch durch die Dolomiten und habe im folgenden Jahre die Sprache mit Leichtigkeit gemeistert.

Mir, der ich bisher nur die niederen Randgebirge Böhmens und ihre schwermütigen Wälder gekannt hatte, war die helle, klare Alpenwelt eine Offenbarung. Otto, der die österreichischen Alpen gut kannte und sehr liebte, führte mich, immer zu Fuß und mit dem Rucksack auf dem Rücken, an seine Lieblingsorte: aus Südtirol über die Hochpässe ins Zillertal, und von dort ins Salzburgische, in die alte, noch mittelalterlich ummauerte Stadt Radstadt, wo er Freunde hatte; die Töchter und Söhne eines italienischen Holzhändlers, der Bankrott gemacht und Selbstmord begangen hatte, seine Familie ganz arm in einem ungeheuren, leeren Schloß zurücklassend, einem ehemaligen Besitz der Erzbischöfe von Salzburg, den umzubauen und zu modernisieren er beabsichtigt hatte. Nun hausten die jungen Leute, ganz vergnügt, in den unmöblierten Hallen und einem von geköpften Statuen bevölkerten Garten. Wir mieteten ihnen für wenig Geld ein Zimmer ab und lebten den Sommer über mit ihnen, abwechselnd ihre einzige Kuh melkend, deren Milch die schwarzäugige Gina dann in den »Schmarren« tat, den wir täglich zu essen kriegten.

Nur in Österreich kann man solche Sommerwochen verleben, wie damals Otto und ich. Wir stiegen den ganzen Tag auf den Bergen herum, unter dem Vorwand, Edelweiß oder Speik pflücken zu wollen. An den Abenden gingen wir mit den versalzburgerten Sizilianerinnen in der »Seufzerallee« spazieren – so hieß die alte Kastanienallee, die längs der Wälle der alten Stadt durch die duftenden, von Grillen durchzirpten Wiesen führte.

Ich habe später diese Radstädter Tage in einem meiner ersten Romane (»Das Seil«) geschildert. Schöne, leuchtende österreichische Berge, wie habe ich euch lieb gehabt!

Als der Sommer zu Ende ging und wir nach Wien zurückgekehrt waren, mußte ich dort von Otto und den anderen Kameraden Abschied nehmen. Mein Vater war nach Prag zurückversetzt worden, und da es dort eine gute deutsche Universität gab, verlangte er, daß ich mit übersiedelte. Ich tat es ungern; Prag kam mir jetzt in meiner Erinnerung als eine muffige, von fanatischem Gezänk erfüllte Provinzstadt vor.

Indessen, in den Herbstwochen, bevor an der Universität die Vorlesungen begannen, hatte ich Zeit, spazieren zu gehen, und mich faßte der Zauber dieses unglaublich schönen Stadtbildes. Prag war damals wahrscheinlich die schönste Stadt Europas, Rom ausgenommen. Nicht nur die Kleinseite am linken Ufer des Moldaustroms und die sie mächtig überragende Königsburg, der Hradschin, bewahrten noch ihre ganze altertümliche Schönheit, sondern in der Altstadt am anderen Ufer hatte das vermutlich nötige, aber vom ästhetischen Standpunkt aus unliebsame Werk des Einreißens und Modernisierens eben erst begonnen, das bald nachher aus einem mysteriösen Labyrinth von uralten, märchenhaften Gäßchen, Sackgassen und Durchhäusern ein schachbrettähnliches Gefüge von schnurgeraden, zweifellos hygienischen und moderneren Boulevards machte. Wo einst zwischen Barockfassaden nachts der schwere Tritt des »Golems« gegeistert hatte, standen bald glatte Fassaden mit zweifelhaften, grellfarbigen Fresken in einem Stil, den ehrgeizige und junge tschechische Architekten für »neuslawisch« hielten. In den Winkeln des Ghettos roch es noch nach Kabbala und dem Hohen Rabbi Loew, im tiefen Schatten der Teynkirche ahnte man die Gegenwart von gravitätischen Gespenstern, die einst Kepler und Tycho Brahe geheißen hatten, und der Mensch, der hinter einem verstaubten Fenster bei Nacht so schön Klavier spielte, konnte Mozart selbst sein, in Prag zur Aufführung des »Don Giovanni«.

