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Im Grundgesetz wird uns Gewissensfreiheit garantiert. Aber wo sitzt das Gewissen und in wie weit sollte man auf es hören? Warum ist das Gewissen politisch? Und wie sieht Gewissensfreiheit aus, wenn die Grenzen verschwimmen oder Gefühle auf die Realität treffen? Solche und andere Fragen stellen sich die 40 Autor*innen in dieser Anthologie zur Gewissensfreiheit. Ihre Gedanken, Gefühle und Erlebnisse zum Thema stellen sie in vielfältigen literarischen Formen dar - Gedicht, Kurzgeschichte, Essay, Gedankenstrom... Ein vielfältiges Leseerlebnis, welches einen Blick über den Tellerrand der eigenen Meinung und Erfahrung ermöglicht und neue Perspektiven zum Thema Gewissensfreiheit eröffnet. Ein Plädoyer, ein Fragezeichen, ein Doppelpunkt - Demokratie in literarisch. 2021 rief die Initiative "3. Oktober - Deutschland singt und klingt" den Schreibwettbewerb "Die Freiheit, die ich meine" ins Leben. Nun schon in zweiter Runde wählte die Jury im März 2024 aus über 800 Texten zum Thema Gewissensfreiheit ihre Shortlist - die 41 Texte, die nun in diesem Werk zu finden sind. Die erste Anthologie zum Thema Meinungsfreiheit ist ebenfalls bei Tredition.com erhältlich. In den folgenden Jahren werden weitere Wettbewerbe zu den Freiheitsrechten im deutschen Grundgesetz folgen. Und hoffentlich auch weitere Publikationen der zahlreichen Texteinsendungen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 342
Veröffentlichungsjahr: 2024
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Artikel 4
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
(3) Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.
Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.
3. Oktober – Deutschland singt und klingt e.V. (Hrsg.)
Die Freiheit, die ich meine
Gewissensfreiheit
© 2024 3. Oktober – Deutschland singt und klingt e.V. (Hrsg.)
Umschlag: Michelle Brückner
Layout: Anne Schüttig
Lektorat, Korrektorat: Susanne Tenzler-Heusler, Anne Schüttig
Druck und Distribution im Auftrag von 3. Oktober – Deutschland singt und klingt e.V.:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Hardcover
978-3-384-31518-2
e-Book
978-3-384-31519-9
E-Mail: [email protected]
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte sind die Autor*innen der jeweiligen Texte verantwortlich. Jede Verwertung ohne die Zustimmung der Autor*innen ist unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag von 3. Oktober – Deutschland singt und klingt e.V. (Hrsg.), zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Vorwort
Gewinnertext der Kategorie Schüler*innen der Sekundarstufe aus Sachsen
Der Kriegsdienstverweigerer – von Ayleen Hammer
Gewinnertexte der Kategorie 16-26 Jahre
Der 5. August – von Anna Lisa Azur (1. Platz)
Standardvortrag – von Emily Sarah Adams (2. Platz)
Ein dunkles Becken – von Paul Liedvogel (3. Platz)
An einem schöneren Ort – von Christopher Schulz Kruckow (Publikumspreis)
Gewinnertexte der Kategorie über 26 Jahre
Der allerletzte Schwur – von Julia Alina Kessel (1. Platz)
Schlachten in der Schleife – von Siegfried Schwartz (2. Platz)
Gewissen, Wert und Normalisierung – von Marco Siebert (3. Platz)
Shortlist der Kategorie 16-26 Jahre
Die Freiheit meines Gewissens – von Ades A.
Der große König – von Jonas Schräpler
Ein sinkendes Schiff – von F16
Ganz heimlich – von Dareena Rhiannon Knopp
Gewisse(ns) Freiheit – von T.L.R.
Gewissenswissen – von Emily Evans
Juni – von Maja Goertz
Nicht eine gute Entscheidung – von Leonore Lilja
Schaut hin – von Annelie Neubauer
Treppenturmzimmer – von Joelle Anouk Kannapin
Uropa auf dem Kilimandscharo – von Johanna Behrends
Verschlossen frei sein – von Yasemin Kamisli
Shortlist der Kategorie über 26 Jahre
Abschied – von Peter Getta
Andere Zeiten – von Tina Kowska
App 42 – von Lutz Katczinsky
Aus dem Bauch heraus – von Sophie Vizthum
Der alte Pullover – von Maike Möller-Engemann
Der Kracher – von Tyrell van Boog
Die Gedanken sind bunt – von Thomas Knodel
Die Gewissensfreiheit – von S. Brink
Die Revolution findet in Schlafzimmern statt – von Farnaz Nasiriamini
Ein Herz in zwei Leben– von Sonja Jurinka
Entlarvte Wege – von Helmut Blepp
Farewell – von Birgit Rabisch
Klagelied an mein Gewissen – von Petra Zeil
Lou – der rebellische Marienkäfer der Nachhaltigkeit – von Caroline Herzfeld
Nun-dar-Chun »Brot im Blut« – von Asadeh Khakban
Pro Marie – von Heidrun Schwinger
Prügelmädchen – von Sanne Prag
Solange es geht – von Valeria Knopp
Stillleben – von Andreas Köllner
Stimmengewirr – von Petra Zeil
Und siehe… - von Ursula Strätling
Statements der Gewinner*innen
Die Jury
Preisverleihung am 21.03.2024 im Stiftung Forum Recht (Leipzig)
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Urheberrechte
Vorwort
Der Kriegsdienstverweigerer – von Ayleen Hammer
Preisverleihung am 21.03.2024 im Stiftung Forum Recht (Leipzig)
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Vorwort: Demokratie braucht Demokrat*innen!
Liebe Leser*innen,
am 21. März 2024 haben wir während der Leipziger Buchmesse die Gewinner*innen unseres neuerlichen bundesweiten Schreibwettbewerbs „Die Freiheit, die ich meine – Gewissensfreiheit“ geehrt. Sie wurden aus 800 Einsendungen von einer prominenten wie kompetenten Jury aus Autor*innen, Journalist*innen und Literaturexpert*innen ausgewählt.
