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Erinnerungen, Erlebtes und Interpretationen eines Kindes aus der schwierigsten Zeit des vergangenen Jahrhunderts, teilweise in weilerbacherisch Knetbare Masse Kinder. Aufgepropfte Empfindungen auf ein kindliches Gemüt, bemäntelt als unerschütterliche Überzeugungen, eingepresst in eine kleine Seele, die einmal nur dem Führer gehören sollte. Umstände und Uniformen sollten sie (de)formieren, bis sie bedingungslos systemgerecht dem Herrenmenschentum zur Verfügung stand. Wir wurden gedrillt und nicht immer nur sanft gezwungen Reife zu zeigen, sie vorzutäuschen, was natürlich in krassem Widerspruch zu unseren allzu leicht fließenden Tränen stand. Kindliche Wünsche, Hoffnungen und Träume galt es auszumerzen, sofern sie nicht den Interessen des Führers dienten. Und der brauchte tüchtige Soldaten - nein, der brauchte nützliche Idioten, die in keiner Lebenslage etwas hinterfragten. So gesehen war Hitler, als größter Verbrecher der Menschheitsgeschichte, auch noch ein Kinderschänder.
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Seitenzahl: 650
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Autor Kurt Koch Sourisseaux, wie hat er gelebt, was erlebt.
geb. am 1. Juni 1935 in Weilerbach, in der Westpfalz. Hier Grundschule, nach Kriegsende Oberrealschule Kaiserslautern, jedes Schuljahr Klassenbester. 1952-1954 Praxis-Ausbildung Maschinenschlosser. Damaliger absoluter Rekord: Abschluss mit den besten Noten in dr BRD, in Praxis und Theorie „sehr gut mit besonderer Auszeichnung“. 2 Jahre Sonderausbildung an Herstellungsprozessen für alle Handwerker- und Industrienähmaschinen der Firma PFAFF - 3 Jahre Auslandserfahrung in Ecuador mit Auftrag die dortige Vertretung aufzubauen. Von 1960 bis 1962 Weiterbildung zum Bekleidungstechniker. Studium Psychologie, Rationalisierung von Arbeitsprozessen und Einrichten von Produktionsketten in Bekleidungsbetrieben. Danach 2 1/2 Jahre Einsatz in allen Ländern Lateinamerikas als Berater von Vertretungen und Bekleidungsbetrieben. Dann 3 1/2 Jahre Betriebsleiter in großem Textil- und Bekleidungsbetrieb in Arica Chile. Dann Leiter Vertretung PFAFF in Chile. 2 Jahre Selbständigkeit Import/Export. Nach Umsturz in Chile - Pinochet - Rückkehr nach Deutschland und selbständig als Kunsthandwerker in Holz - Verfasser von 13 Lehr- und Vorlagenbücher zum Holzschnitzen, erster Hersteller von Video-Lernmaterial, Herausgeber Fachzeitschrift zum Thema schnitzen, eigene Patente für Hilfstechnik zum Schnitzen, Jahr 2000 Übergabe des Betriebes an Sohn Florian. Seither Schriftsteller mit 22 Büchern bis 2023. 16 davon erscheinen dieses Jahr bis Oktober. 4 Fremdsprachen. 5 Kinder, verheiratet mit Anne-Marie, geboren in Paris. Immer waschechter Pfälzer - dieser Kurt Koch
Der Versuch eines Vorwortes
Knetbare Masse Kinder.
Aufgepfropfte Empfindungen auf ein kindliches Gemüt, bemäntelt als unerschütterliche Überzeugungen, eingepresst in eine kleine Seele, die einmal nur dem Führer gehören sollte. Umstände und Uniformen sollten sie (de)formieren, bis sie bedingungslos systemgerecht dem Herrenmenschentum zur Verfügung stand.
Wir wurden gedrillt und nicht immer nur <sanft> gezwungen Reife zu zeigen, sie vorzutäuschen, was natürlich in grassem Widerspruch zu unseren allzuleicht fließenden Tränen stand. Kindliche Wünsche, Hoffnungen und Träume galt es auszumerzen, sofern sie nicht den Interessen des Führers dienten.
Und der brauchte tüchtige Soldaten - nein, der brauchte nützliche Idioten, die in keiner Lebenslage etwas hinterfragten.
So gesehen war Hitler, als größter Verbrecher der Menschheitsgeschichte, auch noch ein Kinderschänder.
Erinnerungen, Erlebtes und Interpretationen eines Kindes aus der schwierigsten Zeit des vergangenen Jahrhunderts, teilweise in weilerbacherisch
Der Inhalt
Prolog
1 Eine Vorahnung
2 Das heranwachsende Kanonenfutter
3 In den Wirren der Zeit
4 Unsere Vorbilder
5 Die Erziehung, Erzieher und Vorbilder
6 Die Tommys schmeißen Kartoffelkäfer
7 Historisch bedeutsam, erzieherisch wichtig
8 Iwan
9 Der allgegenwärtige Krieg
10 „Terrorangriff“ auf Pörrbach
11 Erntezeit
12 Und nochmals Fliegerangriffe
13 Die Weilerbacher Flak
14 Das SS-Panzerbatallon
15 Spione springen mit dem Fallschirm ab
16 Die Lampertsmühle wird bombardiert
17 Zivilschutz
18 Die Verteilung der Welt - Verrat und Unrecht
19 Die Brandbomben
20 Die Hygiene
21 Der Krieg trifft unsere Familie
22 Noch ein Jahr
23 Die Jungschar oder das Jungvolk
24 Weilerbach und das jetzt sehr nahe Kriegsende
25 Die letzten Stunden des Tausendjährigen Reiches
26 Die Kriegslenker - der Stab in Weilerbach
27 Die Panzersperre, die Mutter aller Festungen
28 Der letzte Waffengang
29 Befreit!? 20.März 1945, der Tag danach
30 Die Festung Weilerbach und Konsequenzen
31 Die Ausgangssperre
32 Also die Mackenbacher
33 Endlich - keine Ausgangssperre mehr
34 Der Ur-Schreck - die Mutter aller Schrecken
35 Die Mutter aller Schrecken - die Fortsetzung
36 Massenhaft Munition
37 Die neuen Besatzer
38 Der Krieg ist definitiv aus - vorbei
39 Die französische Kommandantur
40 Heimkehrende Kriegsteilnehmer
41 Die Neumühler Bande, Die <Neimihler>
42 Der Schulbetrieb in Weilerbach
43 Unchristliche Rivalitäten
44 Himmel, Hölle und Fegefeuer - der Ablass
45 Hunger und Mangeljahre
46 Der dritthöchste Feiertag im Jahreslauf - die Sauschlacht
47 Nachlese aus den Nachkriegsjahren
48 Der Gääßbock
49 Kumpels und ich, Jugend forscht
50 Der Hammer - die Brückenbauer
51 Die Sekretärin des Raketenbauers
52 Es könnte wirklich so gewesen sein, oder: Die Weilerbacher Ursuppe
53 Die Dorfnäherinnen
54 Ein bisschen Ortsbild nach dem Krieg
55 Spatzen und Sperlinge
56 Zigarettennotstand
57 Die Welt tut sich auf - Titisee ich komme
58 Die Entdeckung des anderen Geschlechts
59 Nachlese: Kurt Koch, woher kommst du?
60 Und wie geht es weiter?
Der Inhalt - und ein Geständnis
Ich gestehe und versichere jeder verehrten Leserin und jedem geehrten Leser, dass mich mein Te xtaufbau als auch meine Ausdrucksweise als echten Pfälzer ausweisen.
Der Autor Kurt Koch
Die Festung Weilerbach
von Kurt Koch
Hitler - Adolf Hitler...
In Berlin.
Weit, sehr weit weg.
Fern von uns Kindern in Weilerbach, im Alter von 6 bis 11 Jahren.
Doch, er war immer gegenwärtig, überall, dieser Hitler, unser lieber, über alles geliebter, verehrter und allerhöchst geschätzter Führer. Wie es uns von seinen auserlesenen Erziehungsbeauftragten tagtäglich ans Herz gelegt wurde. Empfohlen - mehr befohlen wurde.
Habe ich ein Superlativ ausgelassen?
Wir trugen ihn ständig im Herzen und in unseren Köpfen - wie vom Klassenlehrer Barbay befohlen und eingetrichtert. Barbay, der Handlanger und Interpret Hitlers. Merken Sie sich diesen Namen! Wie konnte er mit diesem, seinem dürftigen IQ Lehrer werden?
Wir waren folgsame Kinder und wir würden eines Tages die Liebe, die uns unser Führer entgegenbringt, zurückgeben. Durch unseren Einsatz für ihn, unseren geliebten Führer. Natürlich mit einer siegreichen, überlegenen Waffe in der Hand.
Wo immer das auch sein mochte. Und gegen wen auch immer.
Wann? Mit Freuden vernehmen wir im vierten oder fünften Kriegsjahr, dass die Einberufung ab dem 16. Lebensjahr erfolgen werde. Es schien uns immer noch eine Ewigkeit - in meinem Falle würden noch nahezu 7 Jahre fehlen. Mein Gott, wie die Zeit verging - nein, sie verging nicht und wollte einfach nicht vergehen. Am Ende würden wir noch um das Abenteuer Krieg und unseren Herzenswunsch betrogen werden. Im Kameradenkreis fühlten wir uns unglücklich. Wir wollten doch tapfere Soldaten für unseren geliebten Führer werden.
Auf den Begriff „geliebten Führer“ werde ich immer wieder hinweisen, weil er „unauslöschlich“ in uns war. Er bestimmte über uns Tag und, so weit möglich, auch bei Nacht. Zur gleichen Zeit wurden von seinen Schergen und in seinem Namen Millionen „lebensunwertes Leben“ vernichtet! Wie „sie“ es nannten. Lange Zeit in meinem Leben konnte ich es nicht fassen. Ich war „fassungslos!“ Und wie vor meinen Kopf geschlagen, als ich nur wenige Jahre nach dem fürchterlichen Krieg Menschen traf - „Menschen!!“ - die diese Mordorgien leugneten. Ja, das war dann weit außerhalb meiner Kindertage. Ich traf sie, Deutsche in Südamerika, die „ihren Sieg über die Untermenschen“ regelmäßig feierten - lautstark feierten - ja, sie feierten, ihren Sieg. Doch, das steht ja in einem anderen Buch. Hier, in diesen „Buch-Kriegsjahren“ liebte ich dieses Scheusal Hitler. Ich brauche mich aber nicht zu schämen. Ich musste ihn lieben, es gab nicht die geringste Alternative. Oder wahrhaftige Aufklärung.
