Die geheime Reise - Marcel Jouhandeau - E-Book

Die geheime Reise E-Book

Marcel Jouhandeau

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Beschreibung

"Die geheime Reise" ist die Geschichte einer verbotenen Liebe, die zu unbestimmter Zeit an einem unbekannten Ort zu spielen scheint. Aber der poetische Roman von Marcel Jouhandeau ist auch eine Kriminalerzählung. Denn er enthält versteckte Indizien, die den Erzähler verraten und den historischen Zusammenhang sichtbar machen: Im Herbst 1941 nimmt ein französischer Schriftsteller an einer Rundreise durch Nazi-Deutschland teil, die propagandistischen Zwecken dient und zu einer Veranstaltung mit Joseph Goebbels in Weimar führt. Er verliebt sich in den deutschen Offizier, der sie organisiert. Und er scheint zu ahnen, dass er sich mit den Falschen eingelassen hat. Marcel Jouhandeau (1888–1979) hat seine Kollaboration zugleich kunstvoll verschlüsselt und subtil angedeutet. "Die geheime Reise" handelt von der Verführungskraft des Faschismus und von der Schwierigkeit, sich ihrer bewusst zu werden. "Die geheime Reise" von Marcel Jouhandeau erschien erst nach dem Zweiten Weltkrieg im französischen Original. Im Verlag Das vergessene Buch wird sie nun zum ersten Mal in deutscher Übersetzung wiederentdeckt, zusammen mit dem Originalreisetagebuch von 1941 übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Oliver Lubrich (John F. Kennedy, Das geheime Tagebuch, DVB 2021) „Im Juni wird ein Roman des französischen Autors Marcel Jouhandeau erscheinen, der 1941 einer Einladung von Goebbels zum Europäischen Dichtertreffen in Weimar gefolgt war und diese Kollaboration in dem erstmals ins Deutsche übersetzten Roman ‚Die geheime Reise‘ thematisierte. Die Verführung durch den Nationalsozialismus – was der Markt wohl dazu sagt?“ – Hannes Hintermeier, Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Seitenzahl: 224

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Marcel Jouhandeau

Die geheime Reise

Erstmals auf Deutsch undzusammen mit demReisetagebuch von 1941

herausgegeben und ausdem Französischen übersetztvon Oliver Lubrich

das vergessene buch

1. Auflage 2022

Das vergessene Buch | www.dvb-verlag.at

Copyright © by DVB Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lukas Spreitzer, Wien Satz: Kevin Mitrega, Schriftloesung

Inhalt

Die geheime Reise

Erinnerungen an Deutschland Reisetagebuch 1941

Mit X. auf dem Weg nach B.Das geheime Geständnis des Marcel JouhandeauNachwort von Oliver Lubrich

Editorischer Bericht

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Zeittafel Marcel Jouhandeau

Kurzbiographien

Dank

Kolophon

Die geheime Reise

Élise fürchtet sich vor ihrem Haus ohne mich. Wie jedes Mal, wenn ich fortgehe:

»Es ist schon genug«, sagt sie, »dass du nicht mehr da bist. Aber käme ich zurück, nachdem ich dich zum Bahnhof gebracht habe, und fände hier Unordnung vor, wäre ich sehr unglücklich.«

Warum sollte ich es ihr verübeln, dass sie mich im letzten Augenblick offenbar vergisst und sich um ihren Haushalt sorgt? Sie kränkt mich damit keineswegs, sie verrät mir nur die Verwirrung, in der meine Abwesenheit sie zurücklässt. Wer von uns beiden ist treu?

Im Zug die ersten Begegnungen:

X., noch ein Unbekannter, teilt mit mir die Kabine, er schläft über mir.

Ich möchte X. sagen, dass ich sein Freund bin. Sobald ich mit jemandem in gesenkter Stimme gesprochen habe, fühle ich mich freier mit ihm und mit mir selbst.

In einem Kellergewölbe sitze ich zwischen X. und H.

Ich sage zu X.:

»Sie sind mein Bruder.«

H.: »Sie ehren ihn sehr.«

»Aber auch Sie, Jean, sind mein Bruder.«

Als wir Arm in Arm hinausgehen, sehen wir im Licht des Mondes unsere drei Schatten.

X.: »Das sind doch die drei ...«

X. versteht dieses Wort nicht wie alle Welt, darauf wette ich. Er missbraucht es nicht.

Oh, dreigestaltige Hekate!

