Die Familie Mann - Hans Wißkirchen - E-Book

Die Familie Mann E-Book

Hans Wißkirchen

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Beschreibung

Rowohlt E-Book Monographie Die Familie Mann repräsentiert ein Kapitel deutscher Zeit- und Kulturgeschichte. Der britische Diplomat Harold Nicolson nannte die Manns einmal eine «amazing family», eine erstaunliche Familie: voller Talente und Begabungen, Widersprüche und Verwicklungen. Die ungleichen Brüder Heinrich und Thomas Mann, ihre Vorfahren und Geschwister, ihre Lebenspartner und Nachkommen werden im vorliegenden Buch porträtiert. Ihre Biographien verdichten sich zu einer einzigartigen Familienchronik – und zugleich spiegelt sich in den Schicksalen der Familie Mann eine ganze Epoche. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Seitenzahl: 246

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Hans Wißkirchen

Die Familie Mann

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Rowohlt E-Book Monographie

 

Die Familie Mann repräsentiert ein Kapitel deutscher Zeit- und Kulturgeschichte. Der britische Diplomat Harold Nicolson nannte die Manns einmal eine «amazing family», eine erstaunliche Familie: voller Talente und Begabungen, Widersprüche und Verwicklungen. Die ungleichen Brüder Heinrich und Thomas Mann, ihre Vorfahren und Geschwister, ihre Lebenspartner und Nachkommen werden im vorliegenden Buch porträtiert. Ihre Biographien verdichten sich zu einer einzigartigen Familienchronik – und zugleich spiegelt sich in den Schicksalen der Familie Mann eine ganze Epoche.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Über Hans Wißkirchen

Hans Wißkirchen, geb. 1955 in Düsseldorf. 1985 Promotion über Thomas Manns Romane «Der Zauberberg» und «Doktor Faustus». Seit 1993 Leiter des Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrums im Buddenbrookhaus der Hansestadt Lübeck. Seit 2006 Honorarprofessor für Neuere deutsche Literatur an der Universität zu Lübeck und Leitender Direktor sämtlicher Lübecker Museen. Präsident der Deutschen Thomas Mann Gesellschaft und Vizepräsident der Heinrich Mann Gesellschaft.

Hans Wißkirchen veröffentlichte zahlreiche Arbeiten vor allem über Heinrich und Thomas Mann. Unter anderem ist er Mitherausgeber des Katalogs «Heinrich und Thomas Mann. Ihr Leben und Werk in Text und Bild», Lübeck 1994, Autor des Bandes «Spaziergänge durch das Lübeck von Heinrich und Thomas Mann», Zürich 1996, und Mitherausgeber des Katalogs zur Neugestaltung des Buddenbrookhauses zur Expo 2000 «Buddenbrooks. Neue Blicke in ein altes Buch», Lübeck 2000.

Inhaltsübersicht

Zur EinführungDie Vorfahren und die Jahre in Lübeck (1600–1894)Die Vorkriegsjahre in München (1894–1914)Der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik (1914–1933)Das Exil (1933–1945)Die ersten Nachkriegsjahre (1945–1955)Bis in die Gegenwart (1955–2015)ZeittafelHeinrichThomasFamilienereignisseZeitgeschichteErikaKlausGoloMonika, Elisabeth und MichaelZeugnisseBibliographie1. Die Familie Mann über sich selbst2. Sekundärliteratur über die Familie Mann3. Biographien, Lebenszeugnisse und Dokumente4. Werke der Familienmitglieder5. Bibliographien, Hilfsmittel, Forschungsberichte6. Archive, Forschungs- und GedenkstättenNamenregisterStammbaum der Familie MannAnmerkungen

Zur Einführung

Ich glaubte … ich glaubte … es käme nichts mehr … – mit diesen Worten des kleinen Hanno endet das siebte Kapitel von Thomas Manns Erstlingsroman Buddenbrooks. Der letzte der Buddenbrooks antwortet damit auf die heftigen Vorwürfe seines Vaters. Was war geschehen? In den Familienpapieren hatte der Junge mit dem Lineal einen schönen, sauberen Doppelstrich (GW I, 523) unter seinen Geburtseintrag gezogen und damit die Familiengeschichte beendet. Was für die Buddenbrooks stimmte, wurde im Leben auf das glänzendste widerlegt. Auf den Roman vom Verfall einer Familie – so der Untertitel – folgte in der Realität der Aufstieg der Familie Mann. Ihre Geschichte ist zu einer grandiosen Erfolgsstory in unserem Jahrhundert geworden, und ein Ende ist noch nicht abzusehen.

Natürlich wird immer wieder nach den Gründen gefragt. Eine «amazing family» hat ein englischer Journalist die Manns in den späten dreißiger Jahren genannt. Schon damals war eine Wahrnehmung vorherrschend, die heute immer mehr zur Gewissheit wird: In dieser Familie gehen die private Geschichte und die große Geschichte des 20. Jahrhunderts eine ganz besondere Verbindung ein.

