Die großen kleinen Dinge - Henry Fraser - E-Book

Die großen kleinen Dinge E-Book

Henry Fraser

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Beschreibung

Im Sommer 2009 fährt der junge Brite Henry Fraser mit seinen Freunden in den Urlaub nach Portugal, um seinen Schulabschluss zu feiern. Beim Baden im Atlantik schlägt er mit dem Kopf unglücklich auf dem Meeresgrund auf und ist von einem Moment zum nächsten schulterabwärts gelähmt. Konfrontiert mit einem Leben im Rollstuhl, muss er alle bisherigen Träume und Pläne für seine Zukunft aufgeben und einen neuen Weg für sich finden. Doch die tragische Nachricht lässt den jungen, sportlichen Mann nicht verzweifeln. Er kämpft sich mit einem starken Willen zurück ins Leben und inspiriert seither viele andere Menschen, nach Schicksalsschlägen nicht den Lebensmut zu verlieren.

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Buch

Im Sommer 2007 fährt der junge Brite Henry Fraser mit seinen Freunden in den Urlaub nach Portugal, um seinen Schulabschluss zu feiern. Beim Baden im Atlantik schlägt er mit dem Kopf unglücklich auf dem Meeresgrund auf und ist von einem Moment zum nächsten schulterabwärts gelähmt. Konfrontiert mit einem Leben im Rollstuhl, muss er alle bisherigen Träume und Pläne für seine Zukunft aufgeben und einen neuen Weg für sich finden. Doch die tragische Nachricht lässt den jungen, sportlichen Mann nicht verzweifeln. Er kämpft sich mit einem starken Willen zurück ins Leben und inspiriert seither viele andere Menschen, nach Schicksalsschlägen nicht den Lebensmut zu verlieren.

Autor

Henry Fraser, geboren 1992 in England, erlitt im Alter von 17 Jahren eine Rückenmarksverletzung und ist seither von den Schultern abwärts gelähmt. Die Hoffnung, ein selbstbestimmtes und glückliches Leben zu führen, hat er nicht verloren. Mit seiner positiven Einstellung zum Leben begeistert er als Referent und arbeitet zudem als Mundmaler. 2017 wurde er in Großbritannien unter die einflussreichsten Menschen mit Behinderung gewählt.

HENRY FRASER

Ein junger Mann glaubt an das Leben Jeder Tag kann ein guter Tag sein

Aus dem britischen Englisch von Henriette Zeltner

Mit einem Vorwort von J. K. ROWLING

Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Little Big Things« bei Seven Dials, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd, London.

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1. Auflage

Deutsche Erstausgabe 2018

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe:

Mosaik Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2017 der Originalausgabe: Henry Fraser

Illustrationen und Fotos: Henry Fraser

Umschlag: *zeichenpool, München

Umschlagmotiv: Henry Fraser

Redaktion: Antje Steinhäuser

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

JE · Herstellung: IH

ISBN 978-3-641-22512-4V001

www.mosaik-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Ein kurzer Moment

Die großen kleinen Dinge

Aufgeben ist nur eine Option

Akzeptieren und sich anpassen

Sei dankbar

Aus eigenem Antrieb

Ein Ziel gibt Sinn

Jeder Tag ist ein guter Tag

Dank

Autor

Vorwort

Henry Fraser ist einer der bemerkenswertesten Menschen, die mir je begegnet sind.

Vor dem Unfall, der sein Leben veränderte, war Henry intelligent, begabt und gutaussehend, was in den Augen der meisten von uns wohl genügen würde, um darauf aufzubauen. Bislang war noch gar nicht deutlich geworden, was für eine außergewöhnliche Persönlichkeit Henry in Wirklichkeit war. Dann aber verreiste er mit seinen Freunden, hechtete kopfüber ins Meer, und innerhalb einer Sekunde änderte sich alles.

