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Paris 1940: Die Wehrmacht besetzt die französische Hauptstadt und der deutsche Physiker Wolfgang Gentner wird ans Collège de France beordert, um den Nazis neue Forschungserkenntnisse und Material für die Kernspaltung zu verschaffen. Doch der Leiter des Labors ist ein langjähriger Freund und der Auftrag der Beginn einer verdeckten Zusammenarbeit. Kurz vor Hitlers Machtergreifung im Jahr 1933 lernen sich der junge Wissenschaftler Wolfgang Gentner und sein französischer Kollege Frédéric Joliot-Curie amInstitut du Radium in Paris kennen. Es ist die Zeit bahnbrechender Erkenntnisse der Physik, von Albert Einstein bis zu Marie Curie. Gentner forscht gemeinsam mit Curies Tochter Irène und ihrem Mann Frédéric zu künstlicher Radioaktivität. Experimente, die den Joliot-Curies den Nobelpreis einbringen werden. 1940 kehrt Gentner im Auftrag des deutschen Uranprojekts nach Paris zurück. Er soll Joliot-Curies Forschung überwachen und den Nazis wichtige Erkenntnisse für den Bau der Atombombe sichern. Doch der französische Kollege beginnt, verdeckt für die Résistance zu arbeiten, sein Labor wird zum Zentrum des Widerstands. Gentner kooperiert scheinbar mit den Nazis, denkt sich immer neue Vorwände aus, um die Deutschen am Zutritt zum Labor zu hindern und die Freilassung französischer Widerständler aus den Fängen der Waffen-SS zu bewirken – ein doppeltes Spiel, bei dem Gentner alles riskiert und das seinen Freunden gleich mehrfach das Leben rettet.
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Seitenzahl: 287
Veröffentlichungsjahr: 2024
Astrid Viciano
Wie Kernphysiker mithalfen, die Atombombe der Nazis zu verhindern
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Über Astrid Viciano
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Astrid Viciano ist seit mehr als 20 Jahren Wissenschaftsjournalistin. Als Redakteurin war sie u.a. für stern,Die Zeit und Süddeutsche Zeitung tätig. Ihre Arbeit wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Holtzbrinck-Preis für Wirtschaftspublizistik. Sie lebte mehrere Jahre in Sceaux, jenem Vorort von Paris, in dem auch Marie Curie mit ihrer Familie wohnte.
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Paris 1940: Die Wehrmacht besetzt die französische Hauptstadt und der deutsche Physiker Wolfgang Gentner wird ans Collège de France beordert, um den Nazis neue Forschungserkenntnisse und Material für die Kernspaltung zu verschaffen. Doch der Leiter des Labors ist ein langjähriger Freund und der Auftrag der Beginn einer verdeckten Zusammenarbeit.
Kurz vor Hitlers Machtergreifung im Jahr 1933 lernen sich der junge Wissenschaftler Wolfgang Gentner und sein französischer Kollege Frédéric Joliot-Curie am Institut du Radium in Paris kennen. Es ist die Zeit bahnbrechender Erkenntnisse der Physik, von Albert Einstein bis zu Marie Curie. Gentner forscht gemeinsam mit Curies Tochter Irène und ihrem Mann Frédéric zu künstlicher Radioaktivität. Experimente, die den Joliot-Curies den Nobelpreis einbringen werden.
1940 kehrt Gentner im Auftrag des deutschen Uranprojekts nach Paris zurück. Er soll Joliot-Curies Forschung überwachen und den Nazis wichtige Erkenntnisse für den Bau der Atombombe sichern. Doch der französische Kollege beginnt, verdeckt für die Résistance zu arbeiten, sein Labor wird zum Zentrum des Widerstands. Gentner kooperiert scheinbar mit den Nazis, denkt sich immer neue Vorwände aus, um die Deutschen am Zutritt zum Labor zu hindern und die Freilassung französischer Widerständler aus den Fängen der Waffen-SS zu bewirken – ein doppeltes Spiel, bei dem Gentner alles riskiert und das seinen Freunden gleich mehrfach das Leben rettet.
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Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln
© 2024, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Lisa Neuhalfen
Covermotiv: Irène et Frédéric Joliot-Curie au laboratoire, 1935.
Photo: Henri Manuel © Musée Curie
Lektorat: Wolfgang Hörner
ISBN978-3-462-31321-5
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Kapitel 1 Die Jagd nach schwerem Wasser
Kapitel 2 1933: Der Beginn einer schicksalhaften Freundschaft
Kapitel 3 Rückkehr in eine fremde Heimat
Kapitel 4 Deutsche Besatzer am Collège de France
Kapitel 5 Verfolgung französischer Wissenschaftler
Kapitel 6 In den Händen der Sicherheitspolizei
Kapitel 7 Die Fäden gleiten aus der Hand
Kapitel 8 Terror und Flucht
Kapitel 9 Die Befreiung
Epilog
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Register
Dank
Bildteil
Ausgerechnet an einem Wochenende machen sich ein Fabrikdirektor und ein Bankier auf den Weg, um einen geheimen Wettlauf gegen Nazideutschland zu gewinnen. Mitten in der eiskalten Nacht des 9. März 1940 fahren sie in getrennten Autos von Oslo aus in die entlegenen Berge am Rande des Vestfjord-Tals in Vemork, vorbei an finsteren Tannenwäldern und vereisten Berghängen. Zunächst erreicht Axel Aubert, der Direktor, das Ziel. Rasch öffnen die Sicherheitsleute das Tor zum Fabrikgelände, als sie die Scheinwerfer des nahenden Wagens sehen. Die Fabrikarbeiter sollen schnell eine durchsichtige Flüssigkeit in 26 Metallkanister abfüllen, weist Aubert seine Kollegen an. Ihm gefolgt ist Jacques Allier, Bankier und gleichzeitig Offizier der Sprengstoff-Einheit des französischen Geheimdienstes. Er hat den Auftrag, die unscheinbaren Behälter in seine Heimat zu bringen. Um jeden Preis. Denn der Inhalt der Kanister könnte entscheidend sein in jenem Krieg, der vor ein paar Monaten zwischen dem Hitler-Regime und den Alliierten begonnen hat. Entscheidend für den Wettlauf um die erste Atombombe.