Und dann kommt hinzu: Nirgendwo sonst finden sich in einer Familie des 20. Jahrhunderts so viele geniale und talentierte Männer und Frauen, die ihre Zeit mit den unterschiedlichsten künstlerischen Temperamenten in Worte gefasst und teilweise mitgestaltet haben. Die Brüder Thomas und Heinrich Mann stehen am Anfang dieser literarischen Traditionslinie. Klaus, Erika und Golo Mann, Thomas Manns Kinder, haben sie bis in die unmittelbare Gegenwart fortgesetzt. Nicht zuletzt ist zu reden von den Frauen, unter denen Katia, die Ehefrau Thomas Manns, herausragt.

Eine Familiengeschichte muss immer gewichten. Bei der Familie Mann hat man es leicht, da die Nachwelt ihr Urteil in aller Eindeutigkeit gesprochen hat. Als der größte Schriftsteller dieser Familie und für viele auch der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts gilt Thomas Mann. Das hat auch die Familie geprägt. Er ist aus diesem Grund die Leitfigur der folgenden Familiengeschichte.

Beiseitegelassen werden mussten viele Einzelheiten. Wer bei dieser Familie alles erzählen will, hätte eine unendliche Geschichte zu schreiben. Im Mittelpunkt stehen exemplarische Ereignisse. Wer an Einzelfragen interessiert ist, der sei auf die großen Biographien verwiesen, die inzwischen für eine Vielzahl von Familienmitgliedern vorliegen.[1] Auf den folgenden Seiten soll etwas Übergreifendes dargestellt werden – der Zusammenklang; das Beziehungsgeflecht, in dem die einzelnen Mitglieder untereinander standen.

Mancher ist der Meinung: Die Familie Mann gehört nicht mehr den Germanisten allein. Ihre Geschichte greift über die der Literatur hinaus. Das ist sicher richtig und lässt sich durch Tatsachen belegen. Erika Mann war schon 1965 hocherfreut, dass anlässlich des zehnten Todestages ihres Vaters ein Kritiker die Manns mit der damals berühmten Familie Hesselbach, den Stars einer hessischen Fernsehserie, verglich. Das war freilich nur der Anfang! Und ganz sicher hätte Erika Mann an dem, was in den vergangenen Jahren an Enthüllungsjournalismus über die Manns gedruckt und gesendet worden ist, nicht mehr so ungeteilte Freude gehabt.

Dabei hatte schon Klaus Mann vorausgeahnt, was geschehen würde, als er in seinem Tagebuch schrieb: Was für eine sonderbare Familie sind wir! Man wird später Bücher über uns – nicht nur über einzelne von uns – schreiben.[2]

Wer immer über die Familie Mann schreiben will, muss von drei verschiedenen Bereichen ausgehen, die nicht säuberlich voneinander zu trennen sind, sondern sich immer wieder mischen und verschränken: dem literarischen, dem politischen und dem persönlichen.

Natürlich steht die Literatur am Anfang. Romane wie Thomas Manns Buddenbrooks, Der Zauberberg und Doktor Faustus, Heinrich Manns Professor Unrat und Der Untertan sowie Klaus Manns Mephisto und Golo Manns Geschichtsroman Wallenstein – um nur die wichtigsten zu nennen – gehören zu den bleibenden literarischen Leistungen des 20. Jahrhunderts. Sie bilden das Fundament für die überragende Bedeutung der Familie Mann.

Sodann muss man sich vor Augen halten, welche historische Spanne die engere Familiengeschichte umfasst. Sie reicht vom Kaiserreich, dem Ersten Weltkrieg, der deutschen Revolution von 1918/19 über die Weimarer Republik und das Dritte Reich Adolf Hitlers, den Zweiten Weltkrieg und die Zeit des Kalten Krieges bis in die Gegenwart, zur deutschen Wiedervereinigung. Am Beginn dieser Zeitspanne fährt Thomas Mann als kleiner Junge mit der Kutsche nach Travemünde, damals eine halbe Tagesreise, und sein Sohn Golo Mann hat die deutsche Wiedervereinigung noch kommentierend erlebt. Dazwischen liegt ziemlich genau ein Jahrhundert deutscher Geschichte, das die Manns begleitet haben.

Und da sind schließlich, als notwendige Ergänzung der literarischen Produktivität und der historischen Zeitgenossenschaft, die privaten Dinge des Lebens. Es finden sich viele Formen der Liebe, und es gibt Drogen und den Hang zum Tode. Es gibt brüderliche Entzweiung und Versöhnung. Auch das gehört zur Familie Mann, und es wird auf den folgenden Seiten erwähnt. Freilich gehört es nicht ins Zentrum – dort steht die Literatur. Und in diesem Sinne soll begonnen werden.

