Villa Conrad - Nora Elias - E-Book

Villa Conrad E-Book

Nora Elias

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Beschreibung

Frankfurt in den Goldenen Zwanzigern: Der Großindustrielle Günther Conrad befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Doch während seine älteste Tochter Clara alle Erwartungen erfüllt und den Unternehmer Eduard Jungbluth heiratet, entpuppt sich Conrads Sohn und künftiger Nachfolger Raiko als Pantoffelheld. Die meisten Sorgen bereiten Conrad aber seine beiden jüngsten Kinder, die Zwillinge Sophia und Ludwig. Sie verbringen ihre Zeit lieber mit Schauspielern als in der besseren Gesellschaft. Als sich Sophia in den Sinto Vincent Rubik verliebt, bahnt sich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten eine Katastrophe an. Denn Sophia geht für ihre Liebe Risiken ein, die sie und ihre Familie in den Abgrund zu reißen drohen ...

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Buch

Frankfurt in den Goldenen Zwanzigern: Der Großindustrielle Günther Conrad befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Doch während seine älteste Tochter Clara alle Erwartungen erfüllt und den Unternehmer Eduard Jungbluth heiratet, entpuppt sich Conrads Sohn und künftiger Nachfolger Raiko als Pantoffelheld. Die meisten Sorgen bereiten Conrad aber seine beiden jüngsten Kinder, die Zwillinge Sophia und Ludwig. Sie verbringen ihre Zeit lieber mit Schauspielern als in der besseren Gesellschaft. Als sich Sophia in den Sinto Vincent Rubik verliebt, bahnt sich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten eine Katastrophe an. Denn Sophia geht für ihre Liebe Risiken ein, die sie und ihre Familie in den Abgrund zu reißen drohen …

Informationen zu Nora Elias sowie zu weiteren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Nora Elias

Villa Conrad

Das Schicksal einer Familie

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeiftung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe Januar 2020

Copyright © 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: © Lee Avison / Arcangel

FinePic®, München

Redaktion: Regine Weisbrod

BH · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24013-4V001

www.goldmann-verlag.de

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Personen

Familie Conrad

Günther, Industrieller in der Stahlindustrie

Lydia, seine Ehefrau

Raiko, sein Erbe

Clara (spätere Jungbluth), seine älteste Tochter

Ludwig, jüngerer Sohn

Sophia, Ludwigs Zwillingsschwester

Emilia, Raikos Ehefrau

Sonstige

Vincent Rubik, Schauspieler

Rosa Roth, Sophias Freundin

Paul Roth, Rosas Bruder

Oskar und Margot Roth, Rosas Eltern

Anna Roth (geb. Altenburg), Pauls Ehefrau

Dorothea von Delft, Tochter aus dem Adel

Eduard Jungbluth, Industrieller, Freund der Familie Conrad

Theodor Galinsky, Anwalt

Arthur Soboll, Anwalt

Helga Heinemann, Emilias Freundin

Annelie Behrend, Helgas Freundin

Gerrit Behrend, Annelies Cousin

Rudi Gerson, Vincents Freund und Mitbewohner

Lena, Vincents Geliebte

Valentin Rubik, Vincents Cousin

Jacob Rubik, Vincents Cousin

Teil 11928–1930

1 Dezember 1928

Sophia erwischte ihre Schwester Clara hinter den Ställen in inniger Umarmung mit dem schnöseligen Eduard Jungbluth. Rasch bückte sie sich, hob Schnee auf, formte ihn zu einem festen Ball, zielte und warf ihn gegen Eduards Kopf, als dieser sich gerade in einem innigen Kuss über den Claras gesenkt hatte. Beide fuhren auseinander, und Sophia duckte sich rasch hinter die Stallungen, aber Clara hatte sie bereits gesehen und kam auf sie zugelaufen.

»Giftige kleine Kröte«, schimpfte sie und packte Sophias Arm.

»Ausgerechnet der.« Sophia verzog das Gesicht. »Wie kannst du nur?«

»Was verstehst du schon davon? Du bist doch noch ein Kind.«

Dass Clara sich als erwachsen aufspielte, obwohl sie mit ihren achtzehn Jahren knapp zwei Jahre älter war, war Sophia nur ein spöttisches Lächeln wert. »Weiß Papa, dass ihr Heimlichkeiten habt?«

»Untersteh dich!«

Sophia befreite den Arm aus dem Griff ihrer Schwester. »Ich erzähle nichts.«

»Das will ich dir auch geraten haben.« Clara warf einen Blick über die Schulter, als wollte sie sich vergewissern, dass ihr Liebster während des Streites nicht das Weite gesucht hatte. Er stand jedoch noch dort, wirkte gar gelangweilt, und nach einem letzten warnenden Blick eilte Clara zu ihm zurück, nahm ihn bei der Hand und zog ihn aus Sophias Blickfeld.

Annegret Wagner hatte ihr erzählt, wie man küsst, nachdem sie es auf einer Feier mit Matthias von Lerchfeld im Wintergarten ausprobiert hatte. »Na ja«, hatte sie gesagt und dabei ihr Erwachsenen-Gesicht gemacht, »viel ist nicht dabei. Er drückt seinen Mund auf deinen und schiebt dir die Zunge hinein.«

Bei der Vorstellung von Eduards Zunge in ihrem Mund schüttelte es Sophia auf dem Weg über den verschneiten Hof. Sie wusste, dass viele Mädchen für ihn schwärmten, aber ihr war er zu glatt, zu arrogant, und vermutlich war Clara nicht die Erste, die seine Zunge kostete. Wieder schüttelte es Sophia.

Ein Schneeball traf sie an der Schulter, und als sie herumfuhr, blickte sie in das schalkhafte Gesicht ihres Zwillingsbruders Ludwig. »Na warte.« Noch während sie sich bückte, traf sie der nächste Schneeball. Kurz darauf waren ihr Alter und jeder Drang nach dem Erwachsenwerden vergessen, als sie sich im Schnee balgten wie junge Hunde.

»Albernes Volk«, rief ihr ältester Bruder Raiko, der gerade sein Pferd über den Hof führte. »Was ist das überhaupt für ein Benehmen, Sophia? Sofort stehst du auf!«

Langsam erhob sie sich, strich sich das nasse Haar aus der Stirn und rückte die Pelzkappe gerade. In der Hand hinter dem Rücken hielt sie einen Batzen Schnee, und nun verschwand auch die andere Hand aus Raikos Sichtfeld, als sie diese hinter den Rücken legte, um den Schnee zu formen. Für ihn musste es wirken, als stünde sie artig vor ihm, ganz und gar in Schulmädchenmanier vor dem Oberlehrer. Dann holte sie aus, zielte und verfehlte ihn knapp. Dafür traf sie ihre Mutter, die gerade aus der Tür trat.

Der empörte Schrei mischte sich mit Ludwigs Lachen und Raikos missbilligendem Schnalzen. Allerdings sah er wohl seinen Erziehungsauftrag hiermit als erledigt an, saß auf und ritt rasch vom Hof, als Lydia Conrads schrilles »Sophia« ertönte.

Mit stoischer Miene ließ Sophia die unweigerlich folgende Standpauke über sich ergehen, in der viel von gutem Benehmen und Erwachsensein die Rede war, und ging hernach auf ihr Zimmer. Abends würden sie eine Gesellschaft geben, und sie fragte sich, wie sie Eduard Jungbluth dort begegnen sollte.

Der Kamin im Zimmer war angeheizt, und da sie in den nassen Sachen nun doch sehr fror, zog sie sich rasch aus und schlüpfte in einen wattierten Morgenmantel, um sich im angrenzenden Badezimmer ein Bad einzulassen. Sie verbrachten den Winter stets in ihrem Haus im Taunus, was den Vorteil bot, dass Sophia hier über ein eigenes Badezimmer verfügte sowie über ein deutlich größeres Zimmer als in der Frankfurter Stadtvilla. Allerdings war es für ihr Empfinden ein wenig zu weit abgelegen von dem trubeligen Leben in der Stadt, und sie vermisste ihre Freundinnen, allen voran Rosa, mit der es sich so vortrefflich lachen ließ. Was sie wohl von Clara und Eduard halten würde?

Sophia hatte den Boiler eingeschaltet und saß nun auf dem Wannenrand, drehte nach einer Weile den Wasserhahn auf, prüfte, ob das Wasser schon heiß genug war, und ließ es schließlich ein, nachdem sie den Stöpsel in den Abguss gesteckt hatte. Sie fügte ein wenig von der duftenden Badeessenz hinzu, die sie von ihrer letzten Reise aus Paris mitgebracht hatte. Herrlich war es dort gewesen, das mondäne Flair, die Kaufhäuser, das Nachtleben.

Sophia ließ den Morgenmantel von den Schultern gleiten und stieg ins Wasser, das sie seidig weich umhüllte. Voller Wohlbehagen schloss sie die Augen, lehnte den Kopf zurück und dachte ans Küssen. Nicht mit Eduard und gewiss nicht auf die Art, die Annegret beschrieben hatte, sondern so, wie ihr romantischer Geist es sich ausmalte. Vor ihr tauchte ein Gesicht auf, dunkles Haar, dunkle Augen, eine Stimme wie Samt, ein Lächeln, das die Knie weich werden ließ.