Für Augenblicke spüre ich, wie ich mit X. und H. auf die Ebene einer zauberhaften Vertrautheit gleite.

Noch nie erschien meine Einsamkeit mir so groß, ohne dass sie mir etwas von meiner Geselligkeit genommen hätte. Das heißt, ich bringe mir bei, mich unter den anderen zu bewegen, ohne etwas von mir selbst aufzugeben. Diese Gewandtheit ist sehr nützlich. Sie ähnelt jener des Schwimmers im Wasser oder des Heiligen im Licht der Gnade. Ich hätte nicht gedacht, dass sie mir erlaubt sei.

Was für eine Freude, gegen jedermann, gegen sich selbst frei von Vorurteilen zu sein, einfach, behutsam!

Meine Sinnlichkeit beherrsche ich mühelos, gelegentlich schlägt sie aus, aber sie wirft mich nicht aus dem Sattel. Ich bin Herr über mein Pferd.

Ich unterhalte mich mit H. und sage: »Die Bücher sind unsere besten Freunde.«

»Und wir?«, ruft er empört. Und zeigt mit dem Finger auf X. und auf sich.

Ist das eine Falle? Offenbar bin ich in ihr gefangen.

Ich weiß, man kann gewisse Verwirrungen spüren, ohne es sich einzugestehen. Ich weiß, man kann sich sagen, man sei verwirrt, oder glauben, man sei es, und es ist nicht wahr. Man täuscht sich, oder man gibt es vor.

Manchmal jedoch, wenn ich eine seiner Hände über einen Tisch wandern sehe oder sie sich an einer Lehne festhält, wie ein Vogel, der sich niederlässt und einschläft, möchte ich sie ergreifen, aber damit würde ich jemanden aufwecken.

Die großen Dinge, die in mir vor sich gehen, sind eigentlich klein. Wüsste man davon, würde man mich zwischen zwei Matratzen ersticken, gleich jenen, die ein tollwütiger Hund gebissen hat. Aber solange ich der Einzige bin, der meine Verwirrung kennt, bin ich nicht ganz verloren.

Als X. heute Abend mit unserem Freund H. so leichtfertig über mich sprach, vielleicht um mich auf die Probe zu stellen, stand ich jäh auf, meiner Schüchternheit zum Trotz, um wegzugehen, irgendwohin, wie ein Baum, den ein Blitz entwurzelt und weit fortschleudert. Alle konnten merken, dass ich außer mir war.

Was macht es schon, dass ich leide und durch wen ich leide! Dieses Drama betrifft nur die Chimären, die sich tief in meinem Herzen eingenistet haben.

Ich sage zu X.:

»Monster.«

F., der es gehört hat, sagt wie im Traum:

»Siehe da, die Sprache Racines.«

Mögliche Begriffsbestimmung:

»Monster nenne ich ein Wesen, das imstande ist, Worte auszusprechen, welche die Einbildungskraft irreführen, und dann so tut, als habe es nichts gesagt.«

Als mich im Dunkeln ein Unbekannter am Arm fasst, schreit X., der vor uns an der Kreuzung aufgetaucht ist, mich an :

»Sagen Sie noch einmal, dass ich ein Monster bin?« Koketterie natürlich. Eifersucht womöglich?

Heute Abend ging ich in das Zimmer, das X. und H. teilen, und wir lasen dort ein Gedicht über die Mutter von Jean, die in seiner Abwesenheit starb.

Herr, werde ich mich nicht erheben? Werde ich stets auf mich selbst zurückfallen, auf die Seite, wo ich mein Herz zu stark pochen fühle, so stark, dass es mich betäubt? Werde ich mich nicht aufrichten, um ihm Raum zu geben, damit es sich entspannen kann? Reiche mir die Hand.

X. sagt zu mir: »Wahrscheinlich müssen Sie noch einmal durch das Chaos hindurch und die Ordnung wiederherstellen.«

Was meint er damit?

Mein einziger Sieg: dass ich in jeder Sekunde durchs Feuer gehe und mein Lächeln nicht verliere, dem nichts etwas anhaben kann.

Warum bin ich nicht längst geheilt? So oft schon litt ich die gleichen Qualen : Verletzung, Tod, Grablegung, Auferstehung. Wozu noch einmal diesen Trauerzyklus des Adonis durchlaufen? Bin ich nicht zur Genüge mein eigener Schatten geworden, mein eigenes Gespenst, mein Phantom ?