Die Vorfahren und die Jahre in Lübeck (1600–1894)

Wer bin ich, woher komme ich, daß ich bin, wie ich bin, und mich anders nicht machen noch wünschen kann? (GW XII, 115) Es ist Thomas Mann, der dies in den Betrachtungen eines Unpolitischen fragt, jener 1918 erschienenen großen Bekenntnisschrift, die unter anderem eine Suche nach dem geistigen Herkommen ist. Seine erste Antwort lautet: Ich bin Städter, Bürger, ein Kind und Urenkelkind deutsch-bürgerlicher Kultur. Das mütterlich-exotische Blut mochte als Ferment, mochte entfremdend und abwandelnd wirken, das Wesen, die Grundlagen veränderte es nicht, die seelischen Hauptüberlieferungen setzte es nicht außer Kraft. Waren meine Ahnen nicht Nürnberger Handwerker von jenem Schlage, den Deutschland in alle Welt und bis in den fernen Osten entsandte, zum Zeichen, es sei das Land der Städte? Sie saßen als Ratsherren im Mecklenburgischen, sie kamen nach Lübeck, sie waren «Kaufleute des römischen Reiches». (GW XII, 115)

Die Geschichte der Familie Mann lässt sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Und tatsächlich sind im Meisterbuch 1534–1571 des Nürnberger Stadtarchivs acht Familien mit dem Namen Mann aufgeführt. Auch in Mecklenburg kann man schon im Spätmittelalter den Namen Mann nachweisen. Eine direkte Linie zwischen dieser und der Nürnberger Linie ist allerdings nicht zweifelsfrei zu belegen. Die eindeutig nachweisbare Linie der Vorfahren beginnt mit dem in Parchim ansässigen, 1611 geborenen Kaufmann Johann Mourer Mann. Seine zwei Söhne heiraten im mecklenburgischen Grabow, wo der ältere von ihnen 1694 zum Bürgermeister gewählt wurde. Der Sohn des jüngsten Bruders, Siegmund Mann, zog 1713 nach Rostock. Einer seiner Söhne, Joachim Siegmund, erlernte den Beruf des Brauers und Kaufmanns. Dessen einziger Sohn Johann Siegmund kam 1775 als Kaufmannslehrling nach Lübeck und gründete dort 1790 die Firma «Johann Siegmund Mann, Commissions- und Speditionsgeschäft». Sein Sohn, Johann Siegmund Mann jun. – der Großvater Heinrich und Thomas Manns – heiratete 1837 als zweite Frau Elisabeth Marty, die Tochter eines wohlhabenden, aus der Schweiz stammenden Kaufmanns, der ein aktives Mitglied der angesehenen reformierten Gemeinde in Lübeck war, und die Familie kam somit erstmals mit dem Süden in Kontakt.

Wir sind damit bei den Eltern von Heinrich und Thomas Mann angelangt. Der Vater, Thomas Johann Heinrich Mann, 1840 geboren, übernahm die Firma 1862. Im Jahre 1877 wird er zum Senator für Wirtschaft und Finanzen des Stadtstaates Lübeck gewählt. Er war damit nach dem Bürgermeister der wichtigste Politiker und dem Range nach Minister eines deutschen Bundesstaates. Denn Lübeck war, und das ist für Heinrich und Thomas Mann eine für das Leben prägende Erfahrung gewesen, bis 1937 ein eigenständiger Staat, eine kleine res publica mit allen dafür notwendigen Institutionen.

Der Vater war für beide Brüder eine dominante Figur, gerade weil sie sich so ganz anders entwickelten, weil sie seinem Wunsche, die Firma weiterzuführen, nicht entsprachen. Wie oft im Leben habe ich mit Lächeln festgestellt, mich geradezu dabei ertappt, daß doch eigentlich die Persönlichkeit meines verstorbenen Vaters es sei, die als geheimes Vorbild mein Tun und Lassen bestimme. (GW XI, 386) So Thomas Mann in seiner berühmten Rede Lübeck als geistige Lebensform. Und auch Heinrich Mann spiegelt das eigene Arbeitsethos, das den Zeitgenossen immer wieder aufgefallen ist, in der Person des Vaters, wenn er in seiner großen Autobiographie Ein Zeitalter wird besichtigt dessen Arbeit als die geheime Folie des eigenen Tuns schildert: Unser Vater arbeitete mit derselben Gewissenhaftigkeit für sein Haus wie für das öffentliche Wohl. Weder das eine noch das andere würde er dem Ungefähr überlassen haben. Wer erhält und fortsetzt, hat nichts anderes so sehr zu fürchten wie das Ungefähr. Um aber erst zu gestalten, was dauern soll, muß einer pünktlich und genau sein. Es gibt kein Genie außerhalb der Geschäftsstunden.[3]