Die überwältigende Resonanz hat klar gezeigt: Der Erhalt demokratischer Werte in komplizierten Zeiten treibt viele Menschen um, egal welchen Alters oder welcher Herkunft. Um die Freiheit des Gewissens tobt ein Kampf, der auch heute facettenreich zu durchfechten ist. Dieser Band sammelt die Gewinnertexte und alle Beiträge der Shortlist, insgesamt 41 mehr als lesenswerte Stücke aller Gattungen. Neben dem gesellschaftspolitischen Engagement freuen wir uns über die hohe Qualität der Beiträge. In den Einsendungen waren für uns einige Entdeckungen dabei, denen man eine literarische Zukunft wünschen möchte. Bei der Preisverleihung sorgte mancher Autor und Autorin für Gänsehautmomente.
Unsere einzigartige deutschlandweite, partizipative Aktion am Tag der Deutschen Einheit gemeinsam auf den Marktplätzen überall gleichzeitig 10 Friedens-, Dankes- und Hoffnungslieder aus verschiedenen Genres zu singen, möchte den Bürger*innen im Land helfen, eine fröhlich verbindende Feierkultur zu schaffen. Mit Hilfe der Musik versammeln sich so Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung für Zusammenhalt und Demokratie. Denn das Wunder der Einheit, über 75 Jahre Grundgesetz und fast 80 Jahre Frieden sind es wert gefeiert zu werden.
Mit der Erweiterung durch den am 03.10.2023 gestarteten Schreibwettbewerb bieten wir eine weitere Form für zivilgesellschaftliches Engagement an. Unser Ziel ist es, mit dem Schreibwettbewerb auch in den kommenden Jahren Menschen aus allen Generationen zu gewinnen, sich mit den Freiheitsrechten im Grundgesetz unserer Demokratie lebendig und kreativ auseinanderzusetzen. Denn Demokratie braucht junge und alte, aber aktive, resiliente Demokrat*innen. Für 2025 haben wir das Thema „Versammlungsfreiheit“ auf die literarische Agenda gesetzt.
Ich bedanke mich herzlich für die Leidenschaft und das Engagement aller Beteiligten an der Organisation und Umsetzung des Wettbewerbs. Ein großer Dank geht an GVL, die Stiftung Forum Recht, die Stiftung Christliche Medien, die Gemeinwohl-App „Dorfkrug“, die QM Interactive sowie die Stiftung Wertestarter und die Leipziger Internetzeitung, die die Preisgelder für unsere Gewinner*innen zur Verfügung gestellt haben.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen.
Bernd Oettinghaus
Vorstandsvorsitzender Initiative 3. Oktober – Deutschland singt und klingt e.V.
Gewinnertext der Kategorie Schüler*innen der Sekundarstufe aus Sachsen
Der Kriegsdienstverweigerer – von Ayleen Hammer
Krieg, Kampf und Zerstörung tobt
in deinem eig’nen Land.
Sag, willst du gar nicht mit uns kommen,
um zu schützen, um zu retten,
wo auch du dazu gehörst,
was du deine Heimat nennst
und dafür auch Treue trägst?
Ich lass Krieg, Kampf und Zerstörung toben,
denn es ist nicht meine Schuld
und ist es niemals gewesen,
dass nichts mehr friedvoll und gesittet ist.
Warum soll ich dann mich selbst riskieren,
nur um Erwartungen gerecht zu werden?
Seht her, seht her,
er ist der Kriegsdienstverweigerer,
versucht heimlich, unbemerkt zu fliehen,
vor den Pflichten, die sich über ihn ziehen,
er kann ihnen niemals entkommen,
bis die Verantwortung er übernommen,
die zwar nirgends im Gesetz drinsteht
und doch in vielen Köpfen schwebt.
Du ziehst dich einfach ganz zurück,
gibst keine Acht aufs Vaterland.
Sag, wenn alle sind wie du
und vergessen, was die Pflichten sind,
wer ist dann da zu schützen,
was auch ihr als euer Zuhause kennt?
Das, was ich als Zuhause kenn,
ist dann nicht mehr, wie es war,
will nicht Familie, Kinder, alles, was ich liebe
zurücklassen ohne irgendein Gewissen
darüber wo ich bin und was ich tu,
sodass sie bald vergessen, wer ich war.
Hört her, hört her,
er ist der Kriegsdienstverweigerer,
versucht heimlich, unbemerkt zu fliehen
vor den Pflichten, die sich über ihn ziehen,
er kann ihnen niemals entkommen
bis die Verantwortung er übernommen,
die zwar nirgends im Gesetz drinsteht
und doch in vielen Köpfen schwebt.
Warum seist nur du verschont,
von dem, was alle hier bedroht?
Sag, will denn irgendjemand freiwillig
in sein Verderben ziehen?
Du bist da ganz gewiss nicht allein,
und doch gehen wir alle zusammen für die Sicherheit.
Ich denke auch an meine Sicherheit,
die ich gerne um mich hab,
die ich mir hoch und heilig schätz
und nicht abgeben mag für etwas,
dem ich mich eigentlich widersetz.
Schaut her, schaut her,
er ist der Kriegsdienstverweigerer,
versucht heimlich, unbemerkt zu fliehen
vor den Pflichten, die sich über ihn ziehen,
er kann ihnen niemals entkommen
bis die Verantwortung er übernommen,
die zwar nirgends im Gesetz drinsteht
und doch in vielen Köpfen schwebt.
Wenn alle sind wie du,
und sich gegen all die Pflichten dieses Landes stellen,
sag, wo sollen wir nur Menschen herbekommen,
die bis auf die Knochen diesen Boden verteidigen
und eine Heimat, die in Trümmern liegt,
von diesen jemals zu befreien.
Befreiung folgt auf Zerstörung,
die mir liegt so fremd,
vielleicht will ich gar nicht kämpfen,
weil der Kampf mir fern liegt,
wenn keiner kämpft, nur alle schweigen,
kann keine Zerstörung sich verbreiten.
Seht ihr nun den Pazifisten,
den wir in unseren Reihen listen,
der heimlich unbemerkt versucht zu fliehen
vor den Pflichten, die sich über ihn ziehen,
er kann ihnen niemals entkommen
bis die Verantwortung er übernommen,
die zwar nirgends im Gesetz drinsteht
und doch in vielen Köpfen schwebt.