Es war Zufall, dass ich auf Henrys Geschichte stieß. Ich hatte die Webseite des Rugbyclubs Saracens nur besucht, um die Details über ein Spiel nachzulesen, das ich in einem Krimi erwähnen wollte, an dem ich gerade schrieb. Da fiel mir Henrys Geschichte ins Auge, und in der großen Tradition aller recherchierenden Romanciers ließ ich auf der Stelle alles stehen und liegen, woran ich eigentlich hätte arbeiten sollen, um etwas viel Interessanteres zu lesen.

Ein paar Wochen später begann mein Freund und Agent Neil Blair mir die Geschichte eines jungen Mannes zu erzählen, den er soeben als Autor angenommen hatte. Die Story klang vertraut. »Neil, das ist aber nicht Henry Fraser, oder?«

Und so kam ich über unseren gemeinsamen Agenten mit Henry in Kontakt. Zuerst chatteten wir eine Weile online, bevor wir uns schließlich bei seiner ersten Ausstellung persönlich kennenlernten. Die dokumentierte seine Entwicklung in der Mundmalerei von ersten Zeichnungen bis hin zu wunderschönen, voll ausgestalteten Gemälden. An jenem Abend hielt er eine Rede, die – da bin ich mir sicher – allen Zuhörern unvergessen bleiben wird. Mit erstaunlicher Aufrichtigkeit, Bescheidenheit und Unerschütterlichkeit beschrieb er seinen Unfall, wie er ihn schließlich akzeptiert hatte und nun das Beste aus einem Leben machte, mit dessen Verlauf er nicht gerechnet hatte.

Ich folge Henry auf Twitter, und wir chatten regelmäßig über Direct Message. Die meisten Menschen reagieren so auf ihn, wie auch ich es tat: voller Bewunderung und mit gewisser Ehrfurcht. Gelegentlich habe ich auch schon erlebt, dass er mit Aufmerksamkeit anderer Art umgehen musste. Eine Frau erklärte ihm, er sei eben für seine Dummheit bestraft worden, als er am Strand einen Kopfsprung ins Meer machte. Ein Mann höhnte, er führe die Welt an der Nase herum, denn wie solle er denn Twitter nutzen können, wenn er tatsächlich gelähmt sei.

Man kann die Furcht in solchen ungebetenen Kommentaren förmlich riechen. Wenn man Henrys Geschichte als wahr akzeptiert, bedeutet das, auch über die Herausforderungen und Entbehrungen nachzudenken, mit denen manche sich aus Angst nicht beschäftigen wollen. Jemand anderen zu beschuldigen, das ist eine Möglichkeit, die schlichte Tatsache zu leugnen, dass sich in jedermanns Leben so ein plötzlicher, unumkehrbarer und unvermeidlicher Umbruch ereignen kann.

Wir Menschen sind viel zerbrechlicher, als wir wahrhaben wollen. Das Schicksal hat Henry Fraser einen furchterregenden Weg aufgezwungen, auf den er sich nicht vorbereiten konnte. Er musste zurück in ein lebenswertes Leben finden und erwies sich dabei als ein Mensch mit außergewöhnlichem Durchhaltevermögen, Stärke und Weisheit. Er fordert sich selbst sowohl körperlich als auch mental, übertrifft die Erwartungen in jeder Hinsicht, sammelt Geld für ihm wichtige Anliegen, und seine Kunst wird mit jeder Zeichnung und jedem Gemälde immer besser.

Vor allem anderen ist Henry jedoch der lebende Beweis dafür, dass Akzeptanz und Ambition einander nicht ausschließen müssen. Wie viele von uns können wahrhaftig behaupten, dass wir die Gegebenheiten unseres Lebens akzeptieren und gleichzeitig all unsere Möglichkeiten voll ausschöpfen? Es ist verständlich, dass man sich über aktuelle Einschränkungen aufregt, doch manchmal sind sie uns auch nur Ausreden, um untätig zu bleiben, um nicht alles zu tun, was in unserer Macht steht: für uns selbst, für andere, für die Welt.