In diese norddeutsche Kaufmannswelt, die sich seit dem Mittelalter langsam und stetig herausgebildet hatte und gegenüber dem restlichen wilhelminischen Deutschland immer noch eine stark konservativ-traditionelle Ausprägung besaß, kam nun die Mutter, kam Julia Bruhns, als etwas ganz Exklusives und Besonderes. In ihrer Lebensgeschichte finden sich der Norden und der Süden auf zugespitzte Weise gemischt. Ihr Vater, der Lübecker Weinhandelskaufmann Johann Ludwig Bruhns, brach mit 19 Jahren nach Brasilien auf und gründete 1841 in São Paulo eine Exportfirma für Kaffee und Zucker, die sich rasch und glänzend entwickelte. 1848 heiratete er Maria da Silva, die innerhalb von sieben Jahren sechs Kinder zur Welt brachte. 1851 schließlich wurde Julia geboren. Nach dem Tod der Mutter im Jahre 1856 siedelte der Witwer mit seinen Kindern nach Lübeck um. Er fühlte sich freilich in der protestantischen Enge des Nordens nicht mehr wohl und kehrte schon bald zurück in den Süden, nach Brasilien. Julia Mann blieb mit ihrer Schwester in einer Pension in Lübeck zurück. 1869 heiratete sie Thomas Johann Heinrich Mann.

Der Kulturschock, den Julia Mann erlebte, als sie im Alter von sieben Jahren von Brasilien nach Lübeck verpflanzt wurde, muss immens gewesen sein. Den ersten Schnee hielt sie für Zucker, und ihre Ankunft in Lübeck hat sie in einem autobiographischen Bericht festgehalten: Da die mitgebrachten, drüben getragenen seidnen Kleidchen […] ihnen bald zu klein sein würden, auch für die neuen Verhältnisse nicht paßten, wurden ihnen in Hamburg gelbe Nanking-Kleider gekauft. Mit diesen und den großen, von Rio mitgebrachten weißen Panama-Hüten über den dunklen Gesichtern, fielen sie, in Begleitung ihrer Negerin, in der kleinen Stadt – ihr neues Domizil, in welches sie darauf fuhren – sehr auf. So mußten sie sich gefallen lassen, daß ihnen auf den Straßen ganze Züge von johlenden Kindern nachliefen, bis Anna, um sie wenigstens eine Weile loszuwerden, Kuchen und Bonbons kaufte, das auf die Straße warf, wo es von den Straßenkindern aufgesammelt wurde.[4]

Die spätere Wirkung der Mutter auf die Kinder und ihre Rolle bei der Erziehung beschreibt Thomas Mann folgendermaßen: Ihre sinnlich-praeartistische Natur äußerte sich in Musikalität, geschmackvollem, bürgerlich ausgebildetem Klavierspiel und einer feinen Gesangskunst, der ich meine gute Kenntnis des deutschen Liedes verdanke. Sie war ja in sehr zartem Alter nach Lübeck verpflanzt worden und verhielt sich, solange sie den großen Hausstand leitete, durchaus als angepaßtes Kind der Stadt und ihrer oberen Gesellschaft. Aber Unterströmungen von Neigungen zum «Süden», zur Kunst, ja zur Bohème waren offenbar immer vorhanden gewesen und schlugen nach dem Tode ihres Mannes und der Aenderung der Verhältnisse durch, was die prompte Übersiedlung nach München erklärt.[5]

Julia Mann brachte fünf Kinder zur Welt. Die Söhne Heinrich und Thomas waren die ersten. Luiz Heinrich Mann wurde am 27. März 1871 geboren. Am 6. Juni 1875 kam Paul Thomas Mann auf die Welt.

Die Brüder Mann hatten eine glückliche und wohlbehütete Kindheit. Die Familie besaß ein großes und repräsentatives Haus in der Beckergrube 52, und dann gab es noch das Stammhaus der Familie in der Mengstraße 4. Hier wohnte die Großmutter, hier spielten die Brüder als Jungen sehr oft, und hier fanden vor allem die Weihnachtsfeiern für die ganze Familie statt. Das Haus ist inzwischen als «Buddenbrookhaus» weltberühmt und birgt das Heinrich-und-Thomas-Mann-Zentrum mit einer Dauerausstellung zu Leben und Werk von Heinrich und Thomas Mann. Alle anderen Häuser, in denen die Manns gewohnt haben, also auch das Geburtshaus Thomas Manns, sind im Krieg zerstört worden.

Bei der glücklichen Kindheit gilt es, eine Einschränkung zu machen. Bei Thomas Mann lautet die Formel: Er hätte eine glückliche Kindheit gehabt, wäre da nicht die Schule gewesen: Ich habe eine dunkle und schimpfliche Vergangenheit, so daß es mir außerordentlich peinlich ist, vor Ihrem Publikum davon zu sprechen. Erstens bin ich ein verkommener Gymnasiast. Nicht daß ich durchs Abiturientenexamen gefallen wäre, – es wäre Aufschneiderei, wollte ich das behaupten. Sondern ich bin überhaupt nicht bis Prima gelangt; ich war schon in Sekunda so alt wie der Westerwald. Faul, verstockt und voll liederlichen Hohns über das Ganze, verhaßt bei den Lehrern der altehrwürdigen Anstalt, ausgezeichneten Männern, […] so saß ich die Jahre ab, bis man mir den Berechtigungsschein zum einjährigen Militärdienst ausstellte. (GW XI, 329f.)