In den Behältern befand sich schweres Wasser, eine Flüssigkeit, die damals als unverzichtbar für die Experimente der noch jungen Atomforschung galt. In Vemork, in einem Gebäude aus grauem Beton und Stahl des Wasserkraftwerks Norsk Hydro, lagerte der weltweit einzige Vorrat von 185 Kilogramm. Und der sollte nicht in die Hände der Nationalsozialisten gelangen. Vor wenigen Wochen erst hatten die Deutschen dem Fabrikdirektor ein Angebot gemacht. Doch Aubert hatte abgelehnt. »Falls Frankreich den Krieg verlieren sollte, werde ich sicher erschossen«, sagte er später seinem Gast aus Paris. Es drohte bereits die Invasion der Deutschen in Norwegen, auch Frankreich sollte in wenigen Monaten von der Wehrmacht überrannt werden.
Noch aber befand sich Frankreich in einem merkwürdig ruhigen Zustand, ähnlich wie bei einem Spaziergang an einem schwülen Sommertag, wenn ein Gewitter in der Luft liegt. Gemeinsam mit Großbritannien hatte es den Deutschen den Krieg erklärt, nachdem Hitler im September 1939 in Polen einmarschiert war. Die Länder befanden sich also im Krieg. Theoretisch. Doch tatsächlich war nichts davon zu merken. Eher symbolisch hatten die Franzosen in einem Grenzstreifen ein paar Dörfer besetzt. Sonst harrten sie einfach aus. Seit Tagen. Wochen. Monaten. Was zunehmend an den Nerven der beteiligten Regierungen zerrte.
Vor allem, weil bereits Gerüchte über mögliche Geheimwaffen der Deutschen kursierten. Auch deshalb waren die Franzosen alarmiert, als die Deutschen so große Mengen an schwerem Wasser in Norwegen bestellen wollten.
Am 19. Januar 1940 hatte das deutsche Unternehmen IG Farben bereits 1000 bis 2000 Kilogramm des schweren Wassers in Norwegen geordert, die ersten 500 Kilogramm wollten sie innerhalb von zwei Monaten erhalten, danach 110 Kilogramm pro Monat. Die Flüssigkeit solle bitte in Postpaketen geliefert werden, hieß es in einem Telegramm, gegen Kälte geschützt und mit Vorsicht behandelt.
Doch der Fabrikdirektor Aubert wurde hellhörig, fragte zunächst bei IG Farben nach, wofür sie die großen Mengen bräuchten: »Aus Ihrer Bestellung (…) zu urteilen, haben Sie neue Verwendungsmöglichkeiten für das schwere Wasser gefunden. Das haben wir mit großem Interesse wahrgenommen und empfangen sehr gern Ihre Erklärungen zu diesen neuen Verwendungen. Wie Sie wissen, haben wir bislang nur kleine Mengen für wissenschaftliche Zwecke geliefert, unsere Produktionskapazität beträgt nur etwa 10 Kilogramm pro Monat.«
In ihrer Antwort wich IG Farben den Fragen aus, erklärte Ende Januar nur schwammig, dass die Verwendung der seltenen Flüssigkeit künftig von ihren Forschungsergebnissen abhängen würde, sie jedoch hofften, es bald ständig zu benötigen, selbst in Friedenszeiten. Aubert wägte zunächst die Risiken ab, schrieb dann aber am 9. Februar zurück: »Wir bedauern sehr, dass Sie uns unsere Fragen auf Verwendung nicht weiter beantworten können.« Daher sehe er keine Möglichkeit, die Produktion des schweren Wassers zu erhöhen, erklärte Aubert. Und alarmierte wenige Tage später den Präsidenten der französischen Bank Paris et Pays-Bas, heute BNP Paribas, die eine Mehrheitsbeteiligung an der Fabrik in Vemork hält.
Die Atomforschung der Deutschen musste bereits weit fortgeschritten sein, so fürchtete die französische Regierung, die rasch im Bilde war. Womöglich hatten sie sogar den Physiker Frédéric Joliot-Curie vom Collège de France in Paris überholt? Der Nobelpreisträger hatte erst einen Monat zuvor einen Bericht über seine jüngste Forschung an den französischen Rüstungsminister, Raoul Dautry, geschickt. Joliot-Curie war mit der Tochter von Marie Curie verheiratet, gemeinsam hatten sie im Januar 1934 die künstliche Radioaktivität entdeckt und waren auf einen Schlag weltberühmt geworden.
Im Herbst 1939 hatte Joliot-Curie dem Militär bereits Vorschläge unterbreitet, wie er mit seinem Labor zur Verteidigung seiner Heimat beitragen könnte. Er wollte zum Beispiel radioaktiv markierte Tinte entwickeln, um geheime Nachrichten schreiben zu können, ein arsenhaltiges Gas zum Einsatz an der Front, auf Kohle basierte Explosiva.
Nun aber ging es dem Physiker um den Bau einer Maschine, die dem Antrieb von U-Booten dienen konnte, aber auch das Potenzial hätte, einen unübertroffenen Sprengstoff zu entwickeln. Um seine entscheidenden Experimente durchzuführen, brauche er jedoch Versuchsmaterial, schrieb Joliot-Curie, unter anderem den Vorrat an schwerem Wasser aus Norwegen.