In diesem berauschenden Herbst wurden die Bäume in den vielen alten Gärten golden und purpurrot; von der Höhe der »Hasenburg« blickte ich auf die silberne Moldau mit ihren mit Statuen geschmückten Brücken hinab; überall waren altertümliche Kirchtürme und die mit grüner Patina bedeckten Kuppeln von Barockgebäuden. Ich stand auf diesem Aussichtspunkt und wünschte mir, niemals hinuntersteigen zu müssen in die Stadt, deren Ganzes so schön war und deren Einzelnes mich vielfach verstimmte.

Während der Wiener Jahre war mir der Sinn für den grimmigen Ernst des Nationalitätenzwistes in Böhmen allmählich abhanden gekommen. Ein Erlebnis ganz am Anfang meines neuerlichen Aufenthaltes in Prag frischte meine Erinnerungen daran auf. Ich ließ mich an der deutschen Universität als Hörer der Vorlesungen über deutsche Literatur und die romanischen Sprachen einschreiben. Es war Sitte, sich den Professoren vorzustellen. So ging ich den Germanisten August Sauer in seinem Seminar besuchen. Professor Sauer war ein Gelehrter von europäischem Ruf, und, wie ich später bemerken sollte, ein gütiger, von Vorurteilen ziemlich freier Mensch. Aber als er, um sich meinen Namen zu notieren, seine Feder in eine auf dem Tisch stehende Tintenflasche tauchen wollte, sah ich, wie das Gesicht des Professors sich auf einmal vor Zorn verzerrte. Von einer Art Koller gepackt nahm er die Flasche und warf sie ohne weiteres durch das offene Fenster in den Hof hinunter. Ich begriff erst nicht, was da vorging; erst nachher brachte ich heraus, daß der Pedell dem Professor der Germanistik eine Sorte Tinte auf den Tisch gestellt hatte, die zugunsten eines tschechischen Schulvereins, der »Matice Skolská« verkauft wurde; ein guter Deutscher durfte aber nur eine mit einer schwarzrotgoldenen Etikette beklebte Tintenflasche des »Deutschen Schulvereins« benützen; alles andere war nationaler Verrat.