Wir, Spunde nannten uns die schon Erwachsenen, sollten mithelfen ihm - dem Hitler - den Sieg zu schenken?!
„Wir“ siegten. Zunächst konnte man das an allen Ecken und Enden hören. Ich glaubte es nur zu gerne. Sollten wir bei den Siegerparaden nur abseits stehen? Unbeteiligte Zuschauer sein? Jubelpflänzchen am Straßenrand? Sollte der Krieg gewonnen sein, ohne dass es uns vergönnt war, auch nur einen Schuss auf die Feinde abgegeben zu haben? Würden wir darauf verzichten müssen Feinde zu töten? Gab es dafür einen Trost? Ja, so einen ganz vagen. Wenn dieser Krieg, dieser Eroberungskrieg vorbei war, dann würde es unser Führer schon richten und zur rechten Zeit einen neuen beginnen. Zu erobern gab es ja dann sicher noch so Einiges. Dann würden wir bereitstehen.
Väter waren an der Front, sie kämpften für diesen unseren geliebten Führer. Volk und Vaterland waren für uns Buben Begriffe, die mehr beliebig waren und mehr als Mittel zum Zweck benutzt wurden. Der Führer, ja das war uns ein Begriff. Ein fester, unumstößlicher Begriff. So gesehen stand er über unseren Vätern, er war ja der Ober- oder Übervater. Für den, wie gesagt, unsere wirklichen Väter kämpften. Bereit waren ihr Leben zu geben. Das schien uns das Allernormalste in unser Kleinwelt.
Viel öfters, und bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten, wünschten wir ihm alles-alles-alles... Gute. Viel öfters ihm als wir es gefühlt für unsere Väter taten.
Sicher, wir schlossen sie von Fall zu Fall in unsere Fürbitten, guten Wünsche und Gebete ein. Aber eben nur von Fall zu Fall. Das sei nochmals betont, hunderte Male am Tag - oder weiß der Geier wie viele Male wirklich - hatten wir die Gelegenheit unserem geliebten Führer das Beste zu wünschen. Heil zu wünschen.
Das begann beim Begegnen mit einem anderen Menschen, indem man Heil wünschte. „Heil Hitler“, und wenn man in einer Gruppe war, was die Parteiführungen besonders liebten, dann erschollen die „Heil“-Rufe im Chor. Und das gleich mehrfach hintereinander. Man konnte sich selbst gar nicht satthören an diesen inbrünstigen, gemeinsamen Heilswünschen.
Bei manchen Anlässen wurde auch der Sieg beschworen - herbeigefordert. Ein Anspruch darauf wurde durch kollektives Gebrüll untermauert. Im Chor machte sich das besonders gut. Ein Vorsprecher (Vorkrakeler) rief „Sieg“ und die Masse brüllte begeistert „Heil.“ Das machte schon Eindruck, zumal wenn dieses Brüllen mehrmals hintereinander erfolgte. Das schürte die Begeisterung und berauschte die Sinne.
Wie man weiß, hat auch das nichts geholfen. Hitler passé, Sieg passé. Der vorhergesagte Weltuntergang aber, der von ihm angekündigte, passierte ebenfalls nicht.
In jeder Amtsstube hing er abgebildet, der Held des Ersten Weltkrieges. (Ein Österreicher) Retter der Ehre unseres Vaterlandes Deutschland. Und was war nicht alles Amtsstube - z. B. auch Post, Sparkasse, ja sogar in den Wirtsstuben und beim Friseur hing er und im Vereinslokal eines Fußballvereins war er ebenso zugegen. Obwohl Hitler nach eigenem Bekenntnis niemals gegen einen Ball getreten hatte. In jedem Haushalt sollte oder musste er hängen. Als Bild an der Wand. Wo er besser hingepasst hätte, an einem Seil an der Decke, hing er nirgends.
Dementsprechend war der Tagesgruß <Heil Hitler> ein erhabener Wunsch: „Vorsehung, erhalte uns diesen geliebten, genialen, intelligenten, fürsorglichen, aufopferungsvollen, sein Volk liebender, über allen und allem stehender Führer Adolf Hitler.“ Später in meinem Leben, als ich mit Juden zusammenarbeitete und -lebte, erzählten sie mir den Sinn des „Heil“-Grußes.
Meine Judenfreunde: „Trifft ein Arzt einen Kollegen und grüßt mit <Heil Hitler>. Heil doch Du ihn, antwortete der.“ Da steckt viel bittere Wahrheit drin - in dem jüdischen Witz.
Unsere kindliche Welt sah anders aus: Man konnte von Ehrfurcht sprechen, tief in uns sitzende Ehrfurcht und sowieso Verehrung. Unsere kleine Welt drehte sich um diese gefühl- und gehaltvollen Begriffe. Ja, er wollte es so und wir sahen in ihm den Mittelpunkt unseres Lebens. Kein Erwachsener sprach jemals etwas dagegen - oder wagte es. Niemand sprach in unserem Beisein, in Reichweite unserer Ohren, etwas Negatives über unseren „Geliebten Führer!“ (Über diesen Massenmörer!)
Was wir Kinder nicht wissen konnten und auch nicht wissen durften war, dass es Menschen gab, die mehr Furcht als Ehre spürten. Was dabei noch schlimmer war, und von dem wir nur unter Verachtung von unserem „Herrn“ Lehrer Barbay unterrichtet wurden: Es sollte Menschen geben, die unseren Führer nicht liebten. Völlig unverständlich, abwegig krankhaft - für uns.
Wie denn das? Ganz einfach: Das konnten keine richtigen Deutschen sein. Das waren Schmarotzer im Volkskörper. Geschwüre im gesunden Volkskörper. Das waren Unbelehrbare, die es letztlich mit aller Härte auszumerzen galt. Ohne jedes Mitleid, ohne Scham sind sie auszumerzen. Diese Volksfeinde. In diesem Sinne erlernten wir Toleranz und Nächstenliebe. Oder? Von unserem Herrn Lehrer Barbay.
Das war Nationalsozialismus pur.
Doch dieser Begriff war uns noch recht fremd. Auch ein viel zu langes und kompliziertes Wort. Wir hatten ja Hitler, das genügte unseren Erziehern oder Vorbildern. Der Rest würde Fortbildung sein. Dazu kam es aber (gottlob) nicht mehr.
So gesehen sah ich es in meinem späteren Leben als eine glückliche geschichtliche Fügung, dass Nazi-Deutschland den Krieg verloren hatte. Wer konnte wissen, was nach einem Sieg aus dem einen oder anderen von uns Jungs geworden wäre. Zu was diese Verbrecher uns gemacht hätten. Angestachelt oder auch gezwungen hätten. Uns Kiner Hitlers.
Hitler selbst sah und bezeichnete sich als von der Vorsehung bestimmter Weltenordner.
Offenbar war diese Vorsehung dann doch nicht so begeistert von ihm und der nationalsozialistischen Idee - der mörderischen nationalsozialistischen Idee. Wie hätte diese „Vorsehung“ sonst das zigmillionenfache Flehen und Fordern ignorieren können? Wie sonst konnte sie dieses Herzensanliegen eines ganzen Volkes - nicht irgendeines Volkes - nein, des Deutschen Volkes überhören? Eines Volkes voller Herrenmenschen, lauter adrette Arier, das sich gerade anschickte die Juden auszurotten, die Roma zu beseitigen, die Homosexuellen zu vernichten, die Renitenten mittels Arbeit und Hunger abzuschaffen, die Behinderten ein für alle Mal verschwinden zu lassen, die Untermenschen zu liquidieren, einfach alle wegzuschaffen - bis auf die Blonden und Blauäugigen.
Die Vorsehung hatte dafür scheinbar kein Verständnis. Sie verpasste, nach Meinung einiger ewig Gestrigen, sozusagen eine historische Chance. Dabei waren wir Deutsche doch so effizient. Ja, wir konnten uns sogar auf den Feind verlassen, der zwar dank seiner Waffenmassen das siegreiche deutsche Heer erdrückte. Ansonsten regten auch sie sich nicht sonderlich auf, wenn sie von der mörderisch organisierten Barbarei der Deutschen nebst Verbündeten erfuhren.
Es hat, besonders im Lichte der Geschichtsforschung, ein gewisses „Gschmäckle“, dass diese Moralhelden (aus vielen Ländern der Welt), hinter teilweise sicheren Grenzen, den Deutschen nicht in Vorkriegszeiten unmissverständlich und mit aller zur Verfügung stehender Macht und Mitteln, ihre blutigen Aktivitäten unterbunden haben. Sie hatten die wirtschaftliche, politische, moralische und militärische Macht dazu.
(Und kommt mir ja nicht mit Ausreden ihr lieben ex-Feinde. Ihr seid mitschuldig an der Entwicklung des unsäglichen geschichtlichen Dramas. Durch eure jahrelange Passivität und Wegducken.)
Hier danke ich dieser viel beschworenen „Vorsehung“, dass sie mich vor Schlimmerem bewahrt hat. Nur sie konnte wissen, was aus mir, im Falle eines Sieges, in einem braunen Uniformrock geworden wäre. Man sollte solche Gedanken gar nicht weiterverfolgen.
1
Eine Vorahnung
Bei Kriegsende war ich gerade 10. 10 Jahre jung. Noch nicht einmal, denn es fehlten noch 23 Tage.
Was die heutige Generation im vergleichbaren Alter, in spannenden und aufputschenden TV-Serien sieht oder im sorgenfreien Wohnzimmer bibbernd miterlebt oder auch mit Spielkonsolen nachvollzieht, erlebte die meine leider nur zu oft hautnah. Realität pur. Thriller, mehrere Male mit tödlichem Ausgang. In Sichtweite. In Griffnähe. Kein Drehbuchschreiber könnte sich dies oder jenes Geschehen in seiner Fantasie einfallen lassen. Kein Regisseur kann je das Innerste bestimmter Erlebnisse so wirklichkeitsnah nach außen kehren und in einem Film darstellen.