Im nächsten Moment traf ein Schwall kalten Wassers sie auf der Brust, und mit einem Kreischen fuhr sie hoch. Neben ihr stand Clara, eine Kanne in der Hand, schadenfroh grinsend. Sophias rasendes Herz trieb ihr den Atem rascher über die Lippen, ließ jedes Schimpfwort darauf ersterben. Stattdessen griff sie nach ihrem tropfnassen Schwamm und warf ihn nach ihrer Schwester, die sich umdrehte und floh. Der Schwamm klatschte gegen die Tür und fiel zu Boden.

Clara war als Erste für den Abend eingekleidet und stand am Salonfenster, den Blick in den verschneiten Garten gerichtet. Die Finsternis ließ sie frösteln, sie hatte immer schon Angst vor der Dunkelheit gehabt.

In einer halben Stunde kamen die Gäste, und der Salon war aufs Prächtigste geschmückt. Zudem hatte man die Verbindungstür zum angrenzenden Speisezimmer geöffnet und somit eine Art Festsaal geschaffen. Der lange Esstisch war beiseitegeschoben worden, um darauf das Büfett aufzubauen. Livrierte Kellner, für diesen Abend gemietet, würden dort stehen und sich um das leibliche Wohl der Gäste kümmern, während andere mit Tabletts umhergingen. Ihre Mutter hatte alles detailliert geplant, so, wie sie das stets tat, und Clara hoffte, dass ihr das später ebenso gut gelang, wenn sie ihren eigenen Haushalt führte.

Sie musste an Eduard denken, und unwillkürlich stieg ihr Wärme in die Wangen. Es war nicht das erste Mal, dass er sie geküsst hatte, aber es war das erste Mal, dass er dabei von seinen Gefühlen gesprochen hatte, von Liebe und Wahrhaftigkeit. Er werde sich ihren Eltern erklären, hatte er gesagt, noch in diesem Winter. Jetzt war nur zu hoffen, dass die kleine Kröte den Mund hielt und den großen Moment nicht zerstörte, indem sie etwas Großes als schäbige kleine Knutscherei vor ihrem Vater darstellte.

Clara wandte sich ab vom Fenster und ging zu der hohen, verspiegelten Wand zu ihrer Linken, drehte sich, um das silbrig schimmernde Kleid von allen Seiten zu betrachten. Als sie Schritte hörte, wandte sie sich um und sah Sophia den Salon betreten, gekleidet in zartgrüne Seide, die mit ihren Augen harmonierte und in dem Stirnband ein weiteres Mal aufgegriffen wurde. Grün war Sophias Farbe, und Clara wünschte, sie hätte auch eine Farbe, die ganz und gar die ihre war. Obwohl sie als die Hübschere der beiden galt – ihre Großmutter wurde nicht müde, diesen Umstand zu betonen –, hätte sie für Sophias goldblonde Locken einen Mord begangen. Ihr eigenes Haar war zwar ebenfalls blond, doch es war so schwer und glatt, dass nicht einmal eine Wasserwelle darin hielt. Und so trug sie stets einen kinnlangen Bob, die einzige Frisur, die ihr wirklich gut stand.

Sie warf ihrer Schwester einen bedeutungsschwangeren Blick zu und hob den Finger an die Lippen. Mehr konnte sie nicht tun, denn in diesem Moment traten ihre Eltern ein nebst Raiko und dessen Ehefrau Emilia, die so schön war, dass man nicht anders konnte, als sie zu hassen. Clara fand es regelrecht unanständig von ihrem Bruder, eine solche Frau zu heiraten. Man hatte doch darauf zu achten, dass die eigene Ehefrau den Schwestern nicht bei jeder Feier den Rang ablief. Und mochte es um Claras Selbstbewusstsein auch noch so gut bestellt sein, man kam sich neben der zierlichen, dunkelhaarigen Emilia unweigerlich wie ein bleicher Riese vor.

»Wo ist Ludwig?«, fragte Günther Conrad streng und ließ den Blick durch den Saal schweifen, als bestünde die Möglichkeit, sein Sohn könne jeden Moment wie ein Schachtelteufel aus einer der Schubladen springen.

»In seinem Zimmer?«, mutmaßte Sophia.

»Nein, da war er nicht«, kam es von Raiko.

»Ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit er mit Sophia im Hof war.« Ihre Mutter drehte sich zur Tür, warf einen Blick in die Halle. »Wir haben keine Zeit, ihn jetzt lange zu suchen.«

Clara trat zu ihnen, nicht ohne Sophia erneut einen Blick zuzuwerfen. Im Nachhinein tat ihr der kindische Scherz mit dem kalten Wasser leid, aber sie hatte einfach nicht widerstehen können. Wer wusste schon, wozu sich Sophia nun im Gegenzug hinreißen lassen würde.

»Jeden Moment kommen die ersten Gäste. Wo, um alles in der Welt, ist Ludwig?«, schimpfte ihre Mutter.

»Hoffentlich hebt er keine Frauenröcke«, murmelte Raiko und erntete dafür einen bösen Blick ihres Vaters.

Ludwig hob in der Tat Frauenröcke, jedoch nicht auf die Art, wie sein Bruder es vermutete. Vielmehr hatte er sich ein abgelegtes Kleid seiner Schwester aus der Kiste für den Wohltätigkeitsbasar genommen und sich angezogen. Nun stand er auf dem Dachboden zwischen alten Möbeln und Kisten, in denen der Krempel von Generationen verwahrt wurde, und hob die Röcke, um einigermaßen ausschreiten zu können.

»Anette, jetzt kommt dein Text«, sagte er, aber das Stubenmädchen hatte sich auf einen alten Sessel fallen lassen, dass der Staub aufstob, und hielt sich den Bauch vor Lachen. »Etwas mehr Ernst, bitte«, mahnte Ludwig streng.

»Verzeihung, gnädiger Herr, aber es sieht einfach zu komisch aus.«

»In diesem Moment bin ich nicht der gnädige Herr, sondern Lady Violett. Und wenn dein Vorsprechen klappen soll, dann musst du etwas mehr Beherrschung zeigen.«

Anette erhob sich, raffte den Saum des Abendkleids – ebenfalls aus der Kiste für den Basar – und trat zu ihm, wobei sie sich um den Ausdruck einer reuigen Sünderin bemühte, der schon fast karikaturartige Züge hatte. »Verzeiht mir, Lady Violett, aber ich …« Der Rest ging unter in einem glucksenden Lachanfall.

Ludwig seufzte. »Du musst das Theater ernst nehmen, Ann, sonst wird es nicht funktionieren. Wir sind hier nicht Ludwig Conrad und Anette, sondern Lady Violett und ihre gefallene Nichte. Du musst die Rolle leben, nicht nur einfach spielen.«

»Ja, das fällt mir aber gewiss leichter, wenn alles seine Ordnung hat. Im Theater tragen die Männer ja auch keine Frauenkleider.«

Wieder seufzte Ludwig. »Hast du eine Ahnung vom Theater … Früher haben nur Männer gespielt, und zwar auch die Rollen der Damen. Und da hat das Publikum trotzdem mitgefiebert und nicht lachend im Gestühl gesessen. Das hier«, er zupfte an dem Kleid, »ist doch nur Fassade, die uns die Mode diktiert. Es gibt Kulturen, da laufen Männer in solch aufwendig bestickten, kleidartigen Gewändern herum. Sieh nach Indien, nach Persien …« Erneut seufzte er, indes Anette ihn gebannt anstarrte. Er nickte. »So, das ist schon besser. Siehst du, du kannst es, auch ohne Albernheiten. Und jetzt auf ein Neues.«

Anette straffte die Schultern, bemühte sich, reuig auszusehen. »Ich habe gesündigt, Lady Violett. Vergebt mir.«

»Das ist schon besser. Aber du musst es so sagen, als hättest du wirklich gesündigt. Du hast dich einem Mann hingegeben, du bist tief gefallen, sprich auch so, als wärest du es.«

»Wie sollte ich das denn, wenn ich nicht weiß, wie es sich anfühlt?«

»Benutze deine Phantasie. Du kannst nicht alles, was du spielst, vorher erlebt haben. Was, wenn man dir die Rolle einer Mörderin gibt?«

Jetzt grinste sie, schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder. »Gesündigt«, sagte sie, und ihre Lider flatterten, indes sie rot wurde, als stelle sie sich den Sündenfall sehr explizit vor.

Ludwig lächelte. »Genau so.«

Sie spielten die Szene bis zum Ende durch und wiederholten sie dann noch einmal. Gänzlich zufrieden war Ludwig nicht, aber das war nicht schlecht gewesen.

»Möchten Sie gerne selbst ans Theater?«, fragte Anette, als sie wieder auf dem Sofa saß und sich Luft zufächelte. Auch Ludwig war ins Schwitzen gekommen und tupfte sich die Stirn mit einem Tuch.

»Würde ich, aber vermutlich wird mein Vater sich dem in den Weg stellen.«

»Stellen Sie sich nur vor, wir würden gemeinsam spielen.«

»Dann hätten wir zumindest schon einmal Übung.«

»Und wenn wir ein Liebespaar spielen sollen?«, fragte Anette mit keckem Grinsen.