Ich hatte noch zu lernen, daß es ebenso zwei Sorten von Zündholzschachteln gab, die eine tschechisch-national und von deutschen Rauchern peinlich zu meiden, die andere mit den Farben des ehemaligen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation geschmückt und daher empfehlenswert. Als ich anfing, die Vorlesungen zu besuchen und mit den anderen Hörern der deutschen Universität umzugehen, hatte ich noch viele derartige Lektionen zu lernen. Ein deutscher Student in Prag durfte nur in gewissen Geschäften einkaufen, in anderen nicht; er durfte nur in bestimmten Gasthäusern und Cafés verkehren; vor allem aber durften seine Altersgenossen, die tschechischen Studenten, für ihn nicht auf der Welt sein. Prag war damals die einzige Stadt Mitteleuropas, wo es zwei Universitäten gab. Sie waren bis tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein vereinigt gewesen, und ihre Hörsäle und Institute lagen noch immer Tür an Tür in einer Anzahl altertümlicher Gebäude; in den Höfen und auf den Korridoren des »Karolinums« und des »Klementinums«, in der gemeinsamen Bibliothek streiften die jungen Leute beider Nationen einander täglich; aber wenn sie nicht an Tagen politischer Aufgeregtheit etwa einander mit den Fäusten zu bearbeiten anfingen, dann hätten sie ebensogut auf zwei verschiedenen Planeten leben können. Obwohl in der Praxis fast jeder Student aus Böhmen beide Landessprachen verstand, wäre es keinem tschechischen Juristen eingefallen, einmal in einen Hörsaal einzutreten, in dem ein berühmter deutscher Rechtslehrer eine interessante Vorlesung hielt, so wenig wir deutschen Philologen jemals in ein Zimmer eingedrungen wären, an dem wir täglich vorbeigingen und in dem ein vortrefflicher Lehrer unseres Fachs auf tschechisch dozierte. All das war den Studenten, die aus den sudetendeutschen Gebieten kamen, ganz selbstverständlich; in den Städten, in denen sie zu Hause waren, gab es einen täglichen und erbitterten Streit um die Frage, ob Poststempel und Straßentafeln einsprachige oder zweisprachige Texte aufweisen sollten. Ich aber kam aus dem sorglosen und unfanatischen Wien, und ich war offenbar ohne die Schädelerhöhung geboren worden, in der das Organ für den nationalen Chauvinismus sitzt. Ich fand die chinesische Mauer störend, die in Prag die Nationen von einander schied; dennoch habe ich damals nicht die Energie oder den Mut besessen, sie für meinen Teil zu durchbrechen. Obwohl ich in Prag aufgewachsen und dort lange in die Schule gegangen war, obwohl ich meine Ferien in dem tschechischen Brandeis verlebt hatte, konnte ich die Sprache der Tschechen keineswegs mit genügender Geläufigkeit verstehen, sprechen oder lesen; und doch fehlt es mir nicht an Sprachtalent. So blieb mir das tschechische Prag verschlossen, und das deutsche schien mir geistig beengt. Ich sehe heute, daß ich die tschechischen Theater hätte besuchen, tschechische Bücher hätte lesen, mit jungen Tschechen hätte umgehen sollen, um einen Blick in ihre geistige Welt zu gewinnen. Ich tat es nicht. Nur wie von außen, über einen Zaun hinüber, sah ich, was bei den Tschechen vorging. Sie waren eine junge Nation, tief verwurzelt in einem kräftigen Bauerntum und im städtischen Milieu noch etwas unerfahren. Weil sie zwischen Wien und Berlin lagen, den Städten der verhaßten Deutschen, gravitierte ihre ältere Generation nach dem slawischen Petersburg, und die jüngere schwärmte für Paris. Bauernsöhne, die als Studenten, Ärzte, Beamte nach Prag kamen, der einzigen Großstadt ihrer Nation, ahmten dort die Sitten der Pariser Boulevards nach, so wie sie sich sie vorstellten. In kulturellen, künstlerischen, politischen Dingen waren sie für alles Radikale, Neue, Verwegene. Dabei ließen sie es gelegentlich an Geschmack und kultureller Reife fehlen. Wenn auf dem Boulevard Montparnasse Zylinderhüte modern waren, trugen die jungen Tschechen auf dem Wenzelsplatz alle Zylinderhüte, und dazu wollene Sweater, von der Mama in Nachod oder Tabor gestrickt.

War das tschechische Prag modern, so war das deutsche, in dem ich lebte, vor allem konservativ. Noch vor wenigen Jahrzehnten hatte Prag als eine Stadt gegolten, in der nur die unteren Bevölkerungsschichten tschechisch redeten. Das hatte sich geändert, jetzt bekannte sich höchstens ein Zehntel der Bevölkerung bei den Volkszählungen zur deutschen Umgangssprache, und der bei weitem größte Teil davon waren Juden. Trotzdem hatten die Prager Deutschen den Anspruch nicht aufgegeben, eine Großstadt zu bilden; daraus ergab sich eine gewisse Unechtheit und Leere des zu weit gespannten kulturellen Lebens. Man mußte zwei große Theater erhalten und man konnte sie keineswegs jeden Abend füllen; wenn der deutsche Buchhändler auf dem Graben die Werke von Hauptmann, Schnitzler, Hofmannsthal ins Schaufenster gelegt hätte, die in Berlin und Wien schon die anerkannte moderne Literatur waren, hätte er sie nicht verkauft. In Prag las man noch die Literatur der vorangegangenen Jahrzehnte, und die jungen deutschen (zum größten Teil jüdischen) Schriftsteller Prags, die später eine bemerkenswerte Gruppe bilden sollten, saßen vorläufig noch auf den Schulbänken. Das deutsche Prag war hinter dem wirklichen geistigen Leben Deutschlands mindestens ein Jahrzehnt zurück; der einzige, große deutsche Dichter, der Prags älterer Generation angehörte, Rainer Maria Rilke, hütete sich, in der engen Heimat zu leben, die er freilich in herrlichen Versen besungen hat.