Hier, und keinen Augenblick später, möchte ich meinen Freunden gleicher Altersstufe gedenken, die diese schreckliche Zeit nicht überlebt haben. Keiner kam durch direkte „Kriegseinwirkung“ um - wie es so verdammt nüchtern hieß. Nein, sie kamen spielend um. Spielend mit den Hinterlassenschaften der Zerstörungs- und Mordmaschinerie. Produkte kranker oder krankhaft-genialer menschlicher Gedankengänge. Hinweis: <Bei korrekter Anwendung absolut tödlich>. (Die Handgranate ist eine furchtbare Waffe. Trifft sie, ist sie tödlich. Trifft sie nicht, ist die moralische Wirkung eine ungeheure. Sowas lernten wir begierig auswendig.) Hier war es eine „Acht-Acht-Granate“, dort eine Panzerfaust, eine Handgranate oder was es an anderen fürchterlichen Höllenprodukten so gab. Nicht nur aus der Sicht der Kinder.
Heute würde man sagen: <Tote Kinder als nicht zu vermeidende Kollateralschäden des Krieges>.
Kein Vater war da, oder überhaupt nicht mehr da, der sie, der uns hätte warnen oder beaufsichtigen können. Wir bedienten uns an dem, was die Großdeutsche Wehrmacht nicht geschafft hatte auf ihre Gegner zu verfeuern. Oder liegenließ, weil sie nicht mehr in der Lage war, oder vielleicht auch nicht mehr willens sie zu „verwerten“!! bzw. zu beseitigen.
Autobahnbrücken sprengten sie, ja, ja - reihenweise in unserer Gegend. Passive Kriegsmittel oder -führung? Die wirklichen aktiven Kriegsmittel überließen sie ihrem einrückenden Feind. Oder auch für Wochen und Monate uns, Halbkinder, Kinder, viel zu früh erwachsene Jugendliche.
Sie ging, die Großdeutsche Wehrmacht aus und um Weilerbach. Doch bevor sie mit den letzten Tropfen Treibstoff (und den letzten Flaschen in Frankreich geraubten Kognak) das Weite suchte, zündete sie einen jungen Wald von allen Seiten an. Und dieser Wald war vollbepackt mit mindestens hunderten Tonnen hochbrisanter Munition. Alles, was man so brauchte, um ein tausendjähriges Reich auf die Beine zu stellen, andere Völker zu unterjochen oder gar auszulöschen, da, hier, nicht einmal einen halben Kilometer von Weilerbach entfernt war alles gestapelt. Zwei Nächte und Tage brannte das Freilichtmunitionslager. Und detonierte, knallte, es ratterte, wummerte. Dann war zwar der Wald ruiniert, aber nur ein Teil der Kriegswaffen.
Sie lagen, immer noch zu vielen, vielen Tonnen, weiträumig in einem, zumindest teilweise zerfetzten und verkohlten Gehölz verteilt, so wie sie von Explosionen getrieben, auseinandergeflogen waren. Sie steckten in Baumresten und in der arg durchwühlten Erde. Oder sie lagen noch halbwegs gebündelt, so als warteten sie auf ihren Einsatz, von einem Moment auf den anderen abgeholt, verladen zu werden. (Das Wasserwerk steht heute teilweise auf dem damaligen Gelände)
Das überaus gefährliche Spielzeug der militärischen Spielermächte lag, zugänglich für jeden, einfach so herum, unbewacht. Ein Zaun? Fehlanzeige. Niemand der Deutschen schien sich mehr dafür zu interessieren. Es gab offenbar schlimmere Sorgen. Die Sieger hatten derweil noch anderes zu tun. Sie wollten den Krieg radikal gewinnen, dazu brauchten sie die deutsche Munition nicht, sie hatten selbst im Überfluss. So viel, dass sie hin und wieder, wie aus Spaß an der Freud´, die eine oder andere geschlossene Menschensiedlung systematisch zerfetzten. Wumm-wumm, weg damit. Siehe Würzburg - etc.
Die Soldaten aus Übersee sparten sich so die Mühe die Munition wieder zu verladen und zurück nach Hause zu bringen.
Es gab Gelegenheiten genug und Möglichkeiten die geschichtliche Betrachtungsweise so umzudeuten, dass man von einer „militärischen Unvermeidbarkeit“ sprechen konnte - es für die Nachwelt eben so formulierte.
Weilerbach war so ein Fall, es war ja eine Festung, von Volkssturm„kräften“ in den letzten Kriegstagen zur Festung ausgebaut und von eben diesem Volkssturm verteidigt. Nun ja, verteidigt? In ihren Familien hatten sie alle frisch gewaschene weiße Leintücher bereitliegen, um sie aus den Fenstern zu hängen, um so den eindringenden Feind zu verwirren. „Ihn in eine Falle zu locken.“ Über einen anderen Verwendungszweck laut nachzudenken war definitiv lebensgefährlich. Immer noch, auch in den letzten Stunden dieses Krieges. Wie schnell konnte man sonst an einem Baum hängen. Stricke, so schien es, waren keine Mangelware. Und besonders Apfelbäume, mit stabilen Ästen gab es am Straßenrand kilometerweise, allein zwischen Weilerbach und Hirschhorn.
Das mit der weißen Bettwäsche sollte verteidigungsstrategisch wohl heißen: <kommt nach Weilerbach herein. Wir sind alle friedliche Menschen, wir kapitulieren gerne, wir hatten niemals etwas mit dem Krieg zu tun, wir waren alle und immer dagegen.> Strategisch hervorragend gedacht. <Wir locken die Amis in eine Falle. Wenn sie in Weilerbach drin sind, schnappt sie zu. Dann, ja, dann...?>
Niemand schien sich Gedanken darüber zu machen, wie stark der Feind doch wirklich war. Wir haben Frankreich besiegt und Amerika ist weit weg.
Aber es lief dann doch anders ab. Die Generäle und Kriegsmanager der Amis hatten es eilig an den Rhein zu kommen. Sie wollten sich nicht lange mit diesem lächerlichen Widerstandsnest Weilerbach aufhalten. Die Soldaten wurden anderweitig gebraucht. Und auch die Durchgangsstraßen - die immer noch ADOLF HITLERSTRASSE und VON HINDENBURGSTRASSE hießen - wollte man sich durch einen Granatenbeschuss nicht versauen. Es mussten ja Waffen, Munition und Kämpfer an die Front gebracht werden.
Und nicht zu vergessen, die deutschen Kriegsgefangenen mussten nach <rückwärts> transportiert werden. Praktisch möglich wurde das in den dann leeren Waffentransportern.
Aber der Vorsatz der Rache wurde bei den Eroberern niemals ganz vergessen. Weilerbach, eine Festung! „Wir werden darauf zurückkommen“, versprachen sie und hielten Wort.
Vielleicht hätten sie den Vorfall und die versprochenen Konsequenzen dann doch gerne unter den Tisch gekehrt, aber da machte sich der Werwolf in den Wäldern um Weilerbach bemerkbar. So sahen sie es. Und sperrten uns in Weilerbach im Sommer 1945 ein. Ausgangssperre. Viele Wochen lang. Doch auch davon später. Ich war ja dabei!
Die Bilanz dieses 19. März 1945, einem Montag, der Tag an dem die Festung Weilerbach von den alliierten Streitkräften „erobert“ wurde - der Tag als sie fiel. Die grob gerasterte Endrechnung an diesem geschichtsträchtigen Tag: 16 tote blutjunge Soldaten der Deutschen Wehrmacht an der Blechkaut - am damaligen Weilerbacher Müllplatz, dort wo sich heute der Fußballplatz ausdehnt, in einem Haus ein fußballgroßes Loch in der Häuserwand und eine zertrümmerte Dachgaube. Über der Wirtschaft Lorch. Die es ja seit Kurzem nicht mehr gibt.
Die Zivilbevölkerung kam mit dem Schrecken davon.
Die Sieger eroberten drei nicht mehr transportfähige 37 mm Geschütze.
Dazu eine Reihe aus Benzinmangel bewegungsunfähige, unbrauchbar gemachte Panzer. Schrott für den daselbst für unwahrscheinlich gehaltenen Wiederaufbau.
Die nicht verbrannte Munition lag im ausgebrannten Waldgebiet zwischen dem Schellenberg und Rodenbach wie Spielzeug herum. Wir Kinder brauchten es nur noch zu sammeln, statt die Soldaten hatten wir nun das (todbringende) Spielzeug. Wir hatten wahrlich schon lange keine wirklichen Spielzeuge mehr gesehen. Weder zu Hause noch in einem Schaufenster. Diese waren entweder längst von Bomben zerstört oder, wie auf den Dörfern, mit Brettern zugenagelt. So gesehen wussten wir gar nicht so recht, was ein Spielzeug zum Spielzeug und was eine Granate zum Gegenteil, zum mörderischen Kriegs-Spielzeug machte. Und das bedeutete auch bitterster und leider oft auch tödlicher Ernst. Was die Kriegsereignisse nicht geschafft hatten, das erledigten nun die von Deutschen hergestellten Waffen.
Wir hatten keinen Fußball, kein Fahrrad, keine elektrische Eisenbahn usw. Wir, die wir schon über sauber geformte Kieselsteine als Spielmasse erfreut waren. Für uns lagen plötzlich technisch hochinteressante Spielzeuge in ungeheuren Mengen, einfach im Überfluss in einem abgebrannten und sonst zerfetzten, scheinbar herrenlosen, nicht gesicherten oder irgendwie bewachten Wald. Wir brauchten sie nur aufzulesen. Es gab keine Hinweisschilder zur Gefährlichkeit. Kein Erwachsener konnte oder wollte uns warnen.
Es waren die Spielzeuge, wie sie die adrett gekleideten Soldatenjungs, unsere Helden, vor dem 19. März 1945, dem Tag an dem „wir in Weilerbach befreit wurden“, benutzen durften. All diese, ihre Spielzeuge, lagen nun begehrenswert, vollkommen ungesichert, und für jeder(mann) - jedes Kind - frei zugänglich, in dem ehemaligen Wald am Rand des Schellenbergs. Weniger als einen halben Kilometer von Weilerbach und Rodenbach entfernt.