Er hob die Brauen. »Möchtest du das auch vorab üben?«

Wieder wurde sie rot. »Natürlich nicht, aber es wäre doch pikant, nicht wahr?«

»In der Tat.« Ludwig lächelte. Er tat gerne etwas erfahrener, als er eigentlich war. Tatsächlich hatte er einige Male Mädchen geküsst, und mit einem Dienstmädchen aus der Frankfurter Villa war er auch einmal etwas weiter gegangen und hatte ihr Kleid aufgeschnürt, allerdings hatte da das Auftauchen seines Bruders weitere Höhenflüge vereitelt. Immerhin hatte Raiko ihrem Vater nichts erzählt – wohl aus gutem Grund, immerhin war er in dieser Hinsicht ja auch kein unbeschriebenes Blatt.

»Wann fängt eigentlich die Gesellschaft an?«

Er wollte auf seine Uhr sehen, aber die lag in seinem Zimmer. »Um acht, ich schmuggle mich gleich dazu, die werden gar nicht merken, dass ich zu spät bin.«

»Ich muss gleich in die Küche, mein Dienst beginnt, und ich darf mich heute nicht verspäten.« Anette zupfte an dem Kleid. »Das ist so hübsch, ich wünschte, ich könnte es behalten.«

»Behalte es nur, ich schenke es dir.«

»Das geht nicht, die Leute werden denken, ich hätte es gestohlen.«

Ludwig winkte ab. Er ließ sich auf dem Boden nieder, lehnte mit dem Rücken an das Sofa, auf dem Anette saß, und zog eine Zigarette hervor. »Auch eine?«

»Gerne.«

Er gab erst ihr Feuer, dann sich selbst, und einträchtig rauchend saßen sie beieinander. Fast fühlte es sich an, als säßen sie tatsächlich im Theater, dort, wo die alten Requisiten aufbewahrt wurden. Die Stille nach dem Stück. Oder die Ruhe vor dem Sturm, der sich in Form von raschen Schritten die Stiege hoch andeutete.

Anette drückte noch rasch ihre Zigarette aus, Ludwig sprang auf, aber ihnen blieb nicht die Zeit, sich zu verstecken, da steckte auch schon die Haushälterin, Frau Mager – angesichts ihres Körperumfangs ein Gegenstand beständiger Belustigung – den Kopf durch die aufgeklappte Bodenluke.

»Um des lieben Himmels willen! Herr Ludwig!« Sie schob den Rest ihres Körpers in den Raum. »Und Anette! Ich …« Ihr versagte die Stimme.

»Das Kleid habe ich ihr geschenkt«, erklärte Ludwig. »Sie hat es nicht gestohlen.«

Frau Mager indes starrte ihn an, der Mund stand ihr auf, und sie wirkte, als wollte sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. »Ich habe Sie auf den Knien gehalten, da waren Sie ein kleiner Bub!«

Sie betonte das Wort »Bub«, als wollte sie ihm versichern, dass in dieser Hinsicht nie ein Zweifel bestanden hatte.

»Oh, das hier ist nur eine Kostümierung.« Da das Kleid im Rücken offen stand und dennoch an den Schultern zu eng war, kostete es Ludwig einige Mühe, den Oberkörper herauszuschälen. »Ich wollte mich ohnehin gerade umziehen.«

»Was ist denn hier los?« Eine Männerstimme, und Ludwig sank der Mut.

»Jetzt halt schon still.« Sophia tauchte das Tuch in warmes Wasser und wrang es hernach aus. Ihr Vater war Ludwig suchen gegangen, nachdem dieser bei der Begrüßung der Gäste gefehlt hatte. Und später war er mit hochrotem Kopf zurückgekehrt.

Sophia nutzte einen unbeobachteten Moment, um die Feier zu verlassen, fand Ludwig in seinem Zimmer vor, und er erzählte ihr die ganze Geschichte. Obwohl Sophia sich viel Mühe gegeben hatte, ernst zu bleiben, hatte sie lachen müssen bei der Vorstellung, welches Bild sich ihrem Vater geboten hatte. Dann hatte Ludwig ihr seine Hände gezeigt, die geschwollenen roten Striemen, einer gar aufgeplatzt, und ihr war das Lachen im Hals erstickt.

»Nun ja«, sagte Sophia, als sie mit dem weichen Tuch erneut seine Handflächen abtupfte. »Es war ja klar, dass er das nicht ungesühnt lässt.«

»So ein Pech, dass einer der Dienstboten uns oben gehört und es gleich Frau Mager und Vater weitergetratscht hat. Ich habe nicht erwartet, dass er mich sucht, das macht er doch sonst nicht.«

»Eben, und heute war das Maß wohl voll.«

»Ich hoffe, Anette hat keine gar zu großen Schwierigkeiten bekommen.«

»Na ja, im Grunde hat sie nichts Unanständiges getan. Sie darf ja wohl ein Kleid tragen.«

»Wie auch immer.« Er verzog das Gesicht, als Sophia den blutigen Striemen auf seinem Handballen berührte. »Das brennt.«

»Morgen wird es gewiss höllisch wehtun.«

»Vermutlich.« Er öffnete und schloss die Hände versuchsweise. Die linke Hand hatte es schlimmer erwischt, vermutlich hatte sein Vater verhindern wollten, dass er mit der rechten Hand keinen Stift halten konnte, denn lernen musste er auch in den Ferien. Ludwig bekam in der Schule ohnehin ständig Prügel, weil er sich nicht fügen wollte und aufwieglerisches Gedankengut teilte. »Kommunistisch und bolschewistisch« nannte ihr Vater es voller Verachtung. Auch dass Ludwig so oft im Theater war, um dort hinter den Kulissen zuzuschauen, fand nur wenig Gegenliebe bei ihrem Vater, wenngleich dieser das Theater durchaus schätzte, jedoch als Zuschauer und nicht als Freund des »halbseidenen Gesindels«.

»Geh lieber zurück«, riet Ludwig. »Ehe er auf dich auch noch wütend wird.«

Sophia legte das Tuch in die Schüssel, blieb jedoch auf den Knien sitzen. »Hast du eine Zigarette für mich?«

»Seit wann rauchst du?«

»Seit ich mir eine Zigarette mit Rosa geteilt habe.«

»Rosa raucht?«

»Heimlich natürlich. Also, hast du eine?«

»In der Kommode.«

Sophia erhob sich, nahm zwei Zigaretten, zündete erst eine für ihren Bruder an, die sie ihm zwischen die Lippen steckte, dann eine für sich selbst. »Übrigens habe ich Clara mit Eduard erwischt. Sie haben sich geküsst.«

Ludwig schien wenig beeindruckt. »Sie starrt ihn doch schon lange mit diesem schafsdämlichen Blick an.«

Mit geöffneten Lippen atmete Sophia Rauchkringel in die Luft. Diesen lasziven Blick hatte sie oft vor dem Spiegel geübt. Ludwig wirkte belustigt, und um seine Mundwinkel zuckte es. »Ich sollte dich wohl im Auge behalten, ja?«

»Tu das, solange du im richtigen Moment wegschaust.«

* * *

Emilia lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, während Raiko wieder und wieder in sie stieß, sich keuchend bemühte, endlich den ersehnten Keim zu legen, der den Fortbestand des Hauses Conrad sicherte. Sie fragte sich, was wäre, wenn es ein Mädchen würde. Und hernach noch eines. Würde er so lange weitermachen, bis sie endlich einen Jungen bekäme? Und überhaupt – es gab ja noch Ludwig, der war schließlich auch ein Mann und konnte den Namen weitergeben. Als Raiko sich endlich aus ihr zurückzog, seufzte Emilia auf, hielt die Augen geschlossen, lauschte seinen schnellen Atemzügen. Es hatte sie niemand gezwungen, ihn zu heiraten, er war eine gute Partie gewesen, bot die Möglichkeit, endlich ihrer gefühlskalten Familie zu entfliehen. Und da er attraktiv und ihr seinerzeit als durchaus angenehmer Mensch erschienen war, hatte Emilia eingewilligt – ganz die gehorsame Tochter, die sie stets gewesen war. Inzwischen fragte sie sich jedoch immer öfter, ob sie nicht lieber ihre eigene Familie noch ein wenig länger ertragen hätte.

Seit ihrer Hochzeit im Sommer des letzten Jahres galt jeder erste Blick Emilias Bauch, aber bisher blieb eine verräterische Wölbung aus, was gewiss nicht daran lag, dass Raiko diesem Vorhaben nicht höchste Priorität in seiner Abendplanung einräumte. Die Blicke waren ihr anfangs befremdlich erschienen, ja, sogar peinlich gewesen. Mittlerweile waren sie ihr vor allem lästig und lösten oftmals eine diffuse Wut aus. Ihre Mutter legte ihr bei jedem ihrer sehr seltenen Besuche die Hand auf den Arm, sah ihr tief in die Augen und fragte: »Und?«

Inzwischen hatten Raikos Bemühungen schon etwas Verbissenes. Es hatte Emilia nie besonders gut gefallen, schon von Anfang an nicht, und sie fragte sich, was beständig für ein Gewese darum gemacht wurde. Sie hob die Hüften an, da ihr eine Freundin gesagt hatte, auf diese Art sei es sicherer, auch zu empfangen. Emilia hatte es allerdings überhaupt nicht eilig damit und war im Grunde genommen um jeden Monat Aufschub froh, allerdings sah Raiko mittlerweile in jedem Tropfen Blut, der nach vier Wochen aus ihr rann, das Zeichen ihres gemeinsamen Scheiterns. Da floss er dahin, der Lebenssaft, der seinen Erben nähren sollte. Emilia befürchtete, dass es wohl nicht mehr lange dauern würde, bis aus ihrem gemeinsamen Scheitern ihres, Emilias, wurde. Einige Bemerkungen seiner Mutter deuteten bereits die Richtung an, in die die Reise diesbezüglich gehen würde. Also tat Emilia, was sie konnte, um schwanger zu werden.