Was es mit dieser Flüssigkeit auf sich hatte, konnte der Physiker auch schnell erklären: Die Wasserstoffatome normalen Wassers bestehen aus einem Elektron und einem Proton, negativ und positiv geladenen Teilchen. Schweres Wasser dagegen trägt noch ein neutrales Teilchen, ein Neutron, in seinen Atomkernen. Daher hat dieses Wasser ein höheres Atomgewicht, ist also besonders schwer. Und diese Eigenschaft machte es für Experimente zur Atomforschung unverzichtbar, so dachte man jedenfalls damals.
Wie kriegsentscheidend es daher sein konnte, die kostbare Fracht nach Frankreich zu bringen, musste Frédéric Joliot-Curie dem Rüstungsminister Dautry nicht lange erklären. Der 59-jährige Politiker hatte bereits eine lange Karriere hinter sich, setzte sich ohnehin vehement dafür ein, Forschung und Industrie enger miteinander zu verknüpften, das Land zu modernisieren. Genau das brauchte Joliot-Curie in diesem Moment: Material aus der Industrie, aus der Fabrik in Norwegen, um seine Experimente fortsetzen zu können. Dautry war ein erklärter Gegner der Nationalsozialisten und wusste, wie sehr die Zeit drängte. Zumal Joliot-Curie im Februar 1940 beunruhigende Nachrichten erhalten hatte. Ein Kollege am Collège de France hatte ihm einen anonymen Brief zugespielt. Vom niederländischen Physiker Peter Debye, dem ehemaligen Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik in Berlin, hatte der Informant erfahren, dass ebendiese Forschungsanstalt vom deutschen Generalstab den Auftrag erhalten habe, Uranbomben herzustellen.
Rüstungsminister Dautry beraumt daraufhin am 20. Februar 1940 ein Treffen in seinem Büro im Hôtel Majestic an der Avenue Kléber an. Joliot-Curie ist geladen, ebenso wie jener Offizier, der die heikle Mission übernehmen soll. Bis in die 1950er-Jahre wird man ihn in den Unterlagen nur unter den Initialen M.A. führen, erst dann wird die Öffentlichkeit seine Identität erfahren: Jacques Allier, zum Zeitpunkt des Auftrags 40 Jahre alt, ein Mann mit langem, schmalem Gesicht und dunkler, runder Brille, der sich in Offiziersuniform vor den prächtigen Holzschreibtisch des Ministers setzt.
Ruhig hört er sich den Auftrag des Ministers an, der ihm bald versichert, dass die Kollegen vom Deuxième Bureau, der Spionageabteilung der Regierung, alles tun werden, um auf der Reise für seine Sicherheit zu sorgen. »Aber ich muss Sie wohl nicht darauf hinweisen, welche Gefahren diese Mission mit sich bringt«, erklärt Dautry dem Offizier.
Allier kennt Norwegen und den Fabrikdirektor Aubert über seine Bankgeschäfte, und er begreift auch sofort, warum Joliot-Curie das schwere Wasser so dringend braucht. Ohnehin verstehen sich der Bankier und der Physiker auf Anhieb. Ihre Familien kommen beide aus dem Elsass, die Männer haben den Ersten Weltkrieg selbst nicht als Soldaten erlebt, doch beide einen älteren Bruder dabei verloren. Zumal Alliers Ehefrau Marthe Cauchy aus der Familie des großen Mathematikers Augustin-Louis Cauchy stammt. Sie hat Bekannte im Freundeskreis der Curies. Und Frédéric Joliot-Curie ist der Schwiegersohn von Marie Curie, der zweifachen Nobelpreisträgerin. Die berühmte Forscherin hatte ihn einst in ihrem Labor am Institut du Radium eingestellt. Dort lernte er ihre Tochter Irène kennen und heiratete sie kurze Zeit später.
Was die drei Männer an diesem Tag planen, markiert den Beginn der Résistance, des französischen Widerstands gegen das NS-Regime. Und genau zu dieser Mission wird ein deutscher General nur wenige Monate später Joliot-Curie in seinem Labor in Paris genau zu dieser Mission verhören. Ein ranghoher Militär also, der die Forschungsabteilung des Heereswaffenamts leitet und dort das Referat für Atomphysik gegründet hat.
Am 26. Februar empfängt Allier zwei Einsatzbefehle, unterschrieben von Dautry selbst und Édouard Daladier, dem damaligen Premierminister. Die Dokumente sind in ihrer Form höchst ungewöhnlich: Allier bekommt für seine Mission freie Hand, kann ab sofort eigenständig über die weitere Planung entscheiden. Um jeden Preis wollen die Franzosen den Nazideutschen in Vemork zuvorkommen.
Gleich zwei Missionen werden Allier aufgetragen: Er soll den weltweit einzigen Vorrat an schwerem Wasser nach Frankreich bringen. Und er soll aushandeln, dass die Franzosen künftig die Produktion der kostbaren Flüssigkeit exklusiv erhalten, die Deutschen dagegen leer ausgehen. Dautry weiß, dass sie sich mit der Mission beeilen müssen, drohen die Deutschen doch über den Seeweg in Norwegen einzufallen. Schon seit Monaten wollen die Befehlshaber der deutschen Marine das Land besetzen, um dort Marinestützpunkte für den Seekrieg gegen Großbritannien im Atlantik zu installieren.
Nur zwei Tage später steigt Allier in den Zug, an der Gare du Nord, jenem Kopfbahnhof mit der prachtvollen Glasfassade, in dem seit Beginn des Zweiten Weltkriegs nur noch wenige Bahnen ins Ausland fahren. In seinem Gepäck befindet sich ein Kreditbrief über 1,5 Millionen Kronen, damals etwa 36 Millionen Francs.
Auf der Reise muss sich Allier mehrfach daran erinnern, dass er unter dem Mädchennamen seiner Mutter reist. In seinen Dokumenten heißt er nun Freiss, unter diesem Namen wird er mehrere Grenzen überqueren, damit ihm die Deutschen nicht auf die Spur kommen, so hofft Rüstungsminister Dautry. Zunächst fährt er mit dem Zug nach Amsterdam, steigt dort in ein Flugzeug nach Malmö um, nimmt dann einen Zug nach Oslo. Drei Agenten des französischen Geheimdiensts begleiten ihn von Schweden aus, ohne allerdings vom genauen Ziel seiner Mission zu wissen.