Ohne Umschweife gesagt: Thomas Mann war ein schlechter, ein sehr schlechter Schüler, der mit 18 Jahren gerade die mittlere Reife schaffte. Er spricht aber auch von einer schwer bestimmbaren Überlegenheit (GW XI, 330), die ihn, trotz der schlechten Leistungen, den Mitschülern gegenüber doch als etwas Besonderes erscheinen ließ. Wir wissen wenig über die Schulzeit Thomas Manns, aber es steht zu vermuten, dass er damit seine beginnenden literarischen Neigungen meinte. Schon früh nämlich hatte sich Thomas Mann auf das Schreiben verlegt. Ausgangspunkt war sein träumerischer Spieltrieb. Er war sicher nicht der «normale» Sohn eines Senators, der das Katharineum, das angesehenste Gymnasium der Stadt besuchte, um später die Firma zu übernehmen. Was er liebte, waren keineswegs die praktischen Angelegenheiten des Lebens, etwa das Auswendiglernen der Namen der firmeneigenen Kornspeicher, sondern ganz andere Betätigungen.

Zwei Dinge sind es, die er später immer wieder als Refugien hervorhebt, als geschützte Räume und Zeiten, die das Glück seiner Jugend ausmachten. Einer dieser Räume war das Meer in Travemünde, wo jedes Jahr die Sommerferien verbracht wurden. Noch 1926, fast vierzig Jahre nach den Ferien der Kinderzeit, ist die Bewegtheit zu spüren, wenn er seinen Mitbürgern in der Rede Lübeck als geistige Lebensform über diese Zeit berichtet: Da ist das Meer, die Ostsee, deren der Knabe zuerst in Travemünde ansichtig wurde, dem Travemünde von vor vierzig Jahren mit dem biedermeierlichen alten Kurhaus, den Schweizerhäusern und dem Musiktempel, in dem der langhaarig-zigeunerhafte kleine Kapellmeister Heß mit seiner Mannschaft konzertierte und auf dessen Stufen, im sommerlichen Duft des Buchsbaums, ich kauerte – Musik, die erste Orchestermusik, wie immer sie nun beschaffen sein mochte, unersättlich in meine Seele ziehend. An diesem Ort, in Travemünde, dem Ferienparadies, wo ich die unzweifelhaft glücklichsten Tage meines Lebens verbracht habe, Tage und Wochen, deren tiefe Befriedung und Wunschlosigkeit durch nichts Späteres in meinem Leben, das ich doch heute nicht arm nennen kann, zu übertreffen und in Vergessenheit zu bringen war […]. (GW XI, 388)

Travemünde war Lübeck – aber zugleich etwas anderes: Flucht vor den Zwängen des Schulalltags, den Pflichten als Senatorensohn. Hier an der Ostsee konnte sich schon der junge Thomas Mann seinen Gedanken und Träumen hingeben. Das Meer als ein Raum, der ein freies und zwangloses Assoziieren ermöglicht, blieb von da an ein Thema in der Kunst Thomas Manns.

Das zweite Refugium der Kindertage war das eigene Zimmer im Haus in der Beckergrube, das ein Fenster zum Garten hatte, mit Sicht auf Springbrunnen und Walnussbaum – Dinge, die im frühen Werk Thomas Manns immer wieder als Symbole zu finden sind, die den verstörten und traurigen Helden Halt und Ruhe gewähren. Hier wird auch ein enger Bezug zu Heinrich deutlich. In einem autobiographischen Text aus dem Jahre 1920 berichtet Thomas Mann über die gemeinsamen Kinderspiele mit dem Bruder: Bei alldem ist wohl kein Zweifel, daß ich meine schönsten Stunden unserem Puppentheater verdankte, das schon meinem älteren Bruder Heinrich gehört hatte und dessen Dekorationen durch ihn, der gern Maler geworden wäre, um viele, sehr schöne selbstgemalte vermehrt worden waren. […] Ich liebte dies Spiel so sehr, daß mir der Gedanke, ihm jemals entwachsen zu können, unmöglich schien. Ich freute mich darauf, wenn ich die Stimme gewechselt haben würde, meinen Baß in den Dienst der sonderbaren Musikdramen zu stellen, die ich bei verschlossenen Türen zur Aufführung brachte, und war empört, wenn mein Bruder mir vorhielt, wie lächerlich es sein würde, wenn ich als baßsingender Mann noch vorm Puppentheater sitzen wollte. (GW XI, 328)

