Die ganze Wahrheit über Münchhausen & Co. - Tina Breckwoldt - E-Book

Die ganze Wahrheit über Münchhausen & Co. E-Book

Tina Breckwoldt

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Beschreibung

Wer steckt hinter der Figur des Lügenbarons? Hatte Münchhausen andere Erzähler zum Vorbild, gab es gar eine Theorie des Lügens? Lassen sich die Lügengeschichten von damals mit den Fake News von heute vergleichen? Und kann man am Ende überhaupt eine wahrhaftige Biografie über Münchhausen schreiben? Tina Breckwoldt begibt sich auf Spurensuche, gräbt längst verschollene Kulturschätze aus und versammelt die unglaublichsten Flunkereien. Auf diese Weise entfaltet sich eine facettenreiche Geschichte, nicht nur des Lügenbarons, sondern der Lüge schlechthin. Sie reicht von Lukian über Erich Kästner bis in die Gegenwart und zeigt, welchen unglaublichen Siegeszug der Baron auf der Kanonenkugel weltweit unternommen hat.

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Seitenzahl: 329

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Der sogenannte „Pflasterkopf“ – Fiktives Portrait des Baron Munchausen, Rudolf Erich Raspe, 1792.

TINA BRECKWOLDT

Die ganze Wahrheit über

MÜNCHHAUSEN& CO.

Über 300 Jahre Lügengeschichten

Der Verlag hat sich bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen. Sollten Ihnen dennoch Unstimmigkeiten im Bildnachweis auffallen, so bitten wir Sie, mit uns in Kontakt zu treten.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2020 Benevento Verlag bei Benevento Publishing München – Salzburg, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Berling BQ, Neutraface, Minion Pro

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv: © akg-images

Autorenillustration: © Claudia Meitert/carolineseidler.com

ISBN 978-3-7109-0102-7eISBN 978-3-7109-5107-7

»Wer so versteht,Lügen von geniallistischen Effekten in die Welt zu setzen,muss ein großer Mann sein,vor dem alle Welt den Hut zieht.«

Johann Wolfgang von Goethe

INHALT

Vorwort

von Matthias Freiherr von Münchhausen

Der Wahrheit die Ehre

Als eine Art Einleitung gedacht, auf einer Kanonenkugel geschrieben – und höchstens leicht geflunkert

I. »Wann das Glück favorabell ist« – Die nackte Wahrheit

Die Familie derer von Münchhausen – die Vorgeschichte

Das Leben des »echten« Barons: Hieronymus Carl Friedrich

Hieronymus als Erzähler

Göttinger Verbindungen: Die Münchhausen-Autoren

II. Bis sich die Balken biegen – Über das Lügen an sich

Everybody Lies – Binsenwahrheiten

Dichter dürfen es

Digital lügt es sich leichter

Scherz und Hokuspokus

Jägerlatein und Seemannsgarn

III. Das Blaue vom Himmel – die Fiktion

Die Lüge im Leben von Münchhausen, Raspe und Bürger

Der Sonderling, das Vade Mecum für lustige Leute und M-h-s-nsche Geschichten

Die Absicht der Erzähler

Schelme, Trickster, Narren – Der literarische Münchhausen

Die Münchhausen-Geschichten – vom Vade Mecum zum Volksbuch

Münchhausen als Kinderbuch

IV. »Daß Cuireuse anzumercken« – Was der Baron alles auslöst

Hasenclevers Münchhausen

Münchhausen und die Musik

Münchhausen im Film

Noch viel mehr Münchhausen-Phänomene

Wer zuletzt lügt, lügt am besten

So etwas wie ein Nachwort

Dank

Anmerkungen

Personenglossar

Bibliografie

Bildnachweis

Der Freiherr Hieronymus Karl Friedrich von Münchhausen dreht sich im Grabe um und spricht:

Hab manches Streichlein angericht’,

doch denunziert – das niemals nicht.

Nun kommt auf meinen Namen Schand’.

Pfui Teufel auch, ein Denunziant!

VORWORT

Münchhausen ist ein Name, den jeder kennt, mit dem jeder etwas verbindet. Wenn Sie so heißen, müssen Sie Ihren Namen nur in den seltensten Fällen buchstabieren – man freut sich über Münchhausen. Und die vielen tollen Geschichten, die man so ungefähr im Kopf hat. Aber die meisten sind gar nicht von ihm. »Lügenbaron« war eine bewusste Beleidigung, mit der Münchhausens Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen werden sollte.

Das kurze Epigramm von Christian Morgenstern dürfte Hieronymus’ Gemütslage ziemlich gut treffen – Hieronymus, der einfach nur gern Geschichten erzählte, wurde als Lügenbaron denunziert; und das muss ihm sauer aufgestoßen sein, ihn endlos frustriert haben. Heute klingt »Lügenbaron« ja fast lustig, auf jeden Fall harmlos – für Hieronymus war es das ganz und gar nicht.

Das vorliegende Buch füllt eine große Lücke in der Münchhausen-Literatur: Es ist – soweit ersichtlich – die erste populäre Biografie meines Uronkels, und es ist eine Biografie, die mehr als einen Eindruck von seiner Zeit vermittelt, weil sie Dinge erzählt, die Hieronymus wahrscheinlich erlebt hat. Gleichzeitig wird sie mit den Lebensgeschichten von den beiden Autoren verknüpft, die in seinem Namen geschrieben haben – ohne dass der das wollte. Dabei habe auch ich mit großer Freude das ein oder andere Neue entdeckt.

Die Wahrheit über Münchhausen & Co. kommt rechtzeitig – es ist überaus sorgfältig recherchiert, dabei schwungvoll geschrieben und gekonnt formuliert. Tina Breckwoldt hat Quellen verwendet, die nicht ohne Weiteres zugänglich sind. Etliche davon sind im Buch abgedruckt, so auch die ursprünglich publizierten M-h-s-n-Geschichten. Sie handeln meist von der Jagd; sie waren in ganz Deutschland bekannt. Und man lachte darüber. Zur Veröffentlichung waren sie nicht gedacht. Hieronymus’ Briefe sind etwas Besonderes – ein direkter Draht in die Vergangenheit. Es ist seltsam anrührend, ihn »im Originalton« zu lesen, zu hören, wie er etwa seine Mutter um dicke Unterwäsche bittet.

Es scheint passend, dass heute die Stadtverwaltung als Nachfolger der damaligen Bürgermeister Schmidt und Lindenberg in Hieronymus’ Gutshof arbeitet; aus der alten Zehntscheune ist ein wunderbares Museum geworden. Hieronymus hat auf seine Weise sehr viel für seine Stadt Bodenwerder – die Münchhausenstadt – getan, und das nachhaltig. Möge das die nächsten 300 Jahre so bleiben – mindestens.