Was weder Allier noch seine Mitreisenden ahnen: Der französische Geheimdienst daheim in Paris hat kurz nach der Abreise des Bankiers eine Funknachricht der Deutschen abgefangen und entschlüsselt. Ein verdächtiger Franzose soll unbedingt auf seiner Reise aufgehalten werden, heißt es darin. Ein Franzose mit dem Namen Freiss.
Kurz nach seiner Ankunft in Oslo ruft Allier alias Freiss das Hauptstadtbüro des Wasserkraftwerks Norsk Hydro aus einer öffentlichen Telefonzelle an. Nicht einmal eine Stunde später betritt er das Gebäude des Unternehmens in der Solligata 7, nahe der königlichen Residenz. Der Fabrikdirektor Aubert empfängt ihn in seinem Büro mit großer Fensterfront, ein hochgewachsener, strenger Mann mit gewelltem weißen Haar.
Da Allier den Fabrikdirektor bereits kennt, weiß er auch, wie er ihn davon überzeugen kann, den Franzosen das schwere Wasser zu überlassen. Er appelliert an sein Ehrgefühl, seine Loyalität gegenüber Frankreich, seinen Stolz; er erklärt ihm, dass sein Anliegen von höchster Stelle komme, also der französischen Regierung. Aufgewühlt stimmt Aubert zu, Frankreich in dieser wichtigen Mission zu unterstützen. Der Fabrikdirektor greift zum Telefon, um dafür zu sorgen, dass die kostbare Fracht noch am gleichen Abend bereitsteht, in jener eiskalten Nacht des 9. März, in Vemork.
In den entlegenen Bergen Norwegens hatte die Firma Norsk Hydro im Jahr 1911 ein Wasserkraftwerk errichtet, es war damals das größte weltweit. Später kam neben dem Kraftwerksgebäude eine Fabrik hinzu, in der die Fabrikarbeiter Wasserstoff herstellten. Als Nebenprodukt des Verfahrens entstand: schweres Wasser.
In 26 Metallkanister gefüllt, verlässt die kostbare Flüssigkeit in der Dunkelheit das Gelände der Fabrik. Aubert selbst transportiert die Behälter über die verschneiten Straßen des Vestfjord-Tals, eine Gegend, die so tief zwischen den Bergen verborgen liegt, dass die Sonne von Oktober bis März nicht den Boden erreicht. In der Nähe rauscht der Wasserfall Rjukanfossen mehr als 100 Meter in die Tiefe. Von Weitem sind nur noch die Lichter in den Fenstern des sieben Stockwerke hohen Fabrikgebäudes zu sehen, das Schnurren der Maschinen verliert sich bald in der Winternacht. Fünf Stunden lang kurvt Aubert durch die Berge, kommt auf Umwegen schließlich nach Oslo. Niemand weiß von der Absprache zwischen Allier und Aubert, auch die norwegische Regierung soll davon nichts erfahren.
In Oslo angekommen, lagert Allier die Metallkanister im Gartenpavillon eines unscheinbaren Gebäudes im Stadtzentrum, das der französischen Regierung gehört. Er muss überlegen, wie er sie außer Landes bringen kann, ohne dass sie in die Hände der Deutschen fallen. Während er sich darüber den Kopf zerbricht, greift er immer wieder zu einem Metallröhrchen, das ihn auf seiner Mission begleitet. Zum Beispiel, wenn er Schritte hört, die sich zu nähern scheinen. Stimmen. Er weiß, dass sich direkt gegenüber ihrem Gebäude das Büro einer Gesandtschaft des Hitler-Regimes befindet.
Das Röhrchen enthält Cadmium, nur ein paar Tropfen davon pro Kanister würden die Fracht unbrauchbar machen, so hatten es ihm Laborkollegen Joliot-Curies bei einem Treffen im Rüstungsministerium erklärt. Nur im Notfall, wenn die Ladung in die Hände der NS-Regierung zu fallen drohte, würde er das Cadmium einsetzen.
Zunächst überlegt Allier, das schwere Wasser mit einem Schiff der französischen Marine abzutransportieren. Zu einem geheimen Treffpunkt an der norwegischen Küste will er das Kriegsschiff lotsen, aus der Hafenstadt Brest in der Bretagne oder aus Cherbourg in der Normandie. Doch er verwirft seinen Plan, zu gefährlich erscheint es ihm, den Seeweg für die wertvolle Fracht zu wählen. Nein, die Kanister müssen das Land in einem Flugzeug verlassen, beschließt er, schließlich lassen sich die Kanister gut in großen Koffern verstauen. Gemeinsam mit seinen drei Kollegen beginnt er mit den Vorbereitungen.
Am Vorabend ihres Abflugs besucht Allier noch das größte Tanzlokal von Oslo, er will möglichst unbekümmert wirken, falls er beobachtet wird. Im Morgengrauen des 12. März aber machen er und seine Kollegen sich auf den Weg zum damaligen Flughafen Fornebu der norwegischen Hauptstadt. Zwei Flugzeuge stehen dort bereit, zunächst steht ein Linienflug nach Perth in Schottland an, danach soll der zweite Flieger starten, nach Amsterdam. Die Flaggen der beiden Länder sind auf den Maschinen deutlich zu sehen. Allier und ein Kollege steigen aus ihrem Taxi aus, sie sind als Geschäftsleute gekleidet, tragen große, schwere Koffer, berichten lautstark über ihre anstehende Reise nach Amsterdam. Sie begeben sich auf die Abflugpiste, laden ihre Koffer in den niederländischen Flieger, bleiben selbst aber noch auf der Piste, zwischen den beiden Fliegern, die Passagiere des Flugs nach Schottland suchen bereits ihre Sitzplätze.