Die Begeisterung für das Theater, die aus dem extensiven Spielen mit dem Puppentheater spricht, blieb aber nicht nur auf die vier Wände des Kinderzimmers beschränkt. Die frühesten Eindrücke empfing Thomas Mann im Tivoli, einem am Fluss gelegenen Sommertheater. Man war ein Junge, man durfte das «Tivoli» besuchen. Ein schlecht rasierter, fremdartig artikulierender Mann, in einer ungelüfteten Höhle, die auch am Tage von einer offenen Gasflamme erleuchtet war, verkaufte die Billette, diese fettigen Pappkarten, die ein abenteuerliches Vergnügen verbürgten. Im Saal war Halbdunkel und Gasgeruch. Der ‹eiserne Vorhang›, der langsam stieg, die gemalten Draperien des zweiten Vorhangs, das Guckloch darin, der muschelförmige Souffleurkasten, das dreimalige Klingelzeichen, das alles machte Herzklopfen. Und man saß, man sah. (GW X, 35f.) Hier wurde triviale Massenkost geboten, aber es war das Erlebnis Theater, mit allen seinen bohemehaften Nebenwirkungen, das Thomas Mann faszinierte.

Dann gab es natürlich noch das offizielle Stadttheater, wenige Meter oberhalb des Elternhauses in der Beckergrube gelegen. Als er ein wenig älter geworden war, durfte Thomas Mann mit der Mutter dorthin gehen. Sehr früh schon wurde in Lübeck Wagner gespielt, und es steht außer Frage, dass die Wagner-Begeisterung Thomas Manns hier ihr Fundament bekam.

Das alles fand ein jähes Ende, als 1891 der Vater starb. Plötzlich war man nicht mehr der behütete Sohn des einflussreichen Senators, dem auch die schlechten Schulleistungen verziehen wurden. Die Mutter speziell fühlte sich ohne ihren Mann gar nicht mehr wohl in Lübeck. Der Vater hatte im Testament die Liquidation der Firma verfügt. Dies war ein Zeichen dafür, dass er weder Heinrich noch den jüngeren Thomas für fähig und willens hielt, die Firma weiterzuführen. Auch das Haus in der Beckergrube wurde verkauft. Die Firma dagegen hatte 1890 noch mit großem Pomp das einhundertjährige Firmenjubiläum gefeiert, und als der Nachlassverwalter Krafft Tesdorpf Bilanz gezogen hatte, kam er auf eine Summe in Höhe von 400000 Mark, ein für die damalige Zeit immer noch sehr beträchtliches Vermögen. Wir sind nicht reich, aber wohlhabend, erklärte die Mutter ihren Kindern. Für Thomas Mann wurde dies zu einem prägenden Spruch, den er später gern bei seinen eigenen Kindern wiederholte.

Im Testament des Vaters wird vor allem eines deutlich: Der Senator hatte Angst davor, dass die Wohlanständigkeit einer großbürgerlichen Familie nach seinem Tode zu Ende sein, dass diese Familie sich in eine geradezu unbürgerliche Richtung entwickeln würde. Über die Kinder heißt es dort:

Den Vormündern mache ich die Einwirkung auf eine praktische Erziehung meiner Kinder zur Pflicht. Soweit sie es können, ist den Neigungen meines ältesten Sohnes zu einer s.g. literarischen Thätigkeit entgegenzutreten. Zu gründlicher, erfolgreicher Thätigkeit in dieser Richtung fehlen ihm m.E. die Vorbedingnisse; genügendes Studium und umfassende Kenntnisse. Der Hintergrund seiner Neigungen ist träumerisches Sichgehenlassen und Rücksichtslosigkeit gegen andere, vielleicht aus Mangel am Nachdenken.

Mein zweiter Sohn ist ruhigen Vorstellungen zugänglich, er hat ein gutes Gemüth und wird sich in einen praktischen Beruf hineinfinden. Von ihm darf ich erwarten, daß er seiner Mutter eine Stütze sein wird.–

Julia, meine älteste Tochter wird strenge zu beobachten sein. Ihr lebhaftes Naturell ist unter Druck zu halten.

Carla ist m.E. weniger schwierig zu nehmen und wird neben Thomas ein ruhiges Element bilden.

Unser kleiner Vicco’ – Gott nehme ihn in seinen Schutz. Oft gedeihen Kinder späterer Geburt geistig besonders gut – das Kind hat so gute Augen.

Allen Kindern gegenüber möge meine Frau fest sich zeigen und alle immer in Abhängigkeit halten. Wenn je sie wankend würde, so lese sie König Lear–[6]

Die Schwestern, Julia und Carla, waren beim Tode des Vaters vierzehn und zehn Jahre alt, der Bruder Viktor gar erst ein Jahr. Alle drei zogen mit der Mutter nach München. Thomas blieb in Lübeck, weil er noch bis zur mittleren Reife die Schule besuchen musste. Er brauchte für die Untersekunda zwei Jahre und verließ daher Lübeck erst 1894 in Richtung München. Über die knapp zwei Jahre, die er, bei verschiedenen Lehrern in Pension, allein in Lübeck verbrachte, wissen wir nicht allzu viel. Verbürgt ist, dass Thomas Mann zusammen mit einigen Klassenkameraden eine Zeitschrift herausgab, die sie «Frühlingssturm» nannten.