Henry bleibt intelligent, begabt und gut aussehend, doch er ist jetzt noch mehr als das, nämlich etwas, das man nur selten findet: wahrhaftig inspirierend. Nicht das, was ihm widerfahren ist, macht ihn bemerkenswert, sondern das, was er bewegt. Dieses Buch ist nur seine jüngste Errungenschaft, denn niemand, der ihn kennt, wird bezweifeln, dass noch sehr viel mehr folgen wird. Ich bin stolz darauf, ihn einen Freund zu nennen.

J. K. Rowling

Das Leben war schön. Das erste Jahr der Oberstufe an meiner neuen Schule war fantastisch gewesen – Rugby, das soziale Leben, das unendliche Gefühl von Abenteuer und Möglichkeiten, das sich einstellte, sobald ich in London lebte. Als dann meine neuen Klassenkameraden vorschlugen, nach unseren Prüfungen im Sommer gemeinsam Ferien zu machen, überlegte ich nicht lange und sagte zu. Wir waren eine eingeschworene Truppe, die in der Schule, beim Rugby und auch sonst zusammen abhing. Eine Woche Sonne in einer Villa in Praia da Luz klang nach einer großartigen Idee, um das Schuljahr zu beenden.

Fast hätte ich es nicht geschafft. Beim Boarding – nachdem ich schon die Gepäckkontrolle und die Security hinter mir hatte – erklärte die Flugbegleiterin, die die Bordkarten kontrollierte, dass ich nicht einsteigen könne, weil mein Reisepass abgelaufen sei. Also wurde mein Gepäck wieder ausgeladen, und ich musste umkehren. Es war der reinste Walk of Shame, wieder aus dem Boarding-Bereich heraus und mit der Bahn zurück nach Hertfordshire. Die ganze Zeit dachte ich, dass ich mir Portugal jetzt wohl aus dem Kopf schlagen konnte. Aber zum Glück reagierten meine Eltern verständnisvoll. Als Familie waren wir noch nicht oft ins Ausland gereist, deshalb hatte niemand von uns daran gedacht, vor der Reise meinen Pass zu checken. Als ich genervt und enttäuscht wieder zu Hause ankam, erklärte ich meiner Mum, dass ich wohl eher dableiben würde, weil es einen solchen Aufwand bedeutete, noch rechtzeitig nachzureisen. Aber meine Eltern spürten, wie viel mir dieser Urlaub bedeutete, und deshalb taten sie, was nette Eltern in so einem Fall tun. Mein Dad nahm sich den Tag frei, damit er mit mir nach Liverpool – gute dreihundert Kilometer von uns entfernt – fahren konnte. Denn das war der nächste Ort, wo wir express einen neuen Pass bekamen. Inzwischen buchte meine Mum mir ein neues Ticket nach Portugal, sodass ich am nächsten Abend pünktlich zum Essen bei meinen Freunden war.

Ich hatte mich wirklich wahnsinnig darauf gefreut, dort zu sein. Von Natur aus schüchtern und oft eher zurückgezogen hatte ich mich gut an meiner neuen Schule eingewöhnt. Wie schon mein Bruder Will war ich nach meinem Realschulabschluss, den GCSEs, als Internatsschüler mit einem Sportstipendium am Dulwich College aufgenommen worden. Seit einem Jahr spielte ich als Flügel- und Mittelstürmer in der First XV als einer der Stammspieler meines Clubs. Die meisten meiner Freunde gehörten ebenfalls zur Mannschaft, und es bedeutete mir viel, dass ich auf dem Feld und auch sonst als Teammitglied akzeptiert war.

Dass ich einen Tag später in Portugal eintraf, spielte keine große Rolle – auch wenn ich deshalb auf einer Matratze schlafen musste, die genauso gut aus Beton hätte bestehen können. Ich kam schnell in den herrschenden Ferienrhythmus: lange ausschlafen, frühstücken, an den Strand gehen, um ein bisschen mit einem Rugbyball zu werfen, sonnen, schwimmen und chillen, dann in die Villa zurückkehren, um uns was zum Abendessen zu kochen. Meine Freunde Marcus und Hugo machten schon seit Jahren Urlaub an diesem Ort an der Algarve. Deshalb hatten sie sich auch mit einigen Einheimischen und anderen Stammgästen ihres Alters angefreundet. Am Abend trafen wir ein paar ihrer Freunde, gingen zusammen in Lagos aus und kehrten erst in den frühen Morgenstunden, zweimal sogar erst bei Sonnenaufgang, nach Hause zurück. Es war mein erster Urlaub ohne Erwachsene im Ausland, daher war ich auch fest entschlossen, jede Sekunde davon, bei Tag und bei Nacht, auszukosten.