Die Hartnäckigkeit, mit der ich stets den Anschein erwecken will, auf die Welt und in der Welt auf Meinesgleichen einzugehen, bewegt mich. Kann ich glauben, dass ich noch so kühl dazu fähig sei, oder täusche ich mich? Längst habe ich die vorgesehenen Grenzen überschritten, und ich bewege mich in besonderen Zwischenräumen, zu denen die gewöhnlichen Lebenden keinen Zugang haben. Es wäre Poesie, würde es nicht etwas noch Selteneres sein.

Traue nicht mehr den Worten ; ihr Gewicht, ihre Schwerkraft hat nichts mehr zu tun mit der deiner Gefühle, die so luftig sind, so frei von Hemmnissen ; ihre Bedeutung hat nichts mehr zu tun mit deinem Denken. Entwirf eine neue Sprache, damit man dich nie ganz verstehe.

Der Kreis, in den du eingetreten bist, hat keinen Namen, den man kennt, aber wirst du deinem Abenteuer gewachsen sein?

Beim Abendessen beobachte ich meine Nachbarn und spüre, dass ich für einen Augenblick (wesenhaft) unsichtbar bin, oder verraten mich die Flammen, die mich umgeben? Wo bin ich? Die wissen es nicht, die meinen, ich sei hier, ganz und gar, voll und ganz, ich nähme teil.

Was für ein Abgrund zu allen Seiten von mir!

Die andere Welt bewacht mich, schließt mich aus, sondert mich ab. Wie viele Drachen, wie viele Cherubim muss meine Hand vertreiben, damit sie mein Glas oder mein Brot nehmen kann, und all das Unendliche, das ich in Bewegung setze, um es an meine Lippen zu führen. Eine riesige Anstrengung! Man erweckt, noch zu leben, nicht besser den Anschein, man ahmt alle Gesten der Lebenden, die mich nichts mehr angehen, nicht tragischer nach, man spricht all die Worte, die in beliebiger Lage erforderlich sind, nicht aufrichtiger aus, wenn ich jenseits des Todes, in der Unterwelt, wirklich nur noch etwas gemein habe mit der finsteren Bewegung der Schatten.

Brauche vielleicht sein Blut für einen bösen Zauber.

Der Ekel entsteht manchmal aus einem Übermaß an Begehren, der Tod aus einem Übermaß an Leben.

Oh, heilsame Hässlichkeit! Nicht die Schönheit spiegelte sich in meiner Seele, sondern ihr verunstaltetes Abbild, und ich besaß keinerlei Anmut mehr. Endlich bin ich ernüchtert. Ich sehe mich, wie ich bin, und ich sehe X., wie er ist.

Ich hatte mich verkannt, und bei solchen Dingen ist man gerettet, sobald man feststellt, dass man sich verkannt hat. Nur wer gesehen hat, wie man sich verkennt, verkennt einen. Dieser Irrtum ist eine Sünde. Dass man ihn die ganze Zeit nicht bemerkt, ist etwas anderes, das ist die Leidenschaft. Man liebt die Schönheit, wo sie nicht ist.

Sind wir zusammen? Ich sehe ihn nicht mehr. Gerade da wir uns trennen, finde ich ihn, entdecke ich ihn, ohne Maske, aber, mein Gott, wie herrlich war die Maske!

Ist es die Hässlichkeit, nein, die Schönheit ist es, die mich beschützt? Alles andere als sie lehne ich ab. Ohne sie fühlte ich mich dermaßen benachteiligt, dass ich die nötige innere Anstrengung aufbrachte, sogleich mein Reich zurückzuerlangen, welches das ihre ist.

Habe ich eine einzige Geste gezeigt, habe ich ein Wort gesagt, das mich vor mir selbst entehrt? Plötzlich umhüllte mich die Nacht, sie drang mir ins Mark, schläferte mich ein, begrub mich für immer in Vergessenheit, fern aller Herrlichkeit. Ich hätte vergeblich das Licht gesucht, für mich gab es keines mehr, nirgendwo.

Ich kämpfte gegen ein Meer und einen Himmel von Finsternis, und ich zerstreute mit meinen Händen die Hölle. Oh, Frieden ! Oh, mildes Licht ! Ich kenne nicht mehr den Schatten einer Wolke, weder Mitleid noch Tränen, und aus meiner Grausamkeit, meiner Härte, meiner Gewalt gegen mich selbst entsteht meine Sanftheit.