Die überlieferten Exemplare zeigen, dass Thomas Mann durchaus nicht als reifer und meisterlicher Schriftsteller debütierte – und dass er gerade gegenüber der Heimatstadt eine stark kritische Haltung einnahm.

Unser würdiges Lübeck ist eine gute Stadt. Oh, eine ganz vorzügliche Stadt! Doch will es mich oftmals bedünken, als gliche sie jenem Grasplatz, bedeckt mit Staub, und bedürfe des Frühlingssturms, der kraftvoll das Leben herauswühlt aus der erstickenden Hülle. Denn das Leben ist da! Gewiß, das merkt man an einzelnen grünen Halmen, die sich frisch aus der Staubschicht erheben, voll Jugendkraft und Kampfesmut, voll vorurteilsfreien Anschauungen und strahlenden Idealen!

Frühlingssturm! Ja, wie der Frühlingssturm in die verstaubte Natur, so wollen wir hineinfahren mit Worten und Gedanken in die Fülle von Gehirnverstaubtheit und Ignoranz und bornierten, aufgeblasenen Philistertums, die sich uns entgegenstellt. Das will unser Blatt, das will «Der Frühlingssturm»! (GW XI, 545)

Der Text gibt einen guten Einblick in das Lebensgefühl des jungen Thomas Mann. Es war vom Protest gegen die bürgerliche Welt in Lübeck, die altehrwürdigen Traditionen der Hansestadt geprägt. Man traf sich mit Klassenkameraden in den Kneipen, man führte, soweit dies als Schüler in dieser Stadt um 1890 möglich war, ein bohemehaftes Leben. Das Schreiben war ein notwendiges Mittel, um mit der engen und provinziellen Umwelt fertigzuwerden. Schon 1893 bildete sich dabei ein Stilmittel heraus, das für die Kunst Thomas Manns prägend werden sollte: die Ironie. Er rezensierte das Boulevardstück «Das Sonntagskind» von Karl Millöcker: Nach den schweren Kunstgenüssen, die uns das Stadttheater im vergangenen Winter brachte, wirken die kleinen Tivoli- und Wilhelmtheater-Amüsements etwa wie ein Glas Selters nach einem großen Diner. – […] Wenn schon Blödsinn – dann schon gehörig. Das ist ein unbestreitbar richtiges Prinzip. Daher geh’ ich auch nicht gern zur Schule. Das ist halber Kram. (GW XIII, 245)

Den halben Kram gab Thomas Mann dann auch auf. Ausgestattet mit einer monatlichen Rente aus dem Vermögen des Vaters, die ein zwar bescheidenes, aber sorgenfreies Auskommen gewährte, siedelte er – der Mutter und den Schwestern sowie dem kleinen Bruder Viktor folgend – 1894 ebenfalls nach München über.

Heinrich Mann war um diese Zeit schon eigene Wege gegangen. Er hatte die Heimatstadt bereits 1889 verlassen. Aus jugendlichem Trotz hatte er der Schule ein Jahr vor dem Abitur den Rücken gekehrt und war in eine Buchhandelslehre nach Dresden gewechselt.

Die Buchhandelslehre enttäuschte den jungen Senatorensohn. Mit Büchern hatte das alles viel weniger zu tun, als er gedacht hatte. Es kam zu Problemen mit dem Lehrherrn, die für das Lübeck-Thema von Interesse sind, weil ihn diese Stadt und seine Herkunft hier ein letztes Mal ganz direkt und handfest tangierten, nämlich in der Person des Vaters, der kurz vor seinem Tod im Jahre 1891 nach Dresden gereist kam. In dem Briefwechsel zwischen Vater und Sohn, der in dieser Zeit geführt wurde, zeigt sich, dass Tradition und Herkunft auch für Heinrich Mann bindender gewesen sind, als man gemeinhin annimmt. Vor dieser Reise nach Dresden schreibt der Vater: Nur Eines melde ich Dir schon gleich: Mein Sohn verläßt weder wie ein Flüchtiger noch wie ein Hinausgeworfener ein ehrenhaftes Haus.[7]

Die Familientradition galt es zu wahren, und Heinrich Mann hat dies, bei aller Kritik an dieser Tradition, auch akzeptiert. Er hat mit dem Vater gesprochen und die Lehre dann auch beendet. Lübeck als geistige Lebensform, so heißt die berühmte Rede Thomas Manns – doch dass die prägende Kraft der Vaterstadt, wenn auch auf eine andere Art und Weise, ebenso für Heinrich Mann galt, sollte man nicht außer Acht lassen. Das Hanseatisch-Patrizische, das Bewusstsein, aus einer besonderen Stadt zu kommen, eine großbürgerliche Herkunft zu haben, verließ auch ihn nie, der immer vorschnell als Bohemien und linksbürgerlicher Autor gesehen wird.