Raikos Atem ging wieder ruhiger, er lag auf dem Rücken, wandte nun den Kopf und sah sie an, schien ihre Gefühle ausloten zu wollen. Emilia ließ ein verträumt wirkendes Lächeln sehen, das ihn in dem Glauben wiegen sollte, sie könne sich nichts Schöneres vorstellen, als von ihm beschlafen zu werden. Wenn er den Eindruck bekam, dass sie nicht im Geringsten darauf erpicht war und lieber zwei Nächte hintereinander einfach geschlafen hätte, würde er womöglich ihr Widerstreben als Grund anführen, warum es nicht klappte mit dem Kinderkriegen. Sie überlegte, ob es tatsächlich daran liegen könnte. Wurde man nur schwanger, wenn man sich voller liebender Hingabe öffnete? Aber das war Unsinn, es wurden schließlich auch Frauen schwanger, denen sich Männer mit Gewalt aufzwangen.

Gleich würde er erneut ihren Körper in Besitz nehmen, dieses Mal würde es länger dauern, beim zweiten Mal war er meist ausdauernder und nahm sich mehr Zeit für den Genuss. Danach könnte sie endlich schlafen. Sie war so furchtbar müde. Jeden Tag Soireen und familiäre Unternehmungen, da kam sie ohnehin immer erst so spät ins Bett. Diese Nacht hatte sie die Hoffnung gehabt, Raiko würde sie nicht aufsuchen, aber als sie schon fast eingeschlafen war, hatte er den Raum betreten, sich zu ihr ins Bett gelegt und begonnen, sie zu streicheln, und war dann recht schnell zur Sache gekommen.

»Wie lange wird dein Vater Ludwig eigentlich auf seinem Zimmer einsperren?« Immerhin war die Feier schon vier Tage her, und Ludwig hatte seither seine Räumlichkeiten nicht verlassen dürfen.

»Bis er sich zu benehmen weiß.«

»Er ist noch jung.«

»Er hat Frauenkleider getragen, und das vor dem Personal.«

»Er war immer schon begeistert vom Theater.«

»Theater spielen mit Juden und Zigeunern«, antwortete Raiko verächtlich. »Mein Vater wird das zu unterbinden wissen.«

»Die beste Freundin deiner Schwester ist Jüdin.«

»Das ist etwas anderes, die Roths sind Bankiers und kein lichtscheues Gesindel.«

Emilia beunruhigte es, wenn er so daherredete. Sie wusste, dass er mit dieser fragwürdigen Partei liebäugelte, die bei den letzten Reichstagswahlen glücklicherweise schlecht abgeschnitten hatte. Da war viel von Geldjuden die Rede gewesen, was gerade auf Männer wie Oskar Roth abzielte. In letzter Zeit war diese Art der Rhetorik zurückgefahren worden, allerdings munkelte man, dies geschähe nur, weil man befürchtete, die Bevölkerung durch die judenfeindliche Propaganda abzuschrecken. Emilia hatte sich schon als Halbwüchsige für Politik interessiert, und obwohl sie aus einem sehr konservativen Elternhaus kam, war sie insgeheim eine Anhängerin der Sozialdemokraten. Und sie war hier wohl nicht die Einzige, die in aller Heimlichkeit politisch abtrünnig war. Einmal hatte sie Ludwig mit einem Propagandablatt der Kommunisten erwischt. Allerdings hatte sie darüber nie etwas seinen Eltern gegenüber verlautbaren lassen, denn sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie sein Vater darauf reagieren würde.

Raiko war des Redens inzwischen offenbar wieder überdrüssig und richtete sich auf, drückte sie in das Kissen zurück und war im nächsten Moment über ihr. Ohne sich lange mit Liebkosungen aufzuhalten, drang er in ihren Körper, bewegte sich darin, die Augen geschlossen, während sein Atem immer schneller ging. Emilia drehte den Kopf zur Seite, ihr Blick glitt über den Vorhang, fand einen Spalt darin und verlor sich im nächtlichen Blau.

Sophia zitterte am ganzen Körper, während sie mit Ludwig auf dem Dach der Remise saß und rauchte. Diesen Ort konnte er von seinem Fenster aus ungesehen erreichen, indem er über zwei Bäume kletterte.

»Ich wusste schon, warum ich nicht zum Garten raus schlafen möchte«, sagte er, ebenfalls zitternd.

Obwohl sie einen Mantel trug, fror Sophia erbärmlich, vermutlich, weil sie darunter nur in ein Nachthemd gekleidet war. Für sie war es viel schwieriger, ungesehen ins Zimmer zu gelangen, denn ihres lag zum Garten hin, und da war der Weg durch ein Fenster unmöglich. Sie hatte die Verandatür offen gelassen und einen Stein davorgeschoben, damit sich kein verräterischer Spalt auftat. Wenn man sie allerdings erwischte, wie sie nachts durchs Haus stromerte, wäre sie in arger Erklärungsnot.

Raikos Zimmer lag ebenfalls zum Hof hin, eine Etage über Ludwigs, und als Sophia den Kopf hob, bemerkte sie, dass dort immer noch ein schwacher Lichtschimmer brannte. Sie hob die Zigarette an den Mund, zog daran und atmete den Rauch in die Luft. »Wenn Raiko aus dem Fenster schaut, war’s das«, bemerkte sie.

»Der treibt es gerade mit Emilia.«

Sophia spürte, wie sie rot anlief. »Woher weißt du das?«

»Weil sie schon früh auf ihr Zimmer ist und schlafen wollte. Nun brennt dort Licht. Warum wohl?«

»Vielleicht unterhalten sie sich.«

»Mitten in der Nacht? Und was sollte so dringend sein, dass er sie dafür wecken muss? Außerdem kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Raiko mit Emilia nachts tiefschürfende Gespräche führt, das bekommt er doch schon tagsüber nicht hin.«

Sophia drückte die Zigarette im Schnee aus. »Papa sagte, wir feiern Silvester hier«, sagte sie übergangslos, da ihr das Thema Raiko und Emilia peinlich war.

»Das war ja zu erwarten.«

»Weihnachten darfst du gewiss das Zimmer wieder verlassen.«

»Bis dahin ist es noch eine Woche. Und das heißt nicht, dass er mich bis Januar nicht wieder einsperrt.«

Nachdenklich schnippte Sophia den Zigarettenstummel vom Dach aus in den Schnee im Hof. »Ich wüsste zu gerne, wie sie im Theater Silvester feiern.«

»Sag lieber, du wüsstest gerne, wie Vincent Silvester feiert. Ich könnte es dir sagen, aber ich will deine zarten Gefühle für ihn nicht mit der harten Realität in Konflikt bringen.«

Unwillkürlich stellte Sophia sich vor, wie dieser Mann, von dem sie so erschreckend sinnliche Träume hatte, das neue Jahr mit einer anderen Frau im Arm begrüßte, sie gar küsste. Sophia hingegen sah er stets mit jener Beiläufigkeit an, mit der man ein Kind wahrnahm.

»Schwärm ruhig weiterhin von ihm«, sagte Ludwig ein wenig gönnerhaft, »aber such dir für alles Weitere einen anständigen Kerl.«

»Er ist doch anständig.«

»Er ist ein begnadeter Schauspieler, aber anständig? Na, ich weiß nicht.«

»Für mich wird er sich ändern.«

Ludwig schnippte seinen Zigarettenstummel ebenfalls in den Schnee. »Aber klar doch.« Er lachte in leisem Spott.

Sophia hatte die Knie an die Brust gezogen, umschlang sie mit den Armen und legte die Wange darauf. Es war lausig kalt, und jetzt setzte auch wieder Schneefall ein. Dank ihrer dicken Fellstiefel waren wenigstens die Füße warm.

»Ich gehe ins Bett«, sagte sie schließlich.

»Sehen wir uns morgen Abend wieder?«

»Klar, dann bringe ich etwas Heißes zu trinken mit.«

»Wieder hier?«

»Nein, das ist mir zu kalt, lass uns in die Remise gehen, zwischen den Autos ist es nicht ganz so schlimm.«

Ludwig nickte, stand auf und streckte sich, um nach dem Ast des nächststehenden Baumes zu greifen und sich daran hochzuziehen, dann reichte er Sophia die Hand und zog sie zu sich. Während sie den Baum hernach hinabkletterte, hörte sie, wie ihr Bruder sich oben im Geäst bewegte.

Sie schniefte, wischte sich undamenhaft mit dem Ärmel über die Nase und eilte um das Haus herum in den Garten und von dort aus in den Salon. Die Wärme kribbelte in ihren Wangen, und ihr Gesicht wurde ganz heiß. Sie zog die Stiefel aus, um keine Spuren auf dem Parkett zu hinterlassen, und durchquerte den Raum. In der Eingangshalle streifte sie den Mantel ab, hängte ihn in die Garderobe, stellte die Stiefel in den Schuhschrank und ging die Treppe hoch.