Sogar F., du, F., armer sechster Buchstabe des Alphabets, F., wer hätte gedacht, dass du an meiner Erlösung Anteil hattest! Dass die Vorsehung es nicht verschmäht hat, sich deiner zu bedienen als ihres Engels an meiner Seite, um mir zu Hilfe zu kommen!

Heute Abend zeigt mir F. schlicht und einfach M. und sagt :

»Sehen Sie nicht, wohin seine Neigung geht?«

Genau so, als hätte er einen Spiegel genommen, um mich mir selbst zu zeigen. So genau, dass ich mich frage, ob F. nicht das Spielzeug meiner Wahnvorstellungen war und Opfer der Täuschung des Himmels, der für F. all das auf M. projizierte, was sich in mir abspielte, denn es war keineswegs M., der diese Neigung hatte, sondern ich. Sofort begann ich, mich wieder aufzurichten.

Ich will solches Elend nicht mehr. Wie konnte ich es ertragen? Man lässt sich vom Nichts ablenken, man lässt sich vom Teufel etwas vormachen, und plötzlich erkennt man ihn an der Wegbiegung an seinem Lachen als das, was er ist; man begreift das Elend seines Gefährten. Ist es möglich, dass ich mich mit ihm eingelassen, mit ihm in Gefahr gebracht habe? Man ertappt sich in der Schande, und die Scham steigt einem ins Gesicht. Oh, Schmerz der ersten Minute der Einsamkeit, wenn der Freund einen verlässt, ohne es zu wissen, wer er auch sei; man gibt ihn frei, und plötzlich niemand mehr, mit dem man reden kann, niemand mehr, den man Tag und Nacht betrachtet. Aber welchen Raum hatte das »Monster« bereits besetzt, dass es in mir und um mich herum eine solche Leere zurückließ! Als hätte es Raum und Zeit nur durch ihn und für ihn gegeben, als wäre er für mich der Ewige (Bezugspunkt) oder die Sonne, mein eigener Ewiger oder meine persönliche Sonne. In seiner Gegenwart habe ich nicht mehr zwischen Nacht und Tag unterschieden. Ohne ihn bin ich nur Finsternis und Ödnis, ohne jede Hoffnung auf Morgenröte und Gedeihen.

Ach! Alles, was ich an Gutem, an Großem zu tun glaubte, hat keinen Sinn, keinen Wert mehr. Es gibt nichts Reines, Selbstloses, Wahres mehr. Ich glaubte, meine Pflicht zu lieben, und ich liebte X. Ich glaubte, aufrecht meines Weges zu gehen, und jeder sah, dass ich mich X. zuneigte. Nichts Edles ziert mehr meinen Gang und meine Haltung, und Lächerlichkeit zeichnet meine Stirn. Man bildete sich ein, sich wie ein Engel oder ein Gott zu verhalten, und vor aller Augen keuchte in mir das Tier. Offenbar musste ich diese Verwirrung, dieses Chaos erleben, um, wie es gesagt wurde, zu meinem Gesetz zurückzufinden.

Jetzt ist die Ordnung wiederhergestellt, aber vielleicht habe ich mich nur beruhigt, weil die Sonne sich für einen Augenblick verdunkelt hat. Ich fand X. heute Morgen sehr hässlich. Danke.

Das Monster spricht gelegentlich. Gerade hat es gesagt :

»Ich glaube, heute Abend werde ich eine Unbesonnenheit begehen.«

Das ist unsere Sprache, denn wir haben eine eigene Sprache, deren Symbole geheim sind.

Aber warum ist mein Gang fester, was auch immer geschieht, und mein Blick klarer? Ich bin nicht mehr so leicht zu verwirren.

Zweites Wort des Monsters heute:

Als man immer wieder vorbeikommt und zu uns herübersieht, fragt jemand: »Warum gehen die Leute hier auf und ab?«

X.: »Sie kommen, um das Monster zu sehen.«

Nur wenn man sich einem Gefühl oder einem Gedanken ganz hingegeben hat, beginnt die Größe.

Ich versuche, meinen Heimatverlust zu begreifen.

Plötzlich hat nichts mehr Bedeutung für mich, wieder einmal, mit Ausnahme von X.

Und natürlich, würde es den Verstand nicht geben, wäre alles verloren.

Und genauso gut ist alles verloren, weil es den Verstand gibt, und um seinetwillen entsage ich X., der mir alles bedeutet.