Da es unter den Prager Deutschen so gut wie kein Proletariat gab, war ihre politische Gesinnung so reaktionär wie ihre kulturelle. Die aus den sudetendeutschen Gebieten stammenden Studenten und Intellektuellen waren »national« und schon damals antisemitisch eingestellt. Ihr Abgott war der Egerländer Georg Ritter von Schönerer, von dem später Hitler den größten Teil seiner rassenpolitischen Ideologie bezogen hat. Die radikaleren unter den aus dem Sudetengebiet stammenden deutschnationalen Studenten erklärten schon damals ihre jüdischen Kommilitonen, der Rasse wegen, für Menschen zweiter Klasse und weigerten sich zum Beispiel, die Juden als »satisfaktionsfähig« zu erklären, das heißt mit ihnen die Duelle auszufechten, die damals der Hauptsport der deutschen Studenten waren. Dies nun bekümmerte die Juden sehr, denn auch sie fühlten sich als nationale Deutsche und hingen mit ihrem Herzen an allen Idealen der deutschen Burschenschaft, einschließlich der Kneipe und des Duellunfugs. Wenn ein Deutschnationaler sein Militärjahr absolviert hatte und Reserveoffizier der Armee war, dann mußte er sich mit einem Beleidiger schlagen, ob er Jude war oder nicht, sonst hätte ein militärisches Ehrengericht ihm die Offizierscharge genommen. Also suchten sich besonders rabiate, junge jüdische Klopffechter die Reserveoffiziere unter ihren deutschnationalen Kollegen aus und ohrfeigten sie, wo sie sie trafen, um ihnen nachher das Gesicht unter großen Zeremonien mit dem Säbel zerhacken zu dürfen oder selbst einen der geschätzten »Schmisse« davonzutragen. Eine ganz kleine Minorität von jüdischen Studenten, die schon damals nicht deutschnational, sondern jüdischnational und zionistisch gesonnen war, taten sich als Nachahmer der deutschen Kneip- und Duellsitten besonders hervor.

Was mich betrifft – ich gehörte zu keiner dieser Gruppen. So war ich im Prager akademischen Leben verloren. Ich hielt es für lächerlich, sich regelmäßig und nach einem feierlichen Comment zu besaufen; ich hatte keine Lust, mich zu duellieren; ich wollte keine farbige Kappe auf dem Kopf und auf meiner Brust kein Band tragen, und ich haßte es, zu gewissen Stunden auf dem »Graben« vor dem »Deutschen Haus« zum Bummel zu erscheinen. Ich hielt mich für einen Deutschen; mein Judentum bedeutete mir wenig, und die Tschechen haßte ich nicht. Ich paßte nicht in diese Stadt, und dann wurde sie mir durch ein Erlebnis, das ich hatte, vollends verleidet.

Ich war zwanzig Jahre alt; in diesem Alter gerät der Jüngling leicht unter den Einfluß eines älteren Mannes, den er bewundert. In meinem Fall war es ein gewisser Fritz P., der Sohn eines Postmeisters aus einer deutschen Kleinstadt in Westböhmen. Er war schon fast dreißig Jahre alt und noch immer Student, dies aber nicht etwa, weil er unfähig gewesen wäre oder nicht genügend fleißig studiert hätte. Im Gegenteil, er betrieb, so wie der selige Faust, eine Wissenschaft nach der anderen, gelangte jedesmal fast vor die Prüfung und ließ den Gegenstand dann wieder liegen, weil ihn plötzlich ein anderer mehr zu interessieren begann. Er war wie die beiden Männer in Flauberts »Bouvard und Pécuchet«, die durch das ganze große Gebiet des menschlichen Wissens spazierengehen und nirgends hingelangen. Während meines Prager Jahres studierte P. gerade ostasiatische Philologie; er konnte aber die Prüfung darin nicht machen, weil der Professor, der ihn hätte prüfen sollen, nicht genügend Koreanisch verstand; und just auf das Studium dieser Sprache hatte P. sich geworfen.