Nennt mich Pazifist, sucht euch die übelsten aller Worte aus,
doch niemals treibt ihr mich aufs Feld zur Schlacht hinaus,
ich kenne meine Freiheit und lobe sie mir sehr,
mein Bedürfnis zu begreifen fällt euch ziemlich schwer,
ich will Krieg, Kampf und Zerstörung nicht steigern,
stattdessen lieber weiter verweigern.
Gewinnertexte der Kategorie 16-26 Jahre
Der 5. August – von Anna Lisa Azur (1. Platz)
Biegt man links in die Gęsia-Straße ein
Grüßt freundlich ein großes braunes Tor
Dahinter prangt ein Haus aus Backstein
Aus dem Dach lugt ein Schornstein kess hervor
Und öffnet man das dunkle Eisen
Murmeln Kieselsteine “Guten Tag!”
Eins der Scharniere quietscht ganz leise
Weil es Besucher ihrer Wege fragt
Der Schotterweg gesäumt von Halmen
Getupft vom feuchten Morgentau
Der Dunst des Tages lädt zum Verweilen
Ein in die warmen Wände von jenem Haus
Rundherum, da gähnt ein alter Hof
Der sich in der Morgensonne reckt
Noch ist’s still, man vernimmt bloß
Entferntes Klimpern von Besteck
So zwitschern Vögel hier und dort
Ein paar Bälle schlafen in den Ecken
Zwei rollen zur Straße fort
Wo sie müde Menschen entdecken
Von der Eingangstür, da blättert Farbe
Dennoch sieht sie zufrieden aus
Kam nur allmählich in die Jahre
Und schaut nun etwas faltig aus
Das kühle Metall eines Türknaufs
Schmiegt sich vorsichtig in die Hand
Das Öffnen knarzt behaglich laut
Und hinter der Tür steht ein kleiner Mann
”Ja, hereinspaziert, schön, dass du wieder da bist!”
Wie man so früh schon so wach sein kann
Und dass das Frühstück jetzt bereit ist
Und dann schaltet er das Flurlicht an
Kleine Kinderfüße tappeln weiter
Die schon so früh spazieren waren
Tänzelnd auf den Gängen heiter
Die sie in die Küche tragen
Dort herrscht großes Durcheinander
Zwischen Butter, Brot, Käse, Wurst
Man reicht zuvor die Hände einander
Und nach dem Hunger, kommt der Durst
Man isst und trinkt, man kaut und schmatzt
Der Mann steht seufzend im Rahmen der Tür
Man kichert und krümelt, pupst und lacht
Ein buntes Treiben zwischen Tisch und Geschirr
”So, ihr Lieben, nun esst aber auf
Der Reiseleiter holt uns gleich ab
Geht in die Waschräume, putzt euch heraus
Und nehmt mit, was ihr gern bei euch habt!”
“Wo gehen wir denn hin?” fragt ein kleiner Bub
Mit seiner Geige in seiner Hand
”Mir gefällt es hier doch wirklich gut!
Solange ich nur bei dir sein kann.”
”Wir fahren aufs Land., ab in die Natur.”
Sagt der Mann und rückt seine Brille zurecht
”Und es sind ja auch ein paar Tage nur
Hier in der Stadt ist die Luft so schlecht.”
”Ist’s denn weit?” will ein anderer wissen
”Ein wenig schon, aber nicht zu sehr
Und du hast ja auch gerade gut gegessen
Doch schaffst' du’s nicht, trag ich dich gern.”
“Wie viele sind es denn nun genau?”
Fragt der Reiseleiter am braunen Tor
”Hundertzwanzig, ich und diese Frau.”
Sagt der Mann und geht einen Schritt dann vor
„Nein, nein, Herr K., Sie bleiben hier!
Denn Sie gehören nicht zu denen!“
Herr K., damit niemand sonst ihn hört
Senkt seine Stimme unter Tränen
„Ich bitte Sie drum und flehe Sie an,
Diese Kinder sind mein ganzes Leben
Und ich will doch nur als alter Mann
Mein eigenes für sie geben!”
Der andere rümpft seine Nase
„Dann es gibt keinen Weg zurück!”
„Das ist meine Antwort auf Ihre Frage”
Antwortet Herr K. mit eisernem Blick
Und sieht ein letztes Mal auf das Haus
„Also dann, marschieren wir ab!“
Er atmet Wehmut ein und wieder aus
Als die Gruppe sich auf den Weg begab
”Moment!”, ruft der Mann in Uniform
”Der Junge mit Geige führt den Zug an!”
Und er holt den kleinen Buben nach vorn
Der gerade Jarzębski zu spielen begann
Gesang, Gelächter, Tanz, und Spiel
Waren auf ihrem Weg ihr Geleit
Und bis zu ihrem letzten Ziel
Ließ der Mann sie keine Minute allein
Er hätte gekonnt, aber er blieb
Und ging bis nach Treblinka mit
Hatten sie doch niemanden außer ihn
Und weil das Gas sie alle dort erstickt
Und er nichts tun konnte, um das abzuwenden
Blieb er bei seinen Kindern bis zum Schluss
In der Kammer des Schreckens zwischen tödlichen Wänden
Aus freien Stücken und nicht weil er muss
Janusz Korczak, eigentlich Henryk Goldszmit, geboren 22. Juli 1878 oder 1879, war ein bedeutender Kinderarzt und Pädagoge. Bekannt wurde er vor allem dadurch, dass er ein jüdisches Waisenhaus gründete und leitete. Am 5. August 1942 wurden im Rahmen der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ die etwa 120 Kinder des Waisenhauses von der SS zur Deportation in das deutsche Vernichtungslager Treblinka abgeholt. Obwohl Janusz Korczak und seine Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska wussten, dass dies den sicheren Tod bedeutete, bestanden sie darauf mitzufahren. Dieser Text soll an seine Loyalität und Zivilcourage erinnern. Auch noch heute gibt 4000 gewalttätige Übergriffe auf Menschen aufgrund ihrer Religion. In Deutschland. Jährlich. Die Tendenz ist steigend.