Dann, plötzlich, kommt ein weiteres Taxi an, der Passagier ist in großer Eile, er ruft, dass er unbedingt seinen Flug nach Amsterdam erreichen muss. Der Wagen fährt direkt auf die Piste, hält zwischen den beiden Flugzeugen, außer Sichtweite des Terminals. Der vermeintlich gestresste Passagier – ein weiterer Kollege Alliers – hat ebenfalls zwei riesige Koffer dabei. Zunächst sieht es so aus, als würde er sie in das Flugzeug nach Amsterdam hieven, das später abfliegen soll. Dann aber wirft er das Gepäck plötzlich in die Maschine nach Perth, auch Allier und sein Begleiter stürzen hinein. Kurz darauf hebt die Maschine Richtung Schottland ab.
Das Flugzeug nach Amsterdam wird zwei Stunden später von Kampfflugzeugen der Deutschen gezwungen, seinen Kurs zu ändern. Statt in den Niederlanden muss es in Hamburg landen. Die Gestapo durchsucht den Flieger, aber findet in den Koffern von Allier und seinem Kollegen statt des schweren Wassers nur: schwere Steine. Das Verwirrspiel hat sich gelohnt.
Allier und sein Kollege treffen sicher in Perth ein, mit 13 der 26 Kanister. Einen Tag später bringt ein weiterer Geheimagent die restliche Ladung in einem anderen Linienflieger mit. Der französische Bankier schleust die Kanister dann über Umwege nach Frankreich, liefert dort die gesamte Fracht ab. Sie gelangt in die steinernen Kellergewölbe des Collège de France in Paris, im 5. Arrondissement, unweit des Panthéon, jener Ruhmeshalle, in der Jahrzehnte später die Gebeine von Marie und Pierre Curie ruhen werden. Das Collège de France ist eine der berühmtesten Forschungsstätten des Landes, hat seit seiner Gründung im Jahr 1530 bis heute 21 Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger hervorgebracht, einer davon: Frédéric Joliot-Curie. Sein Labor ist in einem der Gebäude des Collège untergebracht. Nüchtern wird der Physiker auf einem Blatt notieren, dass er am 16. März zehn Kanister, am 18. März weitere 16 erhalten hat, jeder einzelne ist mit einer römischen Zahl beschriftet. Der Inhalt der Behälter ist nur kurz erwähnt: Deuterium, also schweres Wasser.
Im Kellergewölbe reicht Joliot-Curie Allier stumm die Hand. Der eilt rasch davon, er muss schließlich dem Rüstungsminister Dautry über den Vertrag berichten, den er in Oslo mit Aubert unterschrieben hat. Zusammen mit dem Kreditbrief über 36 Millionen Francs. Der Fabrikdirektor hat das schwere Wasser den Franzosen erst mal ohne Gegenleistung überlassen, für die Dauer des Kriegs. Sollten die wissenschaftlichen Experimente von Joliot-Curie und seinen Kollegen aber Erfolg haben, möchte Aubert davon profitieren, heißt es etwas nebulös in dem gentlemen’s agreement, das der Franzose und der Norweger unterschrieben haben.
Das schwere Wasser scheint in Sicherheit. Zunächst. »Joliot-Curie und ich waren überwältigt vor Freude: Bis dahin besaßen wir nur einige Dutzend Gramm schweren Wassers, nun hatten wir vor uns, in den vermeintlich harmlosen Kanistern, die 185 Kilo jenes Produkts, das für uns von unschätzbarem Wert war«, schreibt Dautry kurz darauf in einer Notiz.
Für zwei Kollegen Joliot-Curies bedeutet dies auch, dass sie endlich nach Paris zurückkehren dürfen. Die beiden Physiker Hans von Halban und Lew Kowarski hatten zugestimmt, sich für die Dauer der geheimen Mission aus Paris zurückzuziehen und überwachen zu lassen. Halban kam aus Deutschland, Kowarski aus Russland. Und Rüstungsminister Dautry war nicht sicher, ob ihnen zu trauen war, er wollte in jedem Fall vermeiden, dass etwas über ihr Vorhaben zu den Nationalsozialisten durchsickerte. Halban hatte daraufhin ein paar Tage auf der Île de Porquerolles verbracht, einer Insel vor der französischen Mittelmeerküste. Kowarski dagegen war in die entgegengesetzte Richtung gefahren, auf die Belle-Île, das größte Eiland in der Bretagne.
Nun aber konnten die beiden ihre Forschung in Paris fortsetzen. Sie waren zu dieser Zeit die engsten Mitarbeiter Curies. Lew Kowarski etwa hatte Joliot-Curie im Vorjahr, am Morgen des 16. Januar 1939, auf einen Artikel in der Zeitschrift Naturwissenschaften hingewiesen, die soeben am Collège de France eingetroffen war. Die Publikation in jenem Fachblatt war es, die Halban, Kowarski und Joliot-Curie dazu brachte, nach dem schweren Wasser zu fahnden.
Zum ersten Mal nämlich hatten die deutschen Chemiker Otto Hahn und Fritz Straßmann vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin in besagtem Artikel eine Kernspaltung beschrieben, das »Zerplatzen« eines Atomkerns. Eine Sensation und auch irgendwie ein Unding, weil bis dahin eine solche Spaltung als unmöglich galt, frühere Forschungsergebnisse, die in diese Richtung wiesen, waren als unseriös abgetan worden. Ein Zerplatzen des Atomkerns stand im Widerspruch zu allen Erfahrungen, die Physiker bis dahin gemacht hatten. Hatte das Atom doch bis vor Kurzem noch als kleinster Baustein jeder Materie gegolten, sein Name leitet sich schließlich vom altgriechischen »atomos« ab, was unteilbar heißt. Nun aber sollten Atomkerne in Stücke bersten?