In politischer Hinsicht war dieser merkwürdige junge Mensch wie alle Sudetendeutschen ein Nationalist. Er ließ zwar einige von uns Juden als Menschen und als Deutsche gelten, aber nur, wenn wir uns als »national zuverlässig« erwiesen. Solange ich mit ihm umging, durfte ich ein Heft oder einen Bleistift keineswegs in der nächsten Papierhandlung kaufen, denn ihr Besitzer war ein Tscheche. Ich mußte einen oder zwei Kilometer gehen, bis zu einem deutschen Geschäft. Auch achtete Fritz P., wenn wir zusammen ins Museum gingen (er war ein großer Kenner alter Kunst), mit Strenge darauf, daß mir nicht etwa ein altitalienisches Meisterwerk besser gefiele als ein altdeutsches. Ich war ein Jude, der sich selbst zum Deutschtum zu erziehen hatte; so durfte ich wohl für Dürer schwärmen, aber nicht für Tizian.

Widerstrebend genug, aber dem Einfluß des Freundes erliegend, unterwarf ich mich einige Monate lang solchem Zwang. Dann endete meine Freundschaft mit P. ganz plötzlich. Wie alle anderen Wissenschaften trieb Fritz auch Rassenkunde; und eines Tages sagte er mir, ganz sanft und zögernd, er sei nun doch zu dem Schluß gelangt, die semitische Rasse sei im allgemeinen minderwertig und die arische die einzig wertvolle.

Es war mein erster persönlicher Zusammenstoß mit jenen Rassentheorien, deren politische Auswirkung so tief in das Leben meiner Generation eingreifen sollte. Mein Instinkt reagierte sofort und kriegerisch. Ich sagte Fritz P., ich wolle ihm die Gelegenheit entziehen, mit dem Angehörigen einer minderwertigen Rasse freundschaftlich zu verkehren, und grüßte ihn von da an nicht mehr.

Es war eine schmerzliche Operation, und sie verstärkte meine Sehnsucht nach den Wiener Freunden. Einige Tage nach dem Zwischenfall kündigte ich an, ich wolle im nächsten Semester nicht mehr in Prag studieren, sondern nach Wien zurückkehren. Mein Vater verstand mich nicht. Ich hatte, seitdem ich in Prag war, mit Fleiß studiert und im Seminar kleine Erfolge erzielt. Mein Vater fürchtete, in Wien würde ich wieder allerlei revolutionären Einflüssen anheimfallen und schließlich verbummeln. Was fehlte mir in Prag? Wir hatten eine schöne Wohnung, und unsere ausgezeichnete tschechische Köchin Tiny bereitete täglich Mahlzeiten, die die Kenner priesen.

Mein Vater tat, was vor und nach ihm viele Väter versucht haben, er unternahm es, den rebellischen Sohn auszuhungern. Er verbot mir nicht geradezu nach Wien zu gehen, aber er sagte, mehr als zwei Kronen täglich könne er mir für meinen Lebensunterhalt nicht geben; den Rest müsse ich mir selbst durch Stundengeben verdienen.

Väter kennen ihre Söhne selten. Ich nahm den Vorschlag sofort mit Entschiedenheit an und beendete am Schluß des Studienjahres meinen Aufenthalt in Prag.

4. Kapitel

In den drei folgenden Jahren lernte ich Wien anders kennen als zuvor. Ich lebte nicht mehr, wohl behütet und noch besser gefüttert, im Schoß einer bürgerlichen Familie; ich war, durch eigene Wahl, ein Angehöriger des intellektuellen Proletariats geworden, ein armer Student, der in seiner »Bude« die Wanzen zu fürchten hatte und in der zweiten Monatshälfte den Hunger. Aus dieser Perspektive sah die vielbesungene, fröhliche Wienerstadt ein wenig anders aus.

Mein Vater machte Ernst mit dem Aushungern. Er zahlte am Anfang der Semester meine Kollegiengelder, und er sandte mir jeden Monat mit großer Pünktlichkeit sechzig Kronen. Das waren ungefähr fünfzehn Dollar, und vielleicht hätte ein größerer Sparmeister als ich damit auskommen können; ich konnte es nicht. Wenn ich von den sechzig Kronen die Miete für eines der jämmerlichen »Kabinette« gezahlt hatte, in denen die Wiener Studentenboheme zu wohnen pflegte – Fenster auf den Gang hinaus, ein Klosett pro Stockwerk und keinerlei Badezimmer, Petroleum in der Lampe und Ungeziefer im Schlafdiwan –, dann blieb mir vielleicht Geld genug übrig, um mittags in der »Mensa Academica« das billigste Menü zu essen und am Abend ein Stück Brot und Wurst. Mir aber schmeckte es in der »Mensa« nicht, dem Speiselokal der Universität, wo man Polenta zu essen bekam und mit schlechtem Fett eingebrannte Bohnen. So ging ich, ein zügelloser Epikuräer, einmal oder zweimal in ein anständiges Restaurant essen, wo es solchen Luxus gab wie ein wirkliches Gulasch und ein weißes Tischtuch. Ich verkehrte in Kaffeehäusern. Ich pumpte meinen ebenso armen Freunden und Kollegen gelegentlich eine Krone und bekam sie selten zurück; dabei hatte ich selbst eine angeborene Abneigung gegen das Schuldenmachen. Folglich ging mir ungefähr am Fünfzehnten jedes Monats mit großer Regelmäßigkeit das Geld aus, obgleich ich einige schlecht bezahlte Nachhilfestunden an Mittelschüler aus bürgerlichen Familien erteilte.