Am fünften Tag, wie an allen anderen, spielten wir unten am Strand ein bisschen Fußball-Rugby. Es war mitten am Nachmittag und der Strand voller Familien. Kinder liefen ins Wasser und wieder raus. Die Sonne brannte heiß, und als es zu viel wurde, rannten Rory und Marcus ins Meer, um sich abzukühlen. Ich war vorher schon schwimmen gewesen und wusste, wie erfrischend sich das Wasser anfühlte. Wie ich ihnen so nachsah, sehnte ich mich plötzlich auch nach diesem Moment, wenn mein Körper sich, komplett untergetaucht, von der Hitze erholen würde. Also rannte ich ihnen hinterher und wich dabei den Kindern aus, die auf dem flachen, feuchten Streifen des Strands Sandburgen bauten.

Ich lief ins Wasser, bis es mir bis zur Taille reichte, dann wiederholte ich, was ich in jener Woche schon Hunderte Male gemacht hatte, ich hechtete kopfüber hinein. Doch als ich es diesmal tat, prallte ich mit dem Kopf auf eine Sandbank. Als ich die Augen aufriss, trieb ich mit dem Gesicht nach unten unter der Wasseroberfläche, meine Arme hingen leblos vor mir. Vom Hals abwärts konnte ich mich nicht mehr bewegen. Die Stille des Meeres dröhnte in meinen Ohren und war das schrecklichste Geräusch, das ich je gehört hatte. Ich konnte mich nicht rühren, nicht atmen, und obwohl es nur Sekunden dauerte, kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Ich hatte Angst und war hilflos. In Gedanken fluchend wollte ich verzweifelt am Leben bleiben und atmen. Ich dachte, es wäre aus mit mir.

Am Abend vor meinem Unfall

Dann hörte ich Marcus fragen, ob ich okay sei. Ich hörte Hugo rufen: »Frase, lass das Theater. Hier, fang«, dann platschte ein Ball ins Wasser. Ich musste ihnen mitteilen, dass ich kein Theater machte, und schaffte es, meinen Kopf ein kleines Stück zur Seite zu drehen. Diese winzige Bewegung rettete mir das Leben, das ab dem Moment für immer verändert war. Denn irgendwie gelang es mir, den Mund aus dem Wasser zu kriegen und »Helft mir« zu sagen. Ich hörte, wie Hugo nach Marcus schrie, dann schleppten sie mich zusammen aus dem Wasser und legten mich am Strand auf den Rücken. Inzwischen umringten mich schon all meine Freunde, und in ihren Gesichtern war die Panik unübersehbar. »Sorry, Jungs«, brachte ich heraus, »vielleicht habe ich den Urlaub versaut.« Bevor sie irgendetwas dazu sagen konnten, spürte ich, wie jemand meinen Kopf festhielt und mir erklärte, ich solle mich nur ja nicht rühren. Zwei Engländer – zufälligerweise ehemalige Rugbytrainer – hatten gesehen, wie ich aus dem Wasser getragen worden war, und waren hergekommen, um zu helfen. Sie schoben mich ganz vorsichtig auf ein Wellenbrett und deckten mich mit Handtüchern zu, damit ich nicht mehr so vor Kälte zitterte. Stuart, der sich mir vorstellte, während er meinen Kopf hielt, sagte mir ruhig, aber entschieden, ich solle nicht in Panik geraten. Wahrscheinlich sei es nur ein gestauchter Nacken und ein Krankenwagen schon unterwegs. Er fragte mich, ob ich meine rechte Hand bewegen könne, und wie ich feststellte, ging das. Später erklärte man mir, es habe sich wohl um einen Spasmus gehandelt, eine völlig unwillkürliche Bewegung.