Also Zuflucht im ewigen Eis.

Zu X., im Beisein von H.:

»Sie wissen um Ihre Reize. H. kennt die seinen nicht.« Im selben Augenblick erzählt zufällig jemand, der mit unserem Gespräch nichts zu tun hat, wie H. als Kind im Schultheater einen Engel spielte, der von Gott auserkoren war, das Urteil der Verdammnis über Satan zu verkünden; aber im letzten Moment vom Text abwich, aus der Rolle fiel und sich weigerte zu verfluchen, und der Erfolg des Stückes wurde keineswegs beeinträchtigt, sondern durch einen so unerwarteten Ausgang gesteigert.

Ich sage zu X.:

»Kennen Sie schon die Geschichte von jener Träne Jesu, die auf Luzifers Stirn fiel, um ihn zu erfrischen?«

X. ist mein Eloah.

Man ist immer mehr oder weniger die Sonne für jemanden. Ein seltenes Vorrecht, zu blenden. Man geht vorüber, und ob man hinsieht oder wegschaut, man gibt Licht oder nimmt es. Man vermeide vor allem die geringste Gleichgültigkeit oder Ironie gegenüber denen, die man beleuchtet, so unbedeutend und demütig sie auch sein mögen, und wenn man sie im Vorbeigehen versengt, hüte man sich davor, deshalb hochmütig zu werden und sie im Finsteren zurückzulassen, ohne diesen einen Tag des Glücks zu preisen, den sie erlebt haben werden und den sie uns ewig verdanken.

Welche Ehre für X. sind unsere Einöden! Gewiss beschäftigt man sich in der Verzweiflung ständig mit ihm, und mehr verlangt die Leidenschaft nicht.

Welche Ehre für Gott ist die Hölle! Gewiss beschäftigt man sich in der Gehenna ständig mit Ihm, und mehr verlangt die Religion nicht.

Was ich (zu X.) sagen könnte und was ich niemals sagen werde? Mich in Finsternis und in Schweigen hüllen, mir vor allem den Gebrauch bestimmter Worte untersagen, die er mit größter Ungeduld hören möchte. Ist einmal alles ausgesprochen, verliert man das Interesse an sich selbst und aneinander.

Weiß ich denn überhaupt, was ich von mir mit ihm will, was ich von ihm mit mir will?

Ein Wort vermag viel schneller, die Unruhe zu mildern und die Verwirrung aufzuheben, als sie zu verstärken.

Gut schreibt man nur, wenn man sich auf das Wesentliche einlässt, nur auf das Ungesagte. Man hüte sich davor, die banale Verlockung eines beliebigen Begriffs anzunehmen, der weder passend noch richtig ist, der Verführung eines Adjektivs nicht zu widerstehen, dessen schale Koketterie man durchschaut hat. Die Wörter haben ihre Bühne, sie üben ihre Verführung aus.

Es liegt an uns, uns zu wehren. Gefühle setzen uns denselben Gefahren aus wie Wörter. Es genügt eine Sekunde der Unachtsamkeit, und im besten Herzen wird alles verdorben, die edelste Leidenschaft strauchelt, besudelt sich mit Gewöhnlichkeit oder Langeweile.

Die Leidenschaft ist kein gänzlicher Irrweg, solange man sie lenkt, sie beherrscht, sich nicht verliert. Sie steigert die Aufmerksamkeit, öffnet die Augen für Horizonte, die man nicht einmal erahnt haben würde, hätte ihr Leuchten nicht gewisse Schatten vertieft. Sie ermöglicht es auch, vieles in uns selbst und um uns herum zu verstehen, das uns entgangen wäre. Platon würde sagen, sie wecke seherische Kräfte in uns, aus ihr entstünden Verzauberung und Verführung; sie löse eine Begeisterung aus, die einer göttlichen Besessenheit gleichkomme. Ihr ist es zu verdanken, dass die Lyrik sich unserer Sprache bemächtigt und dass die Worte wild zu tanzen beginnen; sie ist es, die sie um einen einzigen Namen zusammenführt und zerstreut, so wie sich unsere Welt um ein einziges Gestirn bewegt.