Ich war ein Virtuose des Hungerns: In den ersten Tagen des Monats, wenn ich noch Wurst und Käse zum abendlichen Brot hatte, pflegte ich den größeren Teil des Brotes in eine besondere Schublade zu legen, in der auch eine Tube mit scharf gesalzener, knallroter Sardellenpasta residierte. Später im Monat, wenn die Wurst den Weg allen Fleisches gegangen war, weichte ich das aufgesparte, nun längst steinhart gewordene Brot in Wasser auf und bestrich es mit dem roten Sardellenzeug. Dann ging ich ins Künstlercafé gegenüber der Universität, wo sich meine Freunde, die »Ethiker«, regelmäßig versammelten, um einander ihre Literaturprodukte vorzulesen. Hier konsumierte ich einen »Kapuziner« – die kleinste und billigste Schale Kaffee, die der Wirt verkaufte – trank mindestens zehn Gläser von dem guten Wiener Wasser, das Wiener Kaffeehauskellner ungefragt immer wieder vor den Kunden stellen, diskutierte mit meinen Freunden über ihre Verse oder die Tagespolitik, las zwanzig Zeitungen in vier oder fünf Sprachen und kehrte um Mitternacht in mein dumpfiges Kabinett zurück. Dieses Heimkommen nach zehn Uhr abends war jedesmal ein finanzieller Exzeß, weil in Wien damals kein Mensch einen Hausschlüssel besaß: Man klingelte den Hausmeister heraus und zahlte ihm für’s Aufmachen das »Sperrgeld« – nur zehn Heller, aber das war eine erhebliche Summe für jemand, der nur ein Stück altbackenes Brot und eine Menge Wasser im Magen hatte.

Wenn mir das Hungern zuviel wurde, konnte ich mir jederzeit eine ausgezeichnete Mahlzeit verschaffen, indem ich zu den wohlhabenden Verwandten ging, an denen es mir in Wien nicht fehlte. An Tagen, an denen sie keine reputierlicheren Gäste geladen hatten, war meinen behäbigen Onkeln und Tanten der junge Neffe willkommen. Aber sie gaben mir außer einem guten Essen für meinen Geschmack zu viele ausgezeichnete Ratschläge auf mein ihnen verdächtiges Privatleben und auf meine ihnen noch verdächtigeren politischen, sozialen und literarischen Gesinnungen bezüglich. So ersparte ich meinem Onkel, dem k. k. Notar, und meinem Onkel, dem Advokaten, in der Regel meinen kompromittierenden Anblick.

Ich weiß nicht, wieso ich von Anfang an bei ihnen in den Ruf gekommen war, »verbummelt« zu sein; ich war es gar nicht. An der Universität war ich, wenigstens in den ersten Jahren, ein besonders eifriger Student. Ich hatte, mit dem Hintergedanken an eine literarische Laufbahn, die deutsche und die romanischen Literaturen studieren wollen. Aber der sehr berühmte Lehrer, der damals in Wien deutsche Literaturgeschichte vortrug, Jakob Minor, scheuchte mich aus seinem Kolleg und aus der germanischen Philologie, weil ich seine Vorlesung über Goethes »Faust« zu langweilig fand. Der Gute hatte den »Prolog im Himmel« zu interpretieren angefangen und führte uns Schüler langsam durch die herrlichen Verse, bis er zu einem gewissen Beistrich kam, der in einigen Lesarten des »Faust« stand, in anderen aber nicht. An diesem Komma blieb Professor Minor hoffnungslos hängen. Als er zwei Wochen hindurch zweifellos sehr wichtige und scharfsinnige Bemerkungen zu diesem Beistrich im »Faust« gemacht hatte, ging ich auf Zehenspitzen zum Hörsaal hinaus und kam nicht wieder.