Danke an die Autorin für ihre gründliche Arbeit und an den Benevento Verlag. Ich freue mich über dieses Buch. Und ich bin sicher, Hieronymus auch. Es rückt sein Bild zurecht. Wenn er sich jetzt im Grabe umdreht, dann vor Freude.

Viel Spaß bei der Lektüre wünscht

Matthias Freiherr von Münchhausen

DER WAHRHEIT DIE EHRE

Als eine Art Einleitung gedacht, auf einer Kanonenkugel geschrieben – und höchstens leicht geflunkert

Münchhausen – der Münchhausen – wird 300. Allerhöchste Zeit, sich mit ihm zu befassen, ihn kennenzulernen. Der berühmte Lügenbaron gehört sicher zu den bekanntesten Deutschen, und das nicht nur im Inland. Die Welt ist seine Kugel. Eigentlich ist er drei, Hieronymus Selbdritt: Es gibt den historischen Baron, es gibt den Erzähler und Urheber einiger der berühmten Geschichten und schließlich den literarischen Baron, der längst ein Eigenleben führt.

Über den historischen Baron, Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen, weiß man nicht eben viel. Geboren 1720, gestorben 1797, eine Handvoll Daten dazwischen, das magere Skelett einer Biografie. Schriftliche Urkunden gibt es nur wenige, eine Handvoll Briefe von ihm selbst aus 77 Jahren. Zeitgenössische Berichte sind rar und verfolgen immer eine bestimmte Absicht; ein objektives Bild seiner Persönlichkeit, seines Charakters kann das nicht ergeben. Und so bleibt eigentlich nur, die Lebensgeschichte Münchhausens ein wenig zu (v)erdichten.

So richtig geäußert hat er sich nie; zu verstehen ist er wohl nur, wenn man seine Lebenswelt in Betracht zieht. Man kann sich ihm nur vorsichtig annähern, über seine Vorfahren, seine Familie, über die Umgebung, in der er aufwächst, die Orte, an denen er lebt, über die Geschichte, Politik und Kultur dieses verzwickten, verflochtenen 18. Jahrhunderts. Für die Veröffentlichung und Verbreitung der Münchhausischen Geschichten sind zwei Herren verantwortlich, der Gelehrte Rudolph Erich Raspe und der Dichter Gottfried August Bürger, und auch deren Lebensläufe muss man näher betrachten.

Es gibt in diesem Buch sehr viele Namen, man trifft auf Personen, bekannte und weniger bekannte; viele scheinen voneinander gewusst zu haben, überraschend viele sind sich auch begegnet. Die meisten findet man im Glossar im Anhang, andere sind im Text erklärt. Und es gibt in diesem Buch sehr viele Originalzitate, denn: Niemand sollte nebenher googeln müssen oder in den Tiefen des Internets verschwinden, wenn er oder sie wissen will, was in der Zimmerischen Chronik steht, das für Münchhausen wichtig sein könnte. Nicht jeder hat eine Nationalbibliothek vor der Tür. Und oft bekommt man einen besseren Eindruck von einer Person, wenn man ihre Worte vor sich sieht, sich selbst ein Bild machen kann. Hieronymus” eigene Briefe finden sich, soweit mir zugänglich, in diesem Buch. Seine Handschrift ist ein Klassiker: Manches lässt sich beim besten Willen und mit der besten Brille nicht entziffern.

Das Buch hat vier Teile: Im ersten Teil, »Wann das Glück favorabell ist«, geht es um den historischen Münchhausen, seine Biografie, seine persönliche Geschichte und ein bisschen auch um die Geschichte seiner Familie, seine Vorgeschichte. Es geht um die Biografien von Raspe und Bürger, die sich beide der Erzählungen und des Namens bedient haben, um ein Münchhausen-Buch zu schreiben, und darum, was die drei, Münchhausen, Raspe und Bürger, verbindet – oder trennt. Der zweite Teil des Buches, »Bis sich die Balken biegen«, setzt sich mit der Lüge und dem Lügen auseinander, mit Fake News und Scherzen, mit Jägerlatein und Seemannsgarn. Im dritten Teil, »Das Blaue vom Himmel«, geht es um mögliche Quellen und Vorläufer. Es geht um Märchen, um Schwänke und Fazetien, um antike Texte, um Schelme und Narren. Vor allem aber geht es um die siebzehn Münchhausischen Geschichten, 1781 im Vade Mecum für lustige Leute publiziert, und um Raspes und Bürgers Versionen. Im vierten Teil, »Daß Cuireuse anzumercken«, soll umrissen werden, was der Baron – nämlich der erfundene – noch so alles kann: Musik, Theater, Filme. Es geht um Münchhausen als Begriff, als Idee und als Ikone. Und um ganz platte Werbung. Denn Münchhausen ist ein Phänomen, mit dem jeder etwas anderes assoziiert. Wer Münchhausen hört, hat sofort ein Bild vor Augen. Zum Abschluss des Buches folgen noch ein Glossar mit den wichtigsten Personen und die Bibliografie.

Es gibt eine unübersehbare Menge an Münchhausen-Ausgaben, an Münchhausen-Kopien und Münchhausiaden, dazu eine ungeheure Menge an Literatur; es musste daher eine Auswahl getroffen werden. Weil es in erster Linie ein Buch über Hieronymus von Münchhausen ist, habe ich mich auf diejenigen Erzählungen konzentriert, die vielleicht von ihm stammen könnten. Oder nicht.

Ich war für dieses Buch in Bodenwerder, Bevern, Wolfenbüttel, Braunschweig, Göttingen, Bückeburg, Rinteln, Apelern, Schwöbber und Kemnade. Habe Archive besucht, Bücherwürmer getroffen, Originalhandschriften studiert und vielen geduldigen Leuten ein Ohr abgeschwatzt. Eine Menge Menschen haben mich bei der Arbeit unterstützt: Ohne sie gäbe es dieses Buch nicht. Dafür euch und Ihnen allen vielen Dank.

Und das sei auch gesagt, »Lügenbaron« sollte kein Schimpfwort sein. In der Tradition von Volksbüchern, Schwänken, Märchen und Fabeln ist das ein Kompliment: Dort geht es oft darum, wer am dollsten, am schamlosesten lügen kann. Münchhausen ist auf jeden Fall auf seiner Kanonenkugel weiter gereist, als so mancher sich träumen lässt, und sicher weiter, als er selbst es für möglich gehalten hätte, um die Welt, auf den Mond, durch Raum und durch die Zeit. Lügenbaron ist ganz sicher kein Schimpfwort, im Gegenteil. Es ist ein Ehrentitel. Der echte Münchhausen ist ein Held. Vielleicht widerwillig, dennoch: ein Held.