Dabei begleitete sie jenes von Ludwig beschworene Bild dunkler Augen. Vincent Rubik. Das erste Mal war sie ihm begegnet, als sie mit Ludwig im Theater gewesen war. Keines jener Theater, wo sich die höhere Gesellschaft im Licht teurer Kristalllüster versammelte und der Geldadel in den Logen Platz nahm. Es war ein kleines, privates Theater am Liebfrauenberg, wo es wie ein nachträglicher Einfall zwischen die Häuser gezwängt stand. Ludwig hatte über einen Freund den Kontakt zu einem Schauspieler herstellen können, der ihnen wiederum ermöglich hatte, bei den Proben zuzusehen. Ihren Bruder zog es seit jeher zum Theater, obwohl er – in Sophias Augen – eigentlich für die Bühne nicht taugte. Als Regisseur hätte sie ihn sich vorstellen können, aber niemals als Schauspieler. Dafür war ihm die Kunst der Verstellung einfach zu fremd.

An jenem ersten Nachmittag im Theater hatte Sophia Vincent Rubik zum ersten Mal gesehen. Er hatte sich nach den Proben umgedreht, von der Bühne über die Stuhlreihen hinweg zu ihnen gesehen, und einen Moment waren sich ihre Blicke begegnet. Ein kurzes Innehalten, ehe er sich abwandte – nach Sophias Dafürhalten jedoch überaus bedeutsam. In der Nacht darauf hatte sie wachgelegen, sich immer wieder diesen kurzen Blick in die dunklen Augen ins Gedächtnis gerufen, hatte ihm ihre eigenen Wahrheiten und Deutungen gegeben. Nur um bei der nächsten Begegnung festzustellen, dass das Scheinwerferlicht so auf die Bühne ausgerichtet war, dass er sie gar nicht hatte wahrnehmen können. Und es auch danach nicht tat.

2 März 1929

Rosa Roth verdankte ihren Namen einer Überspanntheit ihrer Mutter, und Sophia wunderte sich nach wie vor, wie deren pragmatischer Vater dem hatte nachgeben können. Als Kind hatte Rosa das noch ganz lustig gefunden, wenn die Leute sie und Sophia Schneeweißchen und Rosenrot nannten, aber je älter sie wurde, umso mehr gingen ihr die belustigten Blicke bei der Nennung ihres Namens auf die Nerven. Das wäre nach ihrem Dafürhalten der einzige Grund zu heiraten.

»Na ja«, hatte Ludwig einmal zu ihr gesagt, »wenn er dann Stern heißt, hast du auch nicht viel gewonnen.«

Rosa hatte am selben Tag Geburtstag wie Sophia und Ludwig, und sie kannten sich von klein auf. Ihre Mütter hatten sich bei einem Spaziergang im Park kennengelernt und waren ins Gespräch gekommen. Hernach war man sich auf Feiern und in Galerien über den Weg gelaufen und dann wieder, als die Töchter gleichzeitig eingeschult wurden. Rosa war Sophias beste Freundin, und damit wurde Ludwig so etwas wie ein gleichaltriger Bruder. Wenngleich das eigentlich auch wieder nicht stimmte, denn Rosa hatte ihn einmal geküsst, als sie in der Villa Conrad unter einem Mistelzweig gestanden hatten. Das wiederum hatte Rosa absichtlich herbeigeführt, weil sie unbedingt hatte wissen wollen, wie sich der erste Kuss anfühlte, und sie nicht auf die einzig wahre Liebe zu warten gewillt war. Sie hatten das in der Abgeschiedenheit des Wintergartens wiederholt, etwas inniger und länger, aber dabei war es geblieben.

Nun standen sie hier in diesem kleinen Theater und froren in der noch winterlichen Kälte, die wie konserviert zwischen den Mauern hing. Das Theater war von einem Liebhaber der schönen Künste errichtet worden. Vermutlich jemand wie Ludwig, der selbst kein Schauspieler war und sich im Gegensatz zu jenem aber damit abgefunden hatte und nun anderen eine Bühne bot. Ludwig stand vorne und sprach einen Text, was er gar nicht so schlecht machte, aber er verstand es einfach nicht, seine Stimme zum Tragen zu bringen.

Allein Vincent Rubiks Freundlichkeit war es wohl zu verdanken, dass er in den Spielpausen hier ein bisschen üben und so tun konnte, als bestünde für ihn ernsthaft die Möglichkeit, jemals ein Schauspieler zu werden. Sophia sah wie gebannt auf die Bühne, wobei ihr Blick nicht an Ludwig hing, sondern an dem Mann neben ihm. Vincent Rubik. Zu Sophias Bedauern nahm dieser jedoch nach wie vor keine Notiz von ihr, was angesichts des Altersunterschieds wohl auch kein Wunder war, immerhin war er mit seinen fünfundzwanzig Jahren nahezu neun Jahr älter als sie.

Rosa schob die Hände in ihren Muff und ließ sich in einem der bequemen Theatersessel nieder. Ebenso wie Sophia ging sie gerne ins Theater, allerdings zu den regulären Vorstellungen, wenn geheizt wurde. Sophia blieb stehen, leicht vorgebeugt, da sie sich so der Bühne näher wähnte und keine Regung in Vincents Miene verpassen wollte.

»Du kippst gleich vornüber«, bemerkte Rosa. »Wenn er herübersieht, wäre es vielleicht ganz gut, du würdest nicht den Eindruck erwecken, ihn jeden Moment über die Stuhlreihen anzuspringen.«

Sophia stieß einen langen Seufzer aus, verharrte einen Moment und ließ sich dann in den Sitz neben Rosa fallen. »Er sieht sowieso nicht her.«

Frierend zog Rosa die Schultern hoch. Sie blieben sitzen, bis Ludwigs Szene beendet war, dann verließen sie das Theater durch den Seiteneingang und standen schließlich im hinteren, von einer Mauer eingefassten Hof und rauchten. Rosa hatte ihrem Vater zwei Zigaretten stibitzt, und Sophia hatte Zündhölzer dabei.

»Du willst wirklich weiter zur Schule gehen?«, fragte Sophia. Sie selbst hatte die Schule im Sommer nach der zehnten Klasse verlassen. Ihr Vater war der Meinung, ein Mädchen brauche kein Abitur.

Rosa nickte. »Ja, es bleibt dabei.« Und danach würde sie Medizin studieren. Ihre Mutter war nicht ganz so angetan von ihren Plänen, bei ihrem Vater jedoch rannte sie offene Türen ein, und er würde ihr helfen, einen Platz an der Universität zu bekommen.

»Wenigstens hast du schon einen Plan davon, was du einmal tun möchtest«, sagte Sophia und hustete. »Ich habe keine Ahnung davon, was aus mir mal wird.« Sie wischte sich die Tränen weg, die der Husten ihr in die Augen getrieben hatte.

»Ich dachte, du willst Schriftstellerin werden.«

»Na ja, schon, ach, ich weiß nicht …« Erneut hustete sie.

»Seid ihr nicht noch ein bisschen zu jung für dieses Laster?«, fragte eine Männerstimme. Vincent Rubik war unbemerkt ins Freie getreten.

Sophia atmete den Rauch aus und bemühte sich um ein keckes Lächeln, was angesichts des erneuten Hustens verrutschte. »Ich bin beinahe siebzehn.«

Er nickte in gespielter Anerkennung. Selbst rauchte er nicht, Ludwig hatte erzählt, dass er um seine Stimme fürchtete. Und offenbar hatte er auch Ludwig diesbezüglich ins Gewissen geredet, denn seit einigen Tagen rührte dieser keine Zigarette mehr an.

Sophia war rot angelaufen, wobei ihr selbst nicht klar war, ob das dem Hustenanfall oder Vincent Rubiks Auftauchen geschuldet war. Er blieb indes nicht länger bei ihnen stehen, sondern nickte ihnen nur zu, schob die Hände in die Taschen seines Mantels und ging davon. Kurz darauf trat Ludwig heraus.

»Meinetwegen können wir jetzt los«, sagte er. In seiner Stimme lag etwas Verzagtes, Sehnsuchtsvolles, wie stets, wenn er das Theater verließ. Ihm konnte unmöglich entgehen, dass es für einen Schauspieler nie im Leben reichen würde. Nicht nur, weil sein Vater es nicht zuließ, sondern schlicht, weil es ihm an Talent mangelte.

Sophias Blick hing noch einen Moment lang an Vincents Rücken, dann nickte sie seufzend.

Für Günther Conrad ließ sich das Jahr hervorragend an. Nicht nur hatte der erfolgreiche Unternehmer Eduard Jungbluth um die Hand seiner Tochter Clara angehalten, sondern Günther hatte überdies einen weiteren Kredit bewilligt bekommen, um erneut Aktien zu kaufen. Seit 1923 verzeichnete er enorme Gewinne, man sprach in der Börsenwelt gar von einer eternal prosperity, dem ewigen Wohlstand. Angesichts der Entwicklung hatte er sich entschieden, aufs Ganze zu gehen, und sein Barvermögen in Aktien investiert. Dasselbe würde er nun mit dem Geld aus dem Kredit tun. Es lief so hervorragend, dass der Bank allein der Umstand, Aktien zu besitzen, vielfach als Sicherheit reichte, wenngleich nicht für die Höhe eines Kredits wie der, den Günther aufgenommen hatte. Der Gedanke an das Vermögen, das er machen würde, trieb seinen Herzschlag an.