Der Lehrer der romanischen Philologie, Wilhelm Meyer-Lübke, faszinierte mich von Anfang an. Er war ein deutscher Schweizer und die Natur hatte ihm eine unverbesserliche Zunge mitgegeben, die nur zürcherische Kehllaute hervorbringen konnte; mit eben dieser Zunge sprach er mehr Sprachen und Dialekte als der selige Mezzofanti. Er war, in der Theorie, ein großer Phonetiker, und er hatte in großen, grundlegenden Büchern die Entwicklung aller romanischen Sprachen aus dem Spätlateinischen lichtvoll dargestellt. Die Literaturen interessierten ihn weniger, und er trug sie nur vor, wenn er unbedingt mußte. Die praktische Kenntnis der Sprachen, so ziemlich aller Sprachen, setzte er bei jedermann und besonders bei seinen Schülern als selbstverständlich voraus. Gleich anfangs, als ich ihn um Aufnahme in sein Seminar bat, sagte er mir schlicht und einfach, ich solle am Ende der nächsten Woche ein altportugiesisches Sonett interpretieren, das er mir angab. Es waren die ersten portugiesischen Zeilen, die ich sah; dennoch gelang es mir nach zehn Tagen, die Probe irgendwie zu bestehen. Als ich etwas später den Professor um eine wissenschaftliche Auskunft bitten kam – es geschah in seiner Privatwohnung in der Türkenschanzstraße – langte er mir eine Broschüre vom Bücherregal: »Lesen Sie das, aber bringen Sie mir es bald zurück!« Die Broschüre war schwedisch geschrieben. Meyer-Lübke war der Ansicht, daß ein Student der Philologie imstande sein müßte, mindestens die großen europäischen Sprachen ausnahmslos soweit zu beherrschen, daß er Bücher seines Fachs in ihnen lesen konnte. Ich habe es wohl nicht ganz so weit gebracht, aber ich habe später während meiner Laufbahn als Journalist und Weltreisender, als ich längst alle romanische Philologie vergessen hatte, Ursache gehabt, Meyer-Lübke dankbar für seine linguistischen Ansprüche an uns Schüler zu sein. Wenn man mich fragt, wieviele Sprachen ich verstehe, pflege ich ein arrogantes Gesicht zu schneiden, und zu sagen: »Ich habe sie nicht gezählt.«

Ich war also in diesem ersten Wiener Universitätsjahr tagsüber sehr fleißig in meinem Studienfach. Außerdem hatten die Wiener Bibliotheken es mir angetan; ich war ein gieriger Allesleser und verschlang historische, geographische, politische Bücher und vor allem die schöne Literatur aller Nationen in indigesten Mengen. Das viele Lernen und Lesen, verbunden mit meiner schlechten Ernährung, dem Rauchen und den abendlichen Sitzungen im Kaffeehaus verursachte mir (ich war von Haus aus schwächlich) bald allerlei Nervenzustände. Ein Freund, der Medizin studierte, riet mir, einmal den besten Nervenarzt Wiens zu konsultieren; er sagte, das sei Professor Sigmund Freud. Ich kam, ein nicht zahlender Patient, in sein Ordinationszimmer in der Berggasse. Er muß sich für mich interessiert haben, denn er lud mich ein, wieder und immer wieder zu kommen, nicht in das Ordinationszimmer, sondern in seine Privaträume, in denen es tausend schöne Dinge zu sehen gab, Tanagrafigürchen, die Statuetten ägyptischer Götter und mit Hieroglyphen geschmückte Sarkophage. Der Mann, der später das Buch über den »Mann Moses« schreiben sollte, interessierte sich schon damals für Ägyptologie fast so sehr wie für die Neurosenlehre. In Ägypten hatte er auch den starken türkischen Kaffee kennengelernt, »heiß wie die Hölle und süß wie die Liebe«, den er mir vorzusetzen pflegte, mich zugleich in seiner Eigenschaft als Nervenarzt gravitätisch vor dem Kaffeegenuß warnend.