I. »WANN DAS GLÜCK FAVORABELL IST« – DIE NACKTE WAHRHEIT

11. Juni 1733 steht ein dreizehnjähriger Junge im Garten des Lustschlosses Salzdahlum bei Wolfenbüttel. Das Schloss ist hell erleuchtet. In der Dämmerung spielt ein Orchester. Durch den Garten schreiten, tanzen, drängen sich Damen und Herren in festlichen Roben, adelige Schäferinnen und Schäfer mit weiß gepuderten Perücken. Er selbst hält eine Fackel in der Hand, wie die anderen Pagen. Er ist ein bisschen nervös, es ist seine erste richtige Aufgabe als Page, und es ist eine große Hochzeit, mindestens hundert Gäste sind da. Farben, Schatten wehen durch die Hecken und an ihm vorbei. Es ist wie im Märchen. Der Hirtenkönig hat seine Tochter demjenigen versprochen, der am besten Flöte spielen kann; drei Kandidaten gibt es. Weil der König sich nicht entscheiden kann, entscheidet Apoll, der Gott der Musik und der Dichtung. Apoll wählt natürlich den Richtigen: Friedrich, Kronprinz von Preußen – die Braut ist Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel. Hieronymus atmet aus. Seine Fackel brennt noch.

»Wann das Glück favorabell ist, so werde mit mehren bald aufwarten können«, wird er sechseinhalb Jahre später an seine Mutter schreiben1 – da ist er gerade zum Cornet des Kürassierregiments Braunschweig in Riga ernannt worden. Das ist der erste Offiziersgrad, der Cornet ist der Standartenträger des Regiments. Die Welt steht ihm offen, alles ist möglich, wann das Glück favorabell ist.

Will man sich dem historischen Baron von Münchhausen nähern, seine Biografie verstehen, muss man auch und vorneweg die Geschichte seiner Familie in Betracht ziehen. Als Adliger wusste Hieronymus von Münchhausen mit Sicherheit, wo seine Familie herkam. Vielleicht kannte er nicht alle Details, aber die wichtigsten Personen, die wichtigsten Ereignisse muss er gekannt haben, und er wird stolz auf seine Wurzeln gewesen sein.

Im 18. Jahrhundert, im Übergang von Absolutismus zu Aufklärung – hat der landbesitzende Adel mit den veränderten Verhältnissen zu kämpfen, im aufkommenden Kapitalismus geht es darum, die Güter zu halten, Privilegien zu verteidigen, letztendlich geht es darum, Familien und Abhängige versorgen und ernähren zu können. Seine Rechte und Pflichten leitet der Adel aus seiner Vergangenheit ab, aus den Leistungen seiner Vorfahren.

Die Hauptquellen für die Geschichte der Familie von Münchhausen sind die Gründliche Geschlechts-Historie des Hochadlichen Hauses der Herren von Münchhausen von Gottlieb Samuel Treuer aus dem Jahr 1740 und deren Fortsetzung durch Albrecht Friedrich von Münchhausen aus dem Jahr 1872.

Die Familie derer von Münchhausen – die Vorgeschichte

Die Familie von Münchhausen ist ein altes niedersächsisches Adelsgeschlecht. Ihre Geschichte beginnt mit Herrn Rembert, dominus Rembertus, und seinem Sohn Gyselher de Monechusen: 1183 siedelt sich Gyselher auf dem Haarberg im Westen des Steinhuder Meeres an; der kleine Ort heißt Munichehausen, auch Munichusen geschrieben, Monechusen, Monichusen, Monekehusen oder Munchusen. Der Name hängt natürlich mit dem Wohnort von Mönchen zusammen und bezieht sich auf das nahe gelegene Zisterzienserkloster Loccum, 1163 von Graf Wilbrand von Hallermund (um 1120–1167) gestiftet. Zwölf Mönche aus dem Kloster Volkenroda in Thüringen errichten Loccum als Tochtergründung; Volkenroda seinerseits ist ein Ableger des Klosters Kamp, des ersten Zisterzienserklosters im deutschsprachigen Raum. Um 1250 malt ein anonymer Mönch mit einem Hang zum Drama, mit quasi Münchhausischem Flair die Anfänge von Loccum in düsteren Farben. Es sei ein Ort des Schreckens und der Einsamkeit, eine Wüstenei, an der Räuber und Wegelagerer ihr Unwesen treiben, ein gottverlassener Ort ohne Hoffnung. Für die unerschrockenen Mönche genau die richtige Herausforderung; sie beten und fasten, fasten und beten, bis aus der verruchten Räuberhöhle ein Kloster wird – ganz wie es den zisterziensischen Idealen eignet. Dass das so wohl nicht ganz den Tatsachen entspricht, liegt auf der Hand. Graf Wilbrand hätte kaum Geld für eine Klosterstiftung an einem hoffnungslosen Ort herausgerückt.

Munichehausen dient dem Schutz des Klosters: Der Name ist Programm. Wahrscheinlich entsteht hier ein Festes Haus, eine Art Burg, der Stammsitz der von Münchhausen. Das Land dazu ist Allodialbesitz, freies Eigentum, kein Lehen. Die Münchhausen sind hier so etwas wie Burgmannen oder eben Klostermannen. Es ist ihre Aufgabe, Loccum zu sichern und im Notfall zu verteidigen. Zwischen 1260 und 1297 erweitert sich der Einfluss der Familie, sind Gyselhers Sohn Rembert und seine Enkel Giselher und Justatius als Burgmannen für die nahe Wasserburg Sachsenhagen zuständig. Wie viele Adlige sind auch die von Münchhausen in der Namengebung Traditionalisten; sie verwenden eine Handvoll sogenannter Leitnamen: Rembert, Giselher, (Ju)statius, Hieronymus, Hilmar, Liborius und Börries tauchen in der Familiengeschichte immer wieder auf. Die Burgmannen Giselher und Justatius begründen die schwarze und die weiße Linie der Münchhausens; beide bestehen bis heute. Hieronymus, der »Lügenbaron«, gehört zur schwarzen Linie.

Ihren Stammsitz verlassen die Münchhausen um 1350; vermutlich im Zuge der großen Pestepidemie, die als Schwarzer Tod zwischen 1347 und 1350 ganze Landstriche in Europa leer fegt.

Der Name der Familie spiegelt sich in ihrem Wappen: Es zeigt einen Zisterziensermönch mit weißer Kutte und schwarzem Skapulier oder Überwurf. In der rechten Hand hat er einen Krummstab, in der linken ein Beutelbuch: Wandernde Scholaren, Ärzte und selbstverständlich Kleriker sind häufig so dargestellt. Stab und Buch sind rot, der Hintergrund ist gold. Auf der Helmzier steht wieder ein Mönch; für die schwarze Linie ist seine Kutte schwarz, für die weiße – natürlich – weiß.