Oh, göttliche innere Einheit dieser Reise, sie ist ein unverständliches Gedicht, dessen Doppelsinn, in dem ich meine Geheimnisse verberge, mich entweder berauscht oder beruhigt. Oh, schönes Abenteuer! Ohne X. würde ich weder H. noch R., A. oder Z. kennen, weder seine Heimat noch meine. Ohne X. wäre ich nicht gekommen, aber als ich beschloss, ihm zu folgen, wusste ich nicht, was ich tat. Ich habe es mir erst sehr viel später eingestanden. Hätte ich es geahnt, ich wäre nicht abgereist. Ich brach auf, seine Hand vor meinen Augen.

Hatte ich ihn nicht gewarnt, dass ich nur allein möglich sei? Man hat mich aus meinen wohlbedachten, enggezogenen Grenzen herausgeholt, soll man sich nun eben wundern, dass ich nur meiner fixen Idee folge. Die Gewohnheit, in einer Zelle zu leben, bereitet einen nicht auf die Ordnung der Gesellschaft vor. Sie haben mich aus meinem Rahmen steigen lassen und wollen jetzt nicht zulassen, dass ich mich verhalte wie ein verrückt gewordenes Bild, wie ein überlegener Automat? Will man den Engel oder die betende Figur aus einem Triptychon befreien, um ihn mit aller Welt in Gleichschritt zu bringen: ein nutzloser, vergeblicher, sinnloser Versuch. – Alles lief so gut, wird man mir sagen. – Schade um die Fanfare ! Ich habe alles verdorben.

– Hat Ihnen bloß noch gefehlt, dass Sie mich lächerlich machen ?

X.: – Ich Sie? Worte sind das eine, Gefühle etwas anderes.

Stets ein Stubenhocker, sogar auf Reisen. Seit unserer Abfahrt habe ich das Gefühl, mich wie die Könige mit meiner Wohnung fortzubewegen. H. und X. machen sie aus. Wenn mir einer von ihnen fehlt, fühle ich mich einsam, verlassen, zerstört. Ich brauche sie beide, einen zu meiner Rechten und einen zu meiner Linken, und ich lerne, innerhalb unserer untrennbaren Gruppe mich zu bewegen, als einer und dreifach.

In S. glaubte ich, verrückt zu werden, als ich plötzlich allein war. Man war aufgebrochen, ohne mir Bescheid zu sagen : Majestätsbeleidigung.

Wir werden die Helden einer großen Dichtung sein. Ich muss nur ihre Form erfinden. Eine Vorstellung davon habe ich schon.

Nun bin ich also wieder bei dir, Paracelsus? Auf welchem Weg? Für wen? Für was? Die Gespenster werden wieder lebendig, sie tanzen ihre Sarabande, und ich weiß nicht, ob ich kränker bin, weil ich sie als zu gegenwärtig empfinde oder weil ich ihrer Gegenwart nicht gewiss bin. Meine Erregung, so scheint mir, genügt ihnen nicht, genügt auch mir nicht; das Drama von heute, das jenes von vor fünfzehn Jahren überdeckt; ich bin schuldig gegenüber meinen Erinnerungen.

Sicher kann niemand meine Hölle oder meinen Himmel ermessen, das sage ich. Bis hierhin habe ich meine Leidenschaft unterhalten. Vor allem von niemandem irgendetwas erwarten, niemals so tun, als würde man von jemandem etwas bekommen. Es genügt mir, dem Schicksal zu trotzen, in Bezug auf ein einziges Wesen, das, ohne es zu wissen, alles ist, was ich sehe, alles, was ich höre, alles, was ich atme, alles, was ich esse, alles, was ich trinke, alles, was ich berühre, und alles, was ich weiß, das mein Schlaf ist und meine Wachheit, meine Unruhe und meine Ruhe; allmählich will ich nichts anderes mehr. Unaufhörlich bewegt »Man« sich um mich herum, ganz dicht bei mir, manchmal wie in mir selbst, immer so nahe und so viel weiter weg, als mir lieb ist, so dass ich nicht weiß, ob ich glücklicher oder unglücklicher bin. Durch diese Abwesenheit und Anwesenheit, die einander abwechseln, verzaubert mich plötzlich alles und quält und beruhigt mich zugleich, als würde ich in jedem Augenblick sterben, weil ich zu sehr lebe, oder als würde ich, wenn ich in jedem Augenblick stürbe, tausend Leben leben oder tausendmal mehr als jeder andere. Unaufhörlich getrieben von den Blitzschlägen meiner Erregung, kehre ich zum Chaos zurück und finde dort im Abbild meiner Erinnerungen oder meiner Wünsche geduldig alsbald jedes Ding wieder, eines nach dem anderen, vom größten bis zum kleinsten, vom notwendigsten bis zum unbedeutendsten; die Schöpfung und der Beifall beginnen von Neuem für mich; inmitten der Wogen entdecke ich mein gelobtes Land, von Sternen gekrönt, sein Firmament, wo über allem eine neue Sonne aufgeht, deren Licht mir das Universum zeigt: Wälder, eure Vögel, Fische, eure Meere. Als X. wie ein staunender Adam spricht: »Na so was!«, möchte ich zum ersten Mal in meinem Leben lachen, ein homerisches Lachen, und als »er« am Horizont des Paradieses auf Erden verschwindet, in der Hand einen Apfel: Zwietracht! Mir entgleitet alles zugleich. Gott ist wieder einmal allein, durch die Schuld des Menschen. Die Leere streift mich, sie umgibt mich wie ein abstraktes Band: die Tränen des Ewigen fließen, mein Geist entrinnt mir ebenso wie meine Substanz.