Nun hatten wir, was die Kriegsmittel anging, die Auswahl. Muni-Muni-Muni überall. Wir konnten es uns leisten die äußerlich beschädigten oder vielleicht nur zerkratzten Muniteile liegen zu lassen. Wer wollte schon eine zerkratzte Granate? Es wurden nur die besten, unbeschädigten Stücke ausgesucht. Und es fanden sich bald Experten, durchweg die Älteren unter uns, die sich auskannten. Ich war ja einer der Jüngeren in diesen Bünden und Gruppierungen. Wir Knirpse sahen jetzt zu ihnen auf. Sie wussten, wie man eine Acht-Acht-Granate auseinanderschraubte, um an den begehrten Sprengstoff heranzukommen.
Am liebsten hatten sie es, wenn sie die Granate direkt aus der Hülse, aus der Kartusche herauslösen konnten. Haha, spielend leicht war das. „Spielend leicht!“
Die Granate wurde in eine passende Lücke zwischen zwei robusten Baumstämm(chen) geschoben, dann kräftig hin- und her geruckelt und schon war sie greifbar, man konnte sie herausnehmen, sie fiel oft regelrecht in die bereitgehaltenen Hände. Dann war der Zugriff auf das begehrte und von uns so genannte Stangenpulver - auch Makkaroni genannt - frei. Bündelweise konnte es aus der Kartusche herausgeholt werden. Man brauchte nur die Kinderhände, die in die 88 mm Durchmesser der Granatenhülse hineingreifen konnten. Es ließ sich damit prächtig Feuer im heimischen Herd anfachen. Jeder konnte so etwas zu Hause brauchen. Ruck-zuck brannte das Herdfeuer, wenn man eine angezündete „Makkaroni“ unter das vorher im Küchenherd aufgeschichtete Holz hielt. Zischend zündete sie und man konnte den Küchen-Herd viel schneller auf Betriebstemperatur bringen. Was im Winter, vor Beginn des Tages wichtig war, denn eine andere Heizungsquelle gab es ja nicht.
(Bis Mitte 1948 hatten wir zu Hause, unter dem Sofa versteckt, einen Vorrat und hatten so jahrelang keine Probleme mit dem Schnell-Feuermachen!!) So hatten wir doch noch einen Vorteil vom Krieg und seinen Waffen.
Gas- oder Elektroherde gab es ja noch lange nicht, wenigstens nicht in Weilerbach.
Es lagen auf dem Boden der Acht-Acht-Hülsen noch zwei allerliebste Säckchen mit feinkörnigem Pulver. Fantastische Stichflammen konnte man damit provozieren.
Dann hatte der Zünder im Boden auch so seine Reize. Ganz Mutige schlugen dann bei entferntem Sprengstoff und der Granaten drauf oder schraubten ihn heraus.
Und andere überlebten ihren Forscherdrang oder Mutproben nicht. Jeder wollte mutiger sein, mit seinen technischen Fähigkeiten und Entdeckungen glänzen und vor allem bei den Kumpels angeben. Stolz waren sie, wenn sie mal wieder eine Möglichkeit entdeckt hatten, dieses oder jenes todbringende Artefakt auseinanderzunehmen.
„Jugend forscht“ in einem ganz anderen Licht. Mit mehrfachen tödlichen Folgen.
Es gab eigentlich keine Verletzten. Keine abgerissenen Arme oder andere Glieder. Das explodierende Artefakt machte immer gleich Tabula rasa. Die auffindbaren Teile der Kumpels wurden eingesammelt und in die Kiste gepackt.
Bei manchem zu Hause stand, als Dekoration oder Trophäe, irgendwo auf einem Sims oder Schrank eine Acht-Acht-Granate. Vielleicht war sie noch scharf, vielleicht hatten sie den Sprengstoff entnommen. Wen interessierte schon diesen feinen und doch entscheidenden Unterschied.
Die Panzerfaust lag in der Scheune, im Schuppen, zwischen Gartengerät, in einem Unterstand im Garten und sie widerstand vielen Demontageversuchen und forderten dabei doch immer wieder Opfer.
So auch einen meiner guten Freunde vom Samuelshof. Seine Mutter schaute ihm vom Küchenfenster aus zu, hatte versucht ihn zu warnen oder von dem Vorhaben abzuhalten.
Er bearbeitete das <Ding> mit Hammer und Meißel. Eingespannt im Flaschenschraubstock des Großvaters.
Dann zündete sie und die Panzerfaust und meinen Freund gab es nicht mehr. Und dazu noch einen seiner Freunde.
Derweil wurden wir um unseren Kriegseinsatz betrogen. Dieser Krieg hatte nicht lange genug gedauert. Und wir hatten uns doch so gefreut auf eine Eroberung des Kaukasus, den Ölfeldern bei Baku, ja sogar die Lößerde in China, die zog unsere Fantasie magisch an, die wollten wir natürlich auch für Führer, Volk und Vaterland erobern. Wozu sie den Chinesen überlassen. Wir würden die Herren sein. Der Chinese an sich dann nur noch der geborene Verlierer.
All das Gefasel liebten wir abgöttisch, denn unser Herr Lehrer Barbay sprach immerzu mit Begeisterung davon. Er fachte regelrecht und systematisch unsere Begeisterung an, andere Völker zu unterwerfen - viele davon seien ja doch nur von Untermenschen bewohnt.
Aber klar doch, wir würden unser Leben einsetzten, der Führer würde stolz auf uns sein können.
Und jetzt das! Ohne unser Vaterland retten zu können, ohne auch nur einen Schuss abgeben zu können, ohne Chance dazu, wurden wir jeden Tag älter und sahen auch mit jedem Tag mehr denn je Deutschland ohne Krieg. Ja, wozu waren wir denn überhaupt geboren worden?
Wir sollten doch das Rückgrat von Führer, Volk und Vaterland sein. Der neue Menschentyp. Welteroberer. Helden wollten wir sein, von allen verehrte Helden. Und bestaunt, gefürchtet, respektiert und geachtet von den Eroberten.
Nun, zu dieser Zeit war ja noch nicht alles verloren. Hitler hatte eine Rede gehalten - er lebte ja noch - in der er versprach, die Pfalz zu retten, zu befreien.
„Derrr Endsieg wirrrrd unserrrr sein. Sieg Heil!“
„Na siehste, er hat uns nicht vergessen!“
2
Das heranwachsende Kanonenfutter
Kürzlich stach ich eine Erinnerungsblase an und die längst überlebten Erlebnisse rieselten zunächst, begannen zu fließen und verwandelten sich in einen konstanten Strom. Aneinandergereiht, oder auch bunt durcheinander, dann wieder nacheinander, alles schien verwirrend, wie die damalige Zeit - 39 bis 45 und von da wieder bis 48. Das Gesamtbild entsprach der Wirklichkeit. Ich brauchte den Erinnerungsfluss nur noch aufzufangen. Und mit diesem Buch möchte ich einiges davon vermitteln. Aus meiner Sicht. Aus meiner kindlichen Sicht.
Ich beziehe mich nicht auf historisch sauber und wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse.
Es sind Erinnerungen und Wahrnehmungen aus einer bizarren, manchmal unwirklich scheinenden Kindheit. Keine Geburtstagspartys - die kannte ich nicht. Keine St. Martinsumzüge - nie davon gehört. Der Nikolaus konnte schon mit ein paar Äpfeln erfreuen, oder auch Nüssen. (Er kam zu Weihnachten!) Ja, den Nikolaus kannte ich, der kam als Onkel K. und war kostümiert, sprach mit verstellter Stimme und lud meine Mutter ein, mich noch mehr zu prügeln, bis ich „brav“ sei.
So ein idiotischer Nikolaus. Onkel K., du IDIOT!
Vater war sechs Weihnachten abwesend. Er hatte ja dem Vaterland an der Front zu dienen.
Weihnachten brachte trotzdem bei geringstem Einsatz höchstmögliche Freuden - so sollte es wenigstens sein. Da freute ich mich eben auf Weihnachten. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich an Weihnachten von Mutter keine Prügel bezog, was für sich schon ein richtig großes Geschenk war.
Das war doch ein gewichtiger Grund aufrichtig Freude zu erleben. Hoch lebe die friedenvolle, prügelfreie Weihnachten! Das war der 24. Dezember. Doch schon in der Nacht zum 25., nach der obligatorischen mitternächtlichen (Zumutung) Christmette, war ich wieder schuldig und ... Davon später.
Hitlers Geburtstag, am 20. April, war im Jahresverlauf der höchste Feiertag. Der Nationalfeiertag. An diesem Tage sollte man sich beschenken. Eben zu Ehren von Hitlers Geburtstag. In Wirklichkeit war der Tag seiner Geburt ein rabenschwarzer Tag in der Geschichte der gesamten Menschheit. Die Obrigkeit hatte nun diesen Feiertag als eine Art Weihnachtsersatz so angeordnet oder auch mehr oder weniger „streng empfohlen“. Statt dieses längst vergangenen, unbedeutenden jüdischen Ereignisses in Bethlehem zu gedenken. Beschenken zu Ehren des Führers. Aber mit was? Woher etwas nehmen?
Zunächst hatte sich unser Führer uns selbst zum Geschenk gemacht. Was konnte, was wollte man da noch mehr verlangen?
Der Führer verteilte seine Liebe auf uns alle. Absurd? Wieso absurd? Da hätten Sie mal unseren Herrn Lehrer Barbay fragen sollen. Beschenkte uns nicht unser Führer tagtäglich mit dieser seiner Liebe? Für diese Liebe sollten wir dankbar sein. MUSSTEN! Seine Liebe sollten wir erwidern. Das waren die höchstdotierten Geschenke überhaupt. Ein Geben und Erhalten. Im Volkskörper.
Unser Lehrer lehrte uns: Unser Führer, das höchste Gut. Absolut! Ein Geschenk der Vorsehung - sagte er ja selbst, zwar mit anderen Worten, aber er bezeichnete sich als von der Vorsehung auserwählt. Das ist nun tatsächlich seine höchstpersönliche Aussage und Behauptung.