Er hatte mit Eduard Jungbluth darüber gesprochen, doch der hielt sich mit dem Kauf von Aktien zurück. Das war der einzige Aspekt, der ihm an seinem künftigen Schwiegersohn nicht gefiel, dieser mangelnde Instinkt fürs Geschäft. Eduard hatte seine Aktien abgestoßen – gegen viel Geld, das ja, aber das hatte er hernach nicht wieder investiert. Nach Günthers Dafürhalten zeugte das von mangelnder Risikobereitschaft, die einen guten Geschäftsmann doch ausmachte. Vor allem, wenn es sich, wie in diesem Fall, um ein kalkulierbares Risiko handelte. Aber nun gut, Eduard war noch jung und würde es lernen. Zudem musste man bedenken, dass er bereits ein ganzes Unternehmen leiten musste, seit sein Vater vor vier Jahren gestorben war. Seine Mutter hatte die Spanische Grippe kurz nach Kriegsende dahingerafft. Günther würde ihn unter seine Fittiche nehmen.

Wenigstens hatte Eduard Biss, etwas, das Günthers Sohn Ludwig komplett abging. Der trieb sich lieber mit dem Zigeunergelump im Theater herum, anstatt für die Schule zu büffeln. Günther argwöhnte darüber hinaus, dass er auch Sophia mit zu diesem halbseidenen Gesocks nahm. Er würde noch einmal mit seinem Sohn darüber sprechen müssen, wenn nötig, mit mehr Nachdruck als bisher. Seit einem Jahr lungerte Ludwig am Theater herum, und die Krone hatte er dem Ganzen aufgesetzt, als er in Frauenkleidern auf dem Speicher gesessen hatte. Günther schwoll der Hals, wenn er nur daran dachte. Aber er würde schon dafür sorgen, dass Ludwig ihm keine Schande bereitete, mit aller Härte, wenn es sein Sohn denn darauf anlegte.

Der Reichtum der Familie Conrad lag seit der Jahrhundertwende in der Stahlindustrie begründet. Im Großen Krieg hatten sie die Gunst der Stunde genutzt und die Rüstungsindustrie beliefert, was zu weiterem Wohlstand geführt hatte. Das Unternehmen Jungbluth fertigte unter anderem Bauteile für den Schienenverkehr an, vorwiegend für Güterwaggons. Kurzum – es war eine vielversprechende Verbindung.

Anstatt ins Werk ging Günther noch ein wenig spazieren, genoss trotz der noch winterlich anmutenden Kälte den Atem des Frühlings in der Luft. Die Stadt Frankfurt hatte eine Erhabenheit, die ihn stets aufs Neue beeindruckte – diese Aura von Geld und Macht. Dies war der wichtigste Finanzplatz im Deutschen Reich, wo mächtige Bankiers ihren Sitz hatten. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt hielt Günther inne, sah sich um, zufrieden mit sich und der Welt.

»Guten Tag, Conrad«, hörte er eine Männerstimme sagen und drehte sich um. »Wie ich gehört habe, darf man zur Verlobung der Ältesten gratulieren?«

Günther lächelte. »Vielen Dank.«

»Ich habe gerade unsere Mädchen getroffen«, erzählte Oskar Roth. »Die charmanten Damen waren so freundlich, mir Gesellschaft beim Mittagessen zu leisten, ehe sie gleich weitergezogen sind, unser Geld unter die Leute zu bringen.«

»War Ludwig bei ihnen?«

»Nein.«

Günther bemerkte die Vorsicht durchaus, die sich in Oskar Roths Blick geschlichen hatte. Offenbar witterte er in der Frage Ärger für den Jungen. Na, da würde er ihn sich wohl selbst noch einmal vorknöpfen müssen. Er nickte Oskar Roth zu, wünschte diesem noch einen schönen Tag und setzte seinen Weg fort.

Da war es wieder, dieses Unwohlsein, das den Gedanken an Ludwig stets begleitete. Und das nagte jetzt so stark an ihm, dass er nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, ins Werk ging, sondern nach Hause, um das Zimmer seines Sohnes genauer in Augenschein zu nehmen. Wenn er dort etwas fand, was darauf schließen ließ, dass Ludwig die Schule zugunsten des Theaters vernachlässigte, würde es sehr unerfreulich für ihn werden. Seine Noten zumindest besagten, dass Ludwig die Zeit, die er eigentlich zum Lernen aufwenden sollte, anderweitig nutzte. Dem würde Günther nun auf den Grund gehen. Die gute Laune war dahin, die Euphorie, Geld gewinnbringend investiert zu haben. Auch das war Ludwig anzulasten.

»Irgendwann nehme ich seinen Rohrstock und prügle ihm die Seele aus dem Leib.«

Sophia sah ihren Bruder erschrocken an. »Sag doch so etwas nicht!«

Diesmal war der Stein des Anstoßes nicht das Theater gewesen, sondern ein kommunistisches Flugblatt, das ihr Vater in Ludwigs Besitz gefunden hatte.

»Kommunismus!«, hatte er gebrüllt. »Mein Sohn ein Bolschewik, oder was?« Erschwerend kam hinzu, dass das Flugblatt zwischen den Schulsachen gesteckt hatte und auf diese Weise auch eine schlechte Note in Mathematik zutage gefördert wurde, die Ludwig bisher wohlweislich verschwiegen hatte. Ihr Vater hatte ihn in sein Arbeitszimmer befohlen, was bedeutete, dass der Rohrstock zum Einsatz kam.

Nun lag Ludwig auf dem Bett, starrte an die Decke, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Sobald ich die Schule beendet habe, gehe ich fort.«

»Rede keinen Unsinn, wovon willst du denn leben?«

»Ich komm schon klar.«

Sophia saß auf dem Boden und lehnte mit dem Rücken am Bett. »Bei allem Zorn, aber damit bestrafst du dich doch selbst. Lass Papa dein Studium bezahlen, danach bist du unabhängig.«

»Vater will, dass ich Jurist werde.« Ludwig sagte das in einem Ton, als schließe der Wunsch allein dessen Erfüllung bereits aus.

Raiko würde das Unternehmen erben, und Ludwig würde ihm als Jurist zur Seite stehen – so stellte ihr Vater sich die Zukunft seiner Söhne vor. Dass Ludwig sich lieber der Kunst widmen und ans Theater wollte, stand außerhalb jeder Diskussion, und solange ihr Bruder nicht volljährig war, würde er tun müssen, was sein Vater verlangte.

»Du weißt ja auch gar nicht«, entgegnete Sophia, »ob das mit dem Theater so klappt, wie du dir das vorstellst. Wenn nicht, hast du wenigstens einen Beruf, der dich ernährt. Stell dir vor, du scheiterst am Theater und stehst auf der Straße. Welche Genugtuung das für Vater wäre.«

»Ich arbeite gewiss nicht für Raiko.«

»Das musst du ja auch nicht.«

Ludwig schwieg, und Sophia drehte sich zu ihm um, wartete auf eine Antwort. Als er schwieg, stand sie auf. »Kommst du nachher zum Abendessen?«

Kopfschütteln. Sie verließ das Zimmer und zog leise die Tür hinter sich zu. Bis zum Abendessen war es noch eine gute Stunde, und da sie keine Lust hatte, sich mit ihren Eltern in den Salon zu setzen, ließ sie sich in der Küche eine heiße Schokolade zubereiten und ging damit in die Bibliothek, einen Raum, den sie nicht nur aufgrund ihrer Leidenschaft fürs Lesen liebte, sondern auch, weil sie hier wie in keinem anderen das Gefühl hatte, er beflügle ihre Gedanken. Inmitten von Büchern zu stehen, den Geruch nach Leder und altem Papier zu atmen – schon in ihrer Kindheit war ihr dies der liebste Rückzugsort gewesen.

Sie setzte sich auf die breite Fensterbank, umfasste den Kakaobecher mit beiden Händen und sah hinaus in den Garten, über den sich langsam die Dämmerung senkte. Eine schlanke Gestalt trat von der Veranda, stand da, als sei sie vollkommen gedankenverloren. Emilia. Obwohl sich Sophia wie eine Voyeurin vorkam, als sie ihre Schwägerin beobachtete, die sich gänzlich allein wähnte, so konnte sie den Blick doch nicht von ihr abwenden. Es hatte etwas Anrührendes, wie sie dastand, die Arme um den Oberkörper geschlungen, als könne das ihr, die nur ein Kleid trug, Schutz vor der abendlichen Kälte bieten. Still stand die junge Frau da, während sich die langen Schatten langsam zu Dunkelheit verdichteten. Der Wind spielte in ihrem Haar, und sie senkte den Kopf. Erst dachte Sophia, sie täte dies, um das Gesicht vor dem Wind zu schützen, dann jedoch bemerkte sie das leichte Beben der Schultern und begriff, dass Emilia weinte.