Was für mächtig viel Wirbel in der Wissenschaft sorgte, hatten andere bahnbrechende Experimente erst möglich gemacht. Zunächst entdeckte der englische Physiker James Chadwick im Jahr 1932 am Cavendish Laboratory in Cambridge, dass Neutronen existieren, ein bis dahin noch unbekanntes Elementarteilchen. Zwar wussten Forscher zu dieser Zeit bereits, wie Atome aufgebaut sind: aus einer Hülle voller negativ geladener Elektronen und einem Kern aus positiv geladenen Protonen. Aber die elektrisch neutralen Neutronen hatte noch niemand gefunden. Später sollte James Chadwick die britische Beteiligung am amerikanischen Manhattan-Projekt leiten, zum Bau der ersten Atombombe.
Nur knapp verpasst hatten Irène und Frédéric Joliot-Curie damals die Entdeckung des Neutrons, weil sie ihre eigenen Forschungsergebnisse falsch interpretierten. Dennoch setzten sie Chadwicks Paukenschlag bald einen weiteren hinzu: Sie wiesen im Jahr 1934 erstmals die künstliche Radioaktivität nach, dass sich also radioaktive Versionen – Isotope – chemischer Elemente künstlich herstellen lassen. Dabei geholfen hatte ihnen der deutsche Physiker Wolfgang Gentner, ein Kollege und Freund, der nur wenige Jahre später im Auftrag des NS-Regimes nach Paris zurückkehren sollte.
Sorgten die Erkenntnisse von Chadwick und der Joliot-Curies an sich bereits für viel Aufsehen, brachte es der italienische Physiker Enrico Fermi mit seinem Team fertig, beide Entdeckungen in seinen Experimenten zu vereinen. Er stellte nämlich fest, dass die neu beschriebenen Neutronen besonders effizient darin waren, radioaktive Elemente künstlich zu erzeugen. Er beschoss das Metall Uran mit Neutronen und begann, die radioaktiven Produkte zu untersuchen, die daraus entstanden.
Zu dieser Zeit ungefähr, im Jahr 1934, sprach die Chemikerin Ida Noddack von der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin bereits davon, dass schwere Atomkerne beim Beschuss mit Neutronen in große Bruchstücke zerfallen könnten. Doch die großen Köpfe der europäischen Wissenschaft hielten ihre Idee damals noch für absurd. Noddack selbst fehlten die Geräte, um mit radioaktiven Elementen zu arbeiten, konnte ihrer Hypothese selbst nicht nachgehen.
Nun aber, nach Fermis Berichten, galt es herauszufinden, welche chemischen Elemente aus dem beschossenen Uran entstanden. Vor allem aber wollten die Forschenden dabei möglichst schnell sein, wollten die neuen Ergebnisse als Erste präsentieren. In Deutschland forschte Otto Hahn in Berlin daran, zunächst noch gemeinsam mit seiner Kollegin Lise Meitner, einer jüdischen Österreicherin, die mithilfe Hahns im Jahr 1938 nach Schweden flüchtete. In Frankreich setzte sich Irène Joliot-Curie mit einem Assistenten das gleiche Ziel.
Hahn und Kollegen gewinnen in ihren Experimenten ein Gemisch aus neuen radioaktiven Elementen. Sie bezeichnen sie als Transurane, Elemente, die schwerer sind als das Ausgangsmaterial Uran. Doch Irène Joliot-Curie bezweifelt die Analysen der deutschen Kollegen. Gemeinsam mit ihrem Assistenten wiederholt sie die Experimente und findet in ihrem Gemisch ein radioaktives Element, das dem natürlichen Lanthan, einer seltenen Erde, frappierend ähnlich zu sein scheint. Was aber besonders überrascht: Es ist deutlich leichter als das Uran. Was hat das zu bedeuten? Irène traut sich noch nicht, von einer Spaltung des Urans in leichtere Elemente zu reden. Stattdessen beschreibt sie es vorsichtig als Isotop, also neue Version des Lanthans, ohne selbst die Lösung des Rätsels zu finden, das sie alle beschäftigt. Was geschieht genau, wenn Neutronen auf Uran-Atome treffen? Joliot-Curie veröffentlicht ihre Forschungsergebnisse erstmals im Jahr 1937, stellt Hahns Experimente damit öffentlich infrage.
Otto Hahn ist aufgebracht, auf einem Kongress in Rom bittet er Frédéric Joliot-Curie, seine Ehegattin zur Vernunft zu bringen: »Da sie eine Frau ist, erlaube ich mir nicht, sie zu kritisieren, aber sie irrt sich, richten Sie ihr das bitte aus.« Doch Hahn unterschätzt Irènes Hartnäckigkeit. Gemeinsam mit ihrem Assistenten wiederholt sie ihre Experimente mit dem neuen radioaktiven Element, kommt zu denselben Ergebnissen. Und veröffentlicht diese erneut. Hahn ist außer sich, jene Frau, die mit veralteten Methoden arbeite, versuche, ihn lächerlich zu machen. Er beginnt, das von Irène Joliot-Curie untersuchte radioaktive Element spöttisch »Curiosium« zu nennen.
Das Blatt wendet sich erst, als Lise Meitner 1938 nach Schweden fliehen muss und der Chemiker Fritz Straßmann ihren Platz im Labor übernimmt. Von ihm lässt sich Hahn überzeugen, Irène Joliot-Curie ernst zu nehmen. In einer Serie von Experimenten überprüfen Hahn und Straßmann ab sofort systematisch die Versuchsergebnisse der französischen Rivalin. Erst diese Versuche führen sie zu ihrer revolutionären Erkenntnis, dass Atomkerne platzen können.