Janusz Korczaks Fußstapfen sind zu groß
Für dich und mich allein
Doch gemeinsam passen wir rein
Denn die Antwort auf Hass
Kann doch immer nur der Frieden sein
Standardvortrag – von Emily Sarah Adams (2. Platz)
Ein Ausländer ist Flüchtling, (…) wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet (…).
- § 3 Abs.1 AsylG
Bei der Berücksichtigung der Verfolgungsgründe nach § 3 Abs.1 Nr.1 ist Folgendes zu berücksichtigen: (…) eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (…).
- § 3b Abs.1 4. AsylG
Verwaltungsgericht Schwarzbach, achter Juli 2023.
„Test, Test.“ Der Richter klopfte mit den Fingern auf sein Diktiergerät, sah auf die Wand hinter sich. „Beginn der mündlichen Verhandlung um dreizehn Uhr zehn.“ Er schnippte einen Fussel vom Ärmel seiner Robe. „Wichtigste Frage zuerst: Können Sie die Dolmetscherin verstehen?“ Tatjana sah nach links. Die Übersetzerin trug ein zu enges Kostüm und scharrte mit den Nägeln auf dem Tisch. Sie wartete nicht, bis der Richter seine Frage beendet hatte, übersetzte so schnell, dass die beiden zeitgleich zu sprechen aufhörten. Tatjana nickte. Der Richter las vom Blätterstapel vor ihm ab.
„Frau Kashibadze. Sie sind gebürtige Georgierin, kamen Ende Juli 2022 mit dem Flugzeug nach Deutschland und haben am zwölften August einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gestellt. Mit Bescheid vom dreißigsten August hat das Bundesamt Ihren Antrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt.“ Tatjana schob den Stuhl näher an das Pult, versuchte, aus dem Sprachgemisch die Dolmetscherin herauszuhören. Sie stieß mit dem Fuß gegen ihre Handtasche auf dem Boden, verpasste einen Halbsatz. „In seiner Begründung führte das Bundesamt unter anderem aus, der Wechsel der Erzählung von der politischen Verfolgung Ihres Mannes zur Ihrer eigenen Gefahrensituation sei wenig plausibel. Darüber hinaus hätten Sie Ihre Furcht vor Verfolgung durch Ihren Ehemann nicht glaubhaft deutlich gemacht. Er habe Sie nach Ihrer Trennung nicht erneut bei Ihnen zuhause aufgesucht. Außerdem gäbe es keinen Grund zur Annahme, dass Sie in Georgien keinen Schutz finden könnten, sollte Ihr Ehemann seine Drohungen durchsetzen wollen.“ Der Richter überschlug ein paar Seiten. „Sie haben zuletzt in Ku…, er blätterte zurück, … Ku…taissi gelebt, ja?“ - „Kutai-ssi. Es heißt Kutaissi.“ Tatjana zog die Luft ein, blickte zur Dolmetscherin, die ihre Korrektur nicht übersetzt hatte. Der Richter schien sie nicht gehört zu haben. Das ist doch eine große Stadt in Georgien, richtig?“ – Ja. Die drittgrößte. Glaube ich.“ Tatjana verschränkte die Hände, drückte ihre Handflächen gegeneinander. „Und da wären Sie Ihrem Ehemann schutzlos ausgeliefert gewesen? Ein Happen auf dem Silbertablett?“ - „Wie bitte? Was meinen Sie mit Happen?“ – „Eine Redewendung. Das sagt man hier so. Er hätte Sie überall finden können. Das meint der Richter. Also, er glaubt es nicht.“ Die Dolmetscherin zog die Nase hoch. Tatjana sah auf ihre Hände, auf den Handrücken perlte der Schweiß. „Ich habe mich nirgendwo sicher gefühlt. Er kannte überall Leute, auch in der Stadt. Deswegen bin ich nicht dortgeblieben.“ Der Richter nahm eine Seite, spähte darunter, als hätte er dort schon ein paar Mal nachgesehen. „Nachdem Sie also das Dorf verlassen haben, in dem Sie bis dahin gemeinsam gelebt hatten und in die Großstadt fuhren“ er formte einen großen Kreis mit den Händen – hätte Ihr Mann Sie ohne Weiteres aufspüren können? Haben Sie eine Brotkrumenspur zu Ihrer Wohnungstür gelegt?“ – „Ich musste doch den Busfahrer bezahlen, meinen Ausweis zeigen! Tatjana riss die Hände auseinander, schüttelte den Schweiß ab. „Der fährt die Strecke jede Woche, meinen Sie, er hätte sich nicht an mich erinnert? Mein Mann hat ihm vielleicht Geld gegeben – wenn überhaupt! Dort laufen die Dinge so, du zahlst und die Leute sagen dir, was sie wissen. Wo ich wohne, hätte er einfach herausbekommen. Er hätte mich überall gefunden.“ Tatjana sank in ihren Stuhl zurück, sie war laut geworden.