Der Geist wogt über den Wassern, die Natur und das Übernatürliche versinken in den Katarakten des Abgrunds, wo alles sich bildet, zerfällt und neu entsteht; ich kann nichts anderes erhoffen, als mich endlos darin hin und her zu wälzen, wie in meinem Bett. Vom anfänglichen Nichts zum endgültigen Nichts, über einen Augenblick der Fülle, voller Verlangen, bin ich überwältigt, wenn ich mir vorstelle, dass ich aufgesucht werde, von X. aufgesucht werde, dem gegenwärtigen und letzten und einzigen (und vielleicht nur vorgestellten) Grund, den ich habe, den ich mir ganz frei erschaffen habe, um mich nicht auf ewig einsam zu fühlen.

Die Angewohnheit, göttliche Worte um ein unbewegliches, einmaliges Bild wuchern zu lassen: sie ist ein Wagnis, das auf mein zwölftes Lebensjahr zurückgeht und sich mit zunehmender Beharrlichkeit und Wucht fortsetzte, wobei die Übereinstimmung mit mir selbst jetzt zur Notwendigkeit und das Objekt meiner Träumerei zu einer fortdauernden Sinnestäuschung wurde. Es geht für mich immer allein darum, unter dem Vorwand einer drohenden Gefahr, die ich heraufbeschwöre, das Bild mit einem Schlag durch eine tatsächliche Präsenz zu ersetzen. Der Mechanismus ist zwingend. Mit teuflischer, zauberischer Zuverlässigkeit erneuert sich die Maschinerie von selbst.

Die Leidenschaft ist eine Welt für sich, in der ich am Rande der Menschen lebe. Wie kann man einer Gesellschaft angehören, wenn man so ist wie ich? Sofort erweise ich mich dort als unmöglich. Wäre ich allein, würde die Unannehmlichkeit geringer sein. Ich versuche, mich unter meine Mitmenschen zu mischen, an ihren Gesprächen teilzuhaben, aber das Gebäude der Qualen oder Freuden, die Kathedrale der Gefühle, die ich mit mir herumtrage, vereinzelt mich inmitten ihrer Festlichkeiten, und der Sturm meiner Erregung übertönt alle Worte, bevor sie mich erreichen. Manchmal ist die Ruhe, die ich vortäusche, vollkommen, aber dann ging ein Leuchten über meine Stirn oder ein Kichern war in meinem Schatten zu hören, die um mich herum das Unsichtbare verraten, und schon bin ich ohne Verbrechen verdächtig, und beunruhigt sind die, die ich beruhigen wollte.

Je mehr die Leidenschaft auf Widerstand trifft, desto höher erhebt sie sich, wie ein Turm, von dem die Seele Ausschau hält, ohne sich in Gefahr zu begeben.

Keine Selbstgefälligkeit : alle Würde und aller Anspruch: das sind die Losungen, die ich mir gegeben habe.

Gestern im Theater geschah etwas Außergewöhnliches. Um die Loge zu sehen, in der ich mich vor fünfzehn Jahren an der Seite der Herzogin befand, wandte ich mich im Parkett um, und es schien mir, als würde ich von unten mich selbst dort oben betrachten! Welches war das wahre Ich? Immer wieder glaubte ich zu spüren, wie mein Blick von früher wie eine Schicht aus Schnee, aus Blei oder aus Feuer über mich kam. Welche Schwere, und dann welche Kälte, welches Brennen! Diese grauenhafte Gegenüberstellung war nicht vergebens : ich stellte fest, ich war derselbe, nur dem Tod etwas näher, viel weniger liebenswert, aber immer noch so empfindsam.