Das Seltsame war, dass ich zuerst eigentlich gar keine Panik verspürte und alles wie in Zeitlupe erlebte. Ich hörte immer noch das Meer, die Kinder, die darin tobten und lachten, ich spürte die Sonne auf meinem Gesicht. Aber als die Minuten verstrichen und ich immer noch absolut nichts spürte, keinen Muskel bewegen konnte, da packte mich die Angst. Ich hatte so eine Art Parallelvision, in der ich mich aufstehen und alles normal weitergehen sah, während mir gleichzeitig dämmerte, dass da gerade etwas sehr, sehr Schlimmes passierte.

Dann ging es plötzlich ganz schnell. Die Sanitäter trafen ein, legten mir eine Halskrause um, hoben mich auf eine Trage und brachten mich zu einer anderen Stelle am Strand, wo bereits ein Hubschrauber wartete, um mich ins Krankenhaus zu bringen. Meine Freunde liefen neben mir her, und ich fragte, ob Marcus mich begleiten könne. Das lehnten die Rettungskräfte jedoch ab. Diesmal artikulierte ich meine Panik laut, weil ich vom Schock noch nicht komplett benebelt war. Und hätte nicht eine Sanitäterin die ganze Zeit meine Hand gehalten und – in ihrem gebrochenen, freundlichen Englisch – beruhigend auf mich eingeredet, dann wäre dieser Transport deutlich schlimmer gewesen. Sie lobte mich dafür, dass ich selbstständig atmete, beteuerte, dass ich ins beste Krankenhaus von Lissabon käme, wo sich die besten Ärzte um mich kümmern würden, und dass, was auch immer passierte, alles gut werden würde. Wie ich in dem Moment begriff, ist die Liebenswürdigkeit von fremden Menschen eine wunderbare Sache.

Genau wie man das aus dramatischen Krankenhausserien kennt, wurde meine Trage schwungvoll durch die Türen der Notfallambulanz gestoßen, wo ein Team von Medizinern mich schon erwartete. Meine Sanitäterin verabschiedete sich, wünschte mir Glück, und als sie weg war, überkam mich die schreckliche Erkenntnis, dass jetzt niemand wusste, wo ich war. Dabei wünschte ich mir meine Eltern dringender als alles andere an meine Seite. Über mir und um mich herum wurde viel gesprochen, was ich jedoch nicht verstand. Ich fragte, ob ich telefonieren könne, um meine Eltern anzurufen. Aber dafür war keine Zeit. Ich musste sofort zum Röntgen. Das dauerte ein wenig, und vielleicht dämmerte ich dabei weg, denn als Nächstes spürte ich, wie mir Creme auf die Wangen geschmiert wurde. Etwas, das sich anfühlte – später merkte ich, es war tatsächlich genau das – wie Schrauben, wurde zu beiden Seiten meines Kopfs befestigt. Ich kam in eine große Metallhalterung, so eine Art Heiligenschein über meinem Kopf, und wurde mit einem Flaschenzug verbunden, an dem Gewichte befestigt waren. Indem sie meinen Nacken streckten, hofften die Ärzte, mein vierter Wirbel – der sich völlig verschoben hatte – würde an seine richtige Stelle zurückrutschen. Nunhieß es abwarten.

Ich sehnte mich nach meinen Eltern und hatte keine Ahnung, ob überhaupt irgendjemand auf der Welt wusste, wo ich mich gerade befand. Morgens hatte ich noch Spiegeleier zum Frühstück gebraten, und meine einzige kleine Sorge war das Abschneiden in den Prüfungen zum Schuljahresende gewesen. Und jetzt lag ich hier, unbeweglich, voller Sand und in einem seltsamen Bett mit zwanzig Kilo, die an meinem Hals zogen. Während ich den Sekundenzeiger beobachtete, dämmerte ich immer wieder von einem Albtraum in den nächsten. Eine dafür abgestellte Krankenschwester hielt inzwischen meine Hand.

*

Etwa sechzig Tage nach dem Unfall. Noch mit Magensonde und Beatmungsgeräteschlauch.