* * *

Das Licht hinter den Fenstern wich einem bleiernen Grau, jenem seltsam farblosen Zustand, der zwischen dem flammenden Rot des Sonnenunterganges und dem tiefen Blau der Nacht lag. Vincent Rubik lag im Bett und beobachtete, wie die Dunkelheit langsam fortschritt und die Dachfirste zu Scherenschnitten wurden.

»Woran denkst du?«, fragte Lena.

Vincent drehte sich zu ihr um, sah sie an, wie sie neben ihm lag, den Kopf auf dem angewinkelten Arm, das goldbraune Haar ausgebreitet auf dem Kissen. Lena war Tänzerin und je nach Engagement immer mal wieder arbeitslos – was bedeutete, sie konnte die Miete nicht zahlen und kam bei ihm unter.

»An nichts Besonderes«, beantwortete er ihre Frage und wollte sich erneut über sie beugen, als die Türklingel anschlug, ein schriller Ton, der ihn hochfahren ließ.

Lena sank auf das Kissen. »Mach nicht auf.«

»Ich komme gleich wieder.«

Sie schlang die Arme um ihn, und er versuchte, sie von sich zu schieben, aber es war wie bei Spinnweben, in denen man sich immer weiter verfing, je mehr man sich zu befreien versuchte. Als die Klingel erneut schellte, richtete er sich entschieden auf, erhob sich vom Bett und griff im Vorbeigehen nach seiner Hose, die er im Gehen schloss.

Die Klingel wurde in jenem Moment, als er die Tür öffnete, ein drittes Mal betätigt. »Es könnte natürlich sein«, sagte er, »dass ich gerade anderweitig beschäftigt bin, wenn ich nicht sofort zur Tür gehe. Oder womöglich gar nicht daheim bin.«

»Bei dir brennt Licht«, antwortete Rudi, als sei das Erklärung genug, und schob sich an ihm vorbei in die Wohnung.

»Klar, komm ruhig rein.« Vincent schloss die Tür und folgte Rudi in die kleine Wohnstube.

Die magere Gestalt des jungen Mannes sank in einen Sessel, und während er in angespannter Haltung dasaß, wippten seine Beine beständig. Vincent hatte ihn kennengelernt, als Rudi ein kurzes Engagement als Bühnenbauer am Theater gehabt hatte. Seine Ruhelosigkeit vertrug sich jedoch nicht mit der Sorgfalt bei der Ausarbeitung von Kulissen, so dass er die Arbeit bald darauf wieder verlor. Hernach hatte Vincent ihn für kurze Zeit beherbergt, da er ohne Einkommen auch seine Wohnung verloren hatte. Seither wurde er ihn nicht mehr los. Rudi war wie ein streunender Kater, den man ermutigte, sich draußen durchzuschlagen, der aber doch stetig dahin zurückkehrte, wo die Futtertröge waren.

»Ich hab die Miete nicht bezahlen können«, sagte er. »Kann ich für ein paar Tage bei dir unterkommen? Nur, bis ich was Neues hab.«

»Das Bett ist aber schon belegt«, kam es von der Tür her, wo Lena stand, in eines von Vincents Hemden gekleidet, das ihr bis zur Mitte der Oberschenkel reichte.

Rudis Ohren wurden rot. »Da wollt ich eh nicht schlafen.«

»Was du nicht sagst«, kam es trocken von Vincent, und Rudis Ohren wurden noch roter.

Lena ließ sich auf dem Sessel dem jungen Mann gegenüber nieder und streckte die langen Beine aus. In den meisten Frauen weckte Rudi einen Beschützerinstinkt, Lena hingegen brachte ihn gerne in Verlegenheit. Sie sah ihn an, lächelte keck und griff nach den Zigaretten.

»Du wirst hier gewiss nicht rauchen«, erklärte Vincent.

Erstaunt hob sie die Brauen. »Na, seit wann das denn?«

»Das galt schon immer, ich war lediglich nachsichtig.«

»Und jetzt bist du es nicht mehr?«

»Nachdem du mir beim letzten Mal fast den Teppich in Brand gesteckt hast, kannst du dir die Frage selbst beantworten.«

»Ach, das sieht man doch gar nicht, seit der Sessel auf dem Loch steht.«

Rudi hatte den Nerv zu grinsen.

»Keine Zigarette, oder du kannst direkt gehen.«

Lena schien zu überlegen, ob sie provozieren sollte, wie ernst es ihm war, unterließ es dann jedoch. Besser so für sie. »Rudi, du kannst auf dem Sofa übernachten, aber sieh zu, dass du schnell etwas Neues findest.«

»Danke, du bist ein wahrer Freund.«

Lena reckte sich auf dem Sofa, und das Hemd rutschte noch ein wenig höher. Es war offensichtlich, dass Rudi nicht wusste, wo er hinsehen sollte.

»Gehen wir wieder ins Bett?«, fragte Lena und sah Vincent an.

»Jetzt nicht.« Die Stimmung war dahin.

»Ich bringe dich schon wieder in Fahrt. Das dauert ja nie sehr lange.« Als sie bemerkte, dass Rudi vor Verlegenheit zu Boden blickte, die Wangen hochrot, grinste sie.

Schon in seiner Kindheit war Vincent ein Einzelgänger gewesen, und diese räumliche Enge mit zwei weiteren Personen löste bereits jetzt Unbehagen in ihm aus. Er ließ sich auf der Armlehne ihres Sessels nieder und betrachtete Lena, die sich nach wie vor lasziv räkelte.

»Wo hast du dein Gepäck?«, fragte er Rudi.

»Hab ja nicht viel, das ist in einem Schließfach im Bahnhof. Ich hole es morgen früh.«

»Heißt das, du bleibst länger, oder was?«, fragte Lena.

»Ist das ein Problem?« Vincent sah sie an, aber sie zuckte nur mit den Schultern.

Irgendwann wurde es ihr offenbar langweilig. Sie wünschte schnippisch eine gute Nacht und ging zurück ins Zimmer. Vincent wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte, und ließ sich Rudi gegenüber auf dem Sofa nieder.

»Bist du politisch wieder jemandem auf die Füße getreten?«

»Nein, mein Vorgesetzter war ein Sozi, dem kann es nicht rot genug sein.«

»Sie haben dich also praktisch grundlos entlassen?«

»Hm, na ja, was heißt grundlos. Also, ich hab nichts verbrochen oder so, ich dachte mir nur, die Arbeiter im Werk könnten sich endlich organisieren.«

»Und das hat dein Vorgesetzter nicht so gerne gesehen?«

»Aufwiegelung nannte er es.«

»Verstehe.«

»Ich meine, er vertritt eine Politik, die sich offiziell für das Volk einsetzen will. Sein Unternehmen führt er aber wie eine Diktatur, das passt doch nicht zusammen.« Rudi hob die schmalen Schultern. »Na ja, jetzt sitze ich halt wieder auf der Straße, das habe ich jetzt davon. Einer der Arbeiter hat mich angeschwärzt.«

»Du kannst bleiben, bis du etwas Neues findest.«

Vincent hörte Lärm von der Straße her, das aggressive Grölen von Männern, die offensichtlich zu viel getrunken hatten. Er öffnete das Fenster und sah hinab. Eisige Luft schlug ihm entgegen, und auf seinem bloßen Oberkörper bildete sich eine Gänsehaut. Der Männertrupp war vermutlich eine dieser selbsternannten Bürgerwehren, denen man besser aus dem Weg ging. Vincent ließ den Blick über die Straße gleiten, die leer dalag, was wohl ein Grund für den Unmut war. Man hatte getrunken, sich womöglich mit Parolen gegenseitig angeheizt, und nun war weit und breit niemand, dem man hätte eine Lektion erteilen können. Vincent zog sich zurück und schloss das Fenster.

»Wer war das?«, fragte Rudi.

»Irgendwelche Schläger der Sturmabteilung.«

Rudi rieb sich die Augen. »Ich bin froh, wenn die endlich wieder weg sind. Der Spuk dauert schon viel zu lange.«

Ein Jahr Verlobungszeit erschien Clara grausam lang. Es war sogar über ein Jahr, denn sie würde wohl mitnichten im tiefsten Winter heiraten. Ihr schwebte eine Feier im Frühjahr vor, wenn das Grün spross, Blüten die Bäume zierten, die Blumen ihren ersten Duft verströmten – und in all dieser Pracht Clara in ihrem weißen Kleid, Gesicht und Haar verborgen unter einem spinnwebfeinen Schleier, den Eduard anheben würde, um sie zu küssen … Sie würden im Garten heiraten, der Weg zur Trauung sollte durch das Rosenspalier führen. Getanzt werden würde im Salon, dessen Türen zum Garten hin weit offen standen, so dass man nach Belieben ein und aus gehen konnte.

»Eine Hochzeit vorbereiten dauert«, hatte ihre Mutter erklärt. »Zudem sollt ihr euch eurer Gefühle gewiss sein.«

Clara war sich gewiss, so gewiss, wie man nur sein konnte. Dennoch beharrte ihre Mutter darauf, und ihr Vater stand ihr dabei bestärkend zur Seite. Allerdings – und dem konnte Clara nicht widersprechen – war es tatsächlich praktisch unmöglich, in kurzer Zeit eine Hochzeit zu planen und in dem Maße aufzuziehen, wie sie sich das wünschte. Alles würde wirken wie in aller Eile geplant – das konnte doch wahrhaftig nicht das sein, was Clara sich wünschte. Natürlich könnte man den Spätsommer in Erwägung ziehen, aber in der Hitze heiraten? Wenn einem die Schminke zerlief und man in seinem schönen Kleid fortwährend transpirierte? Es blieb also auch aus rein praktischen Erwägungen nichts anderes übrig, als bis zum Frühjahr 1930 zu warten.