Der Ururgroßonkel: Statius von Münchhausen

Im 16. Jahrhundert gibt es in der schwarzen Linie der Familie einen Vorfahren mit einer besonders bewegten Biografie: Statius, auch Statz genannt, wird 1555 als dritter Sohn des Söldnerführers Hilmar von Münchhausen (1512–1573) auf dessen Amtsschloss Stolzenau geboren. Hilmar ist ein brillanter und berühmter Heerführer; gleichzeitig hat er eine Nase für das Geschäft. Er verdient ausgezeichnet und investiert geschickt in Immobilien, der Familie geht es gut. Statius’ Mutter ist Lucia von Reden (1512–1584); ihre Familie gehört ebenfalls zum niedersächsischen Adel, sie ist »edelfreier Abstammung«. Schon im 13. Jahrhundert verfügen die von Reden über großen Grundbesitz in Reden bei Pattensen, südwestlich von Hannover. Der Stammvater, Ritter Heinrich, genannt Hiese oder Hysce, ist 1212 in einer Urkunde als welfischer Ministeriale aufgeführt. Das Familienmotto lautet »Wahrheit und Recht«; vielleicht ein Wortspiel mit dem eigenen Namen, von Reden? Immer nur die Wahrheit. Mindestens zehn Ehen werden im Lauf der Jahrhunderte zwischen den von Münchhausen und den von Reden geschlossen; auch die Mutter von Statius’ Ururgroßneffen Hieronymus kommt aus dieser Familie.

Statius verbringt seine Kindheit in Stolzenau und Aerzen, wo sein Vater das Amt des Drosten innehat; das heißt, dass er den Landesherrn vertritt, Graf Otto VIII. von Hoya. 1567 – Statius ist zwölf – nimmt sein Vater ihn mit nach Antwerpen: Der Herzog von Alba wird dort als Statthalter Philipps II. von Spanien erwartet. Hilmar, der als Obrist in spanischen Diensten eigentlich Alba verpflichtet ist, spielt ein gefährliches Spiel; er sympathisiert mit dem Feind, mit Wilhelm von Oranien, dem er auch noch Geld für einen Feldzug gegen Alba leiht. Statius bleibt drei Jahre als Geisel an Albas Hof; erst 1570 kann sein Vater ihn wieder abholen. Als Hilmar 1573 stirbt, losen die Söhne um das Erbe. Der erst achtzehnjährige Statius erhält verstreute Ländereien. Den Geschäftssinn hat er vom Vater: In den nächsten Jahren verkauft er, was ihn nicht interessiert, dafür kauft er Drosteien, Pfandschaften, Lehen: Ländereien mit Zukunft. Statius geht klug vor; es gelingt ihm, manche Pfandschaften in dauerhafte Erblehen zu verwandeln. Und er baut. Statius lebt mit seiner Familie von den Einkünften seiner Ämter und Ländereien, nebenher handelt er mit Getreide und betreibt Kreditgeschäfte.

Ab 1578 erwirbt er – unter anderen – die Anwartschaften auf die Lehnsgüter Bevern und Meinbrexen; bei beiden ist abzusehen, dass die Lehnsinhaber nicht mehr lange leben werden. So manchem Zeitgenossen wirkt Statius wie ein Geier, der über dem Verdurstenden kreist. Insbesondere im Fall von Bevern scheint er diesem Bild zu entsprechen – er reist 1584 bis nach Pavia, um dem sterbenden Herzog Erich II. von Braunschweig-Calenberg-Göttingen die Unterschrift abzuluchsen; Erich ist noch dazu ein alter Waffenbruder und Kampfgefährte seines Vaters. Eigentlich tut man so etwas nicht. Aber Statius ist pragmatisch veranlagt; er denkt voraus. Die Familie Bevern stirbt 1588 aus, und 1594 belehnt Wilhelm von Lüneburg Statius mit Bevern. Der Geier ist im Nest gelandet. Statius lässt zunächst einige Wirtschaftsgebäude errichten, eine Kirche. Zwischen 1603 und 1609 baut er hier ein Schloss. Sein Architekt ist Johann Hundertossen (gest. 1606) aus Hameln. Es ist eine prächtige Anlage. Wo vorher ein unscheinbarer burghof stand, entsteht jetzt eine geschlossene, zweigeschossige Vierflügelanlage mit einem Treppenturm, einer »Utlucht« – das ist ein Standerker –, einem Wassergraben und einer spektakulär dekorierten Fassade. Es ist eines der schönsten Beispiele der Weserrenaissance. Gleichzeitig lässt Statius – wahrscheinlich ebenfalls unter der Aufsicht von Hundertossen – auch im nahen Bodenwerder einen Gutshof errichten; Hieronymus’ Geburtshaus.

Die Geschäfte blühen. Zu Statius’ Schuldnern zählt auch der Landesherr, Herzog Heinrich Julius, der Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel. Statius ist einer seiner Berater, und Heinrich Julius steht bei seinem Tod mit mindestens 100 000 Talern bei Münchhausen in der Kreide. Sein Nachfolger, der neue Landesherr Friedrich Ulrich, ist ein schwacher Regent, aber mit solchen ererbten Altlasten mag er sich nicht abgeben. Er stellt sechs zweifelhafte Herren ein, die versprechen, ihn von allen Schulden zu befreien. Sie tun das, indem sie Silbermünzen Kupfer beimischen, und sie sind es auch, die letztlich Statius von Münchhausen in den Ruin treiben. Sie schwärzen ihn beim Herzog an: Er habe falsche Zahlen geliefert. Friedrich Ulrich glaubt ihnen nur allzu gern. Jetzt ist Statius gezwungen, sich selbst zu verschulden. Die herzoglichen Berater kaufen heimlich seine Schuldscheine auf und verlangen sofortige Begleichung; Statius muss seine Immobilien zu Geld machen. Er verkauft, was er kann, aber bald kann er die Kredite nicht mehr bedienen, und 1619 ist er bankrott. Erst neun Jahre später stellt eine auf seinen Antrag eingesetzte kaiserliche Kommission fest, dass seinen Schulden von einer Million Talern 1,3 Millionen Taler Guthaben gegenüberstehen. Seine Ehre ist gerettet, aber seine Ländereien, seine Schlösser sind weg. Einzig Bevern kann er halten. Am 27. März 1633 stirbt Statius dort. 1652 muss seine Witwe Dorothea das Schloss endgültig an die Herzöge übergeben. 1657 zieht Ferdinand Albrecht I. hier ein; mit ihm beginnt die Nebenlinie Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern.