Hinterfragen? Lass das lieber, unterdrücke jeden Gedanken in dieser Richtung. Natürlich lagen wir Kinder auf der Lauer, ob wir nicht doch bei dem einen oder anderen Erwachsenen Reden hörten, Sprüche mitbekamen, die wir als unerlaubt ansahen - wir hätten es umgehend unserem Herrn Lehrer Barbay gemeldet. Aber ja doch! Ein Witz über Hitler war Motiv genug, um in einem Konzentrationslager zu enden - kein Witz! Nun, da gab es so gut wie niemand, der seinen eigenen Kopf noch riskieren wollte. Die Parteigänger sowieso nicht. Die sahen lieber andere Köpfe rollen. Maßregelten die Aufmüpfigen in KZ´s.
Dachau, das hörte man öfters flüstern, musste so ein schrecklicher Ort sein. Dorthin konnte „man“ kommen, wenn „man“ seine Ab“neigung“ gegen - ach so vieles offen zeigte.
Die meisten Menschen waren „mundtot“ oder verhielten sich so.
Es gab noch alte Herren, auch Frauen und darüber hinaus jene, auch jüngere, die für die Heimatfront wichtiger, als für den gefährlichen Kampf an der Front waren. Sie hätten ja fallen können und somit den Volkskörper geschwächt. Ja, ja, glücklich, wer also ein Parteibuch hatte und sich als wichtig einstufen lassen konnte.
Für den Volkskörper weniger wichtige Menschen, und ohne Parteibuch, hielten für diese wertvollen Parteigenossen den Kopf hin. Und nicht nur den Kopf. Da sollte es ja niemand wagen an dieser Ordnung zu zweifeln.
Arbeiter, die in den Fabriken malochten? Die bekam ich nicht zu Gesicht. Dafür gab es umso mehr Russen - Kriegsgefangene, die den kriegsbedingt „zeitweise“ abwesenden einzelnen Herrenmenschen vertraten, meist bei unseren Bauern. Und diese Russen hatten ja nichts zu sagen. Wir waren vom Herrn Lehrer und von zu Hause aus angewiesen sie strikt zu meiden. Die abstrusesten Kommentare liefen rund: Unter Anderen, dass die Russen kleine Kinder aßen, so wie die Franzosen auch, das weiß man doch vom Ersten Weltkrieg -sagte man.
Die Schule, nicht unsere Eltern, wurde zum uneingeschränkten Erziehungsberechtigten. Wieso auch nicht - der Vater verteidigte vor Ort - irgendwo im Nirgendwo - das Vaterland. Der Mutter wurde nicht zugetraut uns Kinder auf den einzigen richtigen Weg als zukünftigen Helden zu bringen. Die jammerten zu viel, anstatt stolz zu sein, wenn sie einmal wieder einen Sohn oder den Ehemann für das Vaterland opfern konnten - Entschuldigung: natürlich durften - nicht konnten.
Auch der stattliche Bürgermeister, eine musterhafte arische Gestalt in seiner feierlichsten Aufmachung. Und natürlich auch die vielen anderen Braunen mit ihrem gockelhaften Benehmen, brachten es bei ihren Ansprachen auf diesen Punkt der Opferbereitschaft für Führer, Volk und Vaterland. Was mussten sich dann doch einige Partei-Wichtigtuer den Kopf zerbrochen haben, um solche idiotisch-gefährlichen Sprüche in Umlauf zu bringen. Den Bürgern VOLKSGENOSSEN vorzukauen, sie anzuhalten diese „Kraftausdrücke“ zu verinnerlichen.
Aber die Wirklichkeit überholte brutal die Schönredereien unserer Parteiallgewaltigen. Die Wirklichkeit bestand aus Mangel und den hatten wir oft im Überfluss. Und auch mit den berüchtigten Telegrammen mit dem schwarzen Rand. Wenn damit ein Briefträger vor der Tür stand, und jede Familie mit einem Angehörigen „im Feld, an der Front“ bangte tagtäglich, dann hatte das Schicksal zugeschlagen. Das Schicksal, in Form unserer „bösen Feinde“. „Gefallen auf dem Feld der Ehre“ - (Für Hitlers verbrecherischen Angriffskrieg) was für ein erbarmungsloser Scheiß. Ach so, auch das stand noch daselbst: „Für Führer, Volk und Vaterland“! Sieg Heil!
Das als <Schicksal> zu bezeichnen konnte nur Häme pur sein. Eine Verhöhnung der Opfer und der Angehörigen. Aber die hatten den Mund zu halten, zu schlucken und möglichst unauffällig zu trauern. So verlangte es der <GröVaZ> - der „größte Verbrecher aller Zeiten.“
Wir Kinder kannten dann die scheinbar unendlich wiederkehrenden verstörenden Sprüche der Erwachsenen und konnten uns das nur als Träumereien vorstellen: „...ja, ja, die Friedenszeiten! Damals!“ Jahre, eine Ewigkeit zurück, schienen diese beschworenen <Friedenszeiten> als unwirkliche ferne Vergangenheit. Sollte man diesen alten Jammerlappen glauben? Friedenszeiten! Friedenszeiten? „Das Leben besteht aus Kampf und nur der Tüchtigere wird überleben.“ Unser Herr Lehrer Barbay musste es ja wissen. Er bezog sein Wissen aus erster Hand. Er hatte ja die besten Verbindungen zur Partei und zu den Entscheidungsträgern rund um den Führer. „Heil Hitler - heil Du ihn!“
Friedenszeiten! Das geflügelte Wort, das in Wirklichkeit ausdrücken sollte, dass es im Moment schlicht schlecht lief. Wir Kinder hatten keinerlei Vorstellungen und glaubten auch durchweg nicht an diese Märchen. Wir konnten es uns nicht vorstellen. Friedens-zeiten! Abwesenheit von Krieg! Was sollte daran so erstrebenswert sein?
Frankreich erschien mir schon so etwas wie ein Schlaraffenland. Mein Vater war dort als Soldat stationiert. Er brachte mir, als er auf Urlaub nach Hause kam, eine Eisenbahn mit. Sie lief, mechanisch aufgezogen, mit zwei Blechwagen immer wieder im Oval, bis sie ihre eingedrehte Energie aufgebraucht hatte. Und stehen blieb. Aber es war mein Alles, ein paradiesisches Erlebnis, das ich mit niemandem teilen wollte. Aber nur für eine ganz kurze Zeit, dann nahm sie der Weihnachtsmann wieder mit - wer war dieser gefühllose, böse Onkel Weihnachtsmann überhaupt? .... Und brachte sie dann gnädigerweise erst wieder 11 Monate später, kurz vor Weihnachten.
Dann lief sie wieder vier Wochen im Oval. Bis sie stehen blieb.
Knetbare Masse Kinder.
Aufgepfropfte Empfindungen auf ein kindliches Gemüt, bemäntelt als unerschütterliche Überzeugungen, eingepresst in eine kleine Seele, die einmal nur dem Führer gehören sollte. Umstände und Uniformen sollten sie (de)formieren, bis sie bedingungslos systemgerecht dem Herrenmenschentum zur Verfügung stand. Für jeden Scheiß den sie erdachten.
Wir wurden gedrillt und nicht immer <sanft> gezwungen Reife zu zeigen, sie vorzutäuschen, was natürlich in krassem Widerspruch zu unseren allzu leicht fließenden Tränen stand. Kindliche Wünsche, Hoffnungen und Träume galt es auszumerzen.
Wir sollten unseren Mann stehen, die tapferen, an der unerbittlichen Feindesfront kämpfenden Väter ersetzen - <der Führer kann keine Weichlinge gebrauchen>. Der Begriff <Waschlappen> machte die Runde. Jeden Tag konnte man aus irgendeiner ideologisch verbrämten Ecke diesen Begriff hören. Und auch von unserem Herrn Lehrer Barbay. Aber warum gerade Waschlappen? Die Erklärung dazu - aus berufenem Nazi-Munde natürlich - habe ich vergessen. Muss wohl nicht sehr überzeugend gewesen sein.
Ein Klaps eines braun Uniformierten auf die kindlichen, knochigen, dürren Schultern, verbunden mit der Bemerkung: „Jetzt bist du der Mann im Haus, dein Vater ist im Dienst am Vaterland, für eine größere Sache gefallen“, das musste reichen, aus einer mehr verängstigten Natur einen Kerl zu machen. Einen Chef der Familie, wenn denn der Papa irgendwo im Dreck einer Front in fremden Ländern sein Leben ausgehaucht hatte.
Gleichwohl konnten die kindlichen Augen auch erglühen, wenn sie vom urlaubenden Vater Heldengeschichten erwarteten. <Wieviel Feinde hast du erschossen?> Gerne hätte man mit solchen Heldengschichten bei Freunden, Jugendführern oder gar Lehrern angegeben: <Mein Papa ist dabei den Krieg zu gewinnen - wir gewinnen doch? Papa?> Und das Fragezeichen ist an dieser Stelle zwar angebracht, war berechtigt, aber im Nazi-Staat doch wieder völlig fehl am Platz. Das nannte man, wenn es auf den Satz eines Erwachsenen folgte - <Wehrkraftzersetzung> und konnte direkt in ein KZ führen. Für solche Leute war Dachau zuständig. Ja, ich habe das auch, nicht nur ein paarmal gehört: (Unter Erwachsenen) „Halts Maul, sunschd kummche noh Dachau.“
Also kein Fragezeichen. Es müsste ein Ausrufezeichen sein. Ein großes Ausrufezeichen - dick und fett. So wollte es der Führer. Das Fragezeichen an sich, ohne jede niedere Absicht angehängt, konnte für einen Erwachsenen bereits außerordentlich gefährlich sein. Ein Fragezeichen an sich, dann noch am Ende eines Satzes, der in irgendeiner Beziehung zur Partei stand, das war einfach bösartiger Widerstand. Je weiter der Endsieg in eine undefinierbare Ferne rückte, konnte so ein kleiner Schnörkel mit einem angehängten Pünktchen sogar ein Todesurteil begründen. Man denke an die vielen schönen nummerierten Apfelbäume Richtung Hirschhorn.
„Zersetzung der Wehrkraft! - Wehrkraftzersetzung! Wer sich wohl solche Sprüche ausgedacht hatte? (Fragezeichen!)