Eduard sah die Sache pragmatisch. Ja, natürlich wäre es schön, früh heiraten zu können, aber auch die Verlobungszeit hatte ihren Reiz, wenn alles noch so wundervoll und neu war. Sie würden sich gut kennen, wenn sie heirateten, und das wäre nicht das Schlechteste. Überhaupt war er nach Claras Dafürhalten in jeder Hinsicht perfekt. Er war reich, gebildet und sah mit seinem dunkelbraunen Haar und den graublauen Augen auch noch blendend aus. Geradezu aristokratisch. Sie würden so hübsche Kinder bekommen.

An diesem Abend war er zum Essen eingeladen, und Clara befand sich schon den ganzen Nachmittag in einem Zustand vibrierender Vorfreude. In den letzten Tagen war er geschäftlich stark eingespannt gewesen, und sie hatten sich nur selten gesehen. Ihrem Vater gefiel diese Strebsamkeit außerordentlich gut, und Clara wusste, dass er ihre Wahl vortrefflich fand.

Sie hatte sich für ein pastellblaues Kleid entschieden, das nach der neuesten Mode geschnitten war und schon fast skandalös viel Bein zeigte. Die Familie fand sich stets kurz vor dem Abendessen im Salon ein, wobei es dieses Mal ein recht kleiner Kreis war, der nur aus ihren Eltern, Raiko und Sophia bestand.

»Wo ist Emilia?«, fragte sie, obwohl sie ihre Schwägerin herzlich wenig vermisste.

»Ihr ist nicht wohl«, entgegnete Raiko, woraufhin ihn Sophia einen Moment lang aufmerksam taxierte, sich jedoch abwandte, als er sie seinerseits ansah.

»Und Ludwig?«, fragte ihr Vater streng, doch Sophia zuckte nur mit den Schultern.

Sein Gesicht verdunkelte sich. Verspätungen und unentschuldigtes Fernbleiben von den Mahlzeiten waren ihm ein Graus. Ehe er jedoch dazu kam, seinen Ärger zu artikulieren, wurde der Türgong angeschlagen, und am liebsten wollte Clara selbst loslaufen und Eduard einlassen, aber sie wusste, was sich gehörte, und übte sich in vornehmer Zurückhaltung. Ihre Mutter sah sie mit milder Belustigung an, während ihr Vater mit gerunzelten Brauen dastand und offenbar immer noch an Ludwig dachte. Besorgt sah Clara ihn an. Nicht, dass er so finster dreinschaute, wenn Eduard eintrat, und er dies auf sich bezog. Ihre Mutter bemerkte die Sorgen und berührte den Arm ihres Vaters. Dessen Stirn glättete sich, und er schaffte es sogar zu lächeln, als Eduard den Raum betrat.

Formvollendet begrüßte er zuerst seine künftigen Schwiegereltern, ehe er seiner Braut einen keuschen Kuss auf die Wange gab. Mit Raiko verstand er sich gut, Sophia hingegen machte keinen Hehl daraus, dass sie ihn nicht ausstehen konnte. »Gelackter Affe« hatte sie ihn genannt, einen Langweiler und noch allerlei anderes. Ihre Mutter hatte ihr schließlich verboten, sich so abfällig zu äußern.

»Dann denke ich mir künftig eben meinen Teil«, hatte die kleine Kröte geantwortet.

Bei Tisch wurde Eduard der Platz neben Clara zugewiesen. Nun galt es, die überzähligen Gedecke abtragen zu lassen.

»Was ist mit Ludwig?«, fragte Raiko, der nun Clara gegenüber Platz nahm, während sich Sophia mit Grabesmiene Eduard gegenüber hinsetzte.

»Wenn er nicht pünktlich ist, braucht er heute nichts mehr zu essen«, beschied ihn ihr Vater.

Clara hatte von der schlechten Note gehört und dem Kommunistengeschreibsel. Nicht auszudenken, wenn Eduard davon erfuhr. Nachdem ihr Blick einige Male besorgt zur Tür gehuscht war, entspannte sie sich. Ludwig schien es ernst damit zu sein, dem Abendessen fernzubleiben, eine Szene war nicht zu befürchten.

Das Essen verlief in entspannter Plauderei, ein wenig Gesellschaftstratsch, ein wenig Politik. Zudem war Sophia angenehm schweigsam, während Raiko sich mit Eduard unterhielt, mit dem er in vielen politischen Fragen einer Meinung war. Da Raiko der Haupterbe des väterlichen Betriebs war und eine engere Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen Jungbluth und Conrad angestrebt wurde, war es umso besser, dass sich die beiden Männer verstanden.

Nach dem Essen gingen sie in den kleinen Salon, der der Familie und ihren engsten Freunden vorbehalten war. Obwohl Clara am liebsten mit Eduard allein gewesen wäre, wusste sie, wie wichtig es war, dass er in die familiären Rituale eingebunden wurde. Sophia bat man, sich ans Klavier zu setzen und zu spielen, was diese erstaunlich fügsam tat. Ihr Vater unterhielt sich mit Raiko und Eduard, und dieses Mal ging es ums Geschäft, um Aktienkäufe und allerlei anderen langweiligen Kram. Clara hörte schon bald nicht mehr hin.

»So ein angenehmer Mensch«, sagte ihre Mutter zu ihr und lächelte zufrieden. »Wenn wir jetzt noch jemanden von diesem Kaliber für unsere Sophia finden, können wir glücklich sein.«

Clara sah zu ihrer Schwester und nickte. »Vielleicht können wir sie in der nächsten Wintersaison mit einigen jungen Männern aus Eduards Freundeskreis bekannt machen. Da wird sich gewiss jemand Vielversprechendes finden. Außerdem ist unter Raikos Freunden doch auch der ein oder andere, der etwas taugt.«

Ihre Mutter nickte und sah nun ebenfalls zu Sophia, die die Blicke zu bemerken schien, denn sie sah auf und kam aus dem Takt. Der Missklang ließ das Gespräch der Männer verstummen, und irritierte Blicke flogen zum Klavier. Sophias Finger fanden den Takt wieder, und unter den harmonischen Klängen wandten die Männer sich ihrer Unterhaltung zu.

3 Mai 1929

Da Rosa nicht ohne Sophia und Sophia nicht ohne Rosa ihren Geburtstag feiern wollte, war man übereingekommen, dass immer abwechselnd mal im Hause Conrad und mal im Hause Roth gefeiert wurde. Dieses Jahr war die Villa Roth an der Reihe, und Sophia befand sich bereits seit dem frühen Vormittag bei Rosa. Sie hatten sich umgezogen, gegenseitig frisiert, es sogar gewagt, sich etwas zu schminken, was an diesem Tag beide Eltern mit einem nachsichtigen Blick gestatteten. Ludwig kam später ebenfalls dazu und wartete im Garten auf sie. Das blonde Haar war wellig zurückgekämmt, wobei ihm trotz aller Mühen eine Locke in die Stirn fiel.

Als Ludwig sie sah, hob er sein Glas. »Ich weiß nicht, wer von euch beiden die Schönere ist.«

»Das sei dir vergeben«, sagte Sophia und gab ihm einen Kuss auf die eine Wange und Rosa – nachdem sie sich rasch umgeschaut hatte – auf die andere. Sie hakten sich zu beiden Seiten bei ihm ein und spazierten durch den großen Garten. Das Wetter war wunderbar, ein Frühlingstag, wie man ihn sich schöner nicht wünschen konnte. Ein großer Tisch war hinausgestellt worden, und da zu viele Gäste erwartet wurden, als dass alle darum herum Platz gefunden hätten, wurde dort das Büfett aufgebaut. Gegessen wurde auf Picknickdecken.

Der Garten fiel sanft ab und endete an einem großen, gepflegten Teich, in den Sophia als Fünfjährige schon einmal gefallen war. Glücklicherweise war Rosas um acht Jahre älterer Bruder Paul in der Nähe gewesen und hatte sie herausgezogen. Danach war das Kindermädchen der Roths entlassen worden, das in die Küche gegangen war, um Limonade zu holen, und einen Moment zu lange mit der Köchin geplaudert hatte.

Während sie durch den Garten ging, den Duft von Blüten und sonnenwarmem Gras atmete, war Sophia von einem Gefühl überwältigenden Glücks erfüllt, das ihr die Brust weit machte. In solchen Momenten erschien ihr das Leben so wunderbar, so voller Verheißungen, dass nicht einmal der Gedanke an Vincent und ihre verschmähten Gefühle etwas daran ändern konnte. Hier war sie mit den beiden Menschen, ohne die sie nicht leben wollte. Ludwig war ihre andere Hälfte, in Rosa jedoch spiegelte sie sich, die Freundin war eine waghalsigere, zielstrebigere Version ihrer selbst, wohingegen Rosa in ihr wohl den verträumten, phantasiebegabten Gegenpart sah.