Ich habe das Glück gehabt, nach Sigmund Freud noch einigen anderen wirklichen Genies und einer großen Menge bedeutender und berühmter Männer und Frauen zu begegnen; aber dieser erste Umgang mit einem wirklich großen Mann hat auf mich vielleicht stärker eingewirkt als irgendeine der späteren Begegnungen. Ich war wie berauscht von Freuds menschlicher Persönlichkeit, von der Magie, die von diesem geistvollen, langen Gesicht mit dem Kinnbart ausstrahlte; ich weiß nicht, ob ich damals viel von Freuds neuer Wissenschaft, der Psychoanalyse, begriffen habe; ich begriff nur, daß dieser Mann, ein neuer Columbus, im Begriffe war, neue, gänzlich unbekannte Ozeane zum erstenmal zu befahren, neue Kontinente der menschlichen Seele zu erreichen – ob die oder jene Folgerung, die er aus seinen Entdeckungen zog, im einzelnen richtig war, konnte ich nicht beurteilen, und es galt mir auch gleich. Mit jugendlicher Entrüstung nahm ich wahr, wie dieser große Österreicher schon damals von der Wiener Universität und dem ganzen offiziellen Österreich planmäßig schlecht behandelt und zurückgesetzt wurde. Er konnte es durch viele Jahrzehnte nicht einmal zum »ordentlichen« Universitätsprofessor bringen! Ich sprach mit Heftigkeit davon, und Freud beschwichtigte mich, behaglich lächelnd.

»Lassen Sie es gut sein; es kommt der Tag, an dem ich etwas altersschwach werde; dann wird in der ›Neuen Freien Presse‹ stehen, daß ich zu den ›Kapazitäten‹ Wiens gehöre, – und man macht mich darauf zum ordentlichen Professor. Und noch später vertrottle ich eines Tages vollkommen, dann werde ich zur ›Zelebrität‹ befördert – und zum österreichischen Hofrat.«

Er hat sich geirrt, Österreich, die Monarchie und die Republik, ist zugrunde gegangen, ohne daß ihm die letztere Ehre zuteil geworden wäre. In Amerika und Australien hatte Freud zahllose und begeisterte Verehrer. In Wien galt seine der katholischen Kirche verdächtige Lehre als der Sexualexzeß eines perversen Juden.

Mein reger Umgang mit Freud dauerte bis zum Sommer 1903, den der Professor in Berchtesgaden verbrachte. Da ich während meiner Ferien in die Nähe kam, fuhr ich an einem Nachmittag hinüber, ihn zu besuchen. Ich fand ihn im Garten sitzend; er spielte im Schatten eines großen Baumes mit zwei Freunden Karten, nicht etwa Bridge, sondern das österreichische Nationalspiel Tarock, dem er mit einer Art humoristischer Leidenschaft ergeben war. Freud ließ sich in der Partie durch meine Ankunft nicht stören. Er bat mich, Platz zu nehmen und ihm zu kiebitzen, und gab mir unterdessen eine Havanna-Zigarre aus einer Kiste zu rauchen, die ein amerikanischer Bewunderer ihm unlängst mitgebracht hatte. Jede Zigarre in dieser Kiste kostete einen Dollar, worauf Freud ein bißchen stolz war. Um keinen Preis hätte ich ihm gesagt, daß ich eine so schwere Zigarre noch nie geraucht hatte und mich vor ihr fürchtete. Es dauerte nicht lange, ehe ich aufstand, die Zigarre weglegte, und mich, nennen wir es: ein wenig im Garten erging. Ich kehrte blaß, obwohl erleichtert wieder und setzte mich still hin – da sah der Professor die halb gerauchte Havanna in der Aschenschale liegen und fragte mich, ob ich sie denn nicht ausrauchen wollte. Ich war ein sehr junger Mensch und fand es heldenhaft, tapfer weiter zu rauchen, bis ich das verdammte Ding irgendwie bewältigt hatte. Freud merkte nichts und bot mit gastfreundlich eine zweite Havanna an. Ich tat, als lehnte ich sie nur aus Bescheidenheit ab.