Gefühlvolle Zuneigungen? - Das waren nur nutz- und wertlose Gefühlsduseleien in diesen bösartigen, harten Zeiten. „In diesen Zeiten, in denen unserem Volk eine harte Prüfung auferlegt wird.“ In denen uns der Feind bedrängt - (Vielfach gehörter Spruch der braunen Elite). In denen unser Vaterland in Gefahr ist. Eine Umarmung, eine liebevolle Umarmung, die gebührt einzig und allein unseren tapferen Helden, unseren Gefallenen, unseren toten Helden, die für das Überleben der überlegenen Rasse ihr Leben hingegeben haben. Sie sollen einzig und allein unser Vorbild sein. Verabschieden wir uns also von gefühlsduseligen Märchen. Das bedeutet Verweichlichung und dient nur unseren Feinden.
Eine Verehrung, eine Zuneigung, das verfügbare Potential einer Liebe stand nur einem zu, galt nur in einer Zielrichtung, nämlich unserem geliebten Führer. So, oder nahe daran, kann ich diese Sprüche aus Reden der verschiedenen braunen Bonzen mit Glitzerorden - aus dem Mund eines sogenannten Goldfasan - zitieren. Solche Zitate und immer wiederkehrende Sprüche kann ich heute noch mit ziemlicher Treffsicherheit aus meinem Gedächtnis abrufen. Ich frage mich dann aber doch, weshalb ein solcher Mist wie eingebrannt wirkt. Denn auch verbaler Mist gehört auf eine Mistkaut. Und davon gab´s inWeilerbach doch genug.
Man raubte uns systematisch die kindliche Unschuld. Verträumte Spiele, die liebevollen Empfindungen mit den uns umgebenden Kreaturen der Natur, das vertrauensvolle Kumpel sein - ausgetrieben! Dafür ist es nicht die Zeit. Im Ernst. Es musste ersetzt werden durch feurigen Patriotismus und vorneweg kann man ja nur eine einzige Liebe haben, eine einzige Vorliebe, unseren Führer. Ja, immer wieder und immer wieder.
Das Spielen als Selbstzweck wurde ausgetrieben, ersetzt durch Wettbewerb im stärker sein, grober und brutaler sein, schneller sein, fintenreicher sein gegenüber den Kameraden - hinterhältiger, neidvoller bis zum hässlich sein. Das konnte die Seele wärmende Belobigung einbringen.
Eine blutige Nase? Wenn es die Nase eines <anderen> war, dann wurde man belobigt - das hat nichts mit Freundschaft zu tun. Flennte der Geschlagene, wurde er hemmungslos ausgelacht. Die es zuwege brachten, machten Witze darüber. „Aus dir kann niemals ein richtiger Kerl werden, du bist und bleibst eine Memme, ein Waschlappen, geh´und klammere dich an den Schürzenzipfel deiner Mutter“, ha, ha, ha.
Und noch einmal: ha-ha-ha.... Auch diese Situationsbeschreibung liegt definitiv im Rahmen der damaligen Realität, der Wahrheit.
Leicht konnte da ein lieber, stiller und netter kleiner Kerl - vielleicht schon ein Halbwaise, weil sein Vater niemals mehr wiederkommen würde, er ihn niemals wiedersehen konnte - ins Fadenkreuz eines prügelnden Wüterichs geraten. Und wehe, man nahm den Geprügelten in Schutz. Das hätte gerade noch gefehlt: Mitleid!
Mitleid?
<Wo kommen wir da hin? Hat unser Feind vielleicht auch Mitleid mit uns, wenn wir mit vor Angst vollgeschissenen Hosen im Trommelfeuer an der Front stehen? Wer jetzt nicht abgehärtet wird, den wird man auch nicht bei der ehrenhaften Verteidigung unseres Führers, unseres Volkes und Vaterlandes gebrauchen können.>
Oh ja, sie wussten es wie man kleine Seelen schliff und formte. Sie hatten alle eine Überzeugung und dazu kam eine perfekte und perfide Ausbildung. Beides zusammen konnte zu einer krankhaften Selbstüberschätzung führen. Und sie ließen ihre indoktrinären Sprüche weiter auf uns los. -- Diese treuen und überzeugten Nazis.
<Männer müsst ihr werden, keine Angsthasen und Jammerlappen - Waschlappen.> „Waschlappen“ war ein alles totschlagendes und erdrückendes Schlagwort. Furchtlos hatten wir zu sein, wenn es sein musste, dann auch dem Tod in´s Auge blicken können - ein ebenfalls oft benutztes Schlagwort. „Erst dann könnt ihr ein wertvolles und ehrenhaftes Mitglied unseres Volkskörpers werden. Nur der Härtere wird belohnt werden. Er wird der Bessere sein und siegen. Heulsusen sind Fremdlinge in unserem Volkskörper. Das ist keine deutsche Art. Unsere Rasse besteht aus harten Männern. Und zu denen werden wir euch machen. Alle Verweichlichten werden ausgemerzt werden.“
Letztendlich konnten es die meisten gar nicht erwarten hart zu sein. Hart zu werden. Zehnjährige zählten auch dazu. Wir glühten in Vorfreude.
(unnötige) Anmerkung: Die Geschlechter waren natürlich getrennt. Mit den Mädchen kamen wir nur in der Schule zusammen - das zweimal zwei Stunden pro Woche. Was sie sonst trieben oder treiben mussten, entzieht sich meiner Kenntnis. Heute weiß „man“ es - sie wurden für das noble Muttersein herangezüchtet. Sie erfuhren, dass sie, wenn sie dereinst mehr als 5 Kinder für den Führer gebären würden, mit dem Mutterorden oder einem Mutterkreuz ausgezeichnet werden. Jedenfalls irgendeine Urkunde würden sie dann für ihren wertvollen Beitrag für einen wachsenden Volkskörper erhalten.
Bei den Jungs: Verrohung allgemein, überall. Barbarisches gehörte zum Alltag. Man erlebte es, man sah es, es wurde immer alltäglicher, natürlicher, normaler. Freunde, mit denen man noch vor kurzem mit Gummischleudern auf Spatzen <schoss>, ersannen Mutproben, wurden zu kleinen, aber effektiven Scheusalen, die sich nicht scheuten einem weniger brutal eingestellten, einen Stein an den Kopf zu werfen. Und sie brüsteten sich noch mit ihrer Treffsicherheit.
Sie trieben als Jammerlappen gebrandmarkte zusammen und schlugen sie mit Haselnussruten blutig. Sie kannten kein Erbarmen, sie hatten sich genau eingeprägt, was der <Braune> gesagt hatte. Es gab deswegen genügend Freiwild, an denen man seine Grobheiten ausleben konnte. Sie versuchten sich gegenseitig an Perversität zu übertreffen. Sie fühlten das Recht auf ihrer Seite. Und über das (Un)Recht des über alles verehrten Führers.
Papa war an der Front oder bereits gefallen. Die Mütter fühlten sich machtlos und wehe sie ergriffen für ihren vaterlosen Sprössling Partei. Dem erging es dann bei nächster sich bietenden Gelegenheit noch schlechter. Wieder getreu den verantwortungslosen Sprüchen der <Braunen>. „Memme, Mutterkind, Waschlappen, klammert sich an die Schürze, ist nicht Kerl genug, Heulsuse, Jammerlappen.“ Schutz oder Hilfe konnte ein Schwacher nicht erwarten. „Er muss halt sehen, dass er lernt sich durchzusetzen. Das ist die harte Schule des Lebens. Später wird er dafür dankbar sein.“ Dem geliebten Führer und seinen Stellvertretern, jenen die ihn zum wahren Mann gemacht haben.
Die Entfesselung und das Einpflanzen dieser seelischen und physischen Grausamkeiten darf sich, zumindest in mitentscheidendem Maße, der ehrgeizige, damalige einschlägig geschulte Führer der Jungschar auf seine Habenseite schreiben. Besonders bitter: Er hielt diese „einfühlsame erzieherische Belehrungsform“ buchstäblich bis zu den letzten Kriegstagen - ach was - bis zu den letzten Stunden durch. (Erzieherische Autorität noch am Vormittag des 19. März 1945, als die Amis schon nahe den Weilerbacher Panzersperren standen und zum Sprung in die Festung Weilerbach ansetzten.) Derart, dass wir Betroffene auch noch nach dem Einmarsch der Amis glaubten, er würde auch unter diesen veränderten Bedingungen in den nächsten Tagen wieder zu Wett„Kampf“ und „Spiel-Kriegs-Abenteuer aufrufen.
Wir würden uns wieder auf dem Schellenberger Hof treffen, im umliegenden Wald - „unserem Kriegsschauplatz“ - oder zu Kriegsspielen in der Hardt, vielleicht auch im Weilerbacher Wäldchen. Dort, wo es wieder Fahnen symbolisierende Stofffetzen von einem Baum zu holen gilt, die den Baum und den Fetzen Verteidigenden <kaltzustellen>, niederzuringen - schlauer, schneller, brutaler.
Zeitenwende in Weilerbach: 19. März 1945.
Es musste eine recht lange Zeit vorübergehen - ich spreche hier nicht von Tagen oder Wochen - bis wir unter uns Kindern so langsam das Gefühl erlangten, „der“ oder „jener“ ex-Braune ist keine autoritäre Respektsperson mehr. „Der führt“ uns nicht mehr. (1) „Der“ ist weiter nichts mehr als ein anderer „armer Arsch“.
Allerdings ...! wurde unser „JugendFÜHRER“ im neuen Nachkriegsdeutschland alsbald in den „Beamtenstand“ berufen.
Der lange Arm Hitlers zeigte sich seinen Getreuen dankbar.
3
In den Wirren der Zeit
Niemand soll in diesem Buch persönlich angegriffen oder gar verleumdet werden. Viele Namen, aber auch manche Beschreibungen habe ich verändert - damit jedoch nicht entwertet oder verfälscht. Sie können keiner Person oder Familie mehr zugeordnet werden. Schauplätze sind kaum verändert. Jeder Weilerbacher und Weilerbacherin soll sich an ihnen orientieren können. Wer trotzdem glaubt sich irgendwo, irgendwie wiederzuerkennen, möge dies als ein Trugschluss seiner Erinnerung verkümmern lassen. Bösartige Absichten stecken keinesfalls dahinter.