Die zeitgenössische Verwandtschaft

Zu Hieronymus’ Lebzeiten sind Mitglieder der weitverzweigten Familie Münchhausen überall zu finden, oft in einflussreichen Positionen. Börries von Münchhausen ist Landdrost zu Moringen, Otto von Münchhausen ist Landdrost in Stemberg und Harburg, außerdem ein berühmter Botaniker. Otto züchtet Ananas, Dattelpalmen, Mastixbäume und Pomeranzen und verwandelt den Schlosspark auf Schwöbber in den vermutlich ersten Landschaftspark in Deutschland. Ernst Friedemann von Münchhausen ist Regierungspräsident und Justizminister in Preußen. Friedrich Otto von Münchhausen schließlich ist Kriegsrat; er verwaltet im Siebenjährigen Krieg die Verpflegung der gesamten kurfürstlich hannoverschen Armee.

Gerlach Adolph von Münchhausen, Kupferstich von Egid Verhelst, nach einem Gemälde von Johann Georg Ziesenis.

Zwei weitere Zeitgenossen aus der schwarzen Linie der Familie sollen noch erwähnt werden: die Brüder Gerlach Adolph und Philipp Adolph sind Cousins zweiten Grades von Münchhausens Vater, sie sind Hieronymus’ Onkel.

Gerlach Adolph wird 1688 in Berlin geboren; er studiert Jura in Jena, Halle und Utrecht; er legt eine steile Karriere hin. 1714 ist er Appellationsrat in Dresden, zwei Jahre darauf bereits Oberappellationsrat in Celle. Von 1726 bis 1728 ist er kurhannoverscher Gesandter beim Immerwährenden Reichstag in Regensburg, danach wird er Wirklicher Geheimer Rat in Hannover, so nebenbei ist er Großvogt von Celle. Georg II. herrscht in Personalunion über England und Hannover; in Kurhannover zieht Gerlach Adolph als Vorsitzender des Geheimen Rats-Kollegiums die Fäden. Bildung ist ihm ein Anliegen; spätestens seit 1732 denkt er über die Gründung einer neuen Universität nach, offiziell ist es die Idee des Königs. An deutschen Universitäten herrscht traditionell ein rauer Ton, man prügelt sich und säuft, nebenher wird vor allem diskutiert. Gerlach Adolph hat ein völlig anderes Konzept, er will den Studenten die beste Ausbildung bieten, er will die besten Professoren, er will ein umfassendes Curriculum, zu dem auch Tanzen, Fechten und Reiten gehören, eine adlige Ausbildung. Er will die Universität, an der er selbst gerne studiert hätte. Als Standort ist das etwas heruntergekommene Provinzstädtchen Göttingen mit knapp 3000 Einwohnern auserkoren; über die Hälfte gelten als arm. 1733 wird dem verblüfften Magistrat der Stadt lapidar mitgeteilt, dass »Se. Königl. Majt. unser allergnädigster Herr gewillet sind«; Widerspruch ist zwecklos. Die noch nicht existente Universität ist bereits mit einem kaiserlichen Privileg aus Wien ausgestattet. Weil der Magistrat nicht gleich in die Gänge kommt, schickt Gerlach Adolph kurzerhand den Bürgermeister des benachbarten Northeim ins Rennen: Es werden Brunnen gebohrt, Wasserleitungen verlegt, Straßen gepflastert, Häuser gebaut und verputzt, der Stadtwall mit Linden bepflanzt. Ab 1734 beginnt der große Zuzug; Professoren und Studenten brechen über die Stadt herein wie eine biblische Heuschreckenplage; innerhalb der nächsten zwanzig Jahre verdreifacht sich die Bevölkerung. Die Universität Göttingen, die offiziell erst 1737 gegründet wird, ist ein Riesenerfolg – und ein nicht zu verachtender Wirtschaftsfaktor für das Kurfürstentum Hannover. Gerlach Adolph von Münchhausen wird der erste Kurator der Universität; er bleibt es bis an sein Lebensende. Göttingen ist sein Baby, seine Schöpfung. Kein Wunder, dass sein Neffe Hieronymus sich auch immer wieder hier aufhält.

Philipp Adolph von Münchhausen, sechs Jahre jünger als Gerlach Adolph, studiert ebenfalls Jura in Jena und Halle. 1717 wird er braunschweig-lüneburgischer Kammerjunker am Wolfen-bütteler Hof; 1724 Oberappellationsrat in Dresden. Nach einem kurzen Zwischenspiel im Bistum Osnabrück wird Philipp Adolph Geheimer und Erster Regierungsrat in Stade. Ab 1741 ist er Staatsminister und 1749 übernimmt er die Leitung der Deutschen Kanzlei in London; er ist Gerlach Adolphs direkter Draht zum König. Damit beeinflussen die Brüder von Münchhausen die englische und hannoversche Politik und Kultur nachhaltig.

Das Leben des »echten« Barons: Hieronymus Carl Friedrich

Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen wird am 11. Mai 1720 als fünftes Kind von Georg Otto von Münchhausen (1682–1724) und Sibylle Wilhelmine von Reden Hastenbeck (1689–1741) in Bodenwerder geboren. Am 13. Mai wird Hieronymus evangelischlutherisch getauft; drei Paten hat er, alle aus der Familie von Reden. Im Kirchenbuch von Bodenwerder heißt es:

Den 13 Mai Ihr Hochwohlgeb. der Herr Obrist Leutnand von Münchausen ein Sohnlein tauffen lassen Die Gevattern Ihr Hochwohlgeb Herrn von Rehden zu Hastenbeck Fr. Ehliebste, dessen Herrn Sohn Herrn Drosten zum Polle Fr. Ehliebste, wie auch der jüngste Sohn von Rehden, der Nahme Hieronymus Caroll, Friedericus.2

Bodenwerder ist eine Insel – der Flurname bedeutet »Bodos Insel« – in der Weser. Der Stadt geht es gut, bis um 1635 – infolge der vielen Erbteilungen unter den Welfen – Bodenwerder zunächst calenbergisch wird und schließlich an das Haus Lüneburg kommt; das Umland ist braunschweigischer Besitz oder gehört zum Bistum Hildesheim. Damit ist die Stadt eine hannoversche Exklave mitten in braunschweigischem Gebiet, und das ist problematisch: Auf der Insel gibt es gerade einmal sechzehneinhalb Hektar Nutzland, dazu kommt eine Feldmark von knapp 200 Hektar rund um die Stadt auf beiden Ufern der Weser, der Großteil der Äcker liegt im Westen. Das reicht für die Deckung des Eigenbedarfs; wachsen kann die Stadt so nicht. An den Grenzen kommt es permanent zu Auseinandersetzungen über Grenzverläufe, über Wege- und Weiderechte.