„Ja…, sehen Sie“ – der Richter sah an Tatjana vorbei in den hinteren Teil des Saals – für die Praktikanten, die wir heute dahaben: Das ist jetzt hier ein Standardvortrag.“ Der Richter hob den Papierstapel vor sich an einer Ecke hoch, schüttelte ihn leicht. „Verfolgung durch den Ehemann und so weiter, ja…“ Tatjana drehte den Kopf. An der Rückwand des Raumes stand eine Reihe Kunststoffstühle, einige Jugendliche rutschen auf den Sitzen herum, kratzten sich im Gesicht oder schoben die Hände in die Taschen. „Fangen wir noch einmal von vorne an. Also, wie ich bereits sagte, Sie können sich das Ganze so vorstellen: Die Familie – Mutter, Vater und Ehemann, zwei bis fünf Kinder – kommt nach Deutschland und stellt einen Asylantrag, weil der Vater um sein Leben fürchten muss, denn ihm droht unter allen Umständen Verfolgung wegen seiner politischen Tätigkeit, Opposition. Gerade sei er noch untergetaucht und käme so schnell wie möglich nach Deutschland nach. So.“ Er holte Luft. „Dann, nämlich wenn der Antrag abgelehnt wird, wechselt auf einmal die Erzählung. Aha!“ Der Richter schwenkte das Diktiergerät vor seinem Gesicht. Die Praktikanten sahen zur Uhr, zur Tür. „Jetzt stellt sich heraus, dass die Frau und die Kinder eigentlich vom Ehemann verfolgt werden und deshalb in Deutschland Schutz suchen wollen. Das wird dann eingeklagt, wie Sie heute hören.“
– „Er hat uns geschlagen! Zuerst bloß mich, aber dann auch die Kinder, wenn ich nicht zuhause war, hat er die Kinder geschlagen.“ Die Dolmetscherin lehnte sich nach vorne, ein Knopf an Ihrer Bluse rutsche aus dem Loch. „Frau Kashibadze, bitte sprechen Sie nur, wenn Sie dazu aufgefordert werden.“ Der Richter winkte ab. „Wieso sind Sie nicht zur Polizei gegangen? Die Polizei muss auch in Georgien Straftäter verfolgen.“ – „Ich hatte Angst. Mein Ma…“ – sie sah im Raum herum – er hatte alles, also ich meine… das Haus war seins, ich hatte keine Kreditkarte, die Autoschlüssel… Wenn er gewusst hätte, dass ich ihn angezeigt habe – “ Tatjana unterbrach sich, sah zur Dolmetscherin, die blinzelte, das nächste Wort erwartend wie ein blinkender Cursor in einer leeren Datei. „Warum sind Sie nicht bei Verwandten untergekommen?“ – „Mit meinen Eltern habe ich seit Jahren nicht gesprochen, sie kamen nicht zur Hochzeit. Die Verwandtschaft meines M…, seine Verwandtschaft, hat sich nicht für mich interessiert. Niemand hätte mir geholfen.“ Der Richter machte sich eine Notiz. Hinten im Raum piepste ein Handy. „Auch für Sie nochmal von vorne, Frau Kashibadze. Wieso haben Sie in Ihrer Anhörung beim Bundesamt die Geschichte über die politische Verfolgung Ihres Ehemannes erfunden? Wenn Sie doch eigentlich vor seinen – er kreiste mit dem Zeigefinger – Gewalthandlungen geflohen sind?“ Tatjana folgte dem Finger mit den Augen. „Ich…, wir – die Kinder. Ich hatte Angst um meine Kinder. Dass mir niemand glaubt. Auf der Polizeiwache haben sie meiner Nachbarin gesagt, sie soll Gebäck vorbereiten und Tee, wenn ihr Mann von der Arbeit kommt, soll sie sich zu ihm aufs Sofa setzen. Dann würde er aufhören. Hat er aber nicht, meiner auch nicht. In Kutaissi hätte mir keiner geglaubt. In den Nachrichten sagen sie, dass politisch Verfolgte Asyl in der EU bekommen. Ich wusste nicht… ich wusste nicht, dass ich und die Kinder einen eigenen Schutzstatus haben. Haben könnten.“
Der Richter lehnte sich über sein Pult nach vorne. „Ja, … die Kinder. Hier haben wir ein Problem, Frau Kashibadze. Wenn doch die Situation mit Ihrem Mann so schlimm war, wieso haben Sie dann drei gemeinsame Kinder mit ihm?“ – „Können Sie sich das nicht denken?“ Tatjana schaute dem Richter ins Gesicht, in beide Augen. Er lächelte, legte die Hände übereinander. „Die Situation erschließt sich mir nicht. Bitte schildern Sie das etwas genauer.“ Tatjana langte nach ihrer Handtasche, griff ins Leere. „Bitte erklären Sie uns, wie es denn sein kann, dass Sie und Ihr Mann drei Kinder haben, wenn das Zusammenleben für Sie auch davor schon unerträglich war.“ Tatjana zog die Tasche an die Brust. „Das kann ich nicht erzählen. Nicht hier – “ „Natürlich…“ der Richter senkte den Blick, drehte an seinem Ehering, zog die Worte in die Länge. „Natürlich könnten wir die anwesenden Besucher bitten, den Raum zu verlassen. Wenn Sie das möchten.“ Die Praktikanten waren bereits halb aufgestanden, als sie das „Nein“ hörten. Tatjana begann zu weinen. Sie setzten sich wieder, die Jacken halb angezogen, die Rucksackgurte auf den Schultern. „Gut.“ Der Richter machte sich eine weitere Notiz. „Natürlich kann ich nur das ins Protokoll aufnehmen, was Sie gesagt haben, Frau Kashibadze.“ Ein Blick zur Dolmetscherin. „Auf die Frage, warum die Klägerin drei gemeinsame Kinder mit ihrem Ehemann habe, wenn sie das Zusammenleben als untragbar empfunden habe, gibt die Klägerin keine Auskunft.“ Er sah zurück zu Tatjana. „Auch auf Nachfrage lehnt die Klägerin es ab, dem Gericht die Situation genauer zu erläutern.“ Er legte das Diktiergerät zur Seite. „Das war so weit alles, was ich wissen wollte. Haben Sie sonst noch Fragen? Soll Frau Tsulaia Ihnen das Protokoll noch einmal übersetzen?“ Tatjana machte ein nasses Geräusch. Die Dolmetscherin wiederholte die Frage. Tatjana hob die Schultern. „Die Antragstellerin verzichtet auf eine Rückübersetzung des Protokolls.“ Der Richter lockerte den Kragen seiner Robe. „Ende der mündlichen Verhandlung um dreizehn Uhr fünfundfünfzig.“ Binnen einer Minute hatten die Praktikanten den Gerichtssaal verlassen. Tatjana blieb sitzen, nahm ein Taschentuch, dass ihr die Dolmetscherin hinhielt. Der Richter belud einen Aktenwagen und schob ihn zum Ausgang. „Das Urteil wird Ihnen in etwa zwei Wochen zugestellt werden. Es gibt heute keine weiteren Verhandlungen, der Raum wird in einer halben Stunde geschlossen.“
…
„He, Sie, kommen Sie einmal her. Gucken Sie, die Blätter ganz oben – nein, anderer Stapel – das ist das Urteil aus der Kashibadze-Sache. Da müssten Sie doch in der mündlichen Verhandlung dabei gewesen sein.“ Der Praktikant nahm die drei mit einer Büroklammer zusammengehefteten Seiten vom Schreibtisch. Die letzte war nur im oberen Drittel beschrieben, darunter hatte der Richter seine Unterschrift gesetzt. „Also, der Form halber sollte ich sagen, das vorläufige Urteil. Da gibt es Textbausteine, je nach Fall natürlich andere – jedenfalls wird sich eigentlich nichts mehr ändern.“ Der Praktikant hielt die Papiere ein Stück von sich weg. „Natürlich müssen Sie mit dem Datum kulant sein. Sie können schlecht noch am Tag der Verhandlung entscheiden, wie sähe das denn aus?“ Der Richter schmunzelte. „Ich lasse normalerweise mindestens eine Woche vergehen. In Anführungszeichen.“ Er lachte. „Sie können gehen, machen Sie den Nachmittag frei. Und schauen Sie dann mal morgen auf der Website vom Gericht, so bis um elf sollte das Urteil dann auch digital verfügbar sein. Falls Sie noch ein bisschen schmökern wollen.“
…
Tatjana sah den Umschlag in dem Moment, als sie aus der Haustür trat. Er ragte aus dem Briefkastenschlitz, gelb wie ein Warnschild. „Warten Sie mit dem Öffnen bitte, bis ich da bin, sonst machen Sie sich nur unnötig verrückt. Behördendeutsch. Ich komme mittags und dann besprechen wir gemeinsam, wie es weiter geht.“ Tatjana konnte sich nicht an den Namen der Sozialarbeiterin erinnern. Auf Ihrem Schreibtisch hatte ein Foto gestanden, eine Familie in Angelausrüstung. Noch im Treppenhaus riss sie den Umschlag auf.