Der Wahrheitsgehalt, beziehungsweise was Kinder unter zehn Jahre dementsprechend empfinden/empfanden, hat darunter kaum gelitten. Es soll auch nicht um eine Verurteilung oder eine Abrechnung gehen, sondern um das, was Kinder erlebt, gesehen, gehört und gefühlt haben. Das steht im Vordergrund.
Auch ich schwamm, ich mühte mich ehrlich inmitten des Meeres der damaligen Ereignisse, eines furchtbaren Zeitablaufes, zu schwimmen. Ohne, um metaphorisch zu bleiben, jemals schwimmen gelernt zu haben. Und auch über mir schienen gelegentlich die hochgehenden Wogen der Ereignisse zusammenzuschlagen.
Beschreibungen über jene, die damals von oben her, von (Un)Rechts wegen das Sagen und Bestimmen hatten, musste ich mit einer gewissen sarkastischen Geschmacksprise würzen. Nur so konnte ich das Hervorkramen und Niederschreiben der Erinnerungen, ohne gebührend nachtragend zu sein, verkraften.
Weilerbach hat seine eigene Geschichte, doch insgesamt kann dies auch in diesem überschaubaren Raum nur die Summe aller Einzelschicksale sein. Das Zusammenwirken und Zusammenlegen aller Erfahrungen eines jeden Einzelnen.
Nun, liebe Weilerbacherinnen und Weilerbacher, das Buch erhebt also bei weitem nicht den Anspruch ein Konvolut objektiver Geschichtsschreibung zu sein. Das muss ich, das will ich, zumindest aufgrund fehlender fachlicher Bildung und Vorbedingungen, anderen überlassen. Anderen, die die Ereignisse von außerhalb betrachten können, also bestimmt keinem Weilerbacher. Der könnte nämlich, so wie ich, nicht ganz vorurteilsfrei sein.
Meine Sichtweise war sehr eingeengt. Ich war ja nicht in allen sozialen Schichten und Altersstufen zuhause oder eingebunden. Mein Erlebnisbereich war demnach natürlich eingeschränkt. Mein Interesse aber an diesem Zeitabschnitt erweiterte sich und ist meiner natürlichen Neugier sowie meinem Drang für Erklärungen der Geschehnisse und auch meinem Wissensdurst geschuldet.
Das Akzeptieren einer abgrundtiefen Verblendung, die bedingungslose Akzeptanz des wirklich verlorenen Krieges, die Schuld unseres Volkes zu erkennen, die Herabstufung von Blendern, das Ergreifen ausgestreckter Sieger-Hände, das alles und noch viel mehr, das brauchte auch bei mir seine Zeit.
Und Geschichte kann nur ehrlich und belehrend sein, wenn sie sich wertungsfrei an die tatsächlichen Abläufe und Zusammenhänge hält. Ein Kind kann jedoch noch kein Geschichtsprofessor sein. Und meine Darlegungen sind aus der Sicht eines Kindes zu verstehen.
Als Teil der lokal eingeengten Geschichte werde ich mich wahrscheinlich niemals ganz emotionslos äußern können. Ich kann natürlich nur von mir sprechen, wenn ich erkenne, wie tief in mir auch heute immer noch letzte Reste von Vorurteilen festsitzen. <Da kannst Du kämpfen und Dich selbst überzeugen solange und so viel Du willst, ein letzter Rest Dreck bleibt immer irgendwo.> Und diese Dreckflecken muss man immer wieder bekämpfen. Ob man dann auch durch die ganze Linie Erfolg hat, haben kann, weiß ich nicht, wage es aber zu bezweifeln.
Eines aber ist mir glasklar, dass ich weder objektiv noch emotional oder sonst wie ein Nazi oder Neonazi bin oder geworden bin. Dazu braucht es eine gute Portion Dummheit und an der mangelt es mir offenbar.
Was mir außerordentlich geholfen hat, waren meine langjährigen Auslandsaufenthalte. Ich kann meinen Entschluss dazu nur in höchsten Tönen und von Herzen kommend begrüßen. Erst da lernte ich etwas kennen, Substanzen erleben, deren Existenz von unseren Erziehern im Dritten Reich vehement abgestritten wurde.
(Meine erste Reise führte mich nach Ecuador, später in alle Länder Südamerikas. Dazu habe ich drei Manuskripte fertig, die ich gerne noch als Bücher veröffentlichen möchte.)
Den Unterschied in meiner Sichtweise, in meiner Mentalität, merkte ich erst, als ich einmal wieder in die Heimat kam und meine Freunde und Kumpels total verändert vorfand. „Nein“, klärte mich mein viel älterer Freund Dr. Fränznik auf, „die haben sich nicht verändert. Du hast Dich verändert. Trauere nicht. Freue Dich!“
Dann erfuhr ich, dass auch er in jungen Jahren, vor dem Krieg, mithalf das mir sehr gut bekannte damalige Gelbfiebernest, den ecuadorianischen Hafen GUAYAQUIL von seinem Fluch - eben dem Gelbfieber - zu befreien. Hut ab, mein alter Freund, ich kann nachfühlen, was das bedeutet hat.
Auch ich habe in dieser Stadt noch von seinem Wirken profitiert.
Die <Festung Weilerbach - die Amis kommen> ist auch keine chronologische Aufeinanderfolge der damaligen Abläufe. Allein schon aus der Tatsache, dass es zutiefst kindliche Ansichten und Gefühle hervorkehrt, ist das Zeitgefühl alleinbestimmend. Einem solch gefühlten zeitlichen Ablauf folgend, fügen sich Erlebnisse ein in das unbequeme Bett des damaligen Zeitenlaufs, der damaligen Dramaturgie.
So wie wir in einer Nacht unterschiedlichste Träume haben können, so reihen sich auch hier die Erlebnisse aneinander, ineinander und sicher durchaus auch mal durcheinander.
Gegebenenfalls bitte ich um Nachsicht.
Erinnerungen an das <Einrücken> meines Vaters habe ich wenig. Wahrscheinlich habe ich die gleichen Sprüche gehört, wie sie Millionen andere Kinder im Großdeutschen Reich auch gehört haben. <Er geht in den Krieg. Er kommt bald wieder. Der Krieg ist bald vorbei. Wenn wir gewonnen haben, ist er ganz schnell wieder da.> Und Millionen kamen dann doch nicht wieder, wie versprochen. Versprochen von verängstigten Müttern, Geschwistern, Großeltern (die es ja hätten besser wissen sollen) und vor allem versprochen von den Bonzen aus Hitlers <National-Sozialistische-Deutsche-Arbeiter-Partei.
Von einem gewonnenen Krieg ganz zu schweigen.
Vater war auch sonst nicht da, in den Vorkriegsjahren, wenigstens über Tag nicht. Er hatte seine Arbeit als Spinnmeister auf der Lampertsmühle. Eine gute und auch gutbezahlte Anstellung.
In der betrieblich organisierten Musikkapelle spielte er Trompete. Wie alle Vereine wurde auch dieser Club von den Nazis vereinnahmt - gleichgeschaltet. Es war alsbald kein Betriebsmusikverein mehr, sondern der „NSDAP-Musikverein Lampertsmühle“. Alle Vereinsmitglieder wurden geschlossen in die NSDAP verschoben oder ausgeschlossen. Vater spielte weiter und war also - so gesehen - Nazi. -Nazitrompeter!-
Der Samstag ging stets schnell vorbei. Vormittags war Vater auf Arbeit. Er kam so gegen 3 oder 4 Uhr mit dem Zug nach Hause.
Am Nachmittag wurde man im Wäschezuber von oben bis unten geschrubbt und getrimmt für das Wochenende - und vorausschauend für die ganze kommende, neue Woche. Es gab eine Ganzkörperwäsche - „ob es notwendig war oder nicht“ - wie so gelästert wurde.
Die verzinkte Wanne wurde hinreichend mit Wasser gefüllt, das in Töpfen und im „Schiff“ auf dem Kohleherd erwärmt worden war. Die Reihenfolge im „Baden“ ist mir nicht mehr geläufig - Vater-Mutter-ich oder umgekehrt. Jedenfalls war jeder/jede dann mal wieder für eine Woche mit Kernseife saubergeschrubbt.
Die recht undurchsichtige Brühe kam in den Abfluss. Dieser mündete dann oberirdisch nach draußen in die gepflasterte Straßenrinne. - den „Klaame“. An jeder Hausfront gab es, gut sichtbar, diesen Ausfluss. Wo nichts auf die Straße herauskam, da wurde die wöchentliche Badreinigung nicht durchgeführt. Kanal war unbekannt. Es wäre auffällig gewesen, wenn an einem Haus um diese Uhrzeit nicht ausgiebig Wasser - Seifen-Brühe - aus einem Haus herausgelaufen wäre. Wohnten da vielleicht keine reinlichen Leute? Das konnte dann unter den dorfbekannten Tratschtanten leicht zu negativen Kommentaren führen.
Bereiten Sie sich darauf vor, über diese Tratschtanten wird noch ziemlich vielfältig berichtet werden.
An frostigen Wintertagen summierten sich die Ausgüsse zu wunderschönen Eisflächen. Diese wurden dann ausgiebig für das Standart-Wintervergnügen „glitschen“ genutzt. Allerdings konnten sich auf oder in diesen Eisflächen tückische Untiefen bilden, wenn warmes Wasser das Eis teilweise schmelzen ließ oder rissig machte. Dann musste man eben auf eine noch intakte Klitsche an anderer Stelle ausweichen.
Am Sonntag war, sofern es das Wetter zuließ, Besuchstag bei den Omas und Opas. Ich kann mich erinnern, dass ich in jener Zeit einen recht verträglichen Charakter an den Tag legte und dafür durchweg gelobt wurde. (Wenigstens wurde ich gelobt - verdient oder nicht, lässt sich aus biologischen Gründen nicht mehr belegen.)
Und genau an solchen Tagen fehlte mir jetzt mein Vater. Sonntags fragte ich nach ihm.