Auch wenn ich nichts davon wusste, waren meine Eltern in dieser ersten unruhigen Nacht bereits auf dem Weg zu mir. Weil sie vermuteten, man habe mich ins nahe gelegene Krankenhaus von Portimão gebracht, wie ein Sanitäter ihnen gesagt hatte, verbrachten meine Freunde den Rest des Tages panisch auf der Suche nach mir. Erst viel später und durch Zufall begegneten sie der Sanitäterin, die auch am Strand gewesen war. Sie reimte sich zusammen, wer die Jungs waren, und erklärte ihnen, dass ich im dreihundert Kilometer entfernten Lissabon war. Dort gibt es vier Krankenhäuser, aber mit Hilfe von Marcus’ und Hugos Freunden, die Portugiesisch sprachen, schafften sie es schließlich, mich im São José zu finden. Danach riefen sie Marcus’ Vater an, der Arzt ist. Er brachte meinen Eltern die Nachricht bei.

Nach dem Eintreffen im Krankenhaus verlangten meine Eltern, mich sofort zu sehen. Doch man sagte ihnen, ich sei noch nicht »fertig«, und brachte sie stattdessen zum zuständigen Chirurgen. Der sagte ihnen ohne Umschweife, dass ich mir das Rückenmark durchtrennt hätte und nie wieder in der Lage sein würde, zu gehen oder meine Arme zu benutzen; dass ich für den Rest meines Lebens Tetraplegiker sein würde. Bis zum heutigen Tag kann ich mir nicht vorstellen, was für ein Schock das für meine Eltern gewesen sein muss. Zuletzt hatten sie mich voller Vorfreude meinen neuen Pass schwenkend zur Haustür hinauslaufen gesehen. Ich bin der dritte von vier Brüdern, und unser Alltag war immer von Sport und Aktivität bestimmt. Irgendeiner war immer in Bewegung – auf dem Weg zu oder von einer Runde Laufen, Schwimmen oder Rugbytraining. Das galt nicht nur für uns vier, sondern auch meine Mum und mein Dad steckten voller Energie und Bewegungsdrang. Wir liebten es einfach, aktiv zu sein.

Kernspinnaufnahme meiner Halswirbelsäule.Die kurze, schwarze, diagonale Linie zwischen den weißen und grauen Linien ist die Stelle, an der mein Rückenmark beschädigt wurde.

Meine Mum erzählte mir später – viel später –, dass mein Dad derart schockiert war, dass er keinen Laut von sich gab, während sie angefangen hatte zu schreien. Nachdem sie nicht aufhörte zu schreien, war der Chirurg – aufgrund jahrelanger schlimmer Erfahrung – so geistesgegenwärtig, ihnen zu erklären, dass dies die Zeit sei, in der ich sie dringender denn je zuvor brauchte. Dass sie ab dem Moment, wenn ich sie sah, all ihre Kraft zusammennehmen und so belastbar und positiv wie nur irgend möglich sein mussten. Nicht gespielt fröhlich oder übertrieben munter, sondern ruhig und sogar – und das wäre am wichtigsten – stark für mich. Er sah meine Mutter eindringlich an und meinte: »Mrs. Fraser, Ihr Sohn braucht Sie jetzt mehr denn je. Sie haben gar keine Wahl. Sie müssen von nun an für ihn stark sein.«

Für meine Mum waren diese Worte wie ein Echo aus der Vergangenheit, als sie mit ihrer Mutter und der damals dreizehnjährigen Schwester in der Notaufnahme gewesen war. Diese war wegen der Schmerzen aufgrund eines Abszesses in ihrem Gehirn zusammengebrochen. Damals hatte die Krankenschwester ihre Mutter bei den Schultern gepackt und ihr gesagt: »Mrs. Wallace, reißen Sie sich zusammen. Sie müssen stark sein.« Meine Großmutter hatte diese Worte beherzigt. Als sie sich daran erinnerte, wusste auch meine Mutter, dass ihr nur eine Wahl blieb. Sie verlangte, mich sofort zu sehen.