Das ist später oft bemerkt worden. So schildert etwa Marta Feuchtwanger Heinrich Mann in den Münchener Jahren während des Ersten Weltkriegs mit den folgenden Worten: Heinrich Mann war unnahbar, bescheiden, der letzte große Herr und der erste große Liberale, den ich getroffen habe. Er hatte die feierliche Redeweise des Patriziersohnes aus der Hansestadt. Ich glaube, wenn wir ihn nicht so bewundert hätten, wäre er uns wohl manchmal komisch vorgekommen.[8] Diese aus der Herkunft resultierende Mischung aus Ernst und Komik, Solidität und Künstlertum zieht sich mit Abstufungen und Graduierungen durch die ganze Familiengeschichte.

Heinrich war ohne Frage der schärfere Beobachter und Kritiker der Lebensumstände in Lübeck. Dies wird deutlich, wenn man seine frühen Texte mit denen aus Thomas Manns «Frühlingssturm» vergleicht. Fantasieen über meine Vaterstadt L., der letzte in Lübeck geschriebene Artikel Heinrich Manns, beginnt folgendermaßen:

Halten Sie sich nicht das Näschen zu, mein Fräulein, wenn Sie, zum ersten Male die Straßen meiner geliebten Vaterstadt durchschreitend, durch den in einigen derselben herrschenden, Fremde mehr oder weniger beleidigenden Unwohlgeruch unangenehm berührt werden sollten. Das ist nämlich kein gewöhnlicher Gestank, das ist ein Gestank, wie ihn nicht jede Stadt besitzt, das ist ein Millionengestank.

Sie schauen mich mit Ihren schönen Augen fragend an? Oh, mein Fräulein, ich muß suchen, Ihnen verständlich zu werden. Wenn ein Mensch nach Petroleum oder Leder duftet, so werden Sie sicher neben andern, weniger liebenswürdigen Gedanken auch den haben, dieser Mensch handle mit Petroleum oder Leder.

Wenn dieser Mensch stark nach den erwähnten Handelsartikeln duftet, werden Sie die gewiß nicht unbegründete Vermutung aufstellen, er mache gute Geschäfte; wenn er nun aber sehr stark, sehr eindringlich jene merkantilen Gerüche ausströmt, – werden Sie nicht unwillkürlich zu der Annahme gelangen, dieser Mensch müsse sehr, ja außerordentlich reich sein, vielleicht Millionär – – mein Fräulein, Sie verstehen jetzt den Ausdruck «Millionengestank». Mit einer Stadt liegen die Sachen natürlich gerade so wie mit dem einzelnen Manne, – und, ich kann es zur Ehre meiner Vaterstadt sagen – dieselbe riecht wahrhaft wohlhabend, stinkt sozusagen behäbig.[9]

Für Heinrich Mann ist Lübeck die Stadt der Kaufleute, die sich über das Geld definieren. Dies und die damit verbundene Lebensform lehnt er ab. In einem frühen Gedicht kommt diese Kritik sehr schön zum Ausdruck. Es trägt den ironisch zu verstehenden Titel Im Wohltätigkeitsbazaar und ist einer der frühesten erhaltenen Texte Heinrich Manns, der um die Jahreswende 1885/86 datiert. Es gilt also zu bedenken, dass es sich um die Jugendlyrik eines Vierzehnjährigen handelt, die weniger ästhetischen als biographischen Wert hat.

Weg mit jeder Etiquette!

Um die Speisen welches Reißen,

Welches Kauen, Schmatzen, Beißen,

Welches Drängen am Büffette,

 

Wo die Honoratioren-

Damen Kellnerinnen gleichen

Und uns eifrig Speisen reichen –

Selbst die Frau’n der Senatoren.

 

Dies, mein Freund, kannst Du nicht fassen? –

Sieh’ es ist ja für die Armen!

Aus mildthätigem Erbarmen

Wird hier Alles zugelassen.

 

Um die Armut zu kurieren,

Würden diese edlen Damen,

Diese sonst so tugendsamen,

Sich vielleicht prostituieren …[10]

In diesem ganz frühen Text findet sich allerdings noch ein anderes Muster der Kritik, nämlich die Denunzierung der wilhelminischen Sexualmoral als einer Haltung, die auf der gesellschaftlichen Oberfläche die Tugendhaftigkeit propagiert, in der Praxis sich aber gänzlich anders verhält. Hier wird der scharfe analytische Blick Heinrich Manns, der sich schon in der Jugend ausgebildet hat, deutlich – eine Sichtweise, die später seine die wilhelminische Doppelmoral karikierenden Romane Professor Unrat und Der Untertan entscheidend prägen wird.

Die Vorkriegsjahre in München (1894–1914)

D



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