Bodenwerder, Kupferstich von Caspar Merian nach einer Zeichnung von Conrad Buno, Ratsherr und später Stadtkämmerer in Wolfenbüttel, um 1655.

Schwierig ist auch die Lage auf der Insel selbst: In der Stadt drängeln sich die Häuser, und zwischen Insel und Umland gibt es nur eine Brücke. Sie liegt bei der Mühle, im Norden der Insel, über sie sind die Felder im Westen zu erreichen. Für die Felder im Osten gäbe es eine Fährverbindung im Südosten der Insel; wer die nutzen will, muss zahlen. Auf der Südspitze der Insel liegen drei adlige Höfe, die Lehen der Familien von Hake, von Garmissen und von Münchhausen. Zum Münchhausischen Gut zählen die sogenannte Schulenburg aus dem 14. Jahrhundert, die als Zehntscheune verwendet wird, und der von Statius von Münchhausen Anfang des 17. Jahrhunderts errichtete Gutshof; beide Gebäude sind auf dem Stich von Merian zu erkennen.

Seit 1582, seit Statius gehört Bodenwerder zu den Lehen der Familie Münchhausen; Hieronymus’ Familie wohnt erst seit Kurzem hier. Um 1720 übernimmt sein Vater Georg Otto, als Oberstleutnant der Kurfürstlich Hannoverschen Kavallerie vermutlich gewohnt, Befehle zu erteilen, das vor sich hin dümpelnde Gut und macht sich sofort an dessen Sanierung. Als Allererstes baut er ein neues Gebäude, das unter anderem als Schnapsbrennerei genutzt wird – man muss schließlich Prioritäten setzen. Allerdings steht der Neubau zumindest zum Teil auf Gemeindeland, und Georg Otto hat vor dem Bau niemanden um Erlaubnis gefragt. Später wird er sagen, er habe nicht gewusst, dass er auf dem brachliegenden Grund nicht ohne Weiteres hätte bauen dürfen. Die Stadt, die sich noch an die neuen Gutsbesitzer gewöhnen muss, lässt ihn erst einmal gewähren; ein offizieller Protest bleibt aus.

Georg Otto seinerseits drückt dem Gut weiter seinen Stempel auf. Das Herrenhaus, das bislang nur über einen ebenerdigen Eingang verfügt, bekommt 1721 eine Freitreppe zum ersten Geschoss, komplett mit einem repräsentativen Portal. Im Tympanon über dem Tor lässt der Hausherr seine Initialen und die seiner Frau einmeißeln, in der Mitte das Familienwappen und den Wahlspruch »Mine Borg ist Gott«, ein Zitat aus dem 18. Psalm, ein Dank- und Siegeslied, das König David Gott singt. In Martin Luthers Übersetzung von 1545 heißt es:

Herr, mein Fels, meine Burg, mein Erretter, mein Gott, mein Hort, auf den ich traue, mein Schild und Horn meines Heils und mein Schutz! Ich rufe an den Herrn, den Hochgelobten, so werde ich von meinen Feinden erlöst.

Das hat durchaus etwas Trutziges an sich; daraus spricht der Anspruch des Gutsherrn, die Haltung, mit der Georg Otto seiner Umwelt, den Bürgern und dem Rat der Stadt begegnet. Dass das nicht unbedingt auf den ungeteilten Jubel der Nachbarn stößt, lässt sich denken.

Während Hieronymus gehen und sprechen lernt, werden nacheinander die Geschwister Georg Wilhelm Otto, Anna Elisabeth Wilhelmine und Anna Rebecca geboren. Die Mutter kümmert sich um die kleinen Münchhausens, der Vater um das Gut. Dabei geht er recht entschieden vor, ohne Rücksicht auf Verluste; fast könnte man sagen diktatorisch, eben gutsherrlich. Er lässt Löcher graben, um sein Land zu entwässern; die ausgehobenen Gräben liegen aber auf Gemeindeland, und das zusätzliche Wasser verschlammt die Gemeindeweiden. Darüber hinaus verleibt Georg Otto seinem Gut Gemeindeland ein. Das ist zumindest die Sicht der Stadt, die darüber beim königlichen Gericht in Celle Beschwerde führt.

Als Hieronymus vier Jahre alt ist, stirbt der Vater. Die Mutter übernimmt die Führung des Haushalts. Und das scheint sie gut gemacht zu haben, auch wenn die Querelen mit der Stadt und ihren Bürgern weitergehen. Sibylle von Münchhausen kümmert sich vor allem um ihre Kinder: Die Töchter sollen gut verheiratet werden, die Söhne bekommen eine Ausbildung, die ihnen eine ihrer Herkunft entsprechende Karriere ermöglichen soll. Georg Ottos Söhne gehen allesamt zum Militär, eine Tatsache, die der Familienchronist Albrecht Friedrich Münchhausen, selbst Jurist, später sehr bedauern wird: denn Georg Ottos Söhne werden in ihrem Leben viel Geld für Anwälte ausgeben.

Im April 1733 – Hieronymus ist noch keine dreizehn – schickt seine Mutter ihn an den Hof von Prinz Ernst Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel im zwanzig Kilometer entfernten Bevern; in das Schloss, das sein Vorfahr Statius von Münchhausen Anfang des 17. Jahrhunderts hat bauen lassen. Das Schloss kann sich durchaus sehen lassen, und Hieronymus ist vermutlich stolz, mit dem Erbauer in direkter Linie verwandt zu sein.

Bevern wird von Ernst Ferdinand und dessen Familie bevölkert. Hieronymus kommt in ein Schloss voller Kinder: August Wilhelm ist achtzehn, Christine Sophie sechzehn, Friederike vierzehn, Georg Ludwig ist zwölf, wie Hieronymus. Friedrich Georg ist zehn, Friedrich August sieben, Marie Anna fünf, Friedrich Karl Ferdinand ist vier Jahre alt. Wahrscheinlich lernt Hieronymus zumindest mit Georg Ludwig und mit Friedrich Georg. Auf dem Stundenplan stehen Reiten und Fechten, vermutlich Tanzen, Deutsch, Französisch und vermutlich auch Latein, ganz sicher Geschichte und Geografie. Man liest und unterhält sich, man verkleidet sich, spielt Theater – es gibt sogar eine richtige Bühne im Schloss – oder doch zumindest selbst ausgedachte Rollenspiele und feiert Feste und Kinderbälle. Und man lernt, wie ein Adeliger sich bei Hof verhält.