Und es war die allgemeine Zeit, in der ich immer unbezähmbarer wurde. Nicht alle Tanten und Onkels waren nunmehr mit meinem Verhalten oder „Benehmen“, was immer sie darunter verstanden, zufrieden. Vater, der ruhende Pol in der Familie, fehlte eben. Vielleicht ist es auch nur meine billige Entschuldigung. Aber was sonst sollte meinen Lebensweg in diesem sechsten Lebensjahr geprägt haben?
Wie wir wissen, zog sich der Krieg doch in die Länge. Mit dem schnellen Siegen war nichts. Vater blieb also dauerhaft länger weg. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr kamen die Kriegsereignisse und -erlebnisse noch dazu. Die Schule füllte mich leider nicht aus. Eine ruhige, regulierende Hand fehlte. Meine Mutter war überfordert und ich wurde immer „wierischer“. Ich glaube, dass es im Hochdeutsch keine Entsprechung gibt und so versuche ich es mit einer vergleichenden Beschreibung: Rebellisch, aufmupfend, unruhig, vorwitzig, rechthaberisch oder dominant, Antreiber und Anführer, im Großen und Ganzen aber schlichtweg unausgelastet, mit überschäumender Unternehmungslust, risikofreudig usw. Kurz:
Ich war wierisch. („´m Fritz seiner, der iss wierisch“)
Dass mein Vater nicht da war, gut oder schlecht, wir Kinder konnten da ja nicht Erfahrens- oder Vergleichswerte heranziehen. Wir konnten mit den viel zitierten Friedenszeiten absolut nichts anfangen. Wir konnten uns auch unter schwärmerisch beredeten Friedenszeiten nichts vorstellen. Zudem erschienen uns/mir verschiedene begeisterte Beschreibungen schlicht unglaubwürdig und sie hatten den Geruch von Aufsässigkeit gegenüber unserem „geliebten Führer“.
Der Begriff Friedenszeiten wurde, je länger wir die Schule besuchten, mehr und mehr unerwünscht bis geächtet, ja auch verachtet. Nach heutiger Einschätzung wurde es mehr zu einer Art Unwort. Doch darüber und die Eilfertigkeit, mit der unser „Herr“ Lehrer Barbay dieses Thema ausschloss, in einem der folgenden Kapitel.
Es war uns Kinder nicht bekannt, wieviel besser es gewesen wäre, wenn wir den Vater jeden Tag, wenigstens zeitweise um uns gehabt hätten. Und ich war eingespannt zwischen meiner prügelnden Mutter und dem ebenfalls mit dem Rohrstock prügelnden „Herrn“ Lehrer. Jener Lehrer Barbay der uns das süße Gift von Liebe zum Führer einerseits und andererseits den Hass und die Verachtung auf alle Menschen irgendwo im Ausland einträufelte - oder auch einbläute.
Wenn Vater nicht im Krieg war, hatten wir sowieso auch nicht viel von ihm. Auch meine Kameraden nicht. Die Väter verschwanden sehr früh morgens zu ihren Arbeitsstätten, lange bevor wir Kinder ausgeschlafen hatten. Der <erste Zug> nach der Stadt ging um halb sechs. Die meisten nahmen ihn, weil <die Arbeit> um sieben begann.
So kamen auch die meisten abends entweder mit dem <Sechsuhrzug>, dem <zehn vor sieben> oder noch später. Der <Fünfuhrzug> brachte am Nachmittag nur jene, die das Glück hatten, früher Feierabend zu haben - in der Stadt, oder in der Zigarrenfabrik in Erfenbach arbeiteten.
Oder auch jene, die nach Betriebsschluss keinen mehr heben gingen. Oder alternativ auch im Zug die Schnapsflasche kreisen ließen.
Zunächst plätscherten die Kriegs-Ereignisse derart dahin, dass ich eigentlich nur Gutes an dem Krieg fand. Es wurde fortlaufend gesiegt - so viel konnte ich mitbekommen. Na also, ging doch!
So kamen aus Frankreich einige Spielsachen, ein paar Kleidungsstücke für Mutter, tolle Postkarten, die ich bald allein lesen konnte. Immer wieder und immer wieder lesen wollte.
Dann kam Vater auf Urlaub, in voller Uniform. Sauber und gebügelt. Staubfrei. Stolz war ich an seiner Hand. So ein Unteroffizier gab schon was her. Alles andere verblasste für mich daneben. Schnell waren dann wieder die Urlaubs-Tage vorbei und ich nahm meinem Vater das Versprechen ab den Krieg bald zu gewinnen. Das würde auch unseren Führer freuen.
Wir Kinder, Kumpels, Freunde, waren dann wieder unter uns. Kriegsspiele standen wieder auf der Tagesordnung. Wir fieberten alle dem Tag entgegen, an dem wir in die Hitlerjugend, zunächst ins Jungvolk, aufgenommen werden konnten. Wir zählten die Jahre, die Monate, die uns noch fehlten, bis wir eingezogen werden konnten. Dann würden wir unser Leben dafür einzusetzen, damit unser Großdeutsches Reich den totalen Sieg erringen konnte. Wir wollten die absolut besten Soldaten sein. Jede Menge Feinde töten - abschießen - bum - peng - batsch. Der Führer sollte stolz auf uns sein können.
Kriegsspiele im kleinen Kreis dienten als <Übungen>. Manöver. Wir teilten eine Gruppe in Franzosen und Deutsche ein. Keiner wollte verständlicherweise Franzose sein. Die hatten einfach immer zu verlieren. Wäre ja noch schöner, wenn die gewinnen würden - undenkbar.
„Ich will nicht schon wieder Franzose sein. Ich will auch mal wieder gewinnen. Immer muss ich unter die Verlierer. Du warst schon lange nicht mehr dabei, du willst immer gewinnen!“ Dieses Maulen fand logischerweise und regelmäßig statt, wenn wir einmal wieder „unseren“ Krieg planten unddie kämpfenden Parteien aufzuteilen versuchten. Die Modalitäten hatten wir älteren Jahrgängen abgeschaut.
So war es unter Umständen schon recht schwierig einen ordentlichen Spiel-Krieg zu organisieren. Es fehlten einfach die freiwilligen Feinde. An Feinden allgemein fehlte es. Bis es dann aus den Manövern in richtige Schlachtensimulationen ging.
Dann vereinbarten wir nämlich wieder eine Schlacht mit den Sandhüblern. Dorf gegen Sandhübel. Die Eisenbahnlinie war die Front, die Trennungslinie, die Grenze. Und bei solchen Schlachten wurden keine Sieger und Verlierer vereinbart. Möge der Bessere gewinnen.
Munition lag reichlich direkt auf der Trennungslinie zwischen den feindlichen Lagern. Schottersteine der Eisenbahnlinie Otterbach-Reichenbach. Jede Gruppe legte sich Vorräte auf Kosten der Gleisbefestigung an. Jeder schleppte sich mit möglichst vielen Basalt- oder Granitbrocken die Böschungen hinauf. Die Geschosse flogen dann über den tiefen Einschnitt, nahe dem heutigen Sportplatz, den an dieser Stelle die Eisenbahn zu durchfahren hatte. Hecken auf beiden Böschungsrändern boten hinreichend Deckung wie es sich gehört. So wie wir es mittlerweile von unserem Jungscharführer der Hitlerjugend gelernt hatten. Oder von jenen, die schon länger Erfahrungen beim <Kampf> sammeln konnten - Dorf gegen Sandhübel.
Peinlich für die Seite, die nicht reichlich genug vorgesorgt hatte, denen die <Munition> ausging. Sie wurde dann in der Regel in die Flucht geschlagen, mit einem Sturmangriff direkt die Böschung hinunter und auf der anderen Seite hinauf. Vielleicht auch verbunden mit einem Zangenangriff, durch den dem Gegner eine Einkesselung drohte. Diese Schlacht war dann entschieden. Bei der nächsten würden wir es ihnen dann wieder zeigen.
Die besten Werfer wurden für den Angriff eingeteilt. Die schnellsten wurden für Zangenbewegungen ausgewählt und die kleineren für den Nachschub eingewiesen. Dazu gehörte ich. Ich rannte dann mit Anderen parallel der Bahnlinie Richtung Weilerbach oder Schwedelbach. Wir stopften uns abseits der Kampfhandlungen die Hosen voller Steine und packten uns die Arme voll. Dann rannten wir zurück zu der Infanterie im Kampf.
Es gab da noch einen gewaltigen Riss, eine sonst unsichtbare Feindlinie, quer durch Weilerbach. Auf der einen Seite die Evangelischen, auf der anderen die Katholischen. Doch seltsamerweise kämpfte man die Schlachten gemischt. Hin und wieder kam es dann doch mal vor, dass auch mal Händel zwischen den Konfessionen ausgetragen wurde. Händel nicht im Sinne von Streit, sondern des Kampfes wegen.
Die Katholischen waren fast immer die Verlierer und es wurmte uns Katholiken, dass schon allein durch die Struktur die anderen, die Evangelischen, die Sieger sein mussten. Sie waren uns im Verhältnis von 3:2 zahlenmäßig überlegen. Soweit besagte es die Weilerbacher Bevölkerungsstatistik.
Besondere Attraktionen waren die Schlachten zwischen Rodenbachern und Weilerbachern. Dazu mussten Allianzen geschmiedet werden. Nur wenn die Fraktion der <Sandheweler> (Die Bewohner des Sandhübels) mitmachten, was keinesfalls immer der Fall war, konnten wir siegen oder wenigstens ein Patt halten. Wir hassten es, den Rodenbachern unterlegen zu sein. Konnten aber auf unserem Felde der Ehre wenig daran ändern. Das Feld der Ehre räumten wir Weilerbacher in der Regel, zumindest immer dann, wenn sich der Gegner einig war. Und das war er meistens, im Gegensatz zu unseren Truppen.
Es kam zu Vereinbarungen und das Schlachtfeld wurde durchweg in die Äcker und Wiesen zwischen den beiden Dörfern gelegt. (Heute Gewerbegebiet, unter anderem mit Supermärkten.) Beschämend, dass wir meistens bis hinter die Bahnlinie zurückgetrieben wurden. Die Munitionsvorräte kamen so in den Besitz der Rodenbacher, am Bahndamm mit seinen Schottersteinen konnten sie sich bedienen.
Militärisch gesehen mussten wir