Was genau in seinen Experimenten geschehen ist, versteht Hahn jedoch nicht. Lise Meitner besteht darauf, ihr rasch die neuen Forschungsergebnisse nach Schweden zu schicken. Gemeinsam mit ihrem ebenfalls emigrierten Neffen liefert die Physikerin die Erklärung für die rätselhafte Beobachtung ihrer Berliner Kollegen: Der Atomkern des Urans zerfällt unter dem Beschuss mit Neutronen in zwei kleinere Atomkerne mit insgesamt kleinerer Masse als vorher. Die übrige Masse wird als ungeheure Energie freigesetzt, der sogenannten Kernenergie. Wie viel davon freikommt, lässt sich in etwa aus der unterschiedlichen Masse der Atomkerne vor und nach der Kernspaltung berechnen.
Als Frédéric Joliot-Curie im Januar 1939 besagten Artikel in der Fachzeitschrift Naturwissenschaften liest, setzt er selbst sofort ein Experiment auf, das die Kernspaltung ebenfalls nachweist. Doch er denkt auch sofort einen Schritt weiter: Der Atomkern spaltet sich, wenn die Forscher ihn mit Neutronen beschießen. Dabei entstehen allerdings nicht nur neue chemische Elemente. Auch neue Neutronen werden freigesetzt. Was, wenn diese Neutronen weitere Kernspaltungen auslösen können? Dann wäre eine Kettenreaktion möglich, die kontrollierte Gewinnung und Freisetzung gewaltiger Mengen an Energie.
Das in etwa erklärt Joliot-Curie mit seinen Kollegen Kowarski und Halban in einem Artikel, den er im April 1939 in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht. Alarmiert wenden sich zwei Physikochemiker der Universität Hamburg daraufhin an das Reichskriegsministerium und drängen darauf, die Anwendung der Kernenergie für militärische Zwecke zu prüfen. »Das Land, das zuerst Gebrauch davon machen wird, wird einen unüberwindbaren Vorteil haben«, schreiben die deutschen Forscher.
Das Thema lässt Joliot-Curie nicht los. Um eine Kettenreaktion auszulösen, überlegt er weiter, müssen Forscher die neu entstehenden Neutronen verlangsamen, ausbremsen. Aber wie soll das funktionieren? Und wie möglichst schnell?
Joliot-Curie trifft sich mit seinen Kollegen Kowarski und Halban am Collège de France. Er möchte sich mit ihnen beraten, in einem Laborraum mit weißen Kacheln an den Wänden und einer Tafel an der Tür, auf der chemische Formeln und Grafiken mit weißer Kreide geschrieben sind. Auf den Labortischen drängen sich verschiedene Messinstrumente, dicht an dicht, als würde jedes einzelne von ihnen um die Aufmerksamkeit der Forscher heischen müssen.
Kowarski muss nicht lange überlegen. Der russische Forscher, riesengroß, mit breiten Schultern und markantem Kiefer, erklärt, dass sie nur mithilfe von schwerem Wasser schnelle Ergebnisse erhoffen können. Mit kräftiger Stimme redet er auf seine Kollegen ein, Halban zögert erst, stimmt aber schließlich zu. Die drei Forscher wissen nun: Sie müssen möglichst rasch große Mengen schweren Wassers für ihre Experimente besorgen. Kurz darauf wird Joliot-Curie den Rüstungsminister Dautry anschreiben, gemeinsam mit ihm und Allier die Mission in Norwegen planen.
Joliot-Curie glaubt fest daran, dass die aus der Kernspaltung gewonnene Energie die Menschheit enorm voranbringen wird. Mit getragener Stimme erklärt der feingliedrige Mann aber auch, dass die politische Situation sehr angespannt ist. »Ich weigere mich zu glauben, dass diese neue Eroberung des menschlichen Geistes nur dazu dienen kann, den Tod zu bringen«, wird er dazu sagen.
Die Experimente mit dem schweren Wasser laufen erfolgreich. In der ersten Maiwoche meldet Joliot-Curie drei Patente an, zwei haben mit der Anwendung für Atomenergie zu tun, ein drittes dagegen mit der Entwicklung eines Sprengstoffs. Diese Patente sind die ersten, die jemals für eine atomare Kettenreaktion des Urans erteilt wurden. Die Erfinder beabsichtigten, jeweils nur fünf Prozent des Gewinns zu behalten, die restlichen 80 Prozent sollen der wissenschaftlichen Forschung zugutekommen. Am 8. Mai fährt Joliot-Curie nach Brüssel, um über den Zugang zu den Uranvorräten in Belgisch-Kongo zu verhandeln.
Dann, plötzlich, müssen sie ihre Forschung unterbrechen.
Wenig haben Joliot-Curie und seine Kollegen bislang davon gespürt, dass Frankreich den Deutschen im September 1939 den Krieg erklärt hat. Monatelang haben sich deutsche und französische Truppen misstrauisch belauert, ohne dass etwas geschehen ist. Doch der Sitzkrieg, die drôle de guerre, geht nun abrupt zu Ende.
In jenen Frühsommertagen in Paris ist es merkwürdig ruhig, die sonst so lebendige Stadt scheint vor Angst erstarrt. Am 10. Mai 1940 hat Deutschland die neutralen Benelux-Staaten überfallen und marschiert in Richtung Frankreich.
Wenige Tage später sitzt Henri Moureu, der Laborleiter Joliot-Curies, gerade in seinem Büro im Collège de France, als sein Telefon klingelt. »Henri, komm sofort!«, ruft Joliot-Curie schroff in die Leitung und legt sofort wieder auf. Moureu ist beunruhigt, ist doch sein Chef ein überaus freundlicher, eloquenter Mann, der sich sonst nie im Ton vergreift. Ihm wird kalt ums Herz, als er zum Büro Joliot-Curies hastet. Ein Blick in das Gesicht des Nobelpreisträgers genügt ihm, um zu verstehen, dass etwas Schlimmes geschehen sein muss. »Die Deutschen haben die Militärfront bei Sedan durchbrochen«, berichtet Joliot-Curie. In der Gebirgskette der Ardennen, nahe der belgischen Grenze, haben massive Bombenangriffe der Luftwaffe und Panzer die französischen Soldaten überrumpelt und ihre Linien überrannt.