Wolfenbüttel

Chef des Hauses Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern ist inzwischen Ferdinand Albrecht II. Er hat zwar Räume auf Schloss Bevern, lebt aber mit seiner Familie vorwiegend im Prinzenpalais in Wolfenbüttel. Die Stadt ist zu dieser Zeit ein kulturelles Zentrum mit einem reichen Hofleben, mit einem Theater, der berühmten Herzog-August-Bibliothek, mit Festen, Zeremonien und Ritualen. Ein besonderer Anziehungspunkt ist Schloss Salzdahlum, das »Versailles der Welfen«. Die Sommerresidenz hat Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, der verstorbene Onkel von Ferdinand Albrecht II., zwischen 1689 und 1694 als Repräsentationsobjekt bauen lassen, um den hannoverschen Welfen die Überlegenheit des Wolfenbütteler Hofes vor Augen zu führen – und um seine enorme Kunstsammlung standesgemäß unterzubringen. Anton Ulrich schwebten italienische und französische Schlösser vor; kein Wunder, sein Vorbild war Ludwig XIV. Allerdings war Anton Ulrich kein Verschwender; als klar wurde, dass sein Vermögen für einen soliden Steinbau nicht ausreichte, ließ er Salzdahlum als gigantischen Fachwerkbau konzipieren, das Ganze so geschickt verkleidet, dass das Lustschloss wirkte wie aus Stein. Es ist zu dieser Zeit das größte Holzbauwerk in deutschen Ländern; der Volksmund nennt es »die größte Holzungeheuerlichkeit der Welt«.

Schloss Salzdahlum von der Gartenseite, Kupferstich von Pieter Schenk d.Ä.

Ferdinand Albrecht hat Aussicht, den Wolfenbütteler Thron zu erben: Herzog Ludwig Rudolph – Anton Ulrichs Sohn – ist sein Cousin, und Ferdinand Albrecht ist mit dessen jüngster Tochter Antoinette Amalie verheiratet. Söhne hat der Herzog nicht. Überhaupt sind die Braunschweigs in Europa gut vernetzt, bis in die höchsten Kreise. Ludwig Rudolphs älteste Tochter Elisabeth Christine (1691–1750) ist seit 1708 mit Karl VI. von Österreich verheiratet, sie ist die Mutter von Maria Theresia. Auch für die zweite Tochter, Charlotte Christine Sophie, hatte man ehrgeizige Heiratspläne: Sie wird 1711 mit dem russischen Zarewitsch Alexei verheiratet; allerdings stirbt sie 1715 im Kindbett. Ihr Sohn kommt 1727 elfjährig als Zar Peter II. auf den russischen Thron. 1733 sind sowohl Alexei als auch Peter bereits tot. In Russland regiert die eigenwillige Kaiserin Anna Iwanowna, eine spätberufene Regentin – sie wird in Münchhausens Biografie noch eine wichtige Rolle spielen. Zu ihren engsten Beratern gehören drei Deutsche: Ernst Johann Biron aus Semgallen (der Favorit), Heinrich/Andrei Ostermann3 aus Bochum (das Orakel) und Burkhard Christoph von Münnich aus Oldenburg (der General), ein echtes Trio infernal, das noch dazu ständig damit beschäftigt ist, sich gegenseitig Messer in die Rücken zu rammen. Favorit, Orakel und General sind ihre Spitznamen.

Im Juni 1733 rüstet Wolfenbüttel sich auf eine glanzvolle dynastische Hochzeit, die Art Hochzeit, auf die Dichter enthusiastische Oden verfassen, für die man Opern komponieren und Theaterstücke schreiben lässt, für die man ganze Lustschlösser baut oder doch zumindest renoviert, für die man Fassaden streicht, neue Wege anlegt, Gärten bepflanzt und überhaupt sein Fürstentum ohne Rücksicht auf Verluste verschuldet. Es ist die Hochzeit von Ferdinand Albrechts Tochter Elisabeth Christine mit Kronprinz Friedrich von Preußen, aus dem später der Große werden wird. Die ersten Gäste sind Anfang Juni schon da. Die Verwandten aus Bevern, Ernst Ferdinand mit Familie, sind sicher dabei, wohl auch der adlige Page, der am 4. Juni in der Wolfenbütteler Schlosskirche vermutlich eigens für das Fest konfirmiert wird: Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen.

Am 9. Juni trifft Elisabeth Christines Bräutigam mit seinen Eltern an der Landesgrenze ein. So richtig begeistert ist Friedrich nicht, aber das muss man ja bei einer dynastischen Hochzeit auch nicht sein. Für ihn ist die Hochzeit Mittel zum Zweck; er kommt seinem Vater Friedrich Wilhelm entgegen, kann sich mit ihm versöhnen. Vor allem wird er damit sein eigener Herr. Seiner Schwester Wilhelmine hat er vorab schon per Brief mitgeteilt, dass die Braut seine Sache nicht ist, und auch sonst hat er zu verstehen gegeben, dass ihn eine Ehe eigentlich gar nicht interessiert. Und Friedrichs Mutter Sophie Dorothea von Hannover, der eine englische Verbindung wesentlich lieber gewesen wäre als eine Liaison mit den aus ihrer Sicht armen Verwandten, ätzt im Vorfeld wenig charmant, Elisabeth Christine sei hässlich, dumm und watschele obendrein wie eine Ente.

Dennoch ist es ein rauschendes Fest, schließlich geht es nicht um Gefühle. Das Ganze ist eine genau durchdachte, sorgfältige Inszenierung; ein mehrtägiges Spektakel, das an Opulenz kaum zu überbieten ist, ein Gesamtkunstwerk, angeordneter Jubel des Volkes inklusive. Man feiert auf mehreren Bühnen, in den beiden Wolfenbütteler Schlössern und im Lustschloss Salzdahlum, dem hauseigenen Versailles im Kleinformat. Die Tische biegen sich unter Kälbern, Kapaunen, Wild, Fasanen, Hummern, Krebsen, Lachsen und Schollen, man isst von goldenen Tellern. Es gibt Jagden, Ausfahrten und Bälle; die braunschweigische Garde exerziert, man will dem preußischen König und vor allem dem Kronprinzen eine Freude machen. Am Vorabend der Trauung wird in der prächtigen Gartenanlage von Salzdahlum ein Schäferspiel aufgeführt, auch die hundert Hochzeitsgäste sind entsprechend kostümiert. Nach dem feierlichen Eröffnungsreigen treten drei junge Hirten, darunter Friedrich, vor den Hirtenkönig, um sich um die Hand der schönsten Schäferin – das ist Elisabeth Christine – zu bewerben. Der Hirtenkönig stellt ihnen eine Aufgabe; wer am besten Flöte spielen kann, bekommt das Mädchen. Die drei verliebten Freier musizieren um die Wette, aber der König kann sich nicht entscheiden. Da taucht Apoll im Garten auf; wo sollte er sonst sein? Salzdahlum wird zu Arkadien. Die Hirten flöten noch einmal für den Gott der Musik. Und der wählt zur Freude und unter dem Jubel aller Friedrich. Der preußische Kronprinz spielt mit; das kunstvolle Idyll ist Demonstration, die Hochzeit mindestens von Apoll gewollt. Die offizielle Zeremonie – Trauung und »Beylager” – wird am 12. Juni mit Pauken und Trompeten und unter Kanonendonner vollzogen, abends wird getanzt. In den folgenden Tagen wird weitergefeiert. Die Hofgesellschaft spielt eine Komödie von Philippe Destouches. Georg Friedrich Händels Oper Partenope wird aufgeführt. Zum Abschluss gibt es noch eine Uraufführung: Carl Heinrich Graun hat eigens für die Hochzeit eine »singende Komödie«, Lo specchio della fedeltà (Der Spiegel der Treue), geschrieben. Friedrich ist von der Musik so begeistert, dass er den Komponisten später an seinen eigenen Hof holt. Dafür meidet er Elisabeth Christine fortan großräumig; auf seinem Schloss Sanssouci hat sie später regelrecht Hausverbot. Es ist nicht wirklich verwunderlich, dass aus dieser Ehe keine Kinder hervorgehen.