Der Antrag wird abgelehnt. (…) Gewalt gegen Frauen ist in Georgien nach wie vor ein Problem. Fälle häuslicher Gewalt werden gesellschaftlich und behördlich meist als interne Familienangelegenheit betrachtet. Allerdings gibt es mittlerweile Möglichkeiten, Schutz vor Gewalt durch Familienangehörige zu finden. Insbesondere in Großstädten existierenzahlreiche Anlaufstellen für Frauen, Kinder und andere Betroffene. Der georgische Staat ist demnach willens und in der Lage, der Klägerin ausreichenden Schutz im Sinne des § 3d AsylG zu gewähren.
Gezeichnet, Richter J.
- VG Schwarzbach, Beschluss vom 11.08.2023
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Schwarzbach. Am Dienstag, den 14. November ist das Disziplinarverfahren gegen den am Verwaltungsgericht Schwarzbach tätigen Richter J. eingestellt worden. Dies gab das Gericht in einer Pressemeldung bekannt. Zuvor hatte sich der Richter schweren Vorwürfen ausgesetzt gesehen, welche namentlich durch einen Praktikanten erhoben worden waren. Der siebzehnjährige Abiturient F., der im Rahmen seines Berufspraktikums die mündlichen Verhandlungen am Amtsgericht besuchte, hatte J. beschuldigt, sich gegenüber einer Klägerin respektlos und diskriminierend verhalten zu haben. F. sei sich sicher, dass die Klägerin, eine georgische Staatsbürgerin, die gegen einen abgelehnten Asylantrag für sich und ihre Kinder vorgegangen war, in ihren subjektiven Rechten verletzt wurde. Außerdem habe der Richter J. ihm in seinem Büro anvertraut, dass er sich mit dem Fall der Klägerin nicht näher beschäftigen, sondern lediglich ein vorgefasstes Urteil verkünden würde. Besonders habe F. schockiert, dass J. in Gegenwart der Klägerin von einem „Standardvortrag“ gesprochen habe, bei dem aufgrund der häufig vorkommenden Fallkonstellation kein besonders sorgfältiges Vorgehen notwendig sei. F. machte seine Kritik auf den sozialen Medien publik und startete die online-Petition „rechte Richter raus“, die bis zur Bekanntgabe der Gerichtsentscheidung am vergangenen Dienstag von 2500 Menschen unterzeichnet wurde. Auf Nachfrage der Redaktion zeigt F. Bedauern über den Ausgang des Verfahrens. Er selbst wolle nach dem Abitur Jura studieren und Anwalt werden. „Für mich war das ganz klar eine Gewissensentscheidung“, so F. „Ich werde nicht wegschauen, wenn ein Richter offensichtlich anhand seiner politischen Überzeugung entscheidet, anstatt sich auf Fakten zu stützen. Wenn er sich dabei auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen will – auf das er übrigens einen Eid geleistet hat – dann sollte er sich innerlich verpflichtet fühlen, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden.“ Richter J. äußerte sich zu den Vorwürfen nicht. Die Klägerin und ihre zwei Kinder erwarten derweil ihre baldige Abschiebung nach Georgien.
- Schwarzbacher Tageszeitung, Lokalteil.
Ein dunkles Becken – von Paul Liedvogel (3. Platz)
Der Mann im Anzug war selten weniger allein. Er hält seine Augen noch geschlossen. Und er schwitzt. Er schwitzt durch den Anzug. Seine Finger suchen den Knoten seiner Krawatte. Die Erleichterung ist flüchtig. Die Erleichterung ist eingebildet. Er atmet durch.
Tief.
Lang.
Mit dem Atemzug steigt der Geruch von Stempeltinte, Normpapier, Pomade und Gewissensschweiß in seine Nase auf und verdichtet sich dort zum Geruch von Verantwortung. Er hört Stühle hin- und herrücken, das Quietschen von Sitzpolstern und das magnetische Knistern der Filmkameras. Eintausend unsichtbare Augen ruhen auf ihm. Augen von den Zuschauerrängen, Augen hinter Kameralinsen und den Empfangsgeräten, Augen aus der Vergangenheit, Augen aus der Zukunft, zukünftige Augen.
Vor allem die.
Der Mann im Anzug war selten weniger allein. Aber er fühlt sich allein, alleingelassen. Trotz der Stimmen und dem warmen Atem und dem blechernen Echo des Mikrofons. Er muss sich dringend festhalten. Er muss sich dringend irgendwo festhalten. Die Krawatte tut es nicht mehr. Er würde sie am liebsten abnehmen. Er behält sie an. Mutti zuliebe.
Gewissenssache.