Das schwere Wasser sei im Collège de France nicht mehr sicher, sagt Joliot-Curie. Rüstungsminister Dautry habe ihn soeben angewiesen, es aus Paris wegzuschaffen, damit es den Deutschen nicht in die Hände fällt. Ob sich Moureu darum kümmern könne? Er habe volles Vertrauen in ihn.
Moureu stimmt zu, überlegt fieberhaft: Wohin mit den 26 Kanistern Flüssigkeit? Der Laborleiter weiß sich zunächst keinen Rat, hat jedoch zwei Stunden später eine erste Zuflucht für das schwere Wasser gefunden. Die Banque de France in Clermont-Ferrand ist bereit, die Metallbehälter aufzunehmen. Ohne weitere Fragen zu stellen. Rasch lädt Moureu die kostbare Fracht in sein Auto, in einer kleinen Seitenstraße am Rande des Hügels Sainte-Geneviève im 5. Arrondissement.
Moureu kommt auf seiner Fahrt jedoch nur langsam voran. Die Straßen sind verstopft, viele Pariser verlassen in diesen Tagen die Hauptstadt. Mit Fahrrädern und Autos, Schubkarren und Kinderwagen flüchten Frauen, Männer, Familien, insgesamt verlassen zwei Millionen Menschen bis zur Ankunft der Deutschen Mitte Juni den Großraum Paris.
Endlich in Clermont-Ferrand angekommen, übergibt Moureu die Kanister den Bankangestellten. Er bezeichnet das schwere Wasser fortan schlicht als »Produkt Z«, ohne irgendeinen Hinweis darauf zu geben, dass die Kanister, die nun im Banksafe liegen, kriegsentscheidend sein könnten. Am frühen Morgen des 17. Mai schließen sich die Türen aus Stahl hinter den Behältern.
Doch die militärische Lage verschlechtert sich rapide, und schon fünf Tage später lässt der Direktor der Banque de France Moureu wissen, dass er die mysteriösen Kanister nicht länger beherbergen möchte. Wieder muss der Laborleiter schnell entscheiden, sucht nach einem neuen Versteck. Militärische Anlagen schließt Moureu aus, das Risiko einer Bombardierung erscheint ihm zu groß. Ein diskreter Ort muss her. Dann hat er eine Idee: Nur wenige Kilometer außerhalb von Clermont-Ferrand liegt das Gefängnis von Riom, die Maison centrale, ein ehemaliges Kloster aus dem 13. Jahrhundert.
Noch am gleichen Nachmittag fährt ein Militärlieferwagen vor dem Gefängnis vor, navigiert auf das Gelände, die Tore schließen sich hinter ihm. Der Gefängnisdirektor, ein gutmütiger, freundlicher Mann erklärt sich mit den Forderungen Moureus schnell einverstanden: Das Produkt Z soll in einer gut isolierten Zelle unterkommen, in die sonst besonders gefährliche Kriminelle gelangen.
Während Moureu dem Direktor seine Instruktionen vermittelt, hämmern die Stiefel der Gefangenen im Takt auf den Boden des Innenhofs. Die Insassen müssen ihre tägliche Runde drehen. Eine, noch eine, eine letzte. Der Lärm untermalt mit seinem kalten Rhythmus jene Stunden voller Angst, die Moureu und seine Kollegen gerade durchleben. Was für ein seltsamer Anblick, denkt der Physiker. Jene Männer in Sträflingskleidung, die nicht einmal für würdig befunden wurden, für ihr Vaterland zu kämpfen, hieven im Gefängnis das Produkt eines geheim ausgetragenen Krieges von einem Lastwagen.
Kurz darauf kehrt Henri Moureu mit seinem Chef ans Collège de France zurück. Am 12. Juni 1940 sortieren sie ihre Unterlagen, verbrennen alles, was für ihre Forschung nicht zwingend notwendig ist. Der Feind soll bei seiner Ankunft in Paris keinerlei Hinweise auf ihre Forschungsergebnisse finden.
Sie können nicht ahnen, dass ihre Mühe vergebens ist. Denn ein ganzes Dossier voller Berichte, die Joliot-Curie ans Rüstungsministerium geschickt hatte, wird nur ein paar Tage später in die Hände der Nazis fallen. In einem verlassenen Zugwaggon in La Charité-sur-Loire nahe der Stadt Dijon werden die Deutschen diese und viele andere Geheimdokumente entdecken, die dort in vermeintliche Sicherheit gebracht worden waren.
Als Moureu und Joliot-Curie schließlich Paris verlassen, hat sich ein schwarzer Schleier über die Stadt gelegt, er verdunkelt den Himmel bis nach Rouen. Die Ölvorräte der Raffinerien entlang der Seine gehen in Flammen auf.
Bald erreichen die beiden Forscher die Hausnummer 85 der Rue Étienne Dolet in Clermont-Ferrand. Hinter grauen Betonmauern und dichten Bäumen haben die Kollegen Halban und Kowarski in der Zwischenzeit in einer Villa ein improvisiertes Labor für ihre Kernforschung installiert. Doch Moureu und Joliot-Curie wollen zunächst ein wenig durch den Ort wandern, um sich zu entspannen und nach den düsteren Bildern in Paris neue Hoffnung zu fassen.
Plötzlich hält ein Auto der Marke Simca direkt neben ihnen. Der Bankier Jacques Allier springt heraus und informiert sie darüber, dass sich die Deutschen Clermont-Ferrand nähern. Das schwere Wasser muss also die Stadt möglichst bald wieder verlassen. Diesmal sollen die Forscher es nach Bordeaux transportieren, von dort aus soll es auf einem Schiff nach England gelangen. Allier kommt gerade noch rechtzeitig, nur vier Tage später werden die ersten Deutschen Clermont-Ferrand erreichen.