Mozart : Von Figaros Hochzeit über Don Giovanni zum Requiem.

Die Geschichte dieser Reise wird auch die einer Freundschaft sein.

Die Angst ist mein Normalzustand. Weil es schwierig ist, das verständlich zu machen, sondere ich mich ab. Schließlich liegt das Drama weniger in dem, was man empfindet, als vielmehr in der Entdeckung, dass man ertappt und beobachtet wird.

Die Anpassung einer Gruppe an die Angst eines Einzelnen kann Wunder bewirken, wenn sie von besonderer Art ist: dann entsteht eine Kraft gemeinsamen Fühlens und überträgt sich geheimnisvoll von einem auf den anderen, so dass jeder, ohne zu wissen, wie dies vor sich geht, empfindsamer wird für sich selbst und für alles, was ihn umgibt; so erlaubt die Gegenwart gewisser Magier, dass das Wunderbare von Zeit zu Zeit schlierenhaft in das gewöhnliche Gewebe der Wirklichkeit einsickert und Blinde das Licht erblicken, Taube bestimmte Akkorde oder bestimmte musikalische Phrasen hören, die ihre Stille durchdringen und sie in Verzückung versetzen, und Tote wieder einen Anschein von Leben annehmen: der gleiche Trug umgibt den Dichter und den Liebenden: Versenkung und Leidenschaft geben eingeschlossene Wellen frei, Ausdünstungen, welche die Natur selbst, durchdrungen von Übernatürlichem, reichlich enthält.

»In W. an der D. besitze ich ein ›Landhaus‹«, hat X. mir ins Ohr gesagt, und seine Worte gestalten den Park mit vornehmen Alleen und Türmen.

Ich hatte so sehr darunter gelitten, dass er mich gebeten hat, einen möglichst großen Umweg durch den mittleren Gang mit ihm zu machen, um mich zu meinem Platz zu führen, der sich in der gleichen Reihe wie die anderen befand. War es Ironie seinerseits oder bei mir der Genuss des Schmerzes? Was spielt das für eine Rolle? Jedenfalls betraten wir Seite an Seite die Oper von W. wie zwei Fürsten, auf die man nur wartete, um mit der Vorstellung beginnen zu können.

Aspirin, Hunger, Freundschaft, was für wunderbare Orte der Ruhe, bis man die Ufer der Hölle erreicht, denn in mir sind zwei Reisende, die sich nicht vereinen; der eine geht seine geheimnisvollen Wege, der andere einen Pfad, welcher der Herde folgt.

In meinem Himmel entsteht und vergeht unaufhörlich ein Bild wie aus Goldstaub.

Spät aufgestanden, ein wenig krank, warum aber glücklich ?

Abreise nach B. Ungeheure Erschöpfung, doch über allem hält sich die kleine Flamme, die den Weg beleuchtet und vor einem Sturz bewahrt. Ich weiß nicht, was es ist, das die schlummernde Glut meines alten Blutes wiedererweckt.

Jemand ist hinter mir, ich spüre es. Vor uns werden die Gipfel heller, und mein Schatten zu meinen Füßen, der sich vor mir niederwirft, verkündet mir die Anwesenheit meiner Sonne. Nichts ist aufwühlender als diese Perspektiven des Gefühls ; ein Wesen, auf das sich unsere Neigungen richten, bewegt sich, und je nachdem, ob es sich nähert oder entfernt, verändert sich um uns herum alles.

Würden wir die ganze Geschichte unseres Unglücks kennen, wären wir nicht so unglücklich. Sie würde uns umso mehr trösten, je tragischer es ist. Nur die Tatsache, kein Held zu sein, der zu Tränen rührt, würde uns untröstlich machen.

Hat jemand eine große moralische Bedeutung für uns, schüchtert er uns ein. Seine geringsten Wünsche lasten auf dem Geschehen wie eine Notwendigkeit. Wollte X. heute Abend, dass die Herde sich auflöste, damit wir beide endlich zusammen sein können? Als alle gegangen waren, zog ich mich als Vorletzter zurück, und X. blieb allein. Würde das Feingefühl die Macht des Verlangens in mir besiegen, oder würden beide einander bedingen und miteinander einhergehen ?