Wenn Mutti ihn in den Nachrichten sieht, wenn Mutti ihn ohne Krawatte in den Nachrichten sieht, ruft Mutti an und sagt: Wo ist deine Krawatte? So bist du nicht erzogen. Und beim Einkaufen wird sie sich tagelang entschuldigen für ihren gewissenslosen Sohn.
Nein, die Krawatte bleibt an.
Ein Augenpaar, denkt er, gehört wohl seiner Mutter, aber als er es entdeckt, hat er es schon wieder verloren.
Er fährt über den Stapel Papier auf dem Pult vor sich. Er fühlt. Er fühlt jede einzelne Papierfaser und Unebenheit – wie perfekt Papier aussieht, wenn es vor einem auf dem Tisch liegt. Wie rau und imperfekt es ist, unter seinen Fingern, in mikroskopischen Tiefen.
Seine Augen sind immer noch zu.
Er fühlt die Tinte, die das Papier verletzt. Die in der Kartusche oder im Federhalter Wasser ist, Lösemittel, Eisensulfat. Und die, wenn gelesen, plötzlich auf gespenstische Weise mehr bedeutet, die morphologischen, lexischen, syntaktischen, symbolischen und schließlich performativen Wert erfährt.
Das also ist sein Gewissen. Das also ist er, nach außen gekehrt. Wortgeworden. Weltgeworden.
Die Augenpaare blinzeln in der Dunkelheit wie Luftlöcher in einem dunklen Schuhkarton.
Blut rauscht in seinen Ohren, der unermüdliche Takt seines eigenen Herzens. Dazwischen schneidet für einen Moment das Feedback des Mikrofons, die Stimme, die es füttert. „Es handelt sich hier um eine Frage, die in erster Linie nach rechtlichen Überlegungen und somit aus dem Gewissen jedes einzelnen heraus entschieden und beantwortet werden muss.“
Sein Herz schlägt noch schneller, schmerzhafter. Das ist nicht seine Art. So nervös zu sein.
Entbunden von Parteilinien riecht er stärker denn je den Geruch, den Gestank der Verantwortung von vierhundert Männern und um die vierzig Frauen, fragt sich, welchen Wert ihr kollektives Gewissen hat, das durch Abstimmung zum absoluten Gewissen wird, wenn es das größere Gewissen dahinter nur unzureichend abbildet. Paritätisch gesehen. Und jetzt? Trotzdem: Verantwortung! Für sich selbst. Sein eigenes Gewissen. Das er mit niemandem teilt.
Aber aus dem er gleich vorlesen wird.
Was ist Gewissen? Er stellt es sich ausgeschrieben vor. Wieder dieses Zusammenschmelzen und Geborenwerden zu neuen Formen, neuem Sinn, Morphem für Morphem. Wissen ist ein Teil. Damit kann er etwas anfangen. Man weiß etwas.
Woher?
Gewissen unterscheidet zwischen Gut und Böse. Das hat schon das Bundesverfassungsgericht so aufgefasst. Aber woher weiß er – er persönlich –, eigentlich was gut ist.
Und was böse?
Er sieht sich wie dunkles Wasser, das sich am Boden eines Beckens sammelt. Sammelbecken, denkt er. Wir sind Sammelbecken. Wir sind Reservoir unserer Vergangenheiten, unserer Erziehung, der unserer Eltern. Er zittert. Sind wir gewissensfrei? Frei in unserem Gewissen.
Oder haben wir nur die Freiheit, über ein Gewissen zu verfügen. Das vielleicht nicht unseres ist.
Kann es dann nicht nur ein schlechtes, sondern ein falsches Gewissen geben? Was, denkt er, wenn mein Gewissen falsch ist? Der Gedanke wäscht über ihn und tröpfelt kalt in das dunkle Becken seines Gewissens. Die eintausend Augen blinzeln aufgeregt.
Er ist sich seiner Person unangenehm bewusst. Wie er hier sitzt. Sich herausnimmt, etwas zu wissen.
Seine Finger spielen wieder mit der Krawatte, der Form des Knotens, der von außen betrachtet perfekt sitzt, uniform, aber darunter Handgriffe verbirgt und Jahre vor einem Spiegel.
Vielleicht, denkt er, muss er in diesem Moment nicht für sechsundsiebzig Millionen Deutsche sprechen – neunundfünfzig und siebzehn –, oder für sechs Millionen Menschen, die nicht mehr sprechen können, für unendliche, unendlich schmerzhafte Zahlen.
Vielleicht muss er nur für sich selbst sprechen, sich offenlegen, mein Herzschlag in eueren Ohren. Und die Wahrheit hinter dem Knoten.
Vielleicht muss er nichts anderes tun, als zu sagen, was in ihm ist.
Und vielleicht ist das das Wunder dieser Demokratie und das Versprechen, das das Grundgesetz ihm schenkt. Das teuer bezahlte, ewig schützenswerte.
Er öffnet seine Augen.
Vielleicht.
Er hört seinen Namen.
Er steht auf.
Und etwas in seiner Brust strahlt so hell, dass sich eintausend Augen hinter ihre Lider zurückziehen an diesem 10. März.
Wörtliche Rede zitiert Ewald Bucher in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll vom 10. März 1965, 4. Wahlperiode, 170. Sitzung, Bonn 1965, S. 8519: https://dserver.bundestag.de/btp/04/04170.pdf.
An einem schöneren Ort – von Christopher Schulz Kruckow (Publikumspreis)
Oft hatte ich das Gefühl, dass das, was wir taten, falsch war, doch mindestens genauso oft fühlte es sich wunderbar an. Das jetzt zu sagen, hätte nichts gebracht. Wozu auch? Es war dumm, so etwas zu sagen, denn es hatte keinerlei Aussage, weder dafür noch dagegen.
Eine ganze Weile saßen wir uns schweigend gegenüber. Die Lampe über dem Küchentisch, schien mir in letzter Zeit greller als sonst, und das obwohl sie stufenlos verstellbar war. Sie kaute an ihren Fingernägeln. Ich spielte mit einem Kuli, dessen Miene klickend ein- und ausfuhr. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Verrückt, wie unbedeutend einem die Zeit vorkommt, bis man sie aufgebraucht hat.