Auf den dreizehnjährigen Hieronymus muss das alles einen gewaltigen Eindruck machen: eine Show, bei der alle Register barocker Prachtentfaltung gezogen werden, Allongeperücken inbegriffen, keine Spur von preußischer Zurückhaltung. Der unlustige Bräutigam dabei dürfte allerdings keinem der Anwesenden entgangen sein, schon gar nicht einem wachen Teenager. Es ist eben eine Show. Das Ganze kostet die Brauteltern über 35 000 Taler, das ist etwa der Jahreslohn von 2400 Knechten, das Jahreseinkommen mehrerer Dörfer. Im Gegenzug heiratet Elisabeth Christines ältester Bruder Carl am 2. Juli desselben Jahres in Berlin Philippine Charlotte, Friedrichs Schwester. Die beiden Hochzeiten führen zu einer dauerhaften Allianz zwischen Braunschweig-Lüneburg, später Kurhannover, und Preußen.

Als Ludwig Rudolph Anfang März 1735 im Alter von 64 Jahren stirbt, wird Ferdinand Albrecht II. Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel. Einen Monat später kommt Hieronymus aus Bevern endgültig an den Wolfenbütteler Hof. Sein Name findet sich im Wolfenbütteler Pagenbuch, einem ledergebundenen und aufwendig verzierten Verzeichnis (»Matricul«) von 109 Pagen, die zwischen 1710 und 1742 am Hof der Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttel angenommen werden; die Pagen sind entweder dem jeweiligen Herzog oder dessen Frau zugeordnet. Die Seiten sind angelegt wie ein barockes Emblembuch; ganz oben steht der Name des Edelknaben, gewissermaßen die »Überschrift«, gefolgt vom Wappen seiner Familie. In der Seitenmitte eine Kartusche mit einem sorgfältig gemalten Sinnbild oder Emblem, dazu eine selbst gewählte Devise mit einer kurzen Erklärung – in Münchhausens Fall ist sie sogar gereimt. Schließlich die Information, bei wem der Page dient. Die Texte sind ganz offensichtlich von den Knaben selbst geschrieben; Schönschrift ist nicht jedes Knaben Sache, auch nicht die Münchhausens. Seine Briefe sehen aus, als wären sie auf dem Rücken eines Pferdes im gestreckten Galopp entstanden; manchmal kritzelt er noch dazu: geschrieben in Eil. Ob die Knaben die Bilder im Pagenbuch auch selbst gemalt haben, bleibt unklar. Fest steht, sie sind allesamt adelig, und sie kommen von überall her, nicht nur aus Braunschweig oder Hannover. Sie kommen aus Bayern, aus Schlesien, Sachsen, Thüringen, aus Hessen, Friesland, Mecklenburg, Ostpreußen, aus Kurland; einer kommt sogar aus der Normandie. Die Ausbildung der Pagen in Wolfenbüttel gilt als erstklassig. Möglicherweise schwingt hier die Erinnerung an Anton Ulrichs Ritterakademie4mit, die berühmte Lehrer aufzuweisen hatte, darunter Gottlieb Samuel Treuer, Autor der Geschlechts-Historie, einer jener führenden Köpfe, die Gerlach Adolph von Münchhausen bereits vor der Eröffnung an seine Universität holt: Ab 1734 ist Treuer Professor für Staatsrecht, Moral und Politik in Göttingen.

Eigenhändiger Eintrag von Hieronymus von Münchhausen im Pagenbuch der Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttel, 1710–1742.

Wie alle neuen Pagen trägt auch Hieronymus von Münchhausen seinen Namen in das Pagenbuch ein, »Hieronÿmus Carl Friederich de Munchhausen« schreibt er schnörkelig, »von Bodenwä[r]der gebürdig«. Er malt sein Wappen dazu, und er denkt sich ein eigenes Motto aus: Non monachum vestis, »Nicht das Kleid der Mönche«, möglicherweise eine Verkürzung des Spruchs von Roger von Caen, Non tonsura facit monachum, non horrida vestis, »Nicht die Tonsur macht den Mönch, nicht das raue Kleid«.5 Hieronymus kann also Latein. Die Idee findet sich in vielen Abwandlungen, so zum Beispiel lässt Shakespeare den Narren in Twelfth Night sagen: Cucullus non facit monachum, »Nicht die Kapuze macht den Mönch«.6 Und Barockdichter Abraham a Santa Clara, bekannt für kräftige Sprüche, schreibt »Die Kutte ist ein Schelmenfutteral«. Das Bild im Wolfenbütteler Pagenbuch zeigt einen Mönch, der seine Kutte hebt und so den Blick auf seine Beine freigibt – unter der Kutte trägt er weltliche Kleidung; Kniebundhosen und Halbschuhe. Der erklärende Spruch darunter: Wenn alle Laster künten bloßer Schein bedecken, wie viele würden nicht sich in dies Kleÿd verstecken. Das lässt durchaus auf einen kritischen Geist schließen, und das Wortspiel mit Mönch und Münch, die freche Idee der Mönchskutte als Verkleidung auf Fantasie und Witz. Das passt zu einem Fabulierer. Darunter schreibt der Vierzehnjährige: »d. 4ten Aprilis haben Ihro Durchlägtigkeit [sic!] Ferdinand Albrecht mich zu seinem Page [sic!] gnadigst angenommen.« Die eigenwillige Orthografie dürfte Münchhausens Sprechweise wiedergeben; Hieronymus schreibt gerne g statt ch, j für g.

Im September stirbt Münchhausens Dienstherr, Herzog Ferdinand Albrecht II. nach nur sechs Monaten Regierungszeit im Alter von 55 Jahren.7