„Und, was machen wir jetzt?“ Ihre blonden Haare fielen auf die Schulter, als sie den Kopf hob und mir fragend in die Augen blickte. Sie hatte aschgraue Augen, genau wie ich. „Johan, ich habe dich etwas gefragt.“ „Ich denke nach.“ „Das sagst du seit Wochen.“
Ich hatte Kopfschmerzen und fühlte mich seltsam. Seitdem sie ihre Haare kurz geschnitten hatte, wirkte sie erwachsener und seitdem drängte sie auch auf eine Entscheidung. Ich fühlte mich kein Stück erwachsener und wollte auch nicht entscheiden.
„Ich weiß nur, dass es so nicht weitergeht, ich habe dieses ständige Versteckspiel satt.“
Ich musste schlucken, als sie das sagte. Die Uhr an der Wand tickte nicht. Ich konnte sie trotzdem hören. „Ich auch, trotzdem willst du nicht, dass wir es einfach behalten.“ Sie schwieg. Jetzt lag Wut in ihren Augen.
„Es einfach behalten, wie sollen wir es denn bitte einfach behalten, wenn du nicht einmal weißt, was du willst?“
Wieder begann ich meine Stirn zu kneten, es ist unvorstellbar wie nervig sie sein konnte, wenn sie etwas wollte, dann spielte sie sich immer so auf als wäre sie älter, reifer und wüsste generell, was man im Leben zu tun und zu lassen hatte.
„Johan?”
Schon wieder dieser vorwurfsvolle Ton, schon wieder dieselbe Diskussion. Dabei hatte doch alles so gut, so einfach begonnen. Damals stellten wir uns nicht diese Fragen, damals stellte sie mir nicht diese Fragen. Ein regnerischer Abend, sie die unbedingt noch joggen wollte und dann durchgefroren vor unserer Wohnungstür stand, weil sie den Schlüssel vergessen hatte. Damals hatte sie noch lange Haare, daran erinnerte ich mich genau, wundervolle lange Haare, die vom Regen durchnässt an ihrem Sport-BH klebten. Ich hatte ihr geöffnet, sie hatte sich geduscht. Als ich hörte, dass sie unter der Dusche weinte, kam ich zu ihr und tröstete sie.
Wir gingen in mein Bett und irgendwann hörte sie auf, zu weinen. Die Stadt war neu und wir brauchten uns einfach gegenseitig. Ist das denn so seltsam?
„Johan…“
Es reichte mir, jetzt hatte ich die Schnauze voll.
„Du erwartest von mir eine Lösung und weißt doch selbst nicht, was du willst, aber so läuft das nicht. Wenn wir die Entscheidung nicht zusammen treffen, werden wir unglücklich.“
Einen Moment lang wirkte sie verdattert, so einen Tonfall war sie von mir nicht gewöhnt. Tränen stiegen in ihre Augen. Ich war unfähig etwas zu sagen. Unser Wohnzimmer war klein und schäbig. Einfach alles hier zeugte davon, dass wir gar keine richtige Entscheidung treffen konnten. All die leeren Weinflaschen, in die sie Lichterketten gefüllt hatte, die Fotos unserer Freunde, die mich an zahlreiche Partys erinnerten und auch die unzähligen Notizzettel, Ordner und Lernblätter. Wir konnten es einfach nicht und selbst wenn, wie sollten wir es erklären? Trotzdem. All das waren wir und wir mochten dieses Leben.
„Ein Nein bedeutet das Aus. Ich wüsste einfach nicht, wie ich weitermachen sollte.“
Sie stellte das trocken fest, doch ihre Mimik sagte mir etwas anderes. Wer so mit den Tränen rang, war nicht kalt, egal was er auch sagte. Meine Hand tastete nach ihrer. Ihre Haut war weich und warm. Die kleinen Härchen auf ihrem Handrücken fühlten sich seidig an. Diese Haut ließ sich einfach mit nichts vergleichen, was ich kannte. Sie zog ihre Finger ein und ihre Hand zurück. Das warme Kribbeln verschwand genauso schnell, wie es gekommen war. „Ja, das wäre das Ende.“
Ihre Beherrschung brach in sich zusammen und sie schluchzte hemmungslos. Ich stand auf und nahm sie in den Arm.
„Egal was wir machen, wir machen es falsch.“
Sie hauchte diese Worte in mein Ohr, ich streichelte ihren Kopf. Ich drehte sie zu mir und sah ihr fest in die Augen.
„Nein, dass ich dich geliebt habe, war nie falsch. Und, … und ich tue es noch immer.“
Ich weinte nicht, auch wenn sie es tat. Ich hatte all meine Tränen bereits in den ersten Tagen nach dem Testergebnis aufgebraucht. Seitdem weinte ich nur noch in meinen Träumen oder in der Zeit, bevor sie Uni-Schluss hatte. Es sollte keiner meine Unsicherheit merken, vor allem nicht sie. Sie brauchte mich. Langsam fasste sie sich wieder. Umgehend wurde sie hart und fordernd. Das war sie immer, nachdem sie geweint hatte. „Wir müssen uns entscheiden, viel Zeit bleibt uns nicht.“ „Ich weiß.“ „Johan, es liegt auch an dir. Ich werde mich nicht entscheiden, bevor ich nicht gehört habe, was du dazu denkst.“
Mein Blick wanderte an ihrem sportlichen Körper entlang. Sie sah gut aus. Das hatte sie schon immer. Dass ihr Bauch sich leicht wölbte, störte mich nicht. Das Gegenteil war der Fall. Immer wenn wir schlafen gingen, umfasste ich ihn mit meinem Arm und streichelte dieses kleine warme Zentrum ihres Körpers und meiner Welt.
Als sie mich ansah, war sie störrisch und entschieden. Mein Warten hatte keinen Sinn mehr. Ich musste es einfach fragen.
„Also gut, was spricht dagegen?“ „Das Geld, die Wohnung, unsere Uni und das…“
„Das, was die anderen denken würden“, vervollständigte ich ihren Satz.
Was die anderen denken würden, so ein Blödsinn. Wir konnten einfach nicht ohne einander leben und wir liebten uns. Was hatte der Rest, die Anderen zu interessieren?
Doch auch diesen Gedanken sprach ich nicht aus, denn wie so oft wusste ich, dass es zwar richtig war, was ich dachte, doch nichts an unserer